Skip to main content

Full text of "Die metaphysik Avicennas enthaltend die metaphysik, theologie, kosmologie und ethik"

See other formats


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  preserved  for  generations  on  library  shelves  before  it  was  carefully  scanned  by  Google  as  part  of  a  project 
to  make  the  world's  books  discoverable  online. 

It  has  survived  long  enough  for  the  Copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 
to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 
are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  culture  and  knowledge  that 's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  marginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  file  -  a  reminder  of  this  book's  long  journey  from  the 
publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  Steps  to 
prevent  abuse  by  commercial  parties,  including  placing  technical  restrictions  on  automated  querying. 

We  also  ask  that  you: 

+  Make  non- commercial  use  of  the  file s  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  from  automated  querying  Do  not  send  automated  queries  of  any  sort  to  Google's  System:  If  you  are  conducting  research  on  machine 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  large  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encourage  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attribution  The  Google  "watermark"  you  see  on  each  file  is  essential  for  informing  people  about  this  project  and  helping  them  find 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  responsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 
countries.  Whether  a  book  is  still  in  Copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can't  off  er  guidance  on  whether  any  specific  use  of 
any  specific  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  means  it  can  be  used  in  any  manner 
any  where  in  the  world.  Copyright  infringement  liability  can  be  quite  severe. 

About  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organize  the  world's  Information  and  to  make  it  universally  accessible  and  useful.  Google  Book  Search  helps  readers 
discover  the  world's  books  while  helping  authors  and  publishers  reach  new  audiences.  You  can  search  through  the  füll  text  of  this  book  on  the  web 

at  http  :  //books  .  google  .  com/| 


Digitized  by 


Google 


/.  CU>i^^ 


(US^^- 


'    PWxß^-»*p 


'? 


o 


V 


Digitized  by 


Google 


Digitized  by 


Google 


Digitized  by 


Google 


T  :■'•:.  NEW  YORK 

:  Li DLIC  LIBRARY 

•  i  ^  i «  i  -  j  « .;  O 

ASTOR,  L^NOX  AND 

TJLDÜN  r       •.DATIONS, 

R  1&53  L 


r 


Digitized  by 


Google 


DAS  BUCH 
)ER  GENESUNG  DER  SEELE 

EINE  PHILOSOPHISCHE  ENZYKLOPÄDIE  AVICENNAS 


IL  SERIE 

DIE  PHILOSOPHIE 


m.  GRUPPE  UND  Xm.  TEIL 

DIE  METAPHYSIK,  THEOLOGIE,  KOSMOLOGIE 
UND  ETHIK 


-cg'- 


HALLE  A.  S.  UND  NEW  YORK 
VERLAG  VON   RUDOLF  HAUPT 

1907 


Digitized  by 


Google 


DIE  METAPHYSIK  AVICENNAS 

ENTHALTEND 

DIE  METAPHYSIK,  THEOLOGIE,  KOSMO] 

UND  ETHIK 


ÜBERSETZT  UND  ERLÄUTERT 


VON 


M.  HORTEN, 


HALLE  A.  S.  UND  NEW  YOBK 
VERLAG   VON  RUDOLF  HAUPT 

1907-<><^- 

6K 


Digitized  by 


Google 


'J  ; : ; .... 

PUBLIC  LI  JRARY 

5554  <M) 

ASTOR,  LENOX  AND 

TILDEN  FOMK'DATIONS, 

R  1913  L 


Digitized  by 


Google 


.\ 


Einleitimg. 


Avicenna  ist  im  Oriente  nicht  so  sehr  durch  seine  Philo- 
sophie —  am  wenigsten  durch  seine  Metaphysik  —  als  vielmehr 
durch  seine  medizinischen  Schriften  bekannt.  Er  gilt  haupt- 
sachlich als  Arzt  Sein  Kanon  der  Medizin  ist  ungleich  mehr 
verbreitet  als  seine  philosophischen  Schriften.  Doch  Avicenna 
ersetzt  der  arabischen  Kulturwelt  nicht  nur  einen  Galen,  sondern 
auch  einen  Aristoteles.  Da  er  die  Gedankenwelt  beider  ver- 
einigte, ist  das  Interesse  an  seiner  Philosophie  ein  um  so  größeres. 
In  ihm  sehen  wir  einen  hauptsächlich  auf  die  Naturwissenschaften 
gerichteten  Geist  sich  in  den  höchsten  Fragen  der  metaphysischen 
Spekulation  betätigen. 

Avicenna  >)  war  ein  Denker  von  außergewöhnlicher  Be- 
gabung und  Arbeitskraft  Er  hat  drei  gewaltige  Enzyklopädien 
verfaßt  Von  der  medizinischen  sagt  J.  Hirschberg: 5)  „Sein 
berühmtestes  Werk  ist  der  Kanon  der  Heilkunde.  Dies  ist  ein 
durch  Ordnung  und  Genauigkeit  ausgezeichnetes,  sehr  umfang- 
reiches und  vollständiges  Lehrgebäude  der  gesamten  Heilkunde, 
einschließlich  der  Chirurgie,  —  fast  ohnegleichen  in  der  Welt- 
literatur. Von  den  Griechen  besitzen  wir  nur  Sammlungen, 
Auszuge,  Kompilationen.  Der  Kanon  ist  ein  Werk  aus  einem 
Guß.  Heutzutage  braucht  man  ein  ganzes  Kollegium  von  Ärzten, 
um  ein  entsprechendes  »Handbuch*  zu  schaffen-  Ein  halbes  Jahr- 
tausend hat  der  Kanon  gegolten,  hat  Ibn  Sina  geherrscht,  wie 
Aristoteles  und  Galenos."     Daneben   schrieb  er  in  persischer 


»)  Vgl.  Brockelmann,  Gesch.  d.  arab.  Lit  I,  S.  452— 458  und  Carra  de 
Vaox  Avicenna,  Paris  1900. 

')  Geschichte  der  Angenheilknnde  bei  den  Arabern,  S.  16,  Leipzig  1905.  — 
Graefe-Saemisch,  Handbuch  der  gesamten  Angenheilkonde,  11.  Teil,  XTTT.  Bd. 


Digitized  by 


Googk 


VI 

Sprache  eine  nicht  minder  umfangreiche,  philosophische  Enzy- 
klopädie: „Das  Weisheitsbuch  des  ^Ala-uddaulah,  des  Fürsten 
von  Isfahän",  die  inhaltlich  mit  dem  Buche  der  Genesung  der 
Seele  verwandt  ist.>)  Daneben  hat  er  noch  kleinere  Schriften 
über  alle  Gebiete  des  Wissens  verfaßt,  Theologie  und  Mystik 
nicht  ausgenommen,  deren  Zahl  sich  auf  mehrere  Hunderte 
beläuft.  Zudem  scheinen  seine  umfassendsten  Werke  verloren 
gegangen  zu  sein.  Güzgäni,  sein  Lieblingsschüler,  erwähnt 
Kommentare,  die  Avicenna  vor  dem  Buche  der  Genesung  der 
Seele  verfaßt  habe.  In  letzterem  Werke  wollte  der  Philosoph 
„kurz"  seine  eigenen  Gedanken  zusammenfassen,  während  er  in 
den  „Kommentaren"  neben  seinen  Gedanken  auch  die  anderer 
darstellte  und  sich  in  längere  Diskussionen  einließ.  Diese 
Schriften  waren  schon  zu  Lebzeiten  Avicennas  sehr  selten  ge- 
worden. Der  Meister  hatte  die  Originale  in  übergroßer  und 
leichtfertiger  Liebenswürdigkeit  an  seine  Freunde  verschenkt  und 
bekümmerte  sich  weiter  nicht  um  das  Schicksal  seiner  Schriften. 
Deshalb  drängten  ihn  andere  Freunde,  die  Summe  seines  Wissens 
„kurz"  zusammenzustellen,  um  sie  der  Nachwelt  zu  erhalten.  In 
zwanzig  Tagen  hat  er  nach  dem  Berichte  Güzgänis,  der  Augen- 
zeuge war,  die  Metaphysik  und  die  Naturwissenschaften  mit 
Ausschluß  der  Botanik  und  Zoologie,  also  eine  Summe  von 
Schriften,  deren  Übersetzung  wohl  zweitausend  Druckseiten  ein- 
nehmen werden,  diktiert.^)   1016  begann  er  das  Werk  in  Hamadän 


*)  Eth^,  Prof.  Dr.,  Neupersische  Literatur  in:  „Gnmdriß  der  iranischen 
Philologie",  Bd.  ü,  Nr.  5,  S.  363.  „An  der  Spitze  derselben  (der  großen 
Enzyklopädien)  steht  das  DSnisn&me  -i-  *Alai  . . .,  ein  von  dem  großen  Ihn 
Sina  für  den  Fürsten  'Ala-nddaulah  von  Isfah&n  (gest.  1042)  geschriebenes 
Werk.  Es  behandelt  die  Wissenschaften  der  Logik,  Metaphysik,  Physik, 
Geometrie,  Algebra,  Astronomie,  Arithmetik  und  Mnsik." 

')  Danach  zu  urteilen  hätte  er  die  Metaphysik  in  vier  bis  fünf  Tagen 
hergesteUt.  Die  Kichtigkeit  dieser  Angaben  darf  nicht  bezweifelt  werden. 
Avicenna  diktierte  einem  SchneUschreiber.  Die  arabische  Schrift  hat  das  vor 
der  lateinischen  voraus,  daß  sie,  wenn  ohne  diakritische  Punkte  geschrieben, 
an  Kürze  einer  Stenographie  gleichkommt.  Die  in  Frage  kommenden  philo- 
sophischen Gedanken  sind  im  Grunde  sehr  einfache  und  klare.  Sie  lassen 
sich  beliebig  breit  darstellen.  Jeder,  der  sich  in  die  aristotelische  oder 
scholastische  Gedankenwelt  hineingelebt  hat,  wird  es  häufig  erlebt  haben, 
wie  reichlich  die  Gedanken  zusammenströmen,  wenn  die  Grundideen  und  die 
Hauptprobleme  klar  sind.  Jede  Deduktion  läßt  sich  nach  verschiedenen  Seiten 
hin  leicht  entwickeln.  Zudem  diktierte  Avicenna,  wie  sein  Schüler  aas- 
drücklich  bemerkt,  frei  aus  dem  Stegreif,  ohne  sich  an  ein  Buch  anzulehnen; 


Digitized  by 


Google 


vn 

unter  der  Gunst  des  Fürsten  Schems  ed-daula  (Sonne  der 
Herrschaft).  Der  baldige  Tod  dieses  Fürsten  bedeutete  für 
Avicenna  den  Beginn  der  Verfolgung,  die  er  von  dessen  Nach- 
folger zu  erleiden  hatte.  Vier  Monate  wurde  er  in  der  Festung 
Ferdagän  gefangen  gehalten.  Er  verfaßte  in  dieser  Zeit  mehrere 
Schriften.  Aus  der  Gefangenschaft  nach  Hamadän  zurückgekehrt, 
gelang  es  ihm,  in  dem  Gewände  eines  Mystikers  nach  Isfahän 
zu  dem  Fürten  'Ala-uddaulah  zu  fliehen.  Dort  vollendete  er 
die  Logik.')  Auf  einer  Eeise,  auf  der  er  seinen  Fürsten  nach 
Säbur  Khast  begleitete,  schrieb  er  ein  dem  Buche  der  Genesung 
der  Seele  verwandtes,  aber  selbständiges  Werk:  Die  Erlösung 
vom  Irrtum,  en-Nagät. 

Am  meisten  ist  zu  verwundem,  daß  Avicenna  seine  um- 
fassenden Werke  schrieb,  während  er  ein  sehr  unstätes  Leben 
führte  und  die  größte  Zeit  des  Tages  seinen  Aufgaben  als 
Minister  widmen  mußte.  Die  gewiß  staunenerregende  und  ge- 
waltige Tätigkeit  eines  Thomas  v.  Aquin  und  Albertus  Magnus 
scheint  also  im  Lande  der  aufgehenden  Sonne  von  einem 
Denker  der  gleichen  philosophischen  Richtung,  wie  die  christ- 
liche Scholastik,  noch  übertroffen  worden  zu  sein. 

Das  System  und  das  Werk  Avicennas  ist  eine  kultur- 
geschichtliche Tatsache  von  hervorragender  Bedeutung  und  als 
solche  verdient  sie  die  Beachtung  nicht  nur  der  Orientalisten 
und  Philosophen,  sondern  auch  der  Historiker  und  Religions- 
geschichtler.  Sie  ist  ein  Beitrag  zur  Darstellung  des  Völker- 
lebens und  ist  femer  keine  rein  persönliche  und  individuelle 
Tatsache;  denn  die  Bedingungen  seiner  Gedanken  liegen  in  der 
ganzen  damaligen  Zeit  und  sind  ein  Resultat  jahrhundertelanger 
Entwicklung.     Sie  haben  femer  auf  Jahrhunderte  lang  einen 


war  ihm  also  die  Disposition  der  Metaphysik  klar,  dann  konnte  er  sie  ohne 
Unterbrechung  diktieren.  Es  handelt  sich  zudem  um  Gedanken,  mit  denen 
er  sich  von  Jugend  auf  beschäftigt  hatte  und  in  denen  er  lebte.  Die  Leistung 
ist  immerhin  eine  ganz  enorme.  Die  Herausgabe  dessen,  was  Avicenna  in 
zwanzig  Tagen  diktiert  hat,  wird  wohl  vierzig  Monate  in  Anspruch  nehmen. 
Die  Arbeitsart  Avicennas  macht  viele  Unsicherheiten  des  Textes  verständlich. 
*)  Avicenna  schrieb  zuerst  die  Naturwissenschaften  und  Metaphysik. 
In  letzterem  beruft  er  sich  aber  vielfach  auf  die  Logik  wie  auf  ein  bereits 
vorliegendes  Werk.  Die  Disposition  des  Gktnzen  schwebte  ihm  also  klar  vor 
Augen,  und  da  er  die  Metaphysik  als  den  Schlußstein  betrachtete,  konnte 
er  sich  auf  Kapitel  der  Logik  berufen,  selbst  wenn  letztere  noch  nicht 
geachrid^en  war. 


Digitized  by 


Googk 


vm 

bestimmenden  Einfluß  ausgeübt  Die  Entstehungsgeschichte  und 
die  Einwirkung  der  Philosophie  Avicennas  auf  die  folgenden 
Jahrhunderte  bis  auf  unsere  Zeit  ist  fast  gleichbedeutend  mit 
der  Darstellung  der  arabischen  Philosophie  griechischer  Eichtung 
und  auch  die  der  anderen  Schulen.  Diese  nahmen  die  griechische 
Gedankenwelt,  deren  Verständnis  Avicenna  erschlossen  hatte,  in 
sich  aut  Auch  für  die  christliche  Philosophie  des  Mittelalters 
ist  er  von  großer  Bedeutung  gewesen.  Brucker  sagte  von  ihm, 
Avicenna  sei  bis  zur  Renaissance,  wenn  nicht  der  einzige,  so 
doch  der  Hauptlehrer  der  Christen  gewesen. 

Das  Buch  der  Genesung  der  Seele  bildet  also  wie  die 
Schriften  des  Aristoteles,  Piatons,  Plotins,  Gazälis,  Thomas  von 
Aquins  und  Kants  einen  der  großen  G^enksteine  in  der  Ent- 
wicklung der  Wissenschaften.  In  der  ganzen  islamischen  Kultur- 
welt, von  Indien  bis  zu  den  Säulen  des  Herkules,  besonders  aber 
in  Persien,  suchte  der  Wissensdurstige  die  Genesung  seiner  Seele 
von  den  Krankheiten  des  Zweifels  und  die  Erkenntnis  des  Wesens 
der  Dinge  und  der  Harmonie  des  Weltalls  in  diesem  Buche,  das 
seit  dem  XL  Jahrhunderte  das  Denken  der  philosophischen  Schulen 
des  Islam  bestimmt  hat  Es  ist  jenes  Werk,  zu  dem  die  frühere 
philosophische  Entwicklung  des  Islam  hinführte  und  auf  das  die 
gesamte  spätere  Entwicklung  sich  aufbaute.  An  dasselbe  schließen 
sich  die  philosophischen  Diskussionen  an,  deren  Zeugen  die  späteren 
Jahrhunderte  waren. 

Es  ist  durchaus  gegen  die  Lehre  der  islamischen  Philosophie, 
mit  der  Metaphysik  zu  beginnen.  Die  Reihenfolge  der  Wissen- 
schaften war  vielmehr  folgende.  Den  ersten  Teil  der  Philosophie 
bilden  die  Naturwissenschaften.  Diese  sind:  die  Lehre  über  die 
Prinzipien  der  Naturkörper,  das  Weltgebäude,  das  Entstehen  und 
Vergehen,  Wirken  und  Leiden  in  der  Natur,  die  Meteorologie 
und  Erdkunde,  die  Psychologie,  Botanik  und  Zoologie.  Daran 
schließen  sich  die  vier  mathematischen  Disziplinen  an,  von  denen 
die  erste  und  dritte,  Geometrie  und  Astronomie,  reine  Mathematik 
sind,  die  zweite  und  vierte  angewandte:  Astronomie  und  Musik. 
Nach  diesen  Vorkenntnissen  gelangte  man  erst  zur  Königin  aller 
Wissenschaften,  der  Metaphysik.  Nicht  zur  Philosophie  gehörte 
die  Logik.  Sie  bildete  die  Propädeutik  zur  Philosophie.  An 
diese  streng  vorgeschriebene  Reihenfolge  ist  jedoch  der  Historiker, 
der  als  unparteiischer  Beobachter  außensteht,  nicht  gebunden, 
und  so  möge  die  Veröffentlichung  des  Lebenswerkes  Avicennas 


Digitized  by 


Googk 


IX 

mit  der  Metaphysik  beginnen,  weil  sie  die  umfassendsten  Lehren 
bietet,  für  die  Geschichte  der  Philosophie  hauptsächlich  in  Betracht 
kommt  und  das  System  kurz  zusammenfaßt. 

Weitere  Aufgaben,  die  sich  an  diese  Veröffentlichung  an- 
schließen könnten,  sind:  die  Herausgabe  der  lateinischen  Über- 
setzungen und  das  Verständnis  derselben  aus  dem  arabischen 
Urtexte,  die  Einwirkung  Avicennas  auf  Alexander  von  Haies, 
Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquin  u.  s.  w.  zu  untersuchen, 
desgleichen  seine  Abhängigkeit  von  den  Kommentatoren  des 
Aristoteles,  Alexander  von  Aphrodisias  und  Themistius,  ebenso 
die  Abhängigkeit  oder  auch  Einwirkung  auf  die  indische  Philo- 
sophie, femer  die  Schicksale  der  Philosophie  Ibn  Sinas  innerhalb 
der  islamischen  Kulturwelt.  Während  die  Lösung  der  erst- 
genannten Aufgaben  den  Spezialisten  auf  den  Gebieten  der 
griechischen  und  mittelalterlichen  Philosophie  überlassen  bleibt, 
wurde  zur  Lösung  der  letzteren  Aufgabe  in  den  Anmerkungen 
ein  Ansatz  gemacht.  Es  sind  hauptsächlich  die  der  Handschrift  c 
(Isfahän  1672),0  denen  sich  Auszüge  anschließen  aus  dem  Lexion 
des  Hawärezmi*-^)  um  990,  Gorgäni^)  1413f  und  des  Färüqi^)  1745"f. 
Letzterer  zitiert  seinerseits  wiederum  die  bedeutendsten  Philo- 
sophen der  ihm  vorausgehenden  Zeit,  wie:  Urmawi  1283 f, 
Tafta^äni  1389  t,  Sakkäki  1229  t,  Samarkandi  1291t,  Igi  1853  t, 
Suhrawardi  1297  t,  Kätibi  1276  t,  Abhari  1264  t,  Tüsi  1273  t, 
Kazi  1209t,  Dawäni  1501t,  Nasafi  1310t,  Mahbübi  1346t  u.s.w.. 
so  daß  in  diesen  Anmerkungen  Einblicke  in  die  islamisclie  Philo- 
sophie fast  aller  Jahrhunderte  nach  Gazäli  gegeben  sind. 

Die  Übersetzung  sucht  in  möglichster  Treue  den  Gedanken 
des  Originals  und  seine  Nuancen  wiederzugeben  in  engster  An- 
lehnung an  den  Wortlaut  des  arabischen  Textes.  Um  Unklar- 
heiten zu  vermeiden,  wurden  vielfach  an  Stelle  der  Pronomina 


1)  a  =  Leiden,  Gol.  4,  Nr.  1444.  b  =  Leiden,  Gol.  84,  Nr.  1445.  c  = 
Berlin,  Minutoli  229,  Nr.  5045.    d  =  Ind.  Office,  Nr.  477. 

*)  G.  van  Vloten,  über  Maf&tih  al-*01üm  explicans  vocabula  technica 
sdentiamm  tarn  arabmn  quam  peregrinonun.    Lugfduni  Batavorum  1895. 

■)  Gustav  Fitigel,  Definitiones  viri  meritissimi  sejjid  scherif  Dschord- 
scMni.  Accednnt  definitiones  Theosophi  Mohammed  vnlgo  iben  Arabi  dicti. 
Lipaiae  1845. 

*)  Dr.  AI.  Sprenger,  A  dictionary  of  the  technical  terms  used  in  the 
Sciences  of  the  Musulmans,  in  „Bibliotheca  Indica^';  a  CoUection  of  oriental 
Works  published  by  the  Asiatic  Society  of  Bengal.    Calcntta  1854. 


Digitized  by 


Googk 


die  bezüglichen  Substantiva  selbst  gesetzt  und  große  Perioden 
aufgelöst. 

Die  Fußnoten  des  Textes  der  Übersetzung  haben  den  Zweck, 
sowohl  die  philosophischen  Gedanken,  die  dem  modernen  Denken 
vielfach  sehr  ferne  liegen,  zu  erklären,  als  auch  einige  Be- 
ziehungen zur  griechischen  und  scholastischen  Philosophie,  vor 
allem  also  zu  Aristoteles  und  Thomas  von  Aquin,  anzudeuten. 

Die  Herausgabe  und  Übersetzung  der  Philosophie  Avicennas 
dürfte  um  so  zeitgemäßer  sein,  als  in  neuerer  Zeit  vielfache 
Bestrebungen  aufgetreten  sind,  die  das  Ziel  verfolgen,  den 
Entwicklungsgang  der  christlichen  Philosophie  des  Mittelalters 
wie  auch  den  der  muslimischen  und  indischen  Philosophie  dem 
Verständnisse  zu  erschließen. 

Der  Universitätsbibliothek  zu  Leiden  spreche  ich  für  ihr 
freundliches  Entgegenkommen  meinen  besonderen  Dank  aus. 

Bonn,  Dezember  1906. 

M.  Horten. 


Digitized  by 


Google 


Die  Metaphysik  Avicennas. 

Vierte  Summa  0  des  Buches  der  Genesung  der  Seele. 
Über  die  metaphysischen^)  Dinge. 

In  zehn  Abhandlungen.    Die  erste  Abhandlung  umfaßt  acht  Kapitel. 


Erstes  Kapitel. 

Ein  erstmaliges  Suclien')  nacli  dem  Objelcte  der  prima  pliilosopliia,^) 
damit  ilire  eigentiimliclie  Natura)  innerlialb  der  Wissenschaften  Iclar  werde. 

Nachdem  wir  bereits  mit  Gottes  Hilfe,  des  Herrn  der 
Gnade  und  des  Erfolges,  alle  Begriffe  vorgebracht  haben,  die 
in  dem  Bereiche  der  logischen,  physischen  und  mathematischen 
Wissenschaften    eine    Darlegung    erforderten,    so    ist    es    nun 


^)  Eb  gehen  voraus  summa  logica,  summa  scientiarum  natnralium, 
summa  mathematica.  Abaelard  1142  f,  der  Vater  der  scholastischen  Lehr- 
methode, soU  der  Erfinder  der  Idee  einer  Summa  als  wissenschaftlicher  Dar- 
stellungsmethode gewesen  sein.  Vgl.  de  Wulf,  Histoire  de  la  Philosophie 
M6di6Yale  S.  201  £f.  und  209,  und  Fr.  Picavet,  Esquisse  S.  200  ff.  Ist  die  Über- 
einstimmung eine  zufäUige  oder  hat  eine  Abhängigkeit,  sei  es  eine  direkte 
oder  eine  indirekte  (gemeinsame  Quelle)  stattgefunden?  Cod.  c  hat  den  Titel: 
Dreizehnter  Teil  d.  Buches  u.s.w. 

*)  wortlich:  „die  göttlichen  Dinge'^  Aristoteles  verwendet  „Theologie" 
im  Sinne  von  Metaphysik:  vgl.  <piXooo<plai  d^sa^Qijzixal  tQBtQy  fiaS-r^fKxnxii, 
q)vatxij,  ^eokoyuci^  1026  a  19.  Vgl.  Thomas,  Prooemium  zum  Kommentar  der 
Metaphysik. 

^  Wörtlich:  „der  Beginn  des  Suchens".  Die  definitive  FeststeUung  des 
Objektes  erfolgt  Kap.  2. 

*)  Aristotelischer  Ausdruck:  ^  Tti^oitTj  <piXooo^la\  vgl.  Physik.  194b  14. 

^  Wörtlich:  ,4hre  Individualität«'.  Cod.  c  Gl:  „innerhalb  der  Objekte 
der  Wissenschaften". 

Hoxten,  Dtti  Baoh  der  Oenetang  d«r  8—1:  1 


Digitized  by 


Googk 


angebracht  zu  beginnen  mit  der  Definition  der  Begriffe  der 
„Weisheit  "J)  Daher  beginnen  wir,  indem  wir  Gott  um  Hilfe 
anrufen  und  lehren:  Die  philosophischen  Wissenschaften  zerfallen, 
wie  es  schon  an  anderen  Orten  dargelegt  wurde,  2)  in  spekulative 
und  praktische.  5)     Wie   sich  beide  voneinander  unterscheiden, 


^)  Weisheit  j  hikma,  bezeichnet  im  prägnanten  Sinne  die  Metaphysik. 
Der  gleiche  Sprachgebranch  findet  sich  bei  Aristoteles  Metaph.  981b  28: 
.  .  .  ttJv  ovofia^of^VTjv  aotplav  tuqI  xa  TiQdßxa  ahia  xcd  xaq  oQxaq  vnoXofi' 
ßarovai  navteg;  982b  9  et  passim.  Ebenso  Thomas  von  Aqnin  (super  Isaiam 
cap.  3  principio):  Sapientia  antem,  nt  dicit  Philosophns  (Metaph.  Kap.  1, 980—982) 
est  duplex,  scilicet  universalis  et  particularis.  Particularem  definiens  dicit, 
quod  est  virtus  per  quam  homo  potest  in  ultimo  cuiuscnmque  artis,  ut  medi- 
cinae,  et  ob  hoc  dicitur  sapiens  medicns,  qui  est  certissimus  in  bis  quae  sunt 
medicinae,  et  similiter  sapiens  faber  et  sie  de  aliis.  Et  hoc  modo  sumitur 
hie.  Universalis  sapientia  est  quae  est  ultimum  in  omnibus  artibus  et  scientüs, 
et  ista  est  per  quam  homo  elevatur  in  cognitionem  nobiÜssimarum  causarum 
id  est  substantiarum  separatarum  (arab.  mufariqat)  vel  spiritualium.  Et  haec 
secnndum  Philosophum  est  metaphysica  et  secundum  nos  est  theologia.  Vgl. 
dazu  die  Definition  der  Weisheit  bei  Ismail  el  Hoseini:  Horten,  Das  Buch  der 
Bingsteine  F&r&bis  S.  316.  Nach  al-Hawärezmi  (Liber  Mafitih  al-ulüm  ed. 
van  Yloteu,  Lugduni  1895|  S.252)  bezeichnet  die  Weisheit  schlechthin  die 
Alchemie;  an  dieser  Stelle  bezeichnet  sie  die  Philosophie  schlechthin. 

*)  z.  B.  in  dem  Buche:  Die  Einteilung  der  Wissenschaften,  Brockelmann 
Gtesch.  d.  ar.  Lit.,  Bd.  I,  S.  455,  Nr.  24  und  weiter  die  Einleitung  in  die  Logik, 
den  ersten  Teil  des  Buches  der  Genesung. 

•)  Siehe  Arist,  Metaph.  1064  b  2 :  SilXov  xoiwv  8xi  xgla  yivri  x&v  ^eto- 
QTjxixöhf  iniaxTjfidiv  iaxl,  q)vaixij,  [xad-ri^axuni,  ^soXoyixr,  Vgl.  auch  S.  1, 
Anm.  2.  Aristoteles  lehrt  jedoch  Metaph.  1025  b  25  eine  andere  Dreiteilung, 
indem  er  die  WiUenshandlung  (tiqü^k;  actio)  von  dem  äußeren  Wirken  {nolrjaig^ 
&ctio)  unterscheidet:  waxe  el  näaa  Siavoia  rj  ti^ccxxixtj  ^  TtoiijxixTJ  ^  d^ewQfi- 
tuc^,  rj  <pvaucTi  d^ewgijxuc^  xig  av  e}^i],  Thomas  lehrt  (in  Matth.  Kap.  II)  eine 
wesentlich  verschiedene  Dreiteilung:  Sunt  tres  partes  philosophiae,  scilicet 
moralis,  logica  et  naturalis,  und  in  seinem  Kommentar  zur  nikomachischen 
Ethik  (lib.  I,  lectio  1)  eine  Vierteilung:  Ordo  quadmpliciter  ad  rationem  com- 
paratur.  Est  enim  qnidam  ordo,  quam  ratio  non  facit,  sed  solum  considerat, 
sicut  est  ordo  rerum  naturalium.  Alius  autem  est  ordo  quem  ratio  cnnsiderando 
facit  in  proprio  actu;  puta  cum  ordinat  conceptus  suos  ad  invicem,  et  signa 
conceptuum,  quae  sunt  voces  significativae.  Tertius  autem  est  ordo  quem 
ratio  considerando  facit  in  operationibus  voluntatis.  Quartus  autem  est  ordo 
quem  ratio  considerando  facit  in  exterioribus  rebus,  quarum  ipsa  est  causa, 
sicut  in  arca  et  domo.  Et  qnia  consideratio  rationis  per  habitum  perficitur, 
secundum  hos  diversos  ordines  quos  proprie  ratio  considerat,  sunt  diversae 
Bcientiae.  Nam  ad  philosophiam  naturalem  pertinet  considerare  ordinem  rerum 
quem  ratio  humana  considerat,  sed  non  facit;  ita  quod  sub  naturali  philo- 
Sophia  comprehendamus  et  metaphysicam.  Ordo  autem  quem  ratio  considerando 
facit  in  proprio  actu,  pertinet  ad  rationalem  philosophiam,  cuius  est  considerare 


Digitized  by 


Googk 


3 

wurde  ebenfalls  deutlich  gemacht^  indem  gezeigt  wurde,  daß  die 
theoretischen  Wissenschaften  das  Ziel  verfolgen,  die  theoretische 
Denkfähigkeit  der  Seele  dadurch  zu  vervollkommnen,  daß  sie 
den  Verstand  aktuell  denkend  machen.  ^)  Dieses  wird  dadurch 
erreicht,  daß  der  Verstand  die  begrifflich  auffassende  und  (über 
die  Außenwelt)  urteilende  2)  Wissenschaft  von  Dingen  erlangt, 
die  nicht  unsere  Handlungen  und  Verhältnisse  sind.  3)  Daher 
ist  der  Zweck  der  theoretischen  Philosophie  der,  daß  Gedanken 
und  Überzeugungen  erworben  werden,  die  sich  nicht  auf  die 
Beschaffenheit  der  Handlung  noch  die  des  Prinzips*)  des  Handelns 
erstrecken.*) 

ordinem  partiom  orationis  ad  inTicem  et  ad  conclosiones.  Ordo  autem  actionam 
Yolnntariamm  perünet  ad  considerationem  moralis  philosophiae.  Ordo  autem 
quam  ratio  considerando  facit  in  rebus  exterioribus  constitutis  per  rationem 
humanam,  pertinet  ad  artes  mechanicas.  Auch  in  der  ersten,  aus  Thomas 
zitierten  SteUe  ist  unter  scientia  naturalis  die  Metaphysik  mitverstanden. 
Die  Philosophie  ist  demnach  eine  Kenntnis 

1.  der  Außenwelt  (Naturw.  und  Metaph.), 

2.  der  Gedankenwelt  (Logik), 
8.  der  actiones  (Moral), 

4.  der  fiictiones  (Mechanik). 
Eine  Zweiteilung,  wie  sie  Avicenna  lehrt,  findet  sich  in  Ismail  el  Hoseini 
(lib.  cit.  S.  317).  AUe  diese  üinteilungen  stimmen  in  dem  WesentUchen  ttberein. 
Der  Unterschied  ist  ein  nur  äußerlicher. 

»)  Wörtiich:  „daß  der  Verstand  actu  (^vwAcye/a)  wird".  Durch  Auf- 
nahme der  Erkenntnisform  erh&lt  er  eine  neue  „Wirklidiikeit"  als  denkender. 
Arist  Psych.  ^9b30:  SwafjLsi  tuo^  ian  zä  voijra  b  vofJ$,  aXl^  iv  teXex^^^ 
ovSiv,  tcqIv  fiv  vofi, 

*)  Eist  im  Urteile  {iafdiq)^  dem  affirmatiyen  und  negativen,  ist  Wahr- 
heit oder  Falschheit  enthalten.  Im  eigentlichen  Sinne  bezeichnet  Uisdiq  nur 
die  affirmative  Aussage.  Vgl.  dazu  Fahr  ed-Din  er-B&z!,  Muhassal,  Anfang: 
„Wenn  wir  eine  Wesenheit  erkennen,  so  betrachten  wir  entweder  dieselbe  so 
wie  sie  in  sich  isti  ohne  über  dieselbe  ein  negatives  oder  positives  Urteü  zu 
formulieren.  —  Dies  ist  die  begriffliche  Auffassung.  —  Oder  wir  urteilen  über 
dieselbe  positiv  oder  negativ.  Dies  ist  das  Urteil  (das  Wahrheit  oder  Falsch- 
heit enthält)''.  Arist  17 al:  ^Emc  öl  Xoyoq  Snaq  arifAovzucoq  ovx  foq  Sqyocvov 
ölk  dXX*  <ig  TiQoeiQfjftai  f  xata  avvd'^xjjv,  ctJKXpavzucog  öh  oÜ  n&q,  iXk'  iv  lu 
xo  aXrjd^Bvsiv  17  (p&oöeo^at  vnoQXBi. 

')  Wörtlich:  „die  nicht  darin  besteht,  daß  sie  ...  selbst  sind".  Mit 
diesen  befaßt  sich  die  philosophia  practica,  die  Ethik. 

«)  wortlich:  „noch  auf  die  Qualität  des  Prinzipes  einer  Handlung, 
insofern  es  ein  Prinzip  ethischer  Handlungen  ist**. 

^  Auch  die  Metaphysik  betrachtet  die  menschlichen  Handlungen  und 
ihre  Prinzipien,  jedoch  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Seins,  des  Wirklichen, 
nicht  sofern  sie  in  den  Bereich  der  Ethik  gehören. 

1* 


Digitized  by 


Googk 


Die  praktische  Philosophie,  so  wurde  femer  gezeigt,  ist 
diejenige,  die  zunächst  die  Vollendung  der  theoretischen  0  Denk- 
fähigkeit erstrebt,  indem  (durch  sie)  ein  begrifflich  auffassendes 
und  urteilendes  Wissen  von  Dingen  (im  Geiste)  auftritt,  die 
unsere  Handlungen  selbst  sind.  Der  Zweck  dieses  theoretischen 
Wissens  ist  der,  daß  wir  in  zweiter  Linie  von  dieser  Wissenschaft 
die  Vollendung  der  praktischen  Fähigkeit  durch  gute  Charakter- 
eigenschaften erlangen. 

Es  wurde  weiterhin  erwähnt,  daß  die  spekulative  Philosophie 
in  drei  Teile  zerfällt,  nämlich  in  die  Naturwissenschaft,  Mathematik 
und  Metaphysik;-)  femer,  daß  das  (formelle)  Objekt 3)  der  Natur- 
wissenschaft die  Körper  sind,  insofem  sie  Bewegung  und  Ruhe 
besitzen.*)  Sie  untersucht  die  Akzidenzien,  die  ihnen  infolge  dieser 
Bestimmungen  (der  Bewegung  und  Ruhe)  notwendig*)  zukommen; 
ferner,  daß  das  Objekt  der  mathematischen  Wissenschaften  ent- 
weder das  seinem  Wesen  nach  Quantitative  ist,  das  frei  ist  von 
der  Materie,«)  oder  dasjenige,  was  eine  Quantität  (als  Akzidenz, 
nicht  als  Wesen)  besitzt^)    Sie  untersucht  in  diesem  Objekte  die 


<)  Sie  ist  ja  eine  deduktiv  schließende  Wissenschaft  und  als  solche 
Spekulation,  nicht  Praxis. 

•)  Wörtlich:  „die  göttliche  Wissenschaft". 

')  Dem  vTtoxelfiBvov  wird  das  xcmjyoQovfievov,  das  Prädikat  gegenüher- 
gesteUt  Jedoch  wird  es  auch  als  Ohjekt  des  Wissens  gehrancht.  Metaph. 
982  a  23:   i  yoQ  fiakcaza  ax<ov  r^v  xaO^oXov  eniaxrjfiyv  olöi  luoq  nivta  x& 

V7lOX€lfA€Va. 

*)  Die  Übereinstimmung  mit  Aristoteles,  Metaph.  1064b  1—2,  ist 
wörtlich.  Thomas,  Metaph.  XI,  lect.  7:  Ex  hoc  nlterios  concludit  qnod  tria 
snnt  genera  specolatiTanim  sdentiamm:  scilicet  naturalis  quae  considerat  ea 
mobilia,  quae  in  sui  definitione  materiam  sensibilem  recipinnt;  et  mathematica, 
quae  considerat  immobilia,  quae  non  recipiunt  materiam  sensibilem  in  sui  de> 
finitione,  licet  habeant  esse  in  materia  sensibili;  et  theologia  quae  est  circa 
entia  penitus  separata.  Ebenso  Arist,  Metaph.  1059  b  16.  Thomas,  ibid., 
lect.  1:  Totum  negotium  naturalis  philosophiae  est  circa  ea  quae  habent  in 
seipeis  prindpium  motus  et  quietis,  quae  naturalia  dicuntur. 

»)  per  se,  xa^^  airco. 

*)  Cod.  c:  „entweder  das  Quantitative  ist,  das  seinem  Wesen  nach  frei 
ist,  von  der  Materie  . . . ". 

^  Aristoteles  betont  hauptsächlich  die  Materialität  des  Objektes  der 
Mathematik.  Metaph.  1064  a  32:  ^  Sh  fiad^ijfiavucr  d-eatQijtix^  fuv  xal  tisqI 
fxivovxa  tu;  (axlvrjra)  crfrny,  aXX^  ov  ifoQioxii,  Dies  widerspricht  nicht  der 
Behauptung,  daß  dasselbe  per  se  genommen  und  nur  in  seinem  Wesen  be- 
trachtet, ein  ffOQKSxov  ist  Phys.  193  b  34:  XfOQioxa  yag  x§  voi^osi  xiv^aetag 
ioxi.    Aus  der  Kombinierung  dieser  beiden  Thesen  ergibt  sich  die  doppelte 


Digitized  by 


Googl( 


Verhältnisse,  die  dem  Quantitativen  als  solchem  zukommen.  In 
ihrer  Definition  ist  daher  keine  Art  der  Materie,  noch  eine  be- 
wegende Kraft  enthaltend)  Femer  wurde  erwähnt,  daß  die 
metaphysischen  Disziplinen  diejenigen  Gegenstände  untersuchen, 
die  in  ihrem  Bestände  und  ihrer  Definition  von  der  Materie 
getrennt  (oder  trennbar)  sind. 

Femer  hast  du  vemommen,^)  daß  die  Metaphysik  diejenige 
Wissenschaft  ist,  die  die  ersten  Ursachen  des  unter  die  Natur- 
wissenschaften und  Mathematik  fallenden  Seins  und  desjenigen, 
was  mit  beiden  in  Verbindung  steht,  (als  „Problem")  unter- 
sucht,^)  und  die  femer  sogar  die  erste  Ursache  und  das  höchste 
Prinzip,*)  nämlich  die  Gottheit  —  Erhaben  sei  ihr  Ruhm!  — 
erforscht  Alles  dieses  hast  du  bereits  in  den  früheren  Teilen 
dieses  Buches  betrachtet.*) 

Aus  dem  Vorhergehenden  ist  nun  aber  noch  nicht  klar, 
welches  das  formelle  und  eigentliche  Objekt  der  Metaphysik  ist 
Es  wurde  dieses  nur  „angedeutet"  in  dem  Buche  über  den 
demonstrativen  Beweis«)  (der  analytica  posteriora),  wenn  du 
dich  dessen  erinnerst    Es  wurde  dort  ausgeführt,  daß  in  allen 


Bestimmung  Avieemias.  Die  erste  bestunmt  das  obiectnm  formale  (=  Arist, 
Phys.  193  b  34),  die  zweite  das  obiectnm  materiale,  den  quantitativen  Gegen- 
stand (==  Arist  1064  a  32).  Es  soUen  nicht  zwei  unabhftngige  Objekte  be- 
zeichnet werden,  sondern  ein  und  dasselbe  in  verschiedener  Auffassung.  Durch 
die  Aufstellung  des  obiectnm  formale  wiU  Avicenna  es  ermiJglichen,  die  Astro- 
nomie und  Musik  in  die  mathematischen  Wissenschaften  hineinzuziehen.  Beide 
sind  an  eine  Materie  gebunden. 

Avicenna  unterscheidet  in  jeder  Wissenschaft  Objekt  und  Probleme. 
Das  Direkt  ist  nicht  Problem,  sondern  Voraussetzung.  Problem  kann  es  nur 
in  einer  höheren,  subaltemierenden  Wissenschaft  werden.  Probleme  sind  für 
jede  Wissenschaft  nur  die  Akzidenzien  ihres  Objektes. 

*)  Durch  die  Aufnahme  dieser  Bestimmungen  würde  sich  der  Gegenstand 
als  Olijekt  der  Naturwissenschaft  kennzeichnen. 

*)  Avicenna  beabsichtigte  in  diesem  Kap.  nur  aus  den  firüheren  Aus- 
einandersetzungen alle  Daten  zusammenzutragen,  ans  denen  sich  irgendwelche 
Bestimmungen  für  das  Objekt  der  Metaphysik  gewinnen  lassen,  auch  wenn 
dieselben  vorderhand  noch  wenig  zusammenhftngend  erscheinen. 

*)  Sie  muß  daher  ein  „Objekt''  besitzen,  das  einer  höheren  Ordnung 
angehört  als  die  Objekte  jener  Wissenschaften. 

*)  Wörtlich:  „causam  causarum  et  prindpium  principiorum". 

*)  Vgl.  die  Einleitungen  zur  Logik  und  Naturwissenschaft,  z.  B.  I, 
Teil  I,  Kap.  a 

•)  Logik  V,  Teü  I,  Kap.  1  und  2. 


Digitized  by 


Google 


6 

übrigen  Wissenschaften  (abgesehen  von  der  Metaphysik)  dir  ein 
Gegenstand  begegnete,  der  das  Objekt  war,  sodann  (zweitens) 
Dinge,  die  durch  Untersuchung  festgestellt  werden  sollten  (also 
Probleme)  und  (drittens)  allgemein  zugegebene  Grundsätze,  J) 
aus  denen  die  Beweise  (wie  aus  Prämissen)  zusammengesetzt 
werden. 

Bis  jetzt  hast  du  noch  nicht  in  jeder  Beziehung  klar 
erkannt,  welches  das  Objekt  dieser  Wissenschaft  (der  Meta- 
physik) sei  und  ob  es  die  erste  Ursache  2)  selbst  sei,  so  daß  der 
Zweck  (dieser  Wissenschaft)  der  wäre,  die  Eigenschaften  und 
Handlungen  derselben  oder  auch  andere  Begriffe  zu  erkennen.^) 
Femer  hast  du  manchmal  gehört,  daß  es  hier*)  eine  Philosophie 
im  wahren  Sinne  des  Wortes  gebe  und  eine  erste  Philosophie,*) 
und  daß  sie  die  ersten  Prinzipien  der  übrigen  Wissenschaften 
richtig  stellt,«)  und  daß  sie  im  eigentlichen  Sinne  die  Weisheit 
isf)  Femer  hast  du  das  eine  Mal  vemommen,  daß  die  Weisheit 
die  vollkommenste  Erkenntnis  des  vollkommensten  Objektes  ist; 
ein  anderes  Mal,  daß  sie  die  Erkenntnis  ist,  die  das  richtigste 
und  unzweifelhafteste  Wissen  bedeutet;  wiederum  ein  anderes 


^)  Ayiceima  faßt  in  seinen  AufisteUungen  vielfach  Gredanken  klar  zu- 
sammen, die  sich  in  den  aristotelischen  Schriften  nur  zerstreut  finden.  Da- 
durch zeigt  er,  wie  sehr  er  die  Lehren  des  Stagiriten  hehersrcht.  Dem 
Probleme  entspricht  das  aristotelische  Z^zovfjievov:  ra  lC,i]tovfi€va  rittoQta 
(8u,  öioxt,  El,  xi)  Analytica  poster.  89  b  24.  Die  principia  dgxoL  werden 
definiert:  SQ-bv  yvotatov  x6  7iQ6tyfia  TiQöhov,  Sie  sind  in  sich  evident  und 
vermögen  daher  andere  Gegenstände  aufzuklären.  Mit  TiQoßXrifia  bezeichnet 
Aristoteles  das  Objekt  des  topischen  Beweises. 

•)  Die  Bezeichnung  „Theologie"  im  Sinne  von  Metaphysik,  wie  sie  bei 
Avicenna  durchgängig  angewandt  wird,  könnte  den  Gedanken  wachrufen,  Gott 
sei  das  eigentliche  Objekt  dieser  Wissenschaft. 

')  Bildet  die  erste  Ursache  selbst  den  Gegenstand  dieser  Wissenschaft, 
dann  liegt  es  nicht  im  Bereiche  derselben,  die  Existenz  dieses  Objektes  zu 
erweisen;  sondern  die  Existenz  derselben  vorausgesetzt,  kOnnte  sie  nur  di9 
übrigen  sich  steUenden  Probleme  untersuchen. 

*)  d.  h.  nach  Abschluß  der  übrigen  Wissenschaften  als  Schlußstein  des 
STstemes. 

»)  Vgl.  Phys.  194  b  14;  Metaph.  1026  a  16:  tiqwt^  <piXoao<pLa. 

^  Wörtlich:  „ihnen  die  Bichtigkeit  mitteilt".  Die  der  Metaphysik 
untergeordneten  Wissenschaften  partizipieren  also  von  der  Evidenz  der  prima 
philosophia,  die  die  Prinzipien  der  übrigen  Wissenschaften  beweist 

0  Weisheit  bezeichnet  hier  schlechthin  die  höchste  VoUendung  des  Er- 
kennens.  Arist,  Ethik  1141a  16:  ^  cotpla  ioü  xtd  iniaxi^fiij  xtd  voCq  xSv 
xifiuBxaxtov  xfj  (praei. 


Digitized  by 


Googk 


Mal,  daß  sie  die  Wissenschaft  von  den  ersten  Ursachen  des 
Weltalls  ist  Dieses  hast  da  vernommen,  ohne  daß  dn  wußtest, 
was  (welches  Inhaltes  im  einzelnen)  diese  erste  Philosophie 
nnd  was  diese  Weisheit  sei  und  ob  die  (ebengenannten)  drei 
Definitionen  oder  Eigenschaften  0  einer  einzigen  Kunst  zukommen 
oder  verschiedenen,  von  denen  jede  einzelne  „Weisheit"  genannt 
würde.  Deshalb  wollen  wir  dir  nun  erklären,  daß  diese  Wissen- 
schaft, um  die  wir  uns  bemühen,  die  erste  Philosophie  ist,  daß 
sie  femer  die  Weisheit  schlechthin  bedeutet,  und  daß  die  drei 
Eigenschaften  (daß  sie  nämlich  die  erhabenste,  die  sicherste 
und  sich  auf  die  ersten  Ursachen  erstreckende  Erkenntnis  sei), 
mit  denen  die  Weisheit  bezeichnet  wurde,  Eigenschaften  einer 
einzigen  Kunst  sind,  nämlich  dieser  Kunst  (der  Metaphysik). 

Es  ist  bekannt,  daß  jede  Wissenschaft  ein  ihr  eigentümliches 
Objekt  habe,  und  daher  wollen  wir  jetzt  das  Objekt  dieser  (unserer) 
Wissenschaft  erforschen,  welches  es  sei,*)  und  erwägen,  ob  das 
Objekt  dieser  Wissenschaft  das  eigentümliche  Wesen  J^)  Gottes 
selbst  sei  oder  nicht,  und  ob  dann  Gott  vielmehr  nur  ein  einzelnes 
Objekt  aus  der  großen  Anzahl  der  Objekte  dieser  Wissenschaft 
sei.*)  Daher  behaupte  ich,  dieses  (Gott)  kann  nicht  das  Objekt 
(der  Metaphysik)  sein;  denn  das  Objekt  einer  jeden  Wissenschaft 
ist  etwas,  das  innerhalb  dieser  Wissenschaft  als  existierend 
vorausgesetzt  wird,  indem  nur  seine  Verhältnisse  untersucht 
werden  (nulla  scientia  probat  suum  objectum).  An  anderen 
Orten  wurde  dieses  bereits  festgestellt.^)  Die  Existenz  Gottes 
kann  nun  aber  in  dieser  Wissenschaft  nicht  etwas  allgemein 
Zugestandenes  (und  Vorausgesetztes)  nach  Art  eines  Objektes») 
sein;  sie  soll  vielmehr  erst  in  ihr  als  Problem  untersucht  werden. 


0  Avicemia  nemit  die  obigen  Begriffisbestiminiuigen  der  Metaphysik 
nicht  Definitionen,  weil  er  dieselben  nur  als  descriptiones  der  Metaphysik  an- 
sieht. Sie  können  nur  dann  einer  einzigen  Wissenschaft  zukommen,  wenn  es 
gelingt,  sie  alle  unter  ein  obiectnm  formale  zusammenzufassen;  denn  eine 
einzige  Wissenschaft  kann  nur  ein  solches  Objekt  besitzen. 

2)  xL  iativ  Arist.,  Analyt  ü,  89  b  24. 

^  Wörtlich:  „die  Individualität,  d.h.  die  einzigartige  Natur  Gottes'^ 

^  Cod.  a  Glosse:  „in  diesem  FaUe  untersuchen  wir,  ob  die  Metaphysik 
über  die  Erkenntnis  Gottes  (neben  anderen  Problemen)  handelt''. 

^  Logik  y,  Teil  I:  Die  Lehre  vom  demonstrativen  Beweise. 

^  Was  fUr  eine  Wissenschaft  Problem  ist,  kann  in  ihr  nicht  Objekt 
werden.  Die  Wissenschaft  setzt  zweierlei  voraus,  allgemeine  Prinzipien  und 
ein  Objekt.  Nur  letzteres  könnte  für  Gott  in  Frage  kommen. 


Digitized  by 


Googk 


8 

Wenn  dieses  sich  nicht  so  verhielte,  dann  müßte  einer  von 
folgenden  Fällen  eintreten:  Die  Existenz  Gottes  müßte  entweder 
in  dieser  Wissenschaft  (Metaphysik)  Voraussetzung  und  zugleich 
in  einer  anderen  Problem  sein,  oder  in  ihr  Voraussetzung  sein, 
ohne  zugleich  in  einer  anderen  Problem  zu  werden.  Beide  FäUe 
sind  aber  auszuschließen,  denn  die  Existenz  Gottes  kann  nicht 
in  einer  anderen  Wissenschaft  Problem  der  Untersuchung  sein. 
Die  übrigen  Wissenschaften  sind  nämlich  entweder  ethische  oder 
politische  oder  naturwissenschaftliche  oder  mathematische  oder 
logische.  Im  Bereich  der  philosophischen  0  Disziplinen  gibt  es 
nun  aber  keine  andere  als  die  hier  aufgezählten  Wissenschaften,*) 
und  auch  nicht  in  dem  geringsten  Teile  von  ihnen  wird  die 
Existenz  Gottes  zum  Probleme  der  Untersuchung,  noch  kann') 
dies  überhaupt  der  Fall  sein  (weil  diese  Wissenschaften  sich  nur 
mit  dem  außergöttlichen  Sein  befassen).  Du  weißt  dieses  schon 
durch  die  geringste  Betrachtung  über  die  Grundsätze,  die  dir 
häufig  begegnet  sind.*)  Auf  der  anderen  Seite  wäre  es  ebenso- 
wenig möglich,  daß  die  Existenz  Gottes  in  keiner  anderen 
Wissenschaft  das  Problem  der  Untersuchung  bildete;  denn  sonst 
würde  dieselbe  überhaupt  in  keiner  Wissenschaft  Problem  sein. 
Dann  aber  müßte  die  Existenz  Gottes  entweder  in  sich  evident 
sein  (wie  die  ersten  Denkprinzipien,  die  nie  Problem  werden 
können)  oder  nicht  beweisbar*)  durch  philosophische  Unter- 
suchung. Nun  aber  ist  sie  weder  in  sich  evident,  noch  auch 
unbeweisbar;  denn  es  gibt  einen  Indizienbeweis«)  für  dieselbe. 
Wie  könnte  femer  die  Existenz  des  Unbeweisbaren  als  selbst- 


^)  Wörtlich:  „sdentianiin  sapientialiiuii'*.  „Weisheit"  heseichnet  also 
hier  die  Philosophie  im  allgemeinen. 

»)  Wörtlich:  „als  diese  Einteilung**. 

^  Ayicenna  heahsichtigt  bis  hierhin,  nur  indnküv  zu  konstatieren,  daß 
der  Gottesbeweis  in  keiner  untergeordneten  Wissenschaft  vorkommt  Im 
folgenden  will  er  deutlich  nachweisen,  daB  dies  schlechterdings  unmöglich  ist 

*)  Die  Grundgedanken  des  Systems  der  Wissenschaften  dienten  häufig 
als  Einleitung  zu  philosophischen  Abhandlungen. 

»)  Wörtlich:  „desperata". 

^  Es  ist  nicht  ein  Beweis  gemeint,  der  aus  allgemeinen  Prinzipien 
deduziert  {bajän);  in  dieser  Weise  können  nur  Uniyersalia  nachgewiesen 
werden.  Einen  solchen  Beweis  gibt  es  also  nicht  für  die  Existenz  Gottes. 
Vgl.  Metaphysik,  Abhandl.  Vm,  Kap.  5  Ende.  Der  hier  bezeichnete  Beweis 
ist  also  ein  solcher,  der  von  Tatsachen  ausgeht,  ddUl,  also  eine  „singulare** 
Aussage  zur  praemissa  minor  hat  Dann  kann  er  audi  auf  einen  singul&ren 
Gegenstand,  Gott,  schließen. 


Digitized  by 


Googk 


9 

verständlich  vorausgesetzt  werden!  Daher  bleibt  nur  noch  die 
eine  Möglichkeit  übrig,  daß  die  Untersuchung  dieses  Problems 
ansschließlich  in  der  Metaphysik  stattfindet 

Diese  Untersuchung  wird  in  zweifacher  Weise  geführt. 
Entweder  erstreckt  sie  sich  auf  die  Existenz  Gottes  0  oder 
auf  seine  Eigenschaften.  2)  Wenn  nun  aber  die  Untersuchung 
über  die  „Existenz"  Gottes  als  „Problem"  in  die  Metaphysik 
gehört,  so  kann  sie  nicht  zugleich  das  „Objekt"  dieser  Wissenschaft 
sein;  denn  keine  Wissenschaft  befaßt  sich  damit,  die  Existenz 
ihres  Objektes  zu  erweisen.  Im  folgenden  3)  wollen  wir  femer 
dartun,  daß  die  Untersuchung  betreffs  der  Existenz  Gottes  nur 
in  diese  Wissenschaft  gehört,  da  es  dir  betreffs  dieser  Wissenschaft 
bereits  klar  ist,  daß  sie  die  von  der  Materie  absolut  freien*) 
Substanzen  untersucht.  In  den  Naturwissenschaften*)  ist  es 
bereits  klar  dargetan  worden,  daß  Gott  kein  Körper,  noch  eine 
körperliche  Kraft  sei.  Er  ist  vielmehr  nur  Einer,  frei  von  der 
Materie  und  ohne  jedwede  innere  Teilnahme  an  der  Bewegung.«) 
Daher  muß  es  die  Metaphysik  sein,  die  sich  mit  dem  besägten 
Probleme  befaßt  Was  nun  von  demselben  bereits  in  den  Natur- 
wissenschaften dargestellt  wurde,  bildete  nicht  ihr  eigentliches 
Objekt  Es  wurde  in  ihnen  verwandt  als  etwas,  das  eigentlich 
nicht  in  ihren  Bereich  gehört.  Man  bezweckte  nur  damit  die 
Betrachtung  des  individuellen')  Wesens  der  ersten  Ursache 
eiliger  herbeizuführen  und  dadurch  das  Verlangen  zu  befestigen, 
die  Wissenschaften   zu   erwerben,  s)    und   die  Sehnsucht   nach 


«)  Metaph.  VIU,  1—3. 

«)  Metsph.  Vm,  4—7. 

^  Kap.  2  Ende. 

*)  el-mnfuiq&t  =  ta  ;(a>(>urra. 

*)  Siehe  NatnrwissenBchaften,  n.  TeU. 

*)  Ayicenna  hebt  in  diesem  Znsammenhange  den  Begriff  der  Bewegung, 
der  Einheit  und  des  Freiseins  von  der  Materie  besonders  hervor ,  weil  aUes, 
was  Bewegung  hat,  eine  Vielheit  darsteUt  und  mit  Materie  behaftet  ist, 
Gegenstand  der  Naturwissenschaften  ist.  Wenn  Gott  also  in  seinem  Wesen 
frei  ist  von  jeder  Bewegung,  Materie  und  Vielheit,  so  kann  er  nicht  Gegen- 
stand der  Naturwissenschaften  sein. 

^)  Gott  besitzt  kein  „Wesen '*  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes,  vgl. 
Metaphysik  VUJ,  5.  Daher  wird  dasselbe  als  „Individualität"  bezeichnet,  die 
in  Gott  mit  dem  „Wesen"  identisch  ist;  vgl.  Thomas,  Sum.  theol.  I,  q.  3,  4 f. 

<^)  Cod.  c:  „zu  eijagen";  vgl.  Arist,  Metaph.  Kap.  6,  1063  a  14  und  8, 
1084  b  24:  atriov  Se  zfjq  cvfißaivovavn  ifio^tiag  Su  &fia  ix  tSv  fiad^t^fiariov 
i&^vov  xal  ix  zwv  koymv  xöv  xad-oXov. 


Digitized  by 


Googk 


10 

Gk)ttO  zn  steigern,  um  dadurch  zur  eigentlichen  und  wahren 
Erkenntnis  Grottes  zu  gelangen. 

Da  es  nun  notwendigerweise  ein  Objekt  dieser  Wissenschaft 
geben  muß  und  da  es  klar  geworden  ist,  daß  derjenige,  2)  den 
man  für  ihr  eigentliches  Objekt  hielt,  3)  nicht  ihr  Objekt  ist,  so 
wollen  wir  nun  darüber  betrachten,  ob  ihr  Objekt  vielleicht  die 
höchsten  Ursachen  aller  wirklichen  Dinge  sind,  nämlich  alle 
vier  Ursachen  zugleich,  nicht  etwa  nur  eine  einzige  von  ihnen,*) 
über  die  keine  philosophischen  Lehren  (die  ihr  Wesen  wieder- 
geben) aufgestellt  werden  können.*)  Auch  dieses  halten  viele 
Philosophen  für  das  Objekt  der  Metaphysik.  Ihre  Ansicht  ist 
jedoch  unhaltbar;  denn  die  Untersuchung  über  die  vier  Ursachen 
befaßt  sich  mit  denselben  entweder  insofern  sie  I.  wirkliche 
Dinge  (entia)  oder  n.  insofern  sie  schlechthin  Ursachen  sind 
oder  IQ.  sie  betrachtet  jede  einzelne  von  den  vieren  in  ihrer 
eigentümlichen  Art,^)  d.  h.  die  Betrachtung  richtet  sich  auf  das 
Wesen  derselben  in  der  besonderen  Hinsicht,  daß  dieses  die 
Wirkursache,  das  andere  das  aufnehmende  Prinzip  und  jenes 
(die  causa  efficiens  oder  finalis)  wiederum  ein  anderes  Ding  ist, 
oder  IV.  in  der  Hinsicht,  daß  alle  diese  Ursachen  eine  Summe 
bilden,  die  sich  aus  den  einzelnen  zusammensetzt 


")  Wörtlich:  „nach  dem  Orte,  der  in  jener  Welt  ist".  Vgl  hebräisch 
maqöm  in  der  Bedeutung  Gott.  Es  ist  der  Ort,  der  die  Richtung  angibt,  die 
der  Betende  einhalten  muß,  ursprünglich  der  Nordpol  In  diesem  Sinne  ist 
der  Ansdmck  zn  verstehen:  „das  WeltaU  kreist  nm  die  erste  Ursache".  Vgl. 
Alf&r&M,  Ringsteine  Nr.  13  Ende. 

»)  Cod.  c:  „Gott,  den  ...". 

')  Dasselbe  Problem  behandelt  Alfarabi  in  seiner  Abhandlung  über  die 
Tendenzen  und  Ziele  der  aristotelischen  Metaphysik  (Dieterid,  Al&rabis  philo- 
sophische Abhandlungen,  Leiden  1892,  AbhandL  Nr.  2). 

*)  Die  Ansicht,  die  eine  einzige  Ursache,  die  erste  Wirkursache,  als 
Objekt  der  Metaphysik  bezeichnet,  ist  die  eben  erwähnte,  die  die  Metaphysik 
mit  der  Theologie  identifiziert.    Cod.  c  add.:  „oder  einige  von  ihnen". 

^  Über  Qott  können  keine  adäquaten  ibrkenntnisse  erlangt  werden.  Der 
arabische  Ausdruck  bezeichnet  sonst:  „einer  Doktrin  anhängen",  was  eben&Us 
einen  guten  Sinn  gibt:  „eine  Auffassung,  der  man  nicht  beipflichten  kann". 

*)  I.  ist  die  metaphysische  Untersuchung  über  das  Seiende, 
n.  die  ebenfalls  metaphysische  über  die  Ursachen  als  Prinzip  der 

übrigen  Wissenschaften, 
m.  und  IV.  sind  partikularwissenschaftliche. 
Die  n.  Untersuchung  betrachtet  innerhalb  der  Metaphysik  die  Ursachen  nicht 
als  Olgekte,  wie  der  Einwand  aufteilt,  sondern  als  I^obleme. 


Digitized  by 


Googl( 


11 

Darauf  erwidern  wir:  die  metaphysische  Betrachtung  kann 
die  Ursachen  nicht  insofern  untersuchen,  als  sie  n.  schlechthin  ^ 
Ursachen  sind.  In  diesem  Falle  wäre  der  Zweck  der  Meta- 
physik die  Ergründung  der  Verhältnisse,^)  die  den  Ursachen  als 
solchen  wie  Akzidenzien  zukommen  (nicht  insofern  sie  I.  entia 
oder  determinierte  Ursachen  HL  und  IV.  sind).  Daß  dies  nicht 
die  Aufgabe  der  Metaphysik  sein  kann,  ist  aus  verschiedenen 
Hinsichten  klar.  Erstens:  die  Metaphysik  untersucht  Begriffe, 
die  nicht  eigentümliche  Akzidenzien  der  Ursachen  als  solche 
sind,  wie  z.  B.  den  des  Universellen  und  Singulären»)  (d.  h.  das 
erkenntnistheoretische  Problem,  Abh.  V),  der  Potenz  und  des 
Aktes  (Abh.  IV,  2),  der  MögUchkeit  und  der  Notwendigkeit 
(Abh.  I,  6  und  7)  u.  s.  w.  (die  Metaphysik  kann  sich  der  Unter- 
suchung dieser  Probleme  aber  nicht  entziehen);  denn,*)  wie  es 
unzweifelhaft  klar  ist,  sind  diese  Objekte  so  beschaffen,  daß  sie 
irgendwo  untersucht  werden  müssen.  Nun  aber  stellen  sie  keine 
Akzidenzien  dar,  die  den  physischen  und  mathematischen  Gegen- 
ständen eigentümlich  sind,  noch  auch  fallen  sie  in  den  Bereich 
der  ethischen  und  logischen  Wissenschaften,  und  daher  bleibt 
nur  noch  die  eine  Möglichkeit,  daß  ihre  Untersuchung  der  von 
(allen)  Teilen  (des  menschlichen  Wissens)  noch  übrig  bleibenden 
Wissenschaft  zufalle,  nämlich  dieser  Wissenschaft  (der  Meta- 
physik). Femer  findet  die  Erkenntnis  der  Ursachen  im  all- 
gemeinen Sinne  nur  statt,  nachdem*)  die  Existenz  der  Ursachen 
für  die  zu  Ursachen  in  Beziehung  stehenden*)  Dinge  festgestellt 


>)  ÄTicenna  übergebt  die  unter  L  angefübrte  Betracbtnngsweise,  weil 
diese  in  den  Bereich  der  Metapbysik  fiUlt  (Abh.  YT)  und  bier  die  nicbtmeta- 
physischen  BetracbtnngsweiBen  aosgescblossen  werden  sollen. 

*)  Das  Objekt  jeder  Wissenschaft  ist  innerhalb  der  entsprechenden 
Wissenschaft  nicht  Gk^nstand  des  Beweises,  sondern  wird  von  ihr  vorans- 
geeetet.  Probleme  nnd  Gegenstand  des  Beweises  sind  nur  die  Akzidenzien 
dieses  Objektes.  Im  angegebenen  Falle  dürfte  also  die  Metaphysik  nnr  solche 
Probleme  behandeln,  die  die  Akzidenzien  der  Ursachen  als  solche  betreffen. 
Sie  konnte  nicht  die  Existenz  der  Ursachen  oder  wesentlich  von  diesen  Ter- 
schiedene  Fragen  behandeln. 

*)  Cod.  a  liest:  der  Summe  nnd  des  Teiles  (Abh.  VI,  2). 

^  Im  arabischen  wird  dieser  Satz  als  minor  des  SyUogisinns  angefttgt. 

*)  Znerst  ist  die  Frage  nach  der  Existenz  des  Gegenstandes,  dann  die 
nach  seinem  Wesen  zn  erledigen. 

^  Der  arabische  Aasdmck  bezeichnet  nicht  nnr  die  Beziehung  der  Ab- 
hängigkeit (von  der  Zweck-  nnd  Wirknrsache),  sondern  anch  die  des  Besitzes 
(besttgüch  der  Formal-  nnd  Materialorsache). 


Digitized  by 


Googk 


12 

ist  Denn  solange  wir  die  Existenz  der  9  Ursachen  für  die 
verursachten  Dinge  noch  nicht  festgestellt  haben,  indem  wir 
beweisen,  daß  die  Existenz  der  Dinge  abhängig  ist  von  etwas, 
das  ihnen  im  Dasein  2)  vorausgeht,  ist  der  Verstand  nicht 
genötigt,  die  Existenz  der  Ursache  im  absoluten  Sinne  3)  an- 
zunehmen. (Der  Beweis  für  die  Existenz  der  Ursachen  ist  aber 
nicht  überflüssig);  denn  in  der  empirischen  Welt  existiert  eine 
gewisse  Ursache;  jedoch  nimmt  die  äußere  Sinneswahmehmung 
nur  das  Zusammentreffen*)  von  Erscheinungen  wahr.  Wenn 
nun  zwei  Dinge  zusammentreffen,  ergibt  sich  noch  nicht  ndt 
Notwendigkeit,  daß  das  eine  Ursache  des  anderen  ist  Auch 
wird  das  Grefühl  der  Befriedigung,  das  die  Seele  empfindet  bei 
der  Menge  der  Erkenntnisse,  die  die  äußere  Sinneswahmehmung 
und  das  Experiment  ihr  zuführen,  uns  bekanntlich  nicht  sicher 
bewußt,*)  wenn  wir  nicht  erkennen,  daß  die  in  den  meisten 
Fällen«)  in  die  Erscheinung  tretenden  Dinge  die  natürlich  not- 
wendigen und  die  frei  gewollten  sind.  Dies  alles')  aber  setzt 
die  Existenz  erster  Ursachen  und  die  Anerkennung  der  Existenz 
erster  und  zweiter  Ursachen  voraus.  In  sich  evident  sind  diese 
Aufstellungen  nun  nicht!  Sie  sind  nur  durch  Vermittlung 
(evidenter  Erkenntnisse)  sicher  gestellt    Den  Unterschied  dieser 

*)  Avicenna  fügt  stets  den  bestimmten  Artikel  hinzu,  weil  es  sich  nur 
um  die  bekannten  vier  Ursachen  handeln  kann. 

•)  Dies  bedingt  nur  ein  wesentliches,  also  begriffliches  Später  der 
Wirkung,  das  ihre  eventuelle  Gleichzeitigkeit  mit  der  Ursache  nicht  aus- 
schließt (anfangslose  Schöpfung). 

•)  d.  h.  ohne  zu  präzisieren,  ob  eine  bestimmte  von  den  vier  Ursachen 
existiere.    Der  Erkenntnis  des  Partikulären  geht  die  des  UniverseUen  voraus, 

*)  Cod.  c :  „die  sich  gegenseitig  nährenden  Dinge"  also  die  regelmäßige 
Simultaneität  (z.  B.  Stellung  der  Erde  und  Verfinsterung  des  Mondes)  oder 
Sukzession  von  Phänomenen  wahr.  Der  Begriff  des  kausalen  Wirkens  wird 
also  von  unserem  Geiste  in  die  Dinge  hineingedeutet  (Gaz&li,  Hume,  Sextus 
Empiricus)  oder  erkannt  durch  geistige  Intuition  (Avicenna). 

*)  WörtUch:  „bestätigt". 

•)  „sicut  in  pluribus" ;  vgl.  Arist.  <ig  inl  ro  tioXv  Khetor.  1382  b  6  et 
passim;  td  dg  iiü  zo  tcoXv  (synonym  iv  xoXq  Tikelaroig)  hwiieva  steht  im 
Gegensatz  zu  n&oiv  inofieva,  das  ausnahmslos  regelmäßig  Eintretende.  Die 
Ursachen  wirken  mit  absoluter  Notwendigkeit.  Werden  sie  aber  durch 
andere  Agenzien  gehindert,  so  lassen  sie  Ausnahmen  zu,  die  aber  immer  in 
der  Minderzahl  bleiben. 

')  Auch  die  freien  Handlungen  gehen  also  auf  notwendig  wirkende 
Naturursachen  zurttck,  sind  demnach  determiniert.  Thomas  lehrt  demgegenüber 
nur  eine  Determination  durch  die  Gottheit  mit  Ausschluß  der  zweiten  Ursachen. 


Digitized  by 


Googl( 


13 

beiden  Begriffe  hast  du  bereits  erkannt«)  Es  ist  nicht  in  sich 
evident,  wenn  es  auch  dem  Verständnisse  sehr  nahe  liegt,  daß 
die  neu  auftretenden  Erscheinungen  irgend  eine  Ursache  2)  haben 
müssen,  die  ihrerseits  in  sich  evident  ist.  So  verhalten  sich 
viele  geometrischen  Lehrsätze,  die  in  dem  Buche  {oroix^ia)  des 
Euklid  bewiesen  werden.  Der  demonstrative  Beweis  der  hier 
behandelten  Thesis  wird  nun  aber  nicht  in  den  übrigen  Wissen- 
schaften geführt  und  daher  muß  er  ein  Gegenstand  der  Unter- 
suchung für  die  Metaphysik  sein.  Wie  könnte  auch  die  Existenz 
des  Objektes  der  Wissenschaft,  dessen  Verhältnisse  sie  unter 
(ihren)  Problemen  untersucht,  in  ihr  selbst  zum  Problem  werden! 
Wenn  dieses  sich  nun  so  verhält,  so  ist  femer  klar,  daß  die  Unter- 
suchung über  die  Ursachen  sich  nicht  IQ.  auf  die  eigentümliche 
Existenz  erstreckt,  die  jeder  einzelnen  derselben  zukommt  (so 
daß  also  die  einzelnen  Ursachen  obiecta  formaJia  der  Metaphysik 
wären);  denn  diese  Existenz  ist  ein  „Problem"  der  Metaphysik 
(nicht  ihr  formelles  Objekt).  Femer  bilden  die  Ursachen  nicht 
das  Objekt  der  Metaphysik  IV.  als  Ganzes  und  als  Summe,  ich 
sage  nicht  als  Zusammengefaßtes  5)  und  Allgemeines.*)  Denn  die 
Betrachtung  über  die  Teile  der  Summe  geht  der  Betrachtung  über 
die  Summe  als  Ganzes  voraus,*)  selbst  wenn  es  sich  in  gewisser 
Hinsicht,  wie  du  gesehen  hast,«)  nicht  so  7)  verhält  betreffs  der 


^)  Logik  y,  Teil  L  Es  handelt  sich  um  den  Unterschied  der  Evidenz 
der  Prinzipien  und  der  Konklusionen. 

»)  Wörtlich:  „Prinzip". 

»)  Cod.  c:  „das  Zusammengefaßte  bezeichnet  das  UniverseUe".  Die 
Abstraktion  (ifftnal)  faßt  eine  unbegrenzte  Vielheit  von  Dingen  in  einen 
psychischen  Inhalt  zusammen  (agmcUa  =  sammeln). 

*)  Diese  terminologische  Bemerkung  wiU  besagen,  daß  die  Ursachen 
nicht  als  Abstraktes  und  Allgemeines,  sondern  als  Summe  bezeichnet  werden. 
Für  beides  sind  die  arabischen  Ausdrücke  nahezu  dieselben:  kuUun  =  Ganzes, 
kuü^un  =  UniverseUes). 

*)  Wenn  das  Objekt  der  Metaphysik  die  Ursachen  als  Summe  wäre,  so 
müßten  dieselben  dennoch  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht  kommen,  nachdem 
Yorher  die  einzelnen  Ursachen  untersucht  worden  wären.  Dies  aber  wider- 
streitet der  Natur  des  formellen  Objektes,  das  in  erster  Linie  betrachtet 
werden  muß. 

•)  Logik  I,  Teil  I,  5. 

*)  Das  Universelle  verhält  sich  zu  den  Individuen,  die  seinen  Umfang 
ausmachen,  nicht  so  wie  das  Ganze  zu  seinen  Teilen.  Das  Universelle  wird 
zuerst  erkannt,  das  (}anze  zuletzt,  weil  es  aus  den  Teilen,  die  zusammen- 
treten, entsteht 


Digitized  by 


Googl( 


14 

einzelnen  Individuen,  die  unter  den  Allgemeinbegriff  zusammen- 
gefaßt werden.  Somit  ergibt  sich  notwendig,  daß  auch  die 
Betrachtung  der  einzelnen  Teile  entweder  in  den  Bereich  der 
Metaphysik  gehört  —  dann  müssen  diese  Teile  in  vorzüglichem*) 
Sinne  als  (formelles)  Objekt  der  Metaphysik  bezeichnet  werden  — 
oder  ihre  Untersuchung  gehört  in  eine  andere  (höhere)  Wissen- 
schaft. Nun  aber  gibt  es  keine  andere  Wissenschaft,  die  eine 
Betrachtung  über  die  höchsten  Ursachen  enthielte,  außer  der 
Metaphysik.  Was  aber  die  Behauptung  betrifft,  die  Betrachtung 
erstrecke  sich  auf  die  Ursachen  nur  rücksichtlich  ihrer  realen 
Existenz  und  der  Verhältnisse,  die  ihnen  in  dieser  Hinsicht  zu- 
kommen, so  muß  (dieser  Behauptung  zufolge)  das  ersteh)  Objekt 
(der  Metaphysik)  die  Existenz  als  solche  sein.*)  Dadurch  ist 
zugleich  diese  andere  Ansicht  widerlegt,  daß  das  „Objekt"  der 
Metaphysik  die  höchsten  Ursachen  seien.  Diese  bilden  vielmehr, 
wie  du  einsehen  mußt,  nur  die  Vollendung*)  derselben  und  eines 
ihrer  „Probleme". 


Zweites  Kapitel 

Die  Bestimmung  des  Objektes»)  der  Metaphysilc. 

Das  Objekt  der  Metaphysik  müssen  wir  nunmehr  durch 
(weitere)  Indizien  auffinden,«)  so  daß  wir  den  eigentümlichen 
Zweck  dieser  Wissenschaft  erkennen.  Daher  lehren  wir:  das 
Objekt   der   Naturwissenschaft   war')    der  Körper,    und   zwar 


*)  Weil  äe  in  erster  Linie  und  vor  dem  Ganzen  betrachtet  werden. 

')  Das  „erste*'  Objekt  ist  das  fonneUe,  in  dessen  Hinsicht  das  materielle 
nntersncht  wird.  So  nntersncht  der  Arzt  den  menschlichen  Körper  (obiectom 
materiale)  in  Hinsicht  auf  die  Gesundheit  (obiectum  formale). 

')  Objekt  der  Metaphys.  ist  also  zo  Sv  y  Svy  ens  inquantum  est  ens. 

*)  Vgl  Metaphys.  VI,  5  Ende.  Die  Betrachtung  der  Ursachen  und  be- 
sonders der  Zweckursache  bildet  den  Gipfelpunkt  der  Metaphysik,  kamalf 
YoUendung,  bezeichnet  auch  das  adäquate  Objekt,  dessen  Erreichung  die 
VoUendung  der  betr.  Fähigkeit  ist.    Vgl.  FSr&bt,  Ringsteine  Nr.  17. 

*)  Wörtlich:  „das  Wirklichmachen".  Die  Erkenntnis  des  Objektes  der 
Metaphysik  soU  in  dem  Geiste  „aktueU"  ivegyela  erzeugt  werden. 

*)  dcUÜ  ist  der  Beweis  durch  empirische  Daten,  die  zur  Erkenntnis  des 
gesuchten  Gegenstandes  „hinf&hren"  (=  daUa). 

')  Kap.  1  und  Naturw.  I,  Teil  I,  If.  und  Logik  I,  Teil  1, 1. 


Digitized  by 


Googk 


15 

nicht,  insofern  er  existiert,  noch  insofern  er  Substanz  ist,  noch 
insofern  er  ans  seinen  zwei  Prinzipien,  nämlich  der  Materie  und 
der  Form,  zusammengesetzt  ist,  sondern  insofern  er  ein  Substrat 
der  Bewegung  und  Ruhe  darstellt.  Die  unter  der  Physik 
stehenden  Wissenschaften  sind  noch  weiter  als  diese  (von  dem 
Objekte  der  Metaphysik,  dem  Seienden)  entfernt  Ebenso  ver- 
halten sich  die  ethischen  Wissenschaften.  Das  Objekt  der 
Mathematik  war  femer  entweder  die  im  Verstände  frei  von 
der  Materie  existierende  Ausdehnung  0  oder  der  Begriff  der 
Dimension,  der  im  Verstände  mit  (dem)  der  Materie  verbunden 
ist,^)  oder  drittens  eine  Zahl,  die  frei  ist  von  der  Materie,^)  oder 
viertens  eine  Zahl,  die  in  der  Materie  existiert.*)  Auch  diese 
Untersuchung  richtet  sich  nicht  darauf,  die  Existenz  einer 
unkörperlichen  oder  einer  körperlichen  Ausdehnung,  oder  die 
einer  unkörperlichen  oder  körperlichen  Zahl  zu  erweisen.*)  Die 
Untersuchung  der  mathematischen  Wissenschaften  erstreckt  sich 
nur  auf  die  Zustände,  die  ihrem  Objekte  als  Akzidenzien  zu- 
kommen, nachdem  die  Existenz  desselben  als  eines  so  gearteten 
Objektes  vorausgesetzt  ist.  Die  Wissenschaften,  die  unter  den 
mathematischen  enthalten  sind,  befassen  sich  in  noch  höherem 
Maße  ausschließlich  mit  den  Akzidenzien,  die  solchen  Gegen- 
ständen zukommen,  die  noch  mehr  partikulärer  Natur  sind*)  als 
diese  (vier)  obengenannten  Objekte.  Das  Objekt  der  Logik 
waren,  wie  bekannt, '»)  die  zweiten  Begriffe,»)  die  auf  die  ersten 
Begriffe  (als  ihren  Ausgangspunkt)  hinweisen,  und  die  Unter- 
suchung befaßte  sich  mit  ihnen,  insofern  man  durch  sie  von 
einem  Bekannten  (den  Prämissen)  zu  einem  Unbekannten  (der 
Konklusion)  gelangt,  nicht  insofern  sie  (psychologische)  Begriffe 
sind  und  ihnen  die  durchaus  nicht  von  einer  Materie  abhängige 


')  Objekt  der  Geometrie  und  Stereometrie. 

*)  Objekt  der  Astronomie. 

^  Objekt  der  Arithmetik. 

«)  Objekt  der  Mosik. 

*)  Das  Objekt  dieser  Untersuchong  wäre  nicht  mehr  die  Zahl,  sondern 
das  ens  inqaantnm  est  ens. 

•)  Sie  sind  also  ebenso  wie  die  Objekte  der  einzelnen  Naturwissenschaften 
noch  weiter  von  dem  ens  inqnantum  est  ens  entfernt. 

*)  Einleitung  der  Logik. 

^  primae  intentiones  sind  die  Begriffe  von  den  Dingen  der  Aofienwelt, 
die  snbstantiae  primae;  secnndae  intentiones  entstehen  durch  die  begriffliche 
Fassung  der  primae  intentiones,  die  nach  Arist.  die  substantiae  secnndae  sind. 


Digitized  by 


Google 


16 

Existenz  im  Geiste  oder  eine  Existenz  in  einer  ankörperlichen 
Materie')  zukommt.  Nun  aber  existieren  außerhalb  dieser 
Wissenschaften^)  keine  anderen  mehr.^) 

Femer  ist  die  Untersuchung  über  die  Substanz,  insofern 
sie  existiert  und  Substanz  ist,  und  die  über  den  Körper,  insofern 
er  Substanz  ist,  und  die  über  die  Ausdehnung  und  die  Zahl, 
insofern  beide  Existenz  besitzen  und  in  welcher  Weise  ihnen 
die  Existenz  zukommt,  femer  die  über  die  (wirklichen)  Dinge, 
die  die  Natur  von  Wesensformen  ^haben,  ohne  in  einer  Materie 
zu  sein*)  oder  höchstens  in  einer  anderen  Materie,  als  der  der 
Körper  und  die  Untersuchung  darüber,  wie  sie  existieren,  und 
welche  Art  der  Existenz  ihnen  zukomme  notwendigerweise  als 
ein  besonderes  Problem  hinzustellen.*)  Dies  Problem  kann  nun 
aber  nicht  in  das  Gebiet  der  Wissenschaft  gehören,  die  sich 
mit  den  sinnlichen  Dingen  befaßt  (der  Naturwissenschaft),  noch  in 
das  der  Wissenschaft,  die  sich  mit  Dingen  befaßt,  die  in  sinnlich 
wahrnehmbaren  Gegenständen  sind,  die  aber  durch  die  innere 
Vorstellung  und  die  Definition  von  diesen  Gegenständen  ab- 
strahiert werden,«)  und  daher  gehört  es  in  den  Bereich  derjenigen 
Wissenschaft,  die  sich  mit  einem  Objekte  befaßt,  das  von  der 
Materie  getrennt  ist.')  Betreffs  der  Substanz  ist  es  klar,  daß 
ihre  Existenz,  insofern  sie  ausschließlich  Substanz  ist,*)  nicht 
mit  der  Materie  verbunden  ist,  sonst  könnte  sie  nur  eine  sinnlich 
wahrnehmbare  Substanz  sein.    Was  aber  die  Zahl*)  angeht,  so 


>)  Es  ist  entweder  eine  Idealmaterie  in  der  „Ideenwelt",  also  die  Welt- 
seele nnd  die  Geister,  gemeint  oder  der  menschliche  Geist,  der  als  aufnehmendes 
Prinzip  und  Substrat  der  Begriffe  sich  wie  eine  unkdrperliche  Materie  zu 
ihnen  verh&lt. 

')  Es  soUten  nur  die  nichtmetaphysischen  Wissenschaften  au^;ez&hlt 
werden. 

*)  Das  Objekt,  das  diese  partikulären  Wissenschaften  übrig  lassen,  das 
ens  inquantum  est  ens,  fäUt  also  der  Metaphysik  zu. 

*)  Die  reinen  Geister,  deren  Wesen  als  „species"  bezeichnet  wird,  da  es 
durch  keine  Materie  individualisiert  wird. 

*)  Die  Notwendigkeit  der  Metaphysik  ist  damit  klargelegt. 

*)  d.  h.  der  Mathematik. 

*)  Das  Objekt  der  Metaphysik  wird  dadurch  als  ens  immateriale,  nicht 
mehr  als  ens  inquantum  est  ens  bezeichnet.  Daher  ist  es  die  Absicht  Avicennas, 
die  Immaterialität  der  eben  aufgezählten  Objekte  nunmehr  nachzuweisen. 

*)  d.  h.  der  einfache  Begriff  „Substanz"  besagt  keine  notwendige  Be- 
üehung  zur  Materie. 

*)  Gegenstand  der  Arithmetik  und  Musik. 


Digitized  by 


Googk 


17 

bandet  1)  sie  sich  manchmal  in  sinnlich  wahrnehmbaren  Dingen^ 
manchmal  nicht  Daher  ist  sie  als  „Zahl''  mit  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Dingen  nicht  notwendig  verbunden.  Was  weiter  die 
Ausdehnung  2)  anbetrifft,  so  ist  dieser  Terminus  ein  Wort  mit 
weiter  Bedeutung.  Manchmal  sagt  man  die  Ausdehnung  von 
einem  Gegenstande  aus,  indem  man  damit  die  Dimension  be- 
zeichnen will,  die  dem  physischen  Körper  sein  Bestehen  verleiht. 
Manchmal  sagt  man  sie  von  einem  Gegenstande  aus  und  bezeichnet 
damit  eine  kontinuierliche  Quantität,  die  z.  B.  von  der  Linie,  den 
Flächen  und  dem  in  Grenzen  faßbaren'»)  Körper  ausgesagt  wird. 
Den  Unterschied  beider  (des  mathematischen  und  physischen 
Körpers)  hast  du  schon  kennen  gelernt/)  Keiner  von  beiden  ist 
von  der  Materie  getrennt  Jedoch  ist  die  Ausdehnung  in  dem 
ersten  Sinne  (die  physische)  auch*)  erste  Ursache  für  die 
Existenz«)  der  physischen  Körper,  selbst  dann,  wenn  sie  von 
der  Materie  nicht  trennbar  ist  Ist  sie  deshalb  erste  Ursache 
für  die  Existenz  der  Körper,  so  kann  sie  in  ihrem  Bestände 
nicht  notwendig  von  ihnen  abhängig  sein'')  in  dem  Sinne,  daß 
sie  ihre  Subsistenz  von  den  sinnlich  wahrnehmbaren  Körpern 
hernähme,  vielmehr  nehmen  die  Objekte  der  äußeren  Sinnes- 
wahmehmung  ihre  Subsistenz  von  dieser  (idealen)  Ausdehnung 
her.  Dieselbe  geht  also  dem  Wesen  nach  den  materiellen 
Dingen  voraus.  Die  physische  Gestalt  verhält  sich  nicht  in 
gleicher  Weise;  denn  sie  ist  ein  der  Materie  notwendig  an- 
haftendes Akzidenz,  nachdem  die  Materie  als  begrenzter  Körper 
Substantialität  erlangt  und  als  begrenzte  Fläche  bezeichnet^) 
wird.  Die  Grenzen*)  kommen  nämlich  der  Ausdehnung  notwendig 
zu,  insofern  die  Materie  durch  die  Ausdehnung  vervollkommnet  *«) 

0  Der  arab.  Ausdruck:  Vorhandensein  in  und  ansgesagtwerden  von. 

')  Gegenstand  der  Geometrie  und  Astronomie. 

*)  Der  arab.  Ansdmck  bezeichnet  begrenzt  und  begrenzbar. 

*)  Naturw.  I,  Teil  m,  If.  und  Metoph.  II,  2. 

*)  Abgesehen  davon,  daß  sie  Ausdehnung  ist. 

*)  Die  Wesensform  ist  „Ursache^  für  die  Existenz  des  Dinges.  Die 
Ausdehnung  ist  nun  aber  Wesensform  des  Körpers  (vgL  Metaphys.  n,  2). 

^  Die  Ursache  kann  ihr  Bestehen  nicht  von  der  Wirkung  empfangen. 

»)  Wörtlich:  „ausgesagt  wird". 

*)  Die  Grenzen  sind  die  Vorbedingung  für  die  physische  Gestalt.  Wenn 
nun  die  „Grenzen"  nur  einem  Materiellen  anhaften  kOnnen,  dann  umsomehr 
die  „Gestalt". 

")  „Ausdehnung"  ist  die  natürliche  Vollendung,  d.  h.  ^  ivreX^x^^^  ^^^ 
körperlichen  Sidistanz. 

Horteoi  Dai  Bach  dn  Oeneaung  der  Seele.  2 


Digitized  by 


Googk 


18 

werden  soll  und  sie  inhärieren  der  Ausdehnung  (logisch)  später.*) 
Wenn  dieses  sich  nun  so  verhält,  dann  existiert  die  Grestalt  nur 
in  der  Materie  und  bildet  keine  erste  Ursache,  die  die  Materie 
zur  Wirklichkeit  gelangen  läßt. 

Was  aber  die  Ausdehnung  im  zweiten  Sinne  betrifft  (die 
mathematische  Ausdehnung),  so  müssen  sowohl  ihre  Existenz  als 
auch  ihre  Akzidenzien  untersucht  werden.  Die  Untersuchung 
betreffs  ihrer  Existenz,  welcher  Art  letztere  auch  immer  sein 
und  zu  welchen  Gruppen  des  Seienden  sie  gerechnet  werden 
möge,  ist  keine  Untersuchung  über  einen  Begriff,  der  notwendig 
mit  der  Materie  verbunden  wäre. 

Was  nun  das  Objekt^)  der  Logik  in  sich  selbst  betrachtet 
anbetrifft,  so  liegt  es  unzweifelhaft  außerhalb  der  sinnlich  wahr- 
nehmenden Dinge,  und  daher  ist  es  klar,  daß  alle  diese  Gegen- 
stände in  der  Wissenschaft  behandelt  werden,  die  sich  der 
Untersuchung  desjenigen  Wirklichen  widmet,  dessen  Subsistenz 
niclit  mit  den  materiellen  Dingen  notwendig  verbunden  ist  (also 
der  Metaphysik).  Man  kann  nun  aber  diesen  Gegenständen  kein 
anderes  „Substrat"  ^)  anweisen,  das  ihnen  allen  zukäme  und  dessen 
Zustände  und  Akzidenzien  sie  alle  wären,  als  das  Seiende.^) 

^)  Die  logische  Beihenfolge  ist  für  den  physischen  Körper  also:  Substanz, 
Ausdehnung,  Grenzen,  Gestalt. 

*)  Nach  Kap.  1  sollen  die  Objekte  der  übrigen  Wissenschaften  zu 
„Problemen"  der  Metaphysik  werden.  Dies  ist  nur  dann  möglich,  wenn 
sie  immaterieller  Natur  sind.  Das  Objekt  der  Mathematik  wurde  als 
immateriell  bereits  nachgewiesen.  Das  gleiche  soll  betreffs  des  Objektes  der 
Logik  gezeigt  werden. 

*)  Substrat  und  Objekt  werden  durch  denselben  arabischen  Terminus 
bezeichnet. 

*)  Folglich  gehört  die  Untersuchung  über  die  Substanz  (Prinzip  der 
Naturwissenschaften),  die  Quantität  und  Zahl  (Prinzip  und  Objekt  der 
Mathematik)  und  das  ens  logicum  (Prinzip  und  Objekt  der  Logik),  also  die 
Prinzipien  aller  partikulären  Wissenschaften  als  „Probleme",  in  die  Meta- 
physik. Bemerkenswert  ist,  daß  Avicenna  den  Ausdruck  der  „körperlichen" 
Substanz  yermeidet,  obwohl  deren  Begriffsbestimmung  ebenfalls  Aufgabe  der 
Metaphysik  ist  (Abh.  IE,  If.).  Sie  ist  Objekt  der  Naturwissenschaften,  wenn 
man  sie  als  Subjekt  der  Bewegung  und  Ruhe  auffaßt.  Das  „Objekt"  der 
Naturwissenschaften  wird  also  von  Avicenna  tibergangen.  Der  Grund  dafür 
liegt  darin,  daß  er  in  diesem  Kapitel  das  formelle  Objekt  der  Metaphysik  als 
das  ImmaterieUe  auffaßt  und  dadurch  einen  engeren  Begriff  aufstellt,  als  er 
durch  das  ens  inquantum  est  ens  gegeben  war.  Li  diese  engere  Objekt- 
bestimmung paßt  die  substantia  corporea  inquantum  est  subiectum  motus  et 
quietis  nicht  mehr  hinein.     Vgl.  Thomas  v.  Aquin,  Sum.  theoL  I — n,  q.  66, 


Digitized  by 


Googk 


19 

Ein  Teil  dieser  Akzidenzien  sind  nämlich  Substanzen,  0  ein 
anderer  sind  Quantitäten  (Objekt  der  Mathematik),  ein  dritter 
noch  andere  Begriffe  (Objekt  der  Logik).  Es  ist  nun  aber  nicht 
möglich,  daß  ein  anderer  realer  *)  Begriff  alle  diese  Dinge 
umfasse,  als  der  reale  Begriff  des  Seienden.  Ebenso  existieren 
vielfach  Dinge,  die  definiert  und  in  ihrem  realen  Wesen  in  der 
Seele  begrifflich  gefaßt  werden  müssen  und  die  zugleich  allen 
Wissenschaften  gemeinsam  sind,  ohne  daß  eine  einzige  der 
(nichtmetaphysischen)  Wissenschaften  in  die  Untersuchung  dieser 
Begriffe  einträte.  So  verhält  sich  z.  B.  der  des  Einen  als  solchen 
und  der  des  Vielen  als  solchen,  des  Übereinstimmenden,  des 
Verschiedenen,  des  Entgegenstehenden  und  ähnliche.  3)  Einige 
von  diesen  verwenden  die  Wissenschaften  nur  (zu  ihren  Unter- 
suchungen),^) von  anderen  nehmen  sie  nur  die  Definitionen,  ohne 
daß  sie  die  Art  ihrer  Existenz  besprechen.  Nun  aber  sind  die 
aufgezählten  universellen  Begriffe  keine  Akzidenzien,  die  in 
spezieller  Weise  irgend  einem  besonderen  Gegenstande  innerhalb 
der  Objekte  dieser  partikulären  Wissenschaften  zukämen.  Sie 
gehören  femer  ebensowenig  zu  den  Dingen,  deren  Existenz  nur 
die  der  Eigenschaften*)  von  Wesenheiten  ist,  noch  auch  sind  sie 
Eigenschaften,  die  jedem  Dinge  beigelegt  werden,  und  daher  ist 
jeder  dieser  Begriffe  allen  Dingen  gemeinsam  (können  also  nicht 
auf  eine  Kategorie  beschränkt  werden).  Es  ist  nun  aber  nur 
der  Begriff  des  Existierenden  als  solchen,  der  nicht  einer  be- 
stimmten Kategorie  speziell  zukommt  und  der  nicht  zu  den 
Akzidenzien  eines  Dinges  gerechnet  wird.  Daher  ist  es  dir 
also  aus  allen  diesen  Erörterungen  einleuchtend,  daß  die  Existenz 


art.  5,  1°^  and  Metaph.  lU,  lect.  4  fin.  und  Prooem.  in  Metaph.:  qnamvis 
antem  snbiectam  huios  scientiae  sit  ens  commune,  dicitnr  tamen  tota  de  bis 
quae  sunt  separata  a  materia  secnndom  esse  et  rationem. 

*)  Die  Substanz  ist  ein  „modus",  d.  h.  eine  Erscheinungsweise  des  Seienden 
und  insofern  dessen  Akzidens. 

*)  Beal  (mubaqqaq)  bezeichnet  hier  den  Begriff,  der  ein  wirkliches 
Wesen  (haqlqa)  bedeutet. 

»)  Siehe  Abh.VH,!. 

*)  Die  Naturwissenschaft  „verwendet"  z.  B.  den  metaphysischen  Begriff 
der  Substanz  und  des  Kontrariums  zu  ihren  physischen  Deduktionen;  die 
Logik  ebenfaUs  zu  ihren  logischen;  s.  Logik  ü,  Teil  VII,  3. 

*)  Eine  „Eigenschaft"  kann  nicht  ein  maxime  universale  sein,  da  sie 
als  „Eigenschaft"  nicht  alle  Kategorien  umfassen  kann,  sondern  auf  den  der 
qualitas  beschränkt  ist. 

2* 


Digitized  by 


Google 


20 

als  solche  etwas  ist,  das  allen  „diesen"  ^  Dingen  gemeinsam 
zukommt,  and  daß  sie  das  (formelle)  Objekt  dieser  Kunst  ist, 
entsprechend  dem,  was  wir  ausgeführt  haben.^) 

Ein  weiterer  Grund  ist  der,  daß  der  Begriff  des  Seienden 
in  sich  evident  ist,  so  daß  seine  Wesenheit  nicht  erst  Schritt 
für  Schritt  klar  erfaßt  und  als  existierend  nachgewiesen  werden 
muß,3)  so  daß  eine  andere  Wissenschaft  als  die  Metaphysik  sich 
damit  befassen  müßte,  die  Eigenart  dieses  Objektes  deutlich  zu 
machen.  Es  ist  nämlich  unmöglich,  daß  die  Feststellung  der 
Existenz  des  Objektes  und  die  Definition  seines  Wesens  der 
Wissenschaft  zufalle,  deren  (formelles)  Objekt  dieses  selbst  ist 
Sie  kann  dasselbe  höchstens  als  in  seiner  Individualität  und 
seinem  Wesen  evident  annehmen. 

Daher  ist  das  erste*)  (das  formelle)  Objekt  dieser  Wissen- 
schaft die  Existenz  als  solche,^)  und  die  Probleme,  die  in 
ihr  untersucht  werden,  sind  die  Dinge,  die  der  Existenz  als 
solcher  ohne  irgend  welche  einschränkende  Bedingung  zukommen. 
Einige  dieser  Dinge  kommen  der  Existenz  zu  als  „Arten",«) 
wie  z.  B.  die  Substanz,  die  Quantität  und  Qualität.  (Diese  Ein- 
teilung ist  eine  ursprüngliche  und  erste),  denn  das  Seiende 
bedarf  nicht  noch  einer  anderen,  logisch  früheren  Teilung,  damit 
es  in  diese  Arten  (die  Kategorien)  zerlegt  werde.    Einer  solchen 


>)  „Diese  Dinge"  ist  eine  Bezeichnung  für  die  empirisch  gegebenen 
Dinge  der  Aofienwelt. 

*)  Ck>d.  d:  „dort  wo  er  sagte:  Es  ist  nun  aber  nicht  möglich,  dafi  ein 
anderer  realer  Begriff  alle  diese  Dinge  umfasse''  ...  (s.  oben  S.  19,  Z.  4). 

*)  Das  Objekt  einer  Wissenschaft,  das  in  sich  noch  nicht  evident  ist, 
muß  von  einer  Wissenschaft  höherer  Ordnung  klargestellt  werden.  Die 
höchste  Wissenschaft  mufi  also  ein  in  sich  evidentes  Objekt  haben.  Dir 
eigenes  Objekt  kann  keine  Wissenschaft  aufstellen,  weil  sie  es  als  gegeben 
voraussetzt.    NuUa  scientia  probat  suum  obiectum. 

*)  Als  „erstes"  Objekt  bezeichnet  Avicenna  dasselbe,  weil  es  in  „erster" 
Hinsicht  immer  berücksichtigt  wird. 

»)  Arist.,  Metaph.  1064  a  33:  Tte^l  x6  /«^(»«xrov  oQa  dv  xcd  x6  axlvtjxoy 
ixi^a  xoixiov  &fi<pox^Qiov  xdv  iniaxrjfidfv  iaxi  xig,  efiUQ  inoQX^''  ^W  ovaia 
xoitxvxfj,  Uyo)  61  X'^Q^'^h  ^^^  axlvijxo<:^  Stkq  nei^acofieS^a  dsixvivai.  Die 
klassische  Formulierung  des  Objektes  der  Metaphysik  findet  sich  in  den  die 
genannte  Untersuchung  einleitenden  Worten  (1064  a  28):  iml  6*  faxt  xig 
iniaxrßtj  xo€  Svxog  y  Sv  xal  x^Q^^'^ov,  oxsTixiov  noxegov  noxe  xf  (pvatxfj 
XT^v  avxTiv  d^exiov  xavxtjv  elvai  rj  fiäXXov  kxi^av, 

•)  Sie  werden  Abh.  H  und  HI  besprochen. 


Digitized  by 


Googl( 


21 

früheren,  vielfachen  Teilung 0  bedarf  der  Begriff  der  Substanz, 
um  in  die  Begriffe  homo  und  non  homo  zerlegt  werden  zu 
können.  Ein  anderer  Teil  dieser  Dinge  kommt  dem  Seienden 
zu  wie  ihm  eigentümliche  Akzidenzien,*)  wie  z.  B.  das  Eine  und 
Viele,  die  Potenz  und  der  Akt,  die  Summe  und  der  Teil,«) 
das  Mögliche  und  das  Notwendige.^)  (Diese  Dinge  kommen 
dem  Seienden  unmittelbar,  als  ursprüngliche  Akzidenzien,  und 
im  universellen  Sinne  zu),  denn  um  diese  Akzidenzien  und 
Dispositionen  aufzunehmen,  ist  es  nicht  erforderlich,  daß  es 
determiniert  werde  als  ein  mathematisches  oder  physisches  oder 
ethisches  oder  in  noch  anderer  Weise. 

Man  könnte  einwenden:  wenn  das  Seiende  zum  Objekte 
dieser  Wissenschaft  gemacht  wird,  dann  kann  der  Beweis  für 
die  Existenz  der  ersten  Prinzipien »)  der  wirklichen  Dinge 
unmöglich  Gegenstand  ihrer  Untersuchung  sein;  denn  die  Unter- 
suchung in  jeder  Wissenschaft  erstreckt  sich  nur  auf  die 
Akzidenzien  ihres  Objektes,  nicht  auf  dessen  erste  Prinzipien. 
Darauf  ist  zu  antworten:  die  Betrachtung  der  ersten  Prinzipien 
(des  Seienden)  ist  ebenfalls  eine  Untersuchung  über  die  „Akzi- 
denzien" dieses  Objektes  (nicht  über  die  Existenz  desselben, 
die  vielmehr  vorausgesetzt  wird),  denn  der  Umstand,  daß  das 
Seiende  eine  erste  Ursache  ist,  ist  nicht  ein  konstituierendes 
Prinzip«)  desselben  noch  auch  von  seinem  Wesen  ausgeschlossen.^) 
Er  ist  vielmehr  inbezug  auf  die  Natur  des  Seienden  etwas 
akzidentelles,  und  zwar  ein  ihm  „eigentümliches"  Akzidens; 
denn  es  gibt  nichts,  das  einen  weiteren  Umfang  hätte  wie 
der  Begriff  des  Seienden.  Daher  haftet  er  einem  anderen  in 
ursprünglicher  Weise  an;  denn  alle  anderen  Inhärenzien  setzen 


^)  Es  sind  die  in  der  arbor  porphyriana  yermittehiden  Begriffe  corpus  — 
yiTens  anim&  vegetativa  —  animal,  die  von  dem  Begriff  snbstantia  zu  dem 
Begriff  homo  überleiten. 

«)  Sie  werden  Abb.  m,  2  ff.,  IV  und  Vn  definiert. 

*)  Cod.  c  und  d:  „das  Universelle  und  Singulare^  s.  Abb.  V. 

•)  Siebe  Abb.  I,  6  und  7. 

')  Diese  sind  die  Gottbeit,  die  Geister  und  die  Seelen  der  Sphären. 

*)  Dann  kOnnte  es  nur  von  einer  Wissenschaft  höherer  Ordnung  unter- 
sucht werden. 

^  Die  Bestimmungen,  die  vom  Wesen  des  Objektes  auszuschließen  sind, 
kann  ebenfaUs  nur  eine  subaltemierende  Wissenschaft  besprechen.  Jede 
Wissenschaft  setzt  ihr  Objekt  als  ein  fertig  bestimmtes  und  abgegrenztes 
voraus. 


Digitized  by 


Google 


22 

die  Existenz  des  Subjektes  voraus J)  Ebensowenig  ist  es  er- 
forderlich, daß  das  Seiende  (vorerst)  ein  physisches,  mathe- 
matisches oder  irgend  etwas  anderes  werde,  damit  ihm  das 
Akzidens  inhäriere,  erste  Ursache  zu  sein.  Femer  (und  dies 
beseitigt  ebenfalls  den  obigen  Einwand)  ist  die  erste  Ursache 
nicht  eine  solche  für  den  ganzen  Bereich  des  Seienden.^)  Wäre 
dies  der  Fall,  dann  müßte  sie  Ursache  ihrer  selbst  sein.  Viel- 
mehr hat  das  Seiende  in  seinem  ganzen  Umfange  keine  erste 
Ursache.  Die  erste  Ursache  ist  vielmehr  eine  solche  nur  für 
die  Existenz  der  Wirkung,  3)  und  daher  ist  sie  nur  Ursache  für 
einen  Teil  des  Wirklichen.  Diese  Wissenschaft  (die  Metaphysik) 
untersucht  also  nicht  (als  Probleme)  die  ersten  Prinzipien  des 
Seins  im  allgemeinen,  sondern  nur  die  eines  Teiles  des  in 
seinem  Umfange  enthaltenen.  Ebenso  verhalten  sich  die  übrigen 
partikulären  WissenschafteiL  Wenn  sie  auch  nicht  die  Existenz 
ihrer  universellen  ersten  Prinzipien  erweisen  —  denn  sie  besitzen 
solche  universellen  ersten  Prinzipien,  die  allen  den  Dingen  ge- 
meinsam sind,  die  in  den  Bereich  jeder  einzelnen  gehören,*)  — 
so  beweisen  sie  dennoch  die  Existenz  dessen,  was  erste  Ursache 
ist  für  alle  in  den  Umfang  ihres  Objektes  fallenden  Dinge,  die 
(logisch)  später  sind  als  die  ersten  Prinzipien. 

Einteilung  der  Metaphysilc. 

Diese  Wissenschaft  muß  nun  notwendigerweise  in  viele  Teile 
zerfallen.  Der  eine  untersucht  die  entferntesten  Ursachen^)  (d.h. 
die  ersten  und  letzten  Ursachen,  die  erste  Wirkursache  und  die 
letzte  Zweckursache),  denn  diese  sind  die  Ursachen  für  jedes 
verursachte  Seiende,  insofern  es  existiert   Dieser  Teil  untersucht 


^)  Daß  die  Existenz  kein  solches  sekundäres  Inhärenzverhältnis  zur 
Substanz  haben  kann,  beweist  Farabi,  Kingsteine  Nr.  1  Ende. 

»)  Die  erste  Ursache  müßte  dann  selbst  außerhalb  dieses  Bereiches,  also 
außerhalb  des  „Seienden"  stehen. 

»)  Das  Verursachte  bildet  aber  nur  einen  Teil  des  gesamten  Wirklichen. 

*)  Wörtlich:  „alle  Dinge,  auf  die  sich  jede  einzelne  richtet",  also  ihr 
Objekt.  Innerhalb  des  Objektes  dieser  Wissenschaft  sind  also  diese  Prinzipien 
im  höchsten  Sinne  universeU.  Als  Ursachen  müssen  sie  selbst  also  außerhalb 
dieses  Bereiches,  der  ihre  Wirkung  ist,  stehen  und  demnach  Objekt  einer 
anderen,  subaltemierenden  Wissenschaft  sein. 

^)  Abh.  VI.  Diese  Untersuchung  bildet  den  Höhepunkt  der  meta- 
physischen Betrachtung,  weil  sie  sich  auf  das  immateriellste  und  deshalb 
Tollkommenste  Objekt  erstreckt. 


Digitized  by 


Googl( 


23 

ferner  die  erste  Ursache,0  von  der  jedes  bewirkte  Seiende,  insofern 
es  ein  bewirktes  ist,  emaniert,  nicht  insofern  es  nur  Bewegung 
oder  Quantität  besitzt.^)  Ein  anderer  Teil  untersucht  die  Akzi- 
denzien des  Seins; 3)  ein  dritter  Teil  die  ersten  Prinzipien  der 
partikulären  Wissenschaften;*)  denn  die  ersten  Prinzipien 
einer  jeden  (subaltemierten)  Wissenschaft^  die  geringeren  Umfang 
hat^  bilden  die  Probleme  für  die  (subaltemierende)  Wissenschaft, 
die  einen  weiteren  Umfang  besitzt.  So  sind  z.  B.  die  Prinzipien 
der  Medizin  „Probleme"  der  Naturwissenschaft  (der  lebende  Körper 
und  die  Gesundheit)  und  ebenso  die  Prinzipien  der  Planimetrie 
Probleme  der  Geometrie.  Daher  erläutert  diese  Wissenschaft  (die 
Metaphysik)  als  eine  ihr  akzidentelle  Aufgabe  die  ersten  Prinzipien 
der  partikulären  Wissenschaften.  Diese  ihrerseits  untersuchen  die 
Verhältnisse  partikulärer  Gruppen  des  Wirklichen. 

Die  Kontinuität  des  Systems  der  Wissenschaften  &)  und  die  Metapiiysilc 
als  KSnigin  der  Wissensdiaften.^ 

Die  Metaphysik  erforscht  also  die  Verhältnisse  des  Seienden 
und  die  Dinge,  die  sich  zum  Seienden  wie  die  Teile  und  Arten 
verhalten.  Dadurch  gelangt  man  zu  einer  gewissen  Determinierung 


1)  Siehe  Abh.VIQ  und  IX:  Die  Theologie  Avicennas. 

*)  Insofern  das  Seiende  Bewegung  besitzt,  ist  es  von  rein  physischen 
Ursachen  abhängig  und  bildet  als  ens  mobile  das  Objekt  der  Naturwissenschaft. 
Insofern  es  Quantität  besitzt,  betrachtet  es  die  Mathematik,  die  die  quantitas 
continua  als  Geometrie  und  die  quantitas  discreta  als  Arithmetik  untersucht. 
Die  Tätigkeit  Gottes  richtet  sich  also  in  ganz  universeller  Weise  auf  das 
Sein  ohne  Einschränkung  auf  eine  bestimmte  Klasse  des  Seins. 

»)  Siehe  Abh.  IV  und  Vn. 

^)  Die  der  Naturwissenschaften  Abh.  n  und  III;  die  der  Mathematik 
m,  2—5;  die  der  Logik  V. 

*)  Der  Aufbau  der  Wissenschaften  ist  kontinuierlich,  wenn  zwischen 
der  Metaphysik  und  den  Einzelwissenschaften  kein  unerforschtes  Objekt  übrig 
gelassen  wird.  Aus  der  metaphysischen  Betrachtung  müssen  also  die  vollständig 
umgrenzten  Objekte  der  übrigen  Wissenschaften  gleichsam  herauswachsen, 
und  nicht  nur  ihre  Objekte,  sondern  auch  ihre  Prinzipien.  Dann  wird  alles, 
was  in  den  übrigen  Wissenschaften  Voraussetzung  ist,  zum  „Problem"  in 
der  Metaphysik.  Nichts  bleibt  also  unerforscht,  und  das  System  der  Wissen- 
schaften ist  kontinuierlich.  Die  Voraussetzungen  der  Metaphysik  brauchen  in 
keiner  höheren  Wissenschaft  mehr  begründet  zu  werden,  weil  sie  in  sich 
evident  sind.    Die  Metaphysik  ist  also  der  Abschluß  des  Erkennens. 

*)  Sie  weist  jeder  Einzelwissenschaft  ihr  Objekt  an  und  begrtlndet  deren 
Prinzipien. 


Digitized  by 


Googk 


24 

(der  Erkenntnisobjekte),  mit  der  (ohne  Hinzutreten  eines  in  der 
Metaphysik  nicht  erklärten  Begriffes)  zugleich  das  Objekt  der 
Naturwissenschaft  entsteht.  Die  Metaphysik  weist  dasselbe  dann 
der  Naturwissenschaft  an.  Femer  gelangt  sie  zu  einer  anderen 
Determinierung,  mit  welcher  das  (formelle)  Objekt  der  Mathe- 
matik«) entsteht,  und  dann  weist  die  Metaphysik  dasselbe  der 
Mathematik  an.  Ebenso  liegen  die  Verhältnisse  bei  anderen 
Objekten.*)  Was  nun  vor*)  dieser  Determinierung  liegt  und 
sich  wie  ein  erstes  Prinzip  zu  ihr  verhält,  wird  von  ihr  unter- 
sucht und  in  seinen  Verhältnissen  festgestellt  Die  „Probleme" 
der  Metaphysik  erstrecken  sich  also  teilweise  auf  die  Ursachen 
des  verursachten  Seienden,  insofern  es  die  Natur  eines  Ver- 
ursachten hat,*)  teils  auf  die  Akzidenzien  des  Seienden,*)  teils 
auf  die  ersten  Prinzipien  der  partikulären  Wissenschaften.«) 

Dieses  ist  jene  Wissenschaft,  die  durch  die  Kunst')  der 
Metaphysik  erlangt  werden  soll.^)  Sie  ist  femer  die  erste 
Philosophie,  denn  sie  ist  die  Wissenschaft  von  dem  ersten  der 
Dinge  innerhalb  des  Seins,  nämlich  der  ersten  Ursache,*)  und 
von  dem  ersten  Dinge  inbezug  auf  die  Universalität,  nämlich 
dem  Sein«<>)  und  der  Einheit '*)  Sie  ist  femer  die  Weisheit 
xar  l^oxfjv,  die  das  vorzüglichste  Wissen  von  dem  vollkommensten 

»)  Abh.  m,  besonders  Kap.  9. 

•)  Abh.  V  entwickelt  das  Objekt  der  Logik,  Abh.  X  das  der  Ethik. 

*)  „Vor"  diesen  Determinierungen  wissenschaftlicher  Inhalte  liegen 
noch  universeUere  Begriffe,  wie  der  des  Seins,  seine  modi  und  Proprietäten 
(das  Wahre,  Schöne,  Gute,  Eine  u.  s.  w.).  Das  logische  Früher  bezeichnet 
hier  im  (Gegensatz  zum  Partikulären  und  Singulären  das  Allgemeine,  das  in 
der  arbor  porphyriana  „vor"  den  Begriffen  engeren  Umfanges  steht. 

*)  Abh.  VI. 

»)  Abh.  IV  und  Vn. 

^  Abh.  n,  m  und  V. 

*)  Die  Wissenschaften  werden  aus  dem  Grunde  vielfach  „artes"  genannt, 
weil  sie  nur  durch  die  in  logischer  Schulung  erworbene  „Fertigkeit"  des 
Denkens  erlangt  werden  können. 

*)  Vgl.  dazu  Thomas  prooemium  in  Metaph.  Didtur  sdentia  divina 
sive  Theologia  inquantum  praedictas  substantias  (Gott  und  die  (Msterwelt) 
considerat,  Metaph jsica  inquantum  considerat  ens  et  ea  quae  consequuntur 
ipsum.  Haec  enim  „trans"  physica  inveniuntur  in  via  resolutionis  (Analyse 
und  Abstraktion)  sicut  magis  communia  „post"  minus  communia.  Didtur 
autem  Prima  Philosophia,  inquantum  primas  rerum  causas  considerat 

»)  Abh.  Vm  und  IX. 

«•)  Abb- 1,  5—8,  n  und  m. 

»)  Abh.  m,  2—5. 


Digitized  by 


Googk 


25 

Objekte  ist;  denn  sie  ist  dsus  vorzüglichste  Wissen,  nämlich  das 
absolut  sichere,  und  zwar  betreffs  des  vollkommensten  Objektes, 
nämlich  Gottes,  des  erhabenen,  und  der  Ursachen,  die  der  Ordnung 
nach  später  sind  als  Er.  Sie  ist  femer  die  Kenntnis  der  höchsten 
Ursachen  des  Weltalls,  und  darin  enthält  sie  ebenfalls  die  Er- 
kenntnis Gottes  (der  die  absolut  höchste  Ursache  ist).  Sie  wird 
deshalb  als  göttliche  Wissenschaft  definiert.  Dies  bedeutet,  daß 
sie  die  von  der  Materie  in  ihrer  Definition  und  ihrer  Existenz  *) 
getrennten  Substanzen  erkennt;  denn  das  Seiende  als  solches,  seine 
ersten  Prinzipien  (die  vier  Ursachen)  und  seine  Proprietäten  *) 
gehen  in  allen  ihren  Teilen  der  Materie  voraus  3)  und  sind  ihrer 
Existenz  nach  nicht  mit  der  Materie  verbunden. 

Wenn  man  in  der  Metaphysik  nun  Gegenstände  erforscht, 
die  der  Materie  nicht  vorausgehen,  so  erstreckt  sich  diese  Unter- 
suchung nur  auf  einen  Begriff,  der  so  beschaffen  ist,  daß  er  zu 
seiner  Existenz  der  Materie  nicht  bedarf.  Die  in  der  Metaphysik 
erforschten  Dinge  bestehen  vielmehr  aus  vier  Gruppen.*)    Die 


')  Die  Gegenstände  der  Naturwissenschaften  sind  weder  der  Definition 
noch  dem  Sein  nach  frei  von  der  Materie  (Thomas,  Phys.  I,  lect.  1:  De  his 
vero  qnae  dependent  a  materia  non  solom  secundum  esse,  sed  etiam  secundnm 
rationem,  est  Naturalis,  qnae  Physica  dicitur).  Die  der  Mathematik  sind  nur 
der  Definition  nach  unmateriell  (xa  fia^rifiaxuea  dxdQiora,  x^Q^^'^^  ^S  voijcei 
Arist.,  Metaph.  1026  a  9, 15.  1059  h  13),  die  der  Metaphysik  in  jeder  der  beiden 
Weisen  abstrakter  Natur.  Nach  diesen  drei  Abstraktionsstufen  ist  die  Ein- 
teilung der  Wissenschaften  zu  verstehen.  Die  Astronomie  und  Musik  dürften 
nach  diesen  Grundsätzen  allerdings  nicht  zu  den  mathematischen  Wissen- 
schaften gerechnet  werden,  weil  ihr  Objekt  aUe  Bedingungen  eines  natur- 
wissenschaftlichen Gegenstandes  erfttllt.  Vgl.  dazu  Horten,  Das  Buch  der 
Bingsteine  F&r&bis,  S.  319  und  320.  Dort  wird  umgekehrt  die  Stereometrie, 
weil  sie  den  Begriff  des  Körpers  voraussetze,  fälschlich  zur  Naturwissenschaft 
gerechnet. 

«)  Abh.  I,  5—8,  IV  und  VII. 

^  Das  UniverseUere  und  Abstraktere  wird  als  dem  weniger  Universellen 
und  MaterieUen  vorausgehend  bezeichnet.  Es  ist  wohl  unbedenklich,  diese 
Denkweise  als  platonisch  zu  bezeichnen.  Für  Aristoteles  ist  das  erste  das 
empirische  Individuum  17  ovcla  r  TiQckri, 

*)  VgL  die  fast  wörtliche  Entlehnung  Ism&ils  el  HoseinS  in  1.  c.  Bing- 
steine F&r&bis  S.  318. 

Die  vier  Gruppen  behandeln  also  I.  die  Gottheit  und  die  Geister;  II.  die 
Seelen  der  Sphären,  die  auf  die  Materie  wirken;  m.  die  inhaltlich  un- 
materiellen Begriffe,  Substanz  (Abh.  II),  Akzidens  (Abh.  ni),  die  Eigenschaften 
des  Seienden  (Abh. IV  und  VII),  die  die  Materie  aber  nicht  ausschliefien; 
IV.  die  Begriffe,  die  die  Materie  einschließen,  die  also  physischer  Natur 


Digitized  by 


Googk 


erste  bilden  Gegenstände,  die  absolut  frei^  sind  von  der  Materie 
und  ihren  Begleiterscheinungen; 2)  die  zweite  Gruppe  Gegenstände, 
die  mit  der  Materie  verbunden  sind,  jedoch  nur  in  der  Weise  der 
Ursache,  die  der  Wirkung  das  Bestehen  verleiht  und  ihr  voraus- 
geht (wenigstens  der  Natur  nach),  ohne  daß  die  Materie  ihrerseits 
dieser  Ursache  das  Bestehen  verliehe.  Die  dritte  Gruppe  bilden 
Dinge,  die  manchmal  in  der  Materie  vorhanden  sind,  manchmal 
nicht,  wie  z.  B.  das  esse  causam  und  die  Einheit.  Dasjenige  also, 
was  diese  Begriffe  als  solche  an  universellem  Inhalte  besitzen, 
ist  so  beschaffen,  daß  dieselben  (vermöge  dieses  Inhaltes)  nicht 
der  Existenz  der  Materie  bedürfen,  um  zu  ihrem  eigentlichen 
Wesen  zu  gelangen.  Alle  diese  Begriffe  kommen  darin  überein, 
daß  sie  in  ihrer  Existenz  nicht  materiell  sind,  d.  h.  daß  sie  ihre 
Existenz  nicht  von  der  Materie  hernehmen.  Einen  vierten  Teil 
bilden  materielle  Dinge,  wie  z.  B.  die  Bewegung  und  Ruhe; 
jedoch  ist  dasjenige,  was  die  Metaphysik  an  ihnen  erforscht, 
nicht  etwa  ihr  materieller  Zustand,  sondern  die  Art  der  Existenz, 
die  ihnen  zukommt  (d.  h.  ihr  unmaterielles  Wesen,   nicht  die 


sind.  Die  Metaphysik  behandelt  aber  nur  ihre  immateriellen  Seiten.  Als 
formelles  Objekt  der  Metaphysik  schwebt  also  das  ens  immateriale,  als 
formelles  Objekt  der  Naturwissenschaft  dementsprechend  das  ens  materiale, 
nicht  das  ens  inquantum  est  mobile  vor. 

*)  Die  folgenden  Ausführungen  setzen  als  formelles  Objekt  der  Meta- 
physik das  Immaterielle,  nicht  mehr  das  Seiende  als  solches  voraus.  Den  hier 
vorliegenden  Zwiespalt  in  der  Definition  des  Objektes  gleicht  Thomas  v.  Aquin 
in  folgender  Weise  (Prooemium  in  Metaph.)  aus.  Haec  autem  triplex  con- 
sideratio  non  diversis  sed  uni  scientiae  attribui  debet.  Nam  praedictae  sub- 
stantiae  separatae  sunt  universales  et  primae  causae  essendi  Eiusdem  autem 
scientiae  est  considerare  causas  proprias  alicuius  generis  et  genus  ipsum, 
sicut  naturalis  considerat  prindpia  corporis  naturalis.  Unde  oportet  quod  ad 
eamdem  scientiam  pertineat  considerare  substantias  separatas  et  ens  conunune, 
quod  est  genus,  cuius  sunt  praedictae  substantiae  communes  et  universales 
causae.  Ex  quo  apparet  quod  quamvis  ista  scientia  praedicta  tria  (causas 
primas,  maxime  universalia,  substantias  separatas)  consideret,  non  tamen  consi- 
derat quodlibet  eorum  ut  subiectum  sed  ipsum  solum  ens  commune.  Hoc  enim  est 
subiectum  (d.  h.  das  „Objekt^)  in  scientia,  cuius  causas  et  passiones  qjiaeriinus 
(als  „Problem^  untersuchen)  non  autem  ipsae  causae  alicuius  generis  quaesdti. 
Nam  cognitio  causarum  alicuius  generis  est  finis  ad  quem  consideratio  scientiae 
pertingit  (cf .  Trinit.  17, 20).  Während  also  Thomas  scharf  unterscheidet  zwischen 
dem  Immateriellen  als  „Problem"  der  Metaphysik  und  so  die  Schwierigkeit 
eines  zwiespältigen  Objektes  beseitigt,  scheint  Avicenna  das  Immaterielle  als 
„Objekt"  zu  behandeln. 

«)  z.  B.  Individualität,  Quantität,  Gestalt  u.  s.  w. 


Digitized  by 


Googl( 


27 

Bestimmungen,  die  sie  infolge  der  Materie  besitzen).  Nimmt 
man  also  diesen  letzten  Teil  zusammen  mit  den  (drei)  übrigen, 
so  stimmen  alle  darin  tiberein,  daß  die  Ari;  ihrer  Untersuchung 
sich  auf  ein  begriffliches  Wesen  richtet,  das  nicht  durch  die 
Materie  seinen  Bestand  erhält  Die  mathematischen  Wissen- 
schaften enthielten«)  Objekte,  die  durch  den  Begriff  der  Materie 
definiert  wurden  (die  Objekte  der  Astronomie  und  Musik).  Die 
Art  der  Betrachtung  und  Untersuchung  erstreckte  sich  jedoch 
auf  einen  Begriff,  der  nicht  durch  die  Materie  definiert  wird.^) 
Der  Umstand,  daß  der  untersuchte  Gegenstand  mit  der  (physischen) 
Materie  in  Beziehung  steht,  hinderte  die  Untersuchung  nicht 
daran,  eine  (rein)  mathematische  zu  sein.  Ebenso  verhält  es 
sich  hier  in  der  Metaphysik.  Daher  ist  es  also  klar  und  ein- 
leuchtend, welcher  Gegenstand  den  Zweck*)  dieser  Wissenschaft 
bildet 

Verhältnis  der  Metaphysik  zur  Sophistik  und  Topik. 

Die  Metaphysik  ist  der  Topik*)  und  der  Sophistik*)  in 
gewisser  Hinsicht  verwandt,  in  anderer  Hinsicht  von  ihnen 
verschieden.  Sie  ist  ebenso  von  jeder  einzelnen  dieser  beiden 
Disziplinen  in  gewisser  Hinsicht  verschieden.  Sie  stimmt  mit 
beiden  überein,  indem  das  Objekt  der  Metaphysik  nicht  besprochen 
wird  in  irgend  einer  partikulären  Wissenschaft,  während  es  jedoch 
die  Topik  und  die  Sophistik  behandelt.  Sie  ist  von  beiden  ver- 
schieden, indem  der  Metaphysiker  als  solcher  •)  die  Probleme 
der  partikulären  Wissenschaften  nicht  bespricht,  während  jedoch 
diese  beiden  Disziplinen  über  diese  Probleme  verhandeln.  Was 
die  besondere  Verschiedenheit  der  Metaphysik  von  der  Topik 
angeht,  so  besteht  diese  in  der  Fähigkeit  (die  Wahrheit  zu  er- 
langen); denn  die  Diskussion  nach  Art  der  Topik  verleiht  ein 


^)  In  der  als  abgeschlossen  betrachteten  Untersuchnng  der  dritten  Samma 
des  Baches  der  Genesung. 

')  Die  mathematische  Bestimmung  der  Bewegung  der  Sterne  und  das 
arithmetische  Verhältnis  der  Töne. 

*)  Unter  Zweck  ist  die  Hinsicht  zu  verstehen,  unter  der  das  materieUe 
Objekt  betrachtet  und  die  in  allem  wie  ein  Ziel  gesucht  wird,  also  das 
obiectum  formale. 

*)  Logik  VI.  Teil. 

»)  Logik  Vn.  Teil. 

*)  Wörtlich:  philosophus  primus  inquantum  est  philosophus  primus. 


Digitized  by 


Google 


28 

wahrscheinliches,  nicht  ein  sicheres  Wissen,  wie  in  der  Logik  ^) 
auseinandergesetzt  wurde.  Von  der  Sophistik  ist  femer  die 
Metaphysik  durch  ihre  Tendenz  verschieden,  denn  der  Meta- 
physiker  will  die  Wahrheit  selbst  erkennen,  der  Sophist  hin- 
gegen nur  den  Schein  erwecken,  ein  Weiser,  der  die  Wahrheit 
lehre,  zu  sein,  auch  wenn  er  kein  Weiser  ist 


Drittes  Kapitel. 

Der  Nutzen  der  Metaphysik,  ihre  Rangstufe  und  ihr  Name. 
1.  Der  Nutzen  der  Metaphysik. 

Was  nun  den  Nutzen  dieser  Wissenschaft  angeht,  so  ist 
es  (zum  Verständnisse)  erforderlich,  daß  du  bereits  in  den 
Wissenschaften,  die  ihr  vorausgehen,  betrachtet  hast,  welches 
der  Unterschied  zwischen  dem  Nützlichen  und  dem  Guten,  und 
ebenso  der  zwischen  dem  Schädlichen  und  dem  Bösen  sei,^)  daß 
femer  das  Nützliche »)  durch  sein  Wesen  hinführt  zum  Guten  (das 
sich  also  wie  das  Ziel  des  Nützlichen  verhält).  Daher  ist  der 
Nutzen  dasjenige,^)  wodurch  das  Ding  vom  Schlechten  zum 
Guten  gelangt.  Nachdem  dieses  festgestellt  ist,  leuchtet  dir  ein, 
daß  alle  Wissenschaften  ein  Nützliches  gemeinsam  besitzen, 
nämlich  der  menschlichen  Seele  actu  die  (natürliche)  Voll- 
kommenheit*) verleihen,  um  dieselbe  dadurch  vorzubereiten  auf 
das  Glück  des  anderen  Lebens.  ♦»)     Wenn  man  jedoch  in  den 


')  Logik  VI.  Teü  1, 1. 

•)  Siehe  auch  Metaph.  IX,  6. 


»)  Das  Nützliche  ist  das  äyad^ov  xivL\  vgl.  Arist,  Ethica  1094  a  18, 
1096b  13.  Thomas,  Suin.  theol.  I,  q.  62,  art.  9  ad  2»:  aliquid  didtur  utile 
dapliciter.  Uno  modo  sicnt  quod  est  via  ad  finem;  et  sie  utile  est  meritum 
beati  tudinis.  Alio  modo  sicut  pars  est  utilis  ad  totum,  nt  paries  ad  domum. 
Ibid.  I— n,  q.  Vn,  art.  2  ad  1»»:  bonum  ordinatum  ad  finem  didtur  utile,  quod 
importat  relationem  quamdam. 

*)  Wörtlich:  „der  Begriff",  ma*n&  =  ratio  in  dem  Sinne  von  begrifflich 
faßbarer  Wesenheit,  Natur;  z.B.  Thomas,  Sum.  theol. I.  II,  q.  46,  art.  7c:  habet 
rationem  iusti  vlndicativi  (et  passim). 

*)  Diese  besteht  darin,  daß  der  Geist  von  der  Möglichkeit  des  Erkennens 
zum  aktuellen  Erkennen  gelangt;  denn  die  natürliche  Vollendung  der  Potenti- 
alität  ist  die  Aktualität. 

^  Vgl  dazu  Horten,  d.  B.  der  Bingsteine  F&rftbis  S.  314. 


Digitized  by 


Googk 


29 

Einleitungen  der  Bücher  Betrachtungen  über  den  Nutzen  der 
Wissenschaften  anstellt,  so  hat  man  dabei  nicht  das  eben 
genannte  im  Auge,  sondern  vielmehr  die  Förderung  der  einen 
Wissenschaft  durch  die  andere,  so  daß  also  der  Nutzen  einer 
bestimmten  Wissenschaft  etwas*)  ist,  das  zur  Förderung^)  einer 
anderen  Wissenschaft  hinführt 

Da  nun  der  Begriff  des  Nutzens  so  beschaffen  ist,  wird  er 
manchmal  allgemein,  manchmal  in  partikulärem  Sinne  gebraucht. 
So  versteht  man  unter  dem  Nutzen  im  allgemeinen  Sinne,  daß 
das  „Nützliche"  zur  Kealisierung  irgend  einer  beliebigen  anderen 
Wissenschaft  hinführt,  und  unter  dem  Nützlichen  in  partikulärem 
Sinne,  daß  es  zu  etwas  hinführt,  das  höherer  Ordnung  ist  als 
es  selbst,  und  dies  verhält  sich  wie  das  Ziel,  denn  das  Nützliche 
ist  auf  dieses  hingeordnet,  ohne  daß  das  Verhältnis  ein  um- 
gekehrtes sein  könnte  5)  (d.  h.  ohne  daß  das  Ziel  umgekehrt  auf 
das  Nützliche  hingerichtet  werden  könnte).  Verstehen  wir  nun 
das  Nützliche  im  allgemeinen  Sinne,  so  kommt  der  Metaphysik 
ein  Nutzen  zu  (indem  sie  zur  Kenntnis  aller  übrigen  Wissen- 
schaften ohne  Unterschied  verhilft).  Verstehen  wir  aber  das 
Nützliche  im  partikulären  Sinne,  so  ist  die  Metaphysik  von  zu 
großer  Erhabenheit,  als  daß  sie  wie  ein  bonum  utile  auf  eine 
andere  Wissenschaft  hingeordnet  sein  könnte.  Vielmehr  führen 
alle  anderen  Wissenschaften  als  bona  utilia  hin  zur  Metaphysik. 

Wenn  wir  jedoch  den  Begriff  des  Nutzens,  im  allgemeinen 
Sinne  genommen,  in  seine  Teile  zerlegen,  so  ergeben  sich  drei: 
der  erste  besteht  darin,  daß  das  Nützliche  als  ein  Medium  zu 
etwas  hinführt,  was  höherer  Ordnung  ist;  der  zweite  darin,  daß 
dasselbe  zu  einem  gleichgeordneten,  und  der  dritte  darin,  daß 
es  zu  einem  ihm  untergeordneten  hinleitet,  indem  es  zu  einer 
geringeren  Vollkommenheit  beiträgt,  als  es  selbst  besitzt.  Will 
man  diesen  Begriff  mit  einem  besonderen  Namen  bezeichnen,  so 
wäre  die  beste  Bezeichnung  „das  Mitteilen",  „das  Verleihen" 
von  Vollkommenheiten,  „die  Sorge"  *)  um  ein  anderes,  die  (geistige) 


0  Wörtlich:  ratio. 

*)  Wörtlich:  „Kdnstituierang,  Bealisierang  in  ihrem  eigentlichen  Wesen''. 

*)  Siehe  Ahh.  VI,  4  und  5.  Die  causa  finalis  wird  in  dieser  Weise 
definiert.  Das  Nützliche  ist  also  medium  tendens  in  finem,  und  der  Zweck 
als  solcher  kann  nie  zum  Mittel  werden;  vgl.  Aristoteles:  taycc&ov,  ov  nivx 
ifiezai  £th.  1, 1  Anfang;  täya^ov  ist  to  ov  ?vexa  xal  to  tiXo(:, 

*)  Der  Terminus  bezeichnet  im  prägnanten  Sinne  die  göttliche  Vorsehung. 


Digitized  by 


Google 


80 

„Leitung"  eines  anderen  oder  eine  ähnliche.  Wenn  du  die 
richtigen  Bezeichnungen  dieses  Gedankens*)  als  innerlich  ver- 
wandt ansiehst,^)  dann  hast  du  den  richtigen  Gredanken  ver- 
standen.^)  Der  Nutzen  im  partikulären  Sinne  ist  nahe  verwandt 
mit  der  Dienstleistung  (des  Dieners  gegen  den  Herrn).  Das 
Mitteilen  (des  Herrn  an  den  Diener),  das  ausgeht  von  dem 
Edleren  zu  dem  weniger  Edelen,  gleicht  nicht  der  Dienstleistung. 
Es  ist  uns  bekannt,  daß  der  Diener  demjenigen,  dem  der  Dienst 
erwiesen  wird,  nützt,  aber  ebenso  nützt  letzterer  dem  Diener, 
d.  h.  nimmt  man  den  Begriff  des  Nutzens  im  allgemeinen  Sinne, 
und  zwar  so,  daß  er  die  Spezies  jedweden  Nutzens  bezeichnet^ 
und  ist  zugleich  der  partikuläre  Begriff  eine  andere  Art,  dann 
ist  der  Nutzen  der  Metaphysik,  dessen  Natur  wir  erklärt  haben, 
das  Mitteilen  der  Evidenz  durch  Vermittlung  der.  Prinzipien*) 
der  partikulären  Wissenschaften  und  die  Klarlegung  des  Wesens 
aller  Gegenstände,  die  diese  Wissenschaften  gemeinsam  ver- 
wenden,*) auch  wenn  sie  nicht  erste  Prinzipien  sind. 

Diese  Art  des  Nutzens  ist  also  die  des  Leiters  gegenüber 
dem  Geleiteten  und  des  Herrn  gegenüber  dem  Diener;  denn  die 
Beziehung  der  Metaphysik«)  zu  den  partikulären  Wissenschaften 
ist  die  gleiche  wie  die  des  Gegenstandes,  dessen  Erkenntnis  in 
der  Metaphysik  erstrebt  wird,  zu  den  Gegenständen,  nach  deren 
Erkenntnis  jene  Wissenschaften  suchen.  Wie  dieses')  eine  erste 
Ursache  ist  für  die  Existenz  jener  Dinge,^)  so  verhält  sich  auch 
die  Wissenschaft  von  diesem  (dem  Sein)  wie  eine  erste  Ursache 
für  das  Zustandekommen  der  Wissenschaft  von  jenen. 


0  WörtHch:  „Kapitels«. 

*)  Der  allen  obigen  Ausdrücken  gemeinsame  Gedanke  des  Mitteilens 
irgend  welcher  Güter  soU  bezeichnet  werden. 

•)  Cod.  c  Glosse:  „so  wird  er  zu  seiner  Bezeichnung  verwandt". 

*)  Diese  werden  in  der  Metaphysik  bewiesen,  bilden  also  gleichsam  das 
Instrument,  durch  welches  die  Metaphysik  partikulären  Erkenntnissen  die 
Evidenz  vermittelt. 

*)  Die  metaphysischen  Begriffe  des  Seins,  der  Kategorien  und  der 
Ursachen. 

")  Cod.  c  Glosse :  denn  über  ihr  gibt  es  keine  andere  Wissenschaft. 

^  Das  Sein,  das  Gegenstand  der  Metaphysik  ist. 

*)  d.  h.  der  (materieUen)  Dinge,  die  Gegenstand  der  übrigen  Wissen- 
schaften sind. 


Digitized  by 


Googk 


31 


2.  Die  Kangstufe  der  Metaphysik. 

Was  nun  die  Rangstufe  der  Metaphysik  angeht,  so  muß 
sie  nach  den  Naturwissenschaften  und  der  Mathematik  erlernt 
werden  —  nach  den  Naturwissenschaften;  denn  viele  Dinge,  die 
die  Metaphysik  als  allgemeingültig  hinstellt,  werden  in  der 
Naturwissenschaft  im  einzelnen  i)  klargelegt,  wie  z.  B.  das  Ent- 
stehen und  Vergehen,  die  Veränderung,  der  Eaum  und  die  Zeit, 
und  daß  ein  jedes  Ding,  das  sich  bewegt,  eine  bewegende  Ursache 
haben  muß,  und  daß  ihre  Kette  bei  einem  ersten  Beweger  endigt  ^) 
und  ähnliche  Wahrheiten.  —  Nach  den  mathematischen  Wissen- 
schaften (muß  die  Metaphysik  erlernt  werden),  weil  der  letzte 
Zweck  der  Metaphysik,  nämlich  die  Kenntnis  der  Weltleitung 
Gottes,  die  der  geistigen  Substanzen  und  ihrer  verschiedenen 
Stufen  und  die  der  Ordnung  in  der  Zusammensetzung  der  Himmel 
nur  durch  die  Kenntnis  der  Astronomie  3)  erlangt  werden  kann. 
Diese  letztere  ist  aber  nur  durch  die  Kenntnis  der  Arithmetik 
und  Geometrie  zu  erreichen.  Die  Musik,  die  partikulären  Teile 
der  Mathematik,  die  Ethik  4)  und  Politik  nützen  der  Meta- 
physik, ohne  jedoch  eine  notwendige  Voraussetzung  für  sie 
zu  sein. 

Dagegen  könnte  man  einwenden:  wenn  die  ersten  Prinzipien 
der  Naturwissenschaft  und  Mathematik  nur  in  der  Metaphysik 
bewiesen  werden  und  die  Probleme  dieser  beiden  Wissenschaften 
durch  die  ersten  Prinzipien  klargestellt  werden,  zugleich  aber 
die  Probleme  dieser  beiden  Wissenschaften  zu  ersten  Prinzipien 
der  Metaphysik*)  werden,  so  ergibt  sich  ein  circulus  vitious. 


^)  Zuerst  müssen  die  Prinzipien  und  Objekte  der  partikulären  Wissen- 
schaften kennen  gelernt  werden,  dann  erst  kann  die  Metaphysik  sie  begründen. 

•)  Naturw.  m.  Teil  (Das  Entstehen  und  Vergehen),  IV.  Teil  (Die  Ver- 
änderung); I,  Teil  n,  4—8  Per  Raum),  ib.  9—12  pie  Zeit);  I,  Teil  H,  If.; 
m,  6. 11. 14;  rV,  2—15;  H,  Teü  I,  2. 

*)  Mathematik  L  Teil,  Geometrie  ü.  Teil,  Astronomie  DI.  Teil,  Arith- 
metik rV.  Teil,  Musik.  Zur  Astronomie  und  ihrem  Verhältnisse  zur  Mathe- 
matik 8.  Arist.,  Phys.  194a 8:  Srjlol  6h  xal  xa  (pvoixioxBQa  x&v  fjtad^tjfxdrwv, 
olov  oTcxLxri  xal  oQfiovuc^  xal  acxQoXoyia.  Metaph.  989  b  82:  xa  yoQ  fta^rj- 
fiaxLxa  x(Sv  Svxwv  avev  xinjaeciq  iaxtv,  l^ß*  xiSv  negl  xf^v  aaxgoXoylav, 

*)  Metaph.  X. 

*)  Diese  Behauptung,  die  von  Avicenna  nicht  abgewiesen  wird,  scheint 
die  früheren  Auseinandersetzungen  umzukehren,  nach  denen  die  Prinzipien 
der  Wissenschaften  zu  Problemen  der  Metaphysik  werden,  nicht  umgekehrt. 
YieUeicht  ist  der  Qedanke  der,  daß  in  den  „Problemen^  der  Wissenschaften 


Digitized  by 


Googk 


32 

indem  in  letzter  Hinsicht  ein  Ding  durch  sich  selbst  bewiesen 
wird.  Gegen  diese  Schwierigkeit  ist  zu  erwidern,  was  bereits 
in  dem  Buche  über  den  Beweis*)  gelehrt  und  auseinandergesetzt 
wurde.  Von  dem  dort  Gesagten  nehmen  wir  nur  soviel,  als  an 
dieser  Stelle  notwendig  ist.  Wir  lehren  daher  folgendes:  das 
erste  Prinzip  einer  Wissenschaft  ist  etwas  nicht  nur  dann, 
wenn  alle  Probleme  in  ihren  Demonstrationen  sich  auf  dieses 
Prinzip  aktuell  oder  potentiell 2)  zurückführen  lassen,  vielmehr 
ist  das  erste  Prinzip  vielfach  in  den  Beweisen  nur  eines  Teiles 
der  Probleme  angewandt.  Femer  können  in  den  Wissenschaften 
Probleme  vorkommen,  deren  Beweise  durchaus  nicht  so  wie  sie 
sind  3)  (in  der  Metaphysik)  verwendet  werden.  Verwendung 
finden  nur  deren  Prämissen,  die  in  sich  selbst  nicht  bewiesen 
werden,  (um  anderen  Problemen  zum  Beweise  zu  dienen).  Der 
Grund  für  alles  dieses  ist  der,  daß  das  erste  Prinzip  einer 
Wissenschaft  nur  dann  in  Wahrheit  ein  erstes  Prinzip  ist,  wenn 
seine  Anwendung  die  Evidenz  verleiht,  die  von  der  (ersten) 
Ursache  hergenommen  wird.  Wenn  es  aber  die  Kenntnis  der 
ersten  Ursache  nicht  verleiht,^)  so  wird  es  nur  in  einem  anderen 
Sinne  erstes  Prinzip  der  Wissenschaft  genannt.  Es  ist  dann 
besser  angebracht,  daß  man  es  erstes  Prinzip  nennt  in  dem 
Sinne,  wie  auch  die  äußere  Sinneswahmehmung  „erstes  Prinzip" 
genannt  wird,  insofern  diese  als  solche*)  die  Kenntnis  aus- 
schließlich der  realen  Existenz  von  Dingen  verleiht  Dadurch 
wäre  diese  Schwierigkeit  gehoben;«)  denn  das  erste  physische 


die  „Voraassetznngen"  der  Metaphysik,  nämlich  ihr  Objekt,  enthalten  sind. 
„Prinzip"  wäre  demnach  hier  in  dem  Sinne  von  Voranssetzung  gebraucht. 
Der  Gedanke  ist :  die  Prinzipien  der  übrigen  Wissenschaften  werden  bewiesen 
durch  die  Prinzipien  der  Metaphysik;  letztere  sind  aber  wiederum  aus  den 
übrigen  Wissenschaften  entnommen.  Die  Beweise  der  Metaphysik  betreffs 
der  Prinzipien  der  Naturwissenschaften -setzen  letztere  bereits  voraus;  denn 
die  Metaphysik  soll  ja  der  Rangstufe  nach  auf  die  Naturwissenschaft  folgen. 

«)  Siehe  Logik  V,  Teil  I  Anfang,  Kap.  4. 

*)  d.  h.  direkt  oder  indirekt.  Ein  Prinzip  liegt  einem  Beweise  entweder 
letzthin  zugrunde  (ist  potentiell  in  ihm  enthalten)  oder  wird  expressis  verbia 
verwandt. 

*)  Wörtlich :  positione.  (wa^'an),  indem  es  so,  wie  es  ist,  in  den  anderen 
Beweis  „hineingestellt"  wird. 

*)  so  dafi  also  die  Evidenz  aus  der  ersten  Ursache  fehlt. 

^)  Sie  erstrecken  sich  auf  die  konkreten  Individuen. 

^  Die  Probleme  und  Resultate  der  Naturwissenschaften  sind  also  nicht 
^Prinzipien"  der  metaphysischen  Beweise,  sondern  nur  Ausgangspunkte  der 


Digitized  by 


Googl( 


33 

Prinzip  (der  bewegte  Körper,  der  „Objekt"  der  Untersuchung 
ist)  kann  in  sich  selbst  evident  sein,  und  zu  gleicher  Zeit  kann 
seine  Darlegung  einen  Gegenstand  der  ersten  Philosophie  bilden 
inbezug  auf  das,  was  noch  nicht  zu  seiner  Erklärung  verwandt 
wurde.  Denn  durch  dieses  naturwissenschaftliche  Prinzip  werden 
in  der  ersten  Philosophie  andere  Probleme  erklärt.  Auf  diese 
Weise  empfängt  ^  die  höhere  Wissenschaft  ihre  Prämisse,  die  durch 
Schlußfolgerung  aus  jenem  (naturwissenschaftlichen)  Prinzip  ent- 
steht, nicht  dadurch,  daß  die  Prämisse  abgeleitet  wird  aus  jenem 
(physischen)  Prinzip,^)  sondern  durch  eine  andere  Prämisse.^)  Die 
Naturwissenschaft  und  die  Mathematik  können  uns  daher  den 
Beweis  erbringen,  daß*)  das  Ding  existiert,  ohne  uns  zugleich 
zu  zeigen,  weshalb^)  es  existiere.  Dann  verleiht  uns  die  Meta- 
physik in  dieser  Untersuchung  den  Beweis  des  weshalb,  und 
zwar  in  vorzüglicher  Weise  in  der  Untersuchung  über  die  letzten 
Zweckursachen. 

So  sind  also  drei  Möglichkeiten  klar.  Dasjenige,  was  in 
irgend  einer  Weise  Prinzip  der  Metaphysik  und  aus  den 
Problemen  der  Naturwissenschaften  hergenommen  ist,  wird  nicht 
aus  anderen  Prinzipien,  die  in  der  Metaphysik  erklärt«)  werden, 

metaphyslBchen  Betrachtung.  „Prinzip"  (mabda')  bezeichnet  also  1.  erstes 
Denkprinzip,  2.  Voraussetzung  und  Ausgangspunkt  der  Betrachtung.  Auch 
das  Objekt  ist  in  diesem  Sinne  „Prinzip".  Die  „Ausgangspunkte"  der  Be- 
trachtung sind  nun  aber  nicht  die  Beweise  für  die  Prinzipien  der  Metaphysik. 
Also  findet  kein  drculus  vitiosus  statt. 

I)  Der  arab.  Ausdruck  besagt:  „die  (physische)  Prämisse  tritt  hinein 
(in  den  SyUogismus)  der  Metaphysik". 

')  Diese  Ableitung  ist  eine  rein  naturwissenschaftliche,  keine  meta- 
physische Untersuchung. 

*)  Diese  muß  der  Untersuchung  einen  metaphysischen  Charakter  ver- 
leihen, sonst  würde  die  Metaphysik  naturwissenschaftliche  Untersuchungen 
bringen  und  von  ihnen  abhängig  sein,  was  auf  den  besagten  circulus  vitiosus 
hinausliefe. 

*)  Die  anoSeiSiq  xo^  Sri,  Sie  Uefem  das  empirische  Material  für  die 
Metaphysik.  VgL  Arist.  981a  29:  Ol  fikv  yag  ifuieiQOi  to  Sri  fjthv  lisaai, 
Sioti  6*  ovx  haaif  ol  Sh  to  6 toxi  xal  xijv  alxiav  yvcDQi^ovaiv,  Ebenso 
AnaLn.89b24. 

•)  XO  ÖIOXI. 

•)  Da  diese  Erklärung  wiederum  Prinzipien  voraussetzt,  so  ergeben 
sich  drei  Ordnungen  von  Prinzipien:  1.  höchste,  2.  abgeleitete,  3.  natur- 
wissenschaftliche Prinzipien,  von  denen  die  jedesmal  höhere  Ordnung  die  unter 
ihr  stehende  erklärt.  Wird  nun  die  1.  Ordnung  wiederum  aus  der  Natur- 
wissenschaft entnommen,  so  entsteht  der  erwähnte  circulus  vitiosus. 

Horten,  Dm  Buch  der  Genesung  der  Seele.  3 


Digitized  by 


Googk 


34 

sondern  aus  in  sich  evidenten  Prinzipien  bewiesen,  —  oder 
dieses  Prinzip  wird  aus  denjenigen  (abgeleiteten)  Prinzipien 
bewiesen,  die  in  der  Metaphysik  Probleme  sind,*)  ohne  daß 
jedoch  ein  circulus  vitiosus  entsteht,  indem  sie  selbst  wiederum 
Prinzipien  für  jene  Probleme  würden  (dies  besagte  der  obige 
Einwand  S.  31),  sondern  sie  werden  vielmehr  erste  Prinzipien 
für  andere  Probleme  —  oder  drittens  diese  ersten  (physischen) 
Prinzipien  metaphysischer  Dinge  haben  die  Aufgabe,  auf  die 
Existenz  2)  der  Gegenstände  hinzuweisen,  deren  „weshalb"  in 
der  Metaphysik  untersucht  werden  soll.^)  Es  ist  nun  klar,  daß 
der  Denkvorgang,  wenn  er  sich  in  dieser  Weise  bewegt,  nicht 
zu  einem  circulus  vitiosus  wird,  indem  er  einen  Beweis  dar- 
stellte, der  das  Ding  voraussetzte,  um  es  zugleich  zu  beweisen. 
Du  mußt  wissen,  daß  in  der  Natur  der  Dinge  selbst  eine 
Methode  enthalten  ist,  die  dazu  führt,  daß  der  Zweck  der 
Metaphysik  eine  unvermittelte  Erkenntnis  ist,  die  nicht  erst 
nach  Kenntnisnahme  einer  anderen*  Wissenschaft  eintritt*) 
Dieses  wird  dir  später  durch  ein  Beispiel  s)  klar  werden,  wenn 
wir  zeigen,  daß  wir  eine  Art  des  Gottesbeweises  besitzen,  die 
nicht  den  Weg  der  Deduktion  aus  den  sinnlich  wahrnehmbaren 
Dingen«)  betritt,  sondern  auf  dem  Wege  der  allgemeinen  und 
begrifflich  faßbaren  Prämissen,  die  eine  erste  Ursache  für  das 
Sein,  eine  notwendig  seiende  nachweisen  und  dartun,  daß  diese 
sich  nicht  verändert,  noch  in  irgend  einer  Weise  eine  Vielheit 
enthält  und  beweisen,  daß  sie  die  erste  Ursache  des  Weltalls  ist 


1)  Es  sind  die  prima  principia  der  partikulären  V^issenschaften. 

')  Das  8x1,  Sie  soUen  aUo  nnr  das  Material  beibringen,  nicht  das 
Swtij  das  weshalb,  ergründen. 

»)  Die  naturwissenschaftlichen  Bestandteile  der  Metaphysik  werden  also 
entweder  durch  absolut  erste  oder  durch  abgeleitete,  aber  rein  metaphysische 
Prinzipien  erwiesen,  oder  sie  geben  nur  das  Objekt  der  Untersuchung  des 
diou  ab.    Ein  circulus  vitiosus  wird  also  in  jedem  Falle  vermieden. 

*)  Die  Kette  der  Wissenschaften  würde  in  infinitum  verlaufen,  wenn 
jeder  Wissenschaft  eine  andere  übergeordnet  sein  müßte. 

*)  Wörtlich:  „durch  Hinweis  (auf  einen  konkreten  Fall)". 

•)  Metaph.  VJLU,  5  Ende  wird  bewiesen,  daß  nur  ein  auf  Erfahrungs- 
tatsachen aufgebauter  Beweis  für  die  Existenz  Gottes  möglich  ist.  Dennoch 
muß  es  im  universellen  Wesen  der  Dinge  liegen,  daß  sie  auf  ein  erstes  Sein 
hinweisen.  Könnten  wir  also  das  Wesen  der  Dinge  und  das  Gottes  intuitiv 
erschauen,  so  könnten  wir  einen  ausschließlich  auf  universeUen  Prinzipi^ 
aufgebauten  Gottesbeweis  aufstellen  ohne  weitere  Induktion. 


Digitized  by 


Googk 


35 

und  daß  dieses  in  notwendiger  Weise  so,  wie  es  geordnet  ist, 
von  ihr  stammt.  Wegen  des  Unvermögens  unserer  Natur  können 
wir  jedoch  diesen  Weg  der  Demonstration,  d.  h.  den  Weg,  der 
von  den  ersten  Prinzipien  zu  den  Konklusionen  und  von  der 
Ursache  zur  Wirkung  führt,  nicht  betreten.  Höchstens  vermögen 
wir  dies  bei  einigen  Gruppen  der  Rangstufen  des  Wirklichen  mit 
Ausschluß  der  Differenzierung.^ 

Daher  kommt  es  dieser  Wissenschaft  (der  Metaphysik)  ihrer 
Natur  gemäß  zu,  daß  sie  allen  Wissenschaften  vorausgehe,^)  jedoch 
in  Beziehung  auf  uns  5)  folgt  sie  auf  die  anderen  Wissenschaften. 
Damit  hätten  wir  über  die  Rangstufe  der  Metaphysik  inbezug  auf 
die  anderen  Wissenschaften  die  Diskussion  zu  Ende  geführt. 

3.   Der  Name  der  Metaphysik. 

Was  nun  den  Namen  dieser  Wissenschaft  angeht,  so  be- 
zeichnet er,  daß  sie  handelt  von  dem,  was  auf  die  Natur*)  folgt. 
Unter  Natur  versteht  man  nicht  die  Kraft,*)  die  Ursprung  der 


*)  Einen  deduktiven  Beweis  vermögen  wir  innerhalb  der  Welt  unserer 
abstrakten  Ideen  zu  führen,  weil  in  dieser  die  universellen  Wesenheiten  und 
damit  auch  das,  was  sich  aus  ihnen  unmittelbar  ableiten  läßt,  direkt  evident 
sind.  In  dem  Reich  der  „Differenzierung",  d.  h.  der  numerisch  unterschiedenen 
Individuen  der  realen  Außenwelt  ist  diese  Intuition  des  Wesens  nicht  möglich, 
da  die  Materie  diese  Art  des  Erkennens  verhindert. 

')  Sie  enthält  die  der  Natur  des  Geistes  am  meisten  konformen, 
immateriellsten  Wahrheiten.  Berücksichtigt  man  also  die  Natur  unseres 
Geistes  allein,  so  muß  er  diese  am  ehesten  erkennen.  Der  reine  Geist  besitzt 
diese  höchste  Erkenntnis.  Die  Philosophie  und  besonders  die  Metaphysik  ist 
also  eine  Vorbereitung  auf  die  Erkenntnisse  des  anderen  Lebens  (s.  Anfang 
dieses  Kapitels).  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1018  b  32:  xaxa  fi^v  yag  xov  Xoyov  ta 
xad-oXov  TiQoxBQa,  xaxa  Sl  tjJv  atoB^aiv  ta  xaB'*  ixaota  und  AnaL  11,  71b  32: 
TiQiiBQa  ö*  iaxl  xal  yvtoQifioizsQa  dix(Sg'  ov  yoQ  xavxov  tcqoxbqov  xj  ipvoH 
xal  nQoq  rjfzGq  tiqoxbqov  ov^  yvtüQifiwxBQOV  (x§  g>vaei)  xal  riixXv  yv(OQipno' 
XBQOv^  A^cö  6k  TiQoq  titJL&q  fihv  TCQOxsQa  xal  yvw^ifiwxsQa  xä  iyyvxegov  xfjq 
alod-TJasmg,  ankCäq  6h  TiQOxsQa  xal  yvcDQi/nwxsQa  xä  noQQmxEQOV,  ^ozi  6h 
noQQwxaxfs}  fihv  xä  xaS-oXov  fiäXiaxa,  fyyvxäto)  6h  xä  xaS'*  sxaoxa.  Identisch 
ist  also:  n^oxegov  xaxä  x^v  ato^atv  dem  tiqoxbqov  xad^  ^fzag  und  7i^6xB(fov 
xaxä  xov  Xoyov  dem  tiqoxbqov  xfj  g)va€i. 

*)  xad^  ^fiag, 

*)  Der  arab.  Ausdruck  besagt:  das  was  auf  die  Natur  {g>vaiq  anstatt 
xä  <pvoixä)  folgt.    Daher  die  folgende  Erklärung. 

*)  Vgl.  die  gleiche  Definition  bei  Aristoteles,  Phys.  192b  21:  .  . .  läc 
oioriq  xf^q  ^vaBwq  OQXfjQ  xivog  xal  alxlag  xofj  xiveZodixt  xal  iqQBfisZv  iv  qt 
vnoQxei  TCQwxofq  xa^  avxo  xal  fi^  xaxä  ovfißeßijxog.    Vgl.  die  Darlegung 

3* 


Digitized  by 


Googl( 


36 

Bewegung  und  Ruhe  ist,  sondern  die  Gesamtheit  des  Dinges, 
das  aus  der  körperlichen  Materie  jener  Kraft  (den  Wesens- 
formen) und  den  Akzidenzien  zeitlich  entsteht  ^  Nach  anderer 
Ansicht  bezeichnet  „Natur"  den  physischen  Körper,  der  eine 
Naturkraft  (die  Prinzip  der  Bewegung  und  Ruhe  ist)  besitzt 
Ein  „physischer"  Körper  ist  ein  durch  seine  Eigentümlichkeiten 
und  Akzidenzien  sinnlich  wahrnehmbarer  Körper.  Der  Ausdruck 
„nach  der  Physik"  bezeichnet  ein  Nachher  inbezug  auf  uns;*) 
denn  das  erste,  was  wir  erkennen, ')  ist  die  Existenz,  und 
dadurch,  daß  wir  ihre  Verhältnisse  einzeln  kennen  lernen,  ver- 
stehen wir  dieses  bestimmte  Sein,  nämlich  das  der  Natur/) 
Der  Name  aber,  mit  dem  diese  Wissenschaft  bezeichnet  zu 
werden  verdient,  wenn  man  sie  in  ihrem  eigentlichen  Wesen 
betrachtet,  ist  der  Name  „vor  der  Physik";  denn  die  Dinge, 
die  in  ihr  untersucht  werden,  sind  ihrem  Wesen  und  ihrer 
Universalität  nach  vor  der  Physik. 

Man  könnte  einwenden,  daß  die  mathematischen  Gegen- 
stände, die  in  der  Arithmetik  und  Geometrie  betrachtet  werden, 
ebenfalls  der  Physik  vorausgehen,  besonders  die  Zahl;  denn  sie 
hängt  in  ihrem  Sein  durchaus  in  keiner  Weise  von  der  Physik 
ab,  da  sie  auch  außerhalb  der  Physik  vorkommt  Deshalb  muß 
die  Arithmetik  und  Geometrie  auch  eine  Metaphysik  sein.  Auf 
diese  Schwierigkeit  müssen  wir  folgendes  erwidern:  die  Dinge, 
die  in  der  Geometrie  untersucht  werden,  sind  Linien,  Flächen 
und  stereometrische  ^)  Körper.    Es  ist  also  klar,  daß  ihr  Objekt 


ex  professo  Avicennas,  Naturw.  I,  Teil  1, 5.  Das  Objekt  der  Naturwissenschaft 
ist  dementsprechend  der  Körper  als  Subjekt  der  Bewegung  und  Buhe,  ens 
mobile,  Objekt  der  Metaphysik  das  ens  inquantum  est  ens,  d.  h.  das  ens 
immobile. 

*)  Das  reale  Ding  der  Außenwelt  besteht  aus  dem  konkreten  Wesen, 
d.  h.  der  Materie  und  der  Form,  und  aus  den  Akzidenzien. 

•)  ioxBQOv  xad-'  rlti&q. 

*)  Der  arab.  Ausdruck  bezeichnet  eine  direkte  sinnliche  Wahrnehmung, 
hier  also  eine  direkte,  intuitive  Erkenntnis  der  höchsten  „ Wesenheit H  des 
Seins.  Die  Mystiker  bezeichnen  (Gorganis  definitiones  S.  229)  das  Schauen 
Oottes  in  den  Weltdingen,  insofern  letztere  modi  der  Oottheit  sind. 

*)  Aus  dem  Objekte  der  Metaphysik,  dem  Sein,  entsteht  also  durch 
Hinzufügung  von  Akzidenzien  das  Objekt  der  Naturwissenschaft  Die  eine 
bildet  also  die  natürliche  Fortsetzung  der  anderen. 

*)  Vgl.  dieselbe  Schwierigkeit  in  dem  Kommentare  Ismails  zu  den  Bing- 
Bteinen  F&räbis  lib.  dt.  S.  820. 


Digitized  by 


Googk 


37 

in  seinem  Bestände  nicht  von  der  Natur  (d.  h.  den  physischen 
Körpern)  getrennt  ist.  Daher  werden  die  notwendig  anhaftenden 
Eigenschaften  dieses  Objektes  in  noch  vorzüglicherem  Sinne 
so*)  bezeichnet  Diejenige  Wissenschaft,  deren  Objekt  die  Aus- 
dehnung im  allgemeinen  ist,  betrachtet  dieselbe,  insofern  sie 
disponiert  ist,  für  irgend  welche  (mathematische)  Beziehung. 
Diese  Eigentümlichkeit  aber  kommt  der  Ausdehnung  nicht  zu, 
insofern  sie  erstes  Prinzip  der  Naturdinge  und  Wesensform, 
sondern  nur  insofern  sie  (dreidimensionale)  Ausdehnung  und 
Akzidens  ist.^)  Die  Verschiedenheit  zwischen  der  Ausdehnung,  die 
eine  Folgeerscheinung  der  ersten  Materie,  im  allgemeinen  Sinne 
genommen,  ist,  und  zwischen  der  Ausdehnung,  die  (im  mathe- 
matischem Sinne)  Quantität  ist,  wurde  in  dem  Kommentare 3) 
der  Logik  und  der  Naturwissenschaften  definiert 

Die  Bezeichnung  „Ausdehnung"  wird  auf  beide  gleichmäßig 
angewandt  Wenn  dies  sich  so  verhält,  dann  ist  das  Objekt  der 
Geometrie  in  Wahrheit  nicht  die  Ausdehnung,  die  dem  physischen 
Körper  Bestehen  verleiht,  sondern  die  (mathematische)  Aus- 
dehnung, die  von  der  Linie  der  Fläche  und  dem  stereometrischen 
Körper  ausgesagt  wird.  Diese  letztere  ist  zugleich  disponiert 
für  die  verschiedenen  (mathematischen)  Proportionen.  Was  aber 
nun  die  Zahl  angeht,  so  bereitet  bezüglich  ihr  die  Schwierigkeit 
eine  viel  größere  Mühe.*)  Die  oberflächliche  Betrachtung  kann 
glauben,  daß  die  Arithmetik  zu  der  Metaphysik  gehören  muß, 
es  sei  denn,  daß  man  unter  Metaphysik  etwas  anderes,  nämlich 
die  Wissenschaft  dessen  verstehe,  was  in  jeder  Beziehung  von 
der  physischen  Wirklichkeit  getrennt  ist  Daher  wurde  sie 
bereits  nach  dem  Vorzüglichsten,  was  in  ihr  betrachtet  wird, 
benannt,  indem  man  sie  als  xa  iiarä  rä  (pvCixd  bezeichnete.^) 
Li  dem  gleichen  Sinne  nannte  man  sie  auch  göttliche  Wissen- 
schaft; denn  die  Erkenntnis  (Jottes  ist  das  Endziel  der  Metaphysik 


')  d.  h.  als  mit  der  materiellen  Natnr  notwendig  verbnnden. 

*)  Das  Objekt  der  Mathematik  ist  Akzidens  des  physischen  Körpers. 

^  Mit  Kommentar''  bezeichnet  Avicenna  die  vorliegende  Enzyklopädie, 
weil  er  sich  bewnfit  ist,  in  derselben  die  Lehren  des  Aristoteles  anseinander- 
znsetzen. 

*)  Sie  scheint  ein  noch  mehr  nnmaterieUes  Objekt  zn  haben,  als  die 
mit  der  Ausdehnung  sich  befassende  Geometrie. 

*)  Nor  der  vorzüglichste  Teil  des  Objektes  der  Metaphysik,  die  erste 
Wirk-  ond  Zwecknrsaehe,  mofi  nach  dieser  Auffassung  immateriell  sein.  An 
alle  Teile  ihres  Objektes  ist  diese  Anforderung  nicht  zu  stellen. 


Digitized  by 


Googl( 


38 

und  vielfach  werden  die  Dinge  benannt  nach  dem  vorzuglichsten 
Inhalte,  dem  vorzüglichsten  Teile«)  und  dem,  der  sich  wie  das 
Endziel  verhält.  Daher  ist  also  die  Metaphysik  jene  Wissenschaft, 
deren  Vollendung,^)  edelster  Teil  und  erster  Zweck  es  ist,  das 
zu  erkennen,  was  von  der  physischen  Wirklichkeit  in  jeder  Be- 
ziehung getrennt  ist.  Da  nun  die  Benennung  diesen  Gedanken 
wiedergeben  soll,  so  kann  die  Arithmetik  in  dem  Gedanken,  den 
der  Name  „Metaphysik"  ausdrückt,^)  keinen  Anteil  haben.  Doch 
möge  diese  Art  der  Antwort  auf  sich  beruhen.^)  Jedoch  ist  der 
definitive  Beweis  dafür,  daß  die  Arithmetik  außerhalb  der  Meta- 
physik ist,  der,  daß,  wie  dir  einleuchten  wird,  das  Objekt  jener 
nicht  die  Zahl  in  jeder  Hinsicht  ist;  denn  die  Zahl  findet  sich 
manchmal  vor  in  den  getrennten  (rein  geistigen)  Substanzen, 
manchmal  auch  in  den  physischen,  und  manchmal  besitzt  sie 
eine  räumliche  Lage,  wenigstens  in  der  Vorstellung,  indem  sie 
abstrahiert  ist  von  einem  Dinge,  das  sich  zu  ihr  wie  ein 
Akzidens  verhält.«»)  Freilich  ist  es  nicht  möglich,  daß  die  Zahl 
anders  real  existiere  denn  als  Akzidens  eines  realen  Dinges. 
Weiterhin  kann  diejenige  Zahl,  die  in  den  abstrakten  Sub- 
stanzen existiert,  unmöglich  Substrat  sein  für  irgend  eine 
beliebige  Beziehung  des  Mehr  oder  Weniger.«)  Die  Zahl  bleibt 
vielmehr  (in  diesen  Substanzen)  nur  in  der  Quantität  bestehen, 
die  sie  einmal  besitzt.  Sie  kann  aber  nur  insofern  als  das 
Objekt  (der  Arithmetik)  aufgestellt  werden,  als  sie  für  irgend 
einen  Zuwachs  und  irgend  eine  Beziehung  aufnahmefähig  ist, 
gleichgültig  ob  sie  in  der  ersten  Materie  der  Körper  vorhanden 
ist,   die   der  Möglichkeit   nach  jede  Art  von  Zahlen   in   sich 


>)  Inhalt,  wörtlich  Begriff,  ratio,  bezeichnet  die  qualitative,  „Teil"  die 
quantitative  Zerlegung  eines  Dinges. 

*)  oder  adäquates  Objekt. 

^  £r  soll  das  absolut  ünmaterielle  bezeichnen.  Die  Zahlen  gelten 
aber  zunächst  von  den  numerisch  verschiedenen,  also  den  materiellen 
Individuen.    Daher  sind  sie  nicht  absolut  unmateriell. 

*)  Wörtlich:  dieses  ist  dieses. 

^  Für  den  Begriff  der  Zahl  ist  das  reale  Ding  indifferent  und  in  diesem 
Sinne  Akzidens.  Die  räumliche  Lage  der  Zahl  in  Abstraktion  von  dem  Körper 
ist  vielleicht  eine  Anspielung  auf  eine  Lehre,  die  den  Punkt  als  Einheit,  die 
Linie  als  Zweiheit,  den  stereometrischen  Körper  als  Dreiheit  bezeichnet. 

')  Nur  in  dieser  Hinsicht  ist  das  Quantitative  und  daher  auch  die 
diskrete  Quantität,  die  Zahl,  Objekt  der  Mathematik.  Da  dieses  sich  also 
mit  dem  der  Metaphysik  nicht  deckt,  sind  beide  Wissenschaften  verschieden^ 


Digitized  by 


Googl( 


39 

schließt,  oder  in  der  Vorstellung.  In  beiden  Erscheinungsformen 
ist  die  Zahl  nicht  von  dem  physischen  Körper  getrennt.  Die 
Arithmetik  betrachtet  also,  insofern  ihr  Objekt  die  Zahl  ist, 
ausschließlich  diese  (nicht  etwa  die  gezählten  Dinge),  und  die 
Beziehung  (zu  den  Körpern),  die  ihr  nur  dann  eigentümlich  ist, 
wenn  sie  in  einem  Naturkörper  auftritt,  kommt  ihr  nur  von 
außen  (also  per  accidens)  zu.  Die  erste  ^)  Betrachtung  (der 
Arithmetik)  kann  sich  auf  die  (rein  arithmetische,  unmaterielle) 
Zahl  erstrecken,  während  sie  zugleich  in  der  inneren  Vorstellung 
(mit  materiellen  Gebilden  verbunden)  ist.  In  der  inneren  Vor- 
stellung tritt  sie  nur  in  dieser  Eigenschaft  (d.  h.  als  verbunden 
mit  Materiellem)  auf;  denn  der  Zahl  kommt  ein  Vorstellungsbild 
zu,  das  Zuständen  von  Naturkörpem  entlehnt  ist.  Diese  besitzen 
die  Fähigkeit,  sich  zu  vereinigen  und  zu  trennen,  eine  Einheit 
zu  bilden  oder  in  Teile  zu  zerfallen  (und  daher  können  sie 
arithmetisch  berechnet  werden).  Die  Arithmetik  stellt  daher 
keine  Betrachtung  an  über  das  Wesen  der  Zahl,  noch  über 
deren  Akzidenzien,  die  ihr  zukommen  als  Zahl  im  allgemeinen, 
sondern  nur  über  ihre  Akzidenzien,  insofern  sie  der  Zahl  zu- 
kommen, die  in  bestimmte  Verhältnisse  eintritt.  In  diesen  ninmit 
sie  das  auf,  was  oben  erwähnt  wurde.2)  Eine  solche  Zahl  ist 
entweder  ein  materielles  Ding  oder  eine  menschliche  Vorstellung, 
die  sich  auf  Materielles  erstreckt.  Die  Betrachtung  über  das 
Wesen  der  Zahl  aber  und  ihre  Akzidenzien,  die  ihr  zukommen, 
insofern  sie  nicht  mit  der  Materie  verbunden  ist,  auf  sie  sich 
erstreckt,  diese  Betrachtung  gehört  in  den  Bereich  der  Meta- 
physik. 


Viertes  Kapitel. 
Zusammenfassung  dessen,  worüber  wir  In  der  Metaphysik  handeln. 

Wir  müssen  daher  in  dieser  Kunst  (der  prima  philosophia) 
die  Beziehung  des  Dinges  und  des  Wirklichen  5)  (res  et  ens)  zu 
den  Kategorien  4)  definieren,  den  Zustand  des  Nichtseins  und  des 

*)  d-h.  direkte  nnd  formeUe  Betrachtnng,  die  nur  die  Hinsicht  ins 
Ange  fafit,  nnter  der  das  materielle  Objekt  untersucht  wird. 

*)  Die  Zahl  befindet  sich  in  den  Dingen  der  Natur  und  nimmt  in 
diesen  die  Bestimmungen  des  Gröfier-  oder  Geringerwerdens  an. 

»)  1, 5.  0  n  und  m. 


Digitized  by 


Google 


40 

Seins  im  absolut  Notwendigen  9  und  seine  Bedingungen,  den  des 
Möglichen*)  und  seine  Wesenheit  —  diese  Betrachtung  geht 
zugleich  auf  die  Potenz  und  den  Akt 3)  Femer  müssen  wir  das 
ens  per  se*)  und  das  ens  per  accidens*)  untersuchen,  das  Wahre 
und  das  Falsche,^)  die  Substanz  und  ihre  Arten. 7)  Der  Grund 
dafür  (daß  diese  Untersuchungen  in  die  Metaphysik  gehören) 
ist  der,  daß  das  Wirkliche,  damit  es  eine  Substanz  sei,  weder 
eine  physische,  noch  eine  mathematische  Natur  annehmen  muß; 
denn  es  gibt  in  der  Welt  Substanzen,  die  weder  das  eine  noch 
das  andere  sind.  Dann  müssen  wir  jene  Substanz  definieren,  die 
die  erste  Materie^)  ist,  und  uns  fragen,  wie  sie  beschaffen  ist, 
ob  sie  getrennt«)  oder  nicht  getrennt,  einheitlich  in  ihrer  Art 
oder  verschieden  geartet  ist  und  welche  Beziehung  sie  zu  den 
Wesensformen  hat;  femer  die  Substanz,  die  die  Natur  der 
Wesensform  lö)  hat,  wie  sie  beschaffen  ist,  ob  auch  sie  (als  Idee) 
getrennt  von  der  Materie  existiert  oder  nicht;  femer  die  (aus 
Materie  und  Form)  zusammengesetzte  Substanz,  wie  sich  jeder 
ihrer  beiden  Teile,  die  Materie  und  die  Wesensform,  verhält  bei 
ihrer  Wesensbestimmung;**)  ferner  die  Beziehung  der  Definitionen 
und  des  Definierten»^)  (Erkenntnistheorie).  Weil  nun  dasjenige, 
was  in  einer  gewissen  Art  der  Substanz  gegenübersteht,  das 
Akzidens  *3)  ist,  so  müssen  wir  in  der  Metaphysik  die  Natur  des 
Akzidens  untersuchen,  seine  Arten  und  seine  Definition,  die  sein 
Wesen  wiedergibt.  Du  mußt  femer  jede  einzelne  Kategorie^*) 
der  Akzidenzien  kennen  lemen  und  das,  was  eventuell  Substanz 
genannt  werden  kann  oder  nichts»)  Ihre  Natur  als  Akzidens 
wird  dann  festgestellt  *«)  (und  die  Ansicht  der  Mtftaziliten  wider- 
legt), die  Rangstufen  aller  Substanzen  definiert,  wie  sie  sich  in 
ihrem  Sein  inbezug  auf  das  Früher  und  Später  zueinander  ver- 
halten.   Ebenso  werden  die  Akzidenzien  definiert    Dieses  führt 

0  I,  6  und  7.  «)  I,  6. 

')  IV,  2.  *)  Die  Substanz  11. 

»)  m.  •)  I,  8. 

0  n.  •)  n,  2.  a  4. 

•)  d.  h.  geistiger  jNtatur. 
^^  n,  4  die  geistige  Substanz  und  die  Form. 
")  V,  3  und  4.  »)  V,  7  und  8. 

")  m.  »<)  m,  7—10. 

^  Die  Ansicht  einiger  Mu^taziliten,  z.B.  en-Nazz&ms,  ging  darauf 
hinaus,  einige  Akzidenzien  als  Substanzen  zu  bezeichnen. 
»«)  m,  7. 


Digitized  by 


Google 


41 

dich  zur  Kenntnis  des  Universellen  und  Partikulären,  des  Ganzen 
und  des  Teiles,*)  der  Art,  wie  die  universellen  Naturen  existieren  2) 
und  ob  sie  sich  in  singulären  Individuen  vorfinden,  femer  wie 
sie  im  denkenden  Geiste  existieren  und  ob  sie  vielleicht  von  den 
individuellen  Dingen  und  dem  Geiste  getrennt  (in  der  Ideenwelt) 
eine  Existenz  für  sich  haben.  Dabei  lernen  wir  die  Gattung, 
die  Art  und  ähnliches  kennen.») 

Weil  nun  das  Wirkliche  nicht  ein  physisches  oder  mathe- 
matisches oder  sonst  ein  determiniertes  sein  muß,  um  „Ursache" 
oder  „Wirkung"  zu  werden  (indem  der  Begriff  der  Ursache 
und  Wirkung  über  den  Bereich  der  Naturwissenschaften  und 
Mathematik  hinausgeht),  so  müssen  wir  an  das  Vorhergehende 
eine  Untersuchung  über  die  Ursachen,  ihre  Gattungen  und  Zu- 
stände*) und  über  das  Problem,  wie  sich  die  Ursachen  zu  den 
Wirkungen^)  verhalten,  anschließen;  femer  eine  Untersuchung 
über  die  Definition  des  Unterschiedes  der  ersten  Wirkursache*) 
von  den  übrigen  Ursachen.  Sodann  reden  wir  über  die  Aktualität 
und  die  Potentialität,')  über  die  Definition  des  Unterschiedes 
zwischen  der  Wesensform  und  der  Zweckursache  und  über  den 
Beweis  für  die  Existenz  beider.*)  Wir  zeigen  zugleich,  daß  die 
Ursachen  in  jeder  Seinsordnung  zu  einer  ersten  Ursache»)  hin- 
leiten. Dadurch  stellen  wir  zugleich  die  Untersuchung  über  das 
erste  Prinzip  und  den  (schöpferischen)  Beginn  ^^)  des  Wirklichen 
klar.  Sodann  untersuchen  wir  (die  Postprädikamente)  des  Früher 
und  Später,*')  das  zeitliche  Entstehen,*^)  geine  Einteilungen  und 
Arten,  die  besonderen  Eigentümlichkeiten  in  einer  jeden  Art^ 
das,  was  der  Natur  nach  und  das,  was  der  Betrachtung  des 
Verstandes  nach  früher  ist,i3)  die  Definition  der  Dinge,  die  quoad 
nos  früher  sind  und  die  Art^  wie  man  mit  demjenigen  disputieren 


«)  V,  2.  «)  Vm,  3  und  V,  1. 

•)  V,  3—8.  *)  VI. 

*)  VI,  7.  •)  VI,  1-3. 

')  IV,  2.  •)  VI,  4.  5. 

*)  VI,  5  und  VEH,  1.  2. 3.  Das  procedere  in  infinitum  ist  also  innerhalb 
der  per  se  wirkenden  Ursachen  auszuschließen. 

*•)  IX.  ")  IV,  1. 

")  Problem  der  anfangslosen  Schöpfung! 

*•)  TiQOTBQOv  tg  <pvcet  oder  xaxa  xov  Xoyov  und  uqoxbqov  UQoq  rjfi&q  oder 
xaxa  x^v  ala4^iv.  Aristoteles,  Metaph.  1018  b  32  und  anal,  poster.  71b  33, 
Avicenna  IV,  1. 


Digitized  by 


Google 


42 

muß,  der  diese  (primären  Prinzipien)  leugnet  Alle  allgemein 
gebilligten')  Ansichten  betreffs  der  oben  erwähnten  Fragen,  die 
der  Wahrheit  widersprechen,  werden  wir  widerlegen. 

Alle  diese  und  ähnliche  Begriffe  sind  Akzidenzien*)  des 
Seins  als  solchen.  Weil  nun  der  Begriff  des  Einen  dem  des 
Seins  parallel  steht, »)  so  müssen  wir  auch  diesen  betrachten.*) 
An  die  Darlegung  des  Begriffes  des  Einen  muß  sich  die  des 
Vielen*)  anschließen  und  die  Definition  der  Opposition  zwischen 
beiden.  Dann  ist  es  angebracht,  über  die  Zahl«)  und  ihre  Be- 
ziehung zu  den  wirklichen  Dingen  zu  betrachten,  femer  auch 
die  Beziehung  der  kontinuierlichen  Quantität,")  die  in  gewisser 
Weise  der  Zahl  (der  diskontinuierlichen  Quantität)  gegenüber 
steht,  zu  den  wirklichen  Dingen.  Wir  zählen  dabei  alle  un- 
richtigen Ansichten^)  betreffs  dieser  Probleme  auf  und  legen 
dar,  daß  keines  dieser  (begrifflichen)  Dinge  eine  von  der  Materie 
getrennte  Existenz  hat,  noch  auch  ein  schaffendes  Prinzip  für 
die  wirklichen  Dinge  ist»)  Sodann  stellen  wir  die  Akzidenzien 
fest,  die  den  Zahlen  und  den  kontinuierlichen  Quantitäten  zu- 
kommen, wie  z.B.  die  geometrischen  Figuren'*^)  u.s. w. 


^)  Wörtlich:  aus  ersten  Prämissen  deduzierten  und  allgemein  an- 
genommenen Lehren. 

')  Substanz  und  Akzidens  gelten  als  Arten,  die  übrigen  Begriffe  der 
Metaphysik  als  Akzidenzien  des  Seienden. 

*)  Siehe  Thomas:  unum  convertitur  cum  ente;  Sum.  theol.  1 11,  art  3 
ad  2,  ibid.  11,  I.e.:  unum  non  addit  supra  ens  rem  aliquam,  sed  tantom 
negationem  divisionis;  unum  enim  nihil  aliud  significat,  quam  ens  indiyisum; 
ibid.  ad  1:  unum  . . .  significat  substantiam  entis,  prout  est  indiyisa.  Arist, 
Metaph.  1053b 25:  k^yerac  6^  Icax*^  to  5v  xal  to  av;  ibid.  1030b  11:  ro  6* 
ev  Uyetai  äoTUQ  to  ov  und  1018  a  35  und  Thomas  de  potentia  q.  IX,  art  8 
ad  13:  Unum  et  ens  convertuntur  secundum  supposita;  sed  tarnen  unum 
addit  secundum  rationem,  privationem  diTisionis  et  propter  hoc  non  sunt 
Synonyma,  quia  synonyma  sunt,  quae  significant  idem  secundum  rationem 
eandem.  Femer  Arist,  Metaph.  1054  a  14:  St«  öh  xaixo  orifimvei  notq  to  tv 
xal  to  ov,  SfjXov  t(p  te  noQOXoXov^BXv  laax^  talq  xatrjyoQlaiq  xal  firi  elvat 
iv  fifiöefiiä,  und  1054  a  16:  ifioimq  ^x^i  (to  ev)  &otuq  to  Sv,  1061a  16:  Sta- 
ipigei  6*  ov6kv  tfjv  toC  Svtog  avayoyy^v  ngoq  to  ov  ?  iii^oq  to  ?v  yiyveadni, 
xal  yag  el  fi^  tavtov  aXXo  6*  iativ,  ävttatQiipeiye  (convertuntarX 
1003  b  22:  d  6^  to  sv  xal  to  ov  tavtov  xal  /da  ipvoiqf  t^  äxoXov^iv 
aXXrkoiq  &<mBQ  oqx'J  ^^^  attiov,  aXX*  ovx  foq  ivl  X6y<p  SfiXovfuva. 

*)III,2ff.  »)  111,6. 

•)  m,  5.  0  ni,  9. 

")  Vn,  2.  *)  Pythagoräische  Auffassung  der  Zahl 

»•)  111,9. 


Digitized  by 


Googl( 


43 

Airf  den  Begriff  des  Einen  folgt  der  des  Ähnlichen,  des 
vollstÄndig  Gleichen,  des  Übereinstimmenden,  des  im  Genns,  in 
der  Gestalt  und  in  der  äußeren  Erscheinung  dem  Dinge  Ver- 
wandten und  die  Identität.')  Daher  müssen  wir  über  jeden 
einzelnen  dieser  Begriffe  und  seine  opposita  sprechen,  weil  sie 
der  Vielheit*)  gleichen.  Solche  opposita  sind  z.  B.  das  Un- 
ähnliche, das  Ungleiche,  das  in  Genus  und  Gestalt  Verschiedene, 
kurz  das  Andere,  das  Entgegengesetzte,  die  Opposition  und 
ihre  Arten,  das  dem  wirklichen  Wesen  nach  Entgegengesetzte 
(das  Konträre)  und  seine  Definition. 

Nach  diesem  sprechen  wir  über  die  ersten  Prinzipien  der 
wirklichen  Dinge  und  beweisen  die  Existenz  der  ersten  Ursache,') 
daß  sie  eine  einzige*)  ist,  eine  wahre, ^)  ausgestattet  mit  der 
höchsten  Majestät.  Wir  werden  klar  legen,  in  wie  vielerlei 
Hinsicht  sie  eine  einzige  ist,  in  wie  vielfacher  Beziehung  eine 
wahre,  wie  sie  Kenntnis  von  allen  Dingen  hat«)  und  zugleich 
über  alle  Dinge  mächtig  ist,  was  es  bedeutet,  daß  Gott  wissend 
und  mächtig,  daß  er  freigebig  und  friedenspendend,  d.  h.  das  reine 
Gute  (das  höchste  Gut)  ist,  und  seines  Wesens  halber  geliebt 
wird.')  Er  ist  das  Objekt  der  Liebe,^)  die  Wahrheit,  er  besitzt 
Schönheit  und  wahrhaftes  Sein. 

Dabei  widerlegen  wir  die  Einwendungen  und  die  Ver- 
mutungen, die  dagegen»)  aufgestellt  wurden.  Dann  erklären 
wir  die  Beziehungen  Gottes  zu  den  aus  ihm  entstandenen 
wirklichen  Dingen,^<>)  welches  das  erste  Geschöpf  *0  sei,  das  von 
ihm  ausgeht,  und  wie  femer  die  wirklichen  Dinge  in  geordneter 
Folge  aus  ihm  hervorgehen:  zuerst  die  Substanzen  der  rein 
geistigen  Engel,  sodann  die  der  himmlischen  Seelen  (die  die 
Sphären  der  Himmel  beleben),  dann  die  der  Himmelskörper  **) 
und  die  sublunarischen  Elemente,» 3)  darauf  die  aus  diesen 
zusammengesetzten  Körper  und  den  Menschen  und  wie  alle  diese 


OVn,!. 

*)  Die  Vielheit  wird  als  oppositom  der  Einheit  (m,  6)  besprochen. 

»)  vm,  1—3.  *)  vm,  7. 

*)  vm,  6.  •)  vm,  6. 

')  vm,  8. 

•)  VgL  F&r&bl,  Ringsteine  Nr.  23. 
^  Wörtlich:  der  Wahrheit  kontrftr. 
'0  IX.  ")  IX,  1. 

^«)  IX,  6.  »»)  IX,  7. 


Digitized  by 


Google 


44 

Dinge  zu  Gott  zurückkehren,  ^  wie  Gott  die  erste  Wirkursache 
für  dieselbe  ist  und  wie  Er  ein  Prinzip  der  Vollkommenheit  für 
dieselben  bedeutet,^)  sodann  den  Zustand  der  menschlichen  Seelen, 
wenn  ihre  Verbindungen  mit  der  Körperlichkeit  abgebrochen 
sind,3)  und  die  Seinstufe,  in  dieser  ihrer  Existenz. 

Bei  diesen  Untersuchungen  sprechen  wir  ebenfalls  von  der 
Erhabenheit  der  Prophetie,^)  weshalb  es  notwendig  ist,  ihr  zu 
gehorchen  (den  Glauben  anzunehmen)  und  daß  sie  von  Gott 
zur  Pflicht  gemacht  ist.  Femer  stellen  wir  Lehren  auf  über 
die  Sitten^)  und  Handlungen,  deren  die  Seelen  der  Menschen 
zugleich  mit  der  Weisheit*^)  bedürfen,  um  dadurch  das  Gluck 
des  anderen  Lebens  zu  erlangen.  Dabei  erklären  wir  auch  die 
Arten  des  Glückes.  Sind  wir  bis  zu  diesem  Punkte  gekommen, 
dann  schließen  wir  unser  Buch  ab.    Gott  möge  uns  dazu  helfen. 


Fünftes  Kapitel. 

Der  Hinweis 0  auf  das  Seiende  und  das  Ding,  die  primären 
Einteilungen  beider,  zugleich  Hinweis  auf  das  Ziel^)  (der  Metaphysik). 

Daher  lehren  wir:  das  Sein,»)  das  Ding  und  das  Denk- 
notwendige sind  Begriffe,  die  in  ursprünglicher  Weise  (ohne 
Vermittlung  allgemeiner  Ideen)  sich  in  die  Seele  einzeichnen. 

•)  IX,  9. 

*)  Im  Streben  zu  Gott  hin  vervoUkommnen  sich  die  Geschöpfe. 

»)  X,  1  und  IX,  9. 

^)X,2. 

»)  X,  3-5. 

•)  Die  Vereinigung  der  spekulativen  und  praktischen  Philosophie  bildet 
das  ganze  Glück  des  Menschen.  Vgl.  Horten,  Das  Buch  der  Bingsteine 
F&r&bis  S.316f. 

0  Es  gibt  allgemeine  Ideen,  durch  die  andere  subaltemierte  Ideen 
erklärt  werden,  ohne  selbst  eine  Erklärung  zuzulassen,  noch  überhaupt  der 
Erklärung  bedürftig  zu  sein.  Diese  allgemeinsten  Begriffe  können  nicht 
definiert  werden,  da  die  Definition  durch  das  höhere  Genus  und  die  Differenz 
zustande  kommt,  die  maxima  universalia  aber  nicht  unter  ein  höheres  Genus 
zusammengefaßt  werden  können;  sonst  entstände  in  unserem  Denken  ein 
circulus  vitiosus.  Diesem  Gedanken  folgend  betitelt  Avicenna  dieses  Kapitel 
mit  „Hinweis",  nicht  mit  „Erklärung"  der  allgemeinsten  Begriffe. 

•)  Das  formeUe  Objekt. 

^  Vgl.  das  Zitat  in  Thomas:  de  veritate  q.  I,  art.  Ic  inito.  Bespondeo 
dicendum  quod  sicut  in  demonstrabilibus  oportet  fieri  reductionem  in  aliqua 


Digitized  by 


Googk 


45 

Dieselbe  bedarf  nicht  der  Hilfe  anderer  Dinge,  die  bekannter 
sind  als  jene.  Ebenso  verhalten  sich  inbezug  auf  die  sichere 
Erkenntnis  der  Wahrheit  die  ersten  Denkprinzipien,  durch  die 
ohne  Beihilfe  anderer  ^  die  Überzeugung  von  der  Wahrheit  ge- 
wonnen wird.  Die  Überzeugung  von  anderen  Dingen  wird  dann 
durch  diese  ersten  Prinzipien  vermittelt  Wenn  dieselben  nicht 
im  Geiste  auftreten  oder  wenn  das  Wort,  das  sie  bedeutet,  nicht 
verstanden  wird,  dann  kann  man  nicht  zur  Erkenntnis  dessen, 
was  durch  Vermittlung  dieser  ersten  Wahrheiten  klar  wird, 
gelangen.  Dies  gilt  auch  dann,  wenn  die  Definition,^)  die  diese 
ersten  Begriffe  dem  Geiste  präsent  und  ihre  Termini  ver- 
ständlich machen  will,  nicht  beabsichtigt,  eine  Kenntnis  mit- 
zuteilen, die  nicht  in  der  Natur  angelegt  ist,  sondern  wenn  sie 
nur  hinweist  auf  das  Verständnis  dessen,  was  der  Redende 
sagen  oder  lehren  will  Manchmal  findet  eine  solche  hinweisende 
Erklärung  statt  durch  Dinge,  die  in  sich  undeutlicher  sind  als 
dasjenige,  was  definiert  werden  solL  Jedoch  durch  irgend  eine 
Veranlassung  und  Erklärung  werden  sie  deutlicher.  Ebenso 
bestehen  in  unserer  Begriffswelt  Dinge,  die  die  Prinzipien 
unseres  begrifflichen  Denkens  (die  Genera  der  Definition)  sind, 
und  diese  sind  durch  sich  selbst  begrifflich  faßbar  (z.  B.  die 
Begriffe  des  Seins  und  des  Einen).  Will  jemand  auf  diese  hin- 
weisen, so  ist  dieser  Hinweis  nicht  eine  eigentliche  Definition 
von  etwas  Unbekanntem,  sondern  besteht  nur  in  einem  Hin- 
lenken der  Aufmerksamkeit  und  einem  Wachrufen  des  Begriffes 
im  Q^te  entweder  durch  ein  Wort  oder  ein  Zeichen.  Manchmal 
sind  letztere  in  sich  selbst  unbekannter  als  die  zu  definierenden 


piincipia  per  se  inteUectni  nota,  ita  investigando  quid  sit  unmnqaodqne; 
alias  utrobique  in  inflnitam  iretnr  et  sie  periret  omnis  scientia  et  cognitio 
jrerom.  Bind  autem  quod  primo  intellectus  concipit  quasi  notissimum  et  in 
quo  omnes  conceptiones  resolvit  est  ens,  ut  Avicenna  dicit  in  principio  Meta- 
physicae  suae  üb.  I,  cap.  IX!  (es  sind  wohl  diese  Ausführungen,  also  Kap.  5 
gemeint).  Unde  oportet  quod  omnes  aliae  conceptiones  intellectus  accipiantur 
ex  additione  ad  ens.  Sed  enti  non  potest  addi  aliquid  quasi  extranea  natura 
per  modum  quo  differentia  additur  generi  Tel  accidens  subjecto,  quia  quae- 
übet  natura  essentialiter  est  ens  ...  sed  secundum  hoc  aüqna  dicuntur  addere 
supra  ens,  inquantum  exprimunt  ipsius  modum,  qui  nomine  ipsius  entis  non 
exprimitur. 

^)  per  se  primo. 

*)  Definition  ist  hier  im  Sinne  einer  definitio  descriptiva  zu  nehmen, 
da  eine  eigentliche  definitio  nicht  möglich  ist. 


Digitized  by 


Google 


46 

Begriffe;  jedoch  werden  sie  durch  irgend  eine  Ursache  (nämlich 
die  Gewohnheit  der  Sprache)  oder  irgend  ein  Verhältnis  deutlicher 
in  ihrer  Eigenschaft  als  Hinweise.  Wendet  man  daher  dieses 
Zeichen  an,  so  ruft  es  in  der  Seele  jenen  Begriff  wach  durch 
einen  Hinweis,  daß  dieses  bestimmte,  nicht  ein  anderes  die  Be- 
deutung des  Wortes  ist,  ohne  das  deshalb  das  Zeichen  in  Wahrheit 
jenen  Begriff  verständlich  mache.  (Man  muß  zu  absolut  ersten 
Begriffen  gelangen;  denn)  wenn  jedes  begriffliche  Denken  einen 
früheren  Begriff*)  voraussetzen  müßte,  dann  ginge  die  Kette  der 
Begriffe  in  dieser  Materie  ins  Unendliche  fort  oder  bewegte  sich 
im  Kreise.  Die  Dinge,  die  in  vorzüglichstem  Sinne  in  sich  selbst 
begrifflich  faßbar  sind,  sind  diejenigen,  die  alle  Dinge  in  ihrem 
Umfange  einbegreifen,  wie  z.  B.  das  Sein,*)  das  Ding,  das 
Eine  u.  s.  w.  Aus  diesem  Grunde  können  wir  keinen  jener  Be- 
griffe durch  eine  Darlegung,  die  keinen  circulus  vitiosus  ent- 
hielte oder  die  etwas  einschlösse,  was  bekannter  wäre  als  jene, 
erklären.  Daher  befindet  sich  derjenige  in  großer  Ratlosigkeit^ 
der  über  jene  Begriffe  etwas  aussagen  will.  So  sagen  wir,  daß 
es  zu  dem  Wesen  des  Seienden  gehöre,  sich  entweder  aktiv 
oder  passiv  zu  verhalten.  Zugleich  aber  gehören  diese  beiden 
Begriffe  zu  den  Teilen 3)  des  Seins,  obwohl  sie  (dem  Seienden) 
notwendig  anhaften.  Der  Begriff  des  Seins  ist  nun  aber  be- 
kannter als  der  des  Aktiven  und  Passiven  und  alle  Menschen 
stellen  sich  den  wahren  Begriff  des  Seins  vor,  ohne  daß  sie 
irgendwie  erkennen,  daß  dasselbe  sich  entweder  aktiv  oder 
passiv  verhalten  muß  (und  daher  sind  diese  beiden  Begriffe  der 
Aktualität  und  Potentialität  nicht  in  der  Lage,  den  des  Seienden 
deutlich    zu    machen).     Auch    ich    selbst   erkenne    dieses    (die 


^)  Derselbe  müßte  einen  weiteren  Umfang  haben. 

*)  Vgl.  Thomas  de  potentia  q.  IX,  art.  Vn  ad  sextum  dicendum  quod 
inter  ista  quatnor  prima  (scilicet  ens,  unnm,  verom  bonom)  maxime  primam 
est  ens  et  ideo  oportet  quod  positive  praedicetor  . . .  Oportet  antem  qaod 
alia  tria  super  ens  addnnt  aliquid,  quod  ens  non  contrahat;  si  enim  contra- 
herent  ens,  iam  non  essent  prima.  Hoc  autem  esse  non  potest  nisi  addant 
aliquid  secundum  rationem  tan  tum.  Hoc  autem  est  vel  negatio,  quam  addit 
unum,  ut  dictum  est,  vel  relatio,  vel  aliquid  quod  natum  sit  referri  universa- 
liter  ad  ens;  et  hoc  est  vel  intellectus  ad  quem  importat  relationem  verum; 
aut  appetitus,  ad  quem  importat  relationem  bonum;  nam  bonum  est,  quod 
omnia  appetunt  ut  didtur  in  I.  Ethicorum,  in  princ.  1094  a  2  Sio  xaXw^  <b»- 
fijvavto  täya^ov  oi  nivt*  iqfUzai, 

")  d.  h.  den  Arten. 


Digitized  by 


Googk 


47 

notwendige  Beziehung  zwischen  Sein  und  Akt  und  Potenz)  nur 
durch  Analogie,  nicht  auf  andere  Weise.  Wie  unmöglich  ist 
daher  das  Beginnen  desjenigen,  der  das  Ding,  das  evident  ist, 
definieren  will  durch  eine  diesem  inhärierende  Eigenschaft,  die 
ihrerseits  wiederum  eine  Darlegung  voraussetzt,  die  von  ihrer 
EIxistenz  in  dem  Subjekte  überzeugt.  Ebenso  verhält  sich  die 
Behauptung  desjenigen,  der  sagt,  daß  das  Ding  etwas  ist,  das 
durch  das  Gute  treffend  erklärt  wird;  denn  das  „treffend  Er- 
klären" und  das  „Gute"  sind  weniger  klar  als  der  Begriff  des 
Dinges.  Wie  kann  da  jenes  (das  Unbekanntere)  zur  Definition 
des  Dinges  werden?  ^  Der  Begriff  des  „treffend  Erklären"  und 
der  des  „Guten"  wird  vielmehr  nur  erkannt,  nachdem  man  in 
der  Erklärung  jedes  einzelnen  von  beiden  den  Begriff  des 
Dinges,  den  des  „Etwas"  oder  den  des  irgend  „Was"  oder  des 
„Welches"  verwandt  hat.  Alle  diese  Begriffe  verhalten  sich 
wie  Folgerungen  des  Begriffes 2)  „Ding".»)  Wie  ist  es  bei 
diesen  Verhältnissen  richtig,  daß  der  Begriff  des  Dinges  in 
eigentlicher  Definition^)  definiert  werde  durch  etwas,  was 
seinerseits  nur  durch  den  Begriff  des  Dinges  verständlich  ist? 
Freilich  ist  häufig  in  diesen  und  ähnlichen  Redeweisen  ein 
gewisser  Hinweis  enthalten;  denn  wenn  du  sagst,  das  Ding  ist 

*)  Es  entsteht  ^  xvxXfp  xal  i^  dXX^Xcav  dnoöeiSig  Analyt.  72  b  17.  25. 

*)  Wörtlich:  des  Namens  Ding.  Vgl.  zum  Ausdruck  Thomas  Sum. 
theol.  1 39,  art.  3  ad  3  hoc  nomen,  res,  est  de  transcendentibus. 

•)  Dieser  ist  also  universeller;  vgl.  Arist.,  Metaph.  1001  a 21:  zo  ov  xal 
x6  €v  iati  xa^okov  fjtdXiara  navxwv^  und  Thomas  I,  distinct.  Vill,  q.  1,  art.  3c: 
Bespondeo  dicendum,  quod  ista  nomina  ens  et  bonum,  unum  et  verum  simpliciter 
secundum  rationem  inteüigendi  praecedunt  aUa  divina  nomina,  quod  patet  ex 
eorum  communitate  (=  universalitate).  Si  autem  comparemus  ea  ad  invicem, 
hoc  potest  esse  dupliciter,  vel  secundum  suppositum,  et  sie  convertuntur  ad 
invicem  et  sunt  idem  in  supposito,  nee  unquam  derelinquunt  se;  vel  secundum 
intentiones  eorum  et  sie  simpliciter  et  absolute  ens  est  prius  aliis.  Ouius 
ratio  est,  quia  ens  includitur  in  intellectu  eorum  et  non  e  converso.  Primum 
enim  quod  cadit  in  imaginatione  intellectus,  est  ens,  sine  quo  nihil  potest 
apprehendi  ab  inteüectu  .  .  .  unde  omnia  alia  includuntur  quodammodo  in 
ente  unite  et  indistincte  sicut  in  principio.  Alia  vero  quae  diximus,  scilicet 
bonum  verum  et  unum,  addunt  super  ens  non  quidem  naturam  aliquam,  sed 
rationem;  sed  unum  addit  rationem  indivisionis  et  propter  hoc  est  propin- 
quissimum  ad  ens,  quia  addit  tantum  negationem,  verum  autem  et  bonum 
addunt  relationem  quamdam,  sed  bonum  relationem  ad  finem,  verum 
relationem  ad  formam  exemplarem  (die  Idee  des  Dinges  in  Gott)  ...  vel 
relationem  ad  virtutem  cognoscitivam. 

*)  Nicht  definitione  descriptiva. 


Digitized  by 


Googl( 


48 

dasjenige,  von  dem  der  Begriff  des  Guten  zutreffend  ausgesagt 
wird,  so  ist  dies  dasselbe,  als  wenn  du  sagtest,  das  Ding  ist  das 
Ding,  von  dem  der  Begriff  des  Guten  ausgesagt  wird  (das  zu 
definierende  ist  damit  in  die  Definition  selbst  aufgenommen); 
denn  die  Begriffe:  „dasjenige,  was"  (aliquid),  „welches"  und 
„Ding"  bilden  nur  einen  einzigen  Inhalt  Damit  hast  du  also 
das  „Ding"  selbst  in  die  Definition  des  Dinges  aufgenommen. 
Jedoch  leugnen  wir  nicht,  daß  durch  diese  und  ähnliche  Be- 
stimmungen, trotzdem  sie  einen  logischen  Fehler  enthalten,  in 
irgend  einer  Weise  ein  Hinweis  auf  den  Begriff  des  Dinges 
gegeben  sei. 

Daher  ist  unsere  Behauptung  die,  daß  das  Seiende  und  das 
Ding  in  der  Seele  begrifflich  vorgestellt  werden  und  zwei  ver- 
schiedene Begriffe  ausmachen.  Das  Seiende,  das  als  existierend 
Nachgewiesene  und  das  zur  Wirklichkeit  Gelangte  sind  daher 
verschiedene  Namen,  die  einem  einzigen  Begriffe  folgen,  und 
unzweifelhaft  ist  ihr  Begriff  in  der  Seele  desjenigen  präsent 
geworden,  der  dieses  Kapitel  liest. 

Das  Ding  und  das,  was  gleichbedeutend  ist,  bedeutet  in 
allen  Sprachen  manchmal  etwas  anderes;  denn  jedes  Ding  hat 
eine  reale  Wesenheit,^)  durch  die  das  Ding  das  ist,  was  es  ist 
Das  Dreieck  hat  daher  ein  reales  Wesen:  das  esse  triangulum; 
und  ebenso  die  weiße  Farbe:  das  esse  album  (als  Artbestimmung). 
Dieses  bezeichnen  wir  häufig  als  das  partikuläre  Sein,')  ohne 
daß  dadurch  der  Begriff  des  Existierens*)  bezeichnet  würde; 
denn*)  der  Ausdruck  Existenz  bedeutet  noch  viele  andere  Be- 
griffe, z.  B.  das  reale  Wesen,  das  den  Inhalt  des  Dinges  aus- 
macht Demzufolge  ist  dasjenige,  was  den  Inhalt  des  Dinges 
ausmacht  (seine  essentia),  das  partikuläre  Sein«)  des  Dinges. 

Wir  kehren  nun  zum  Ausgangspunkte  zurück  und  be- 
haupten: es  ist  klar,  daß  jedes  Ding  eine  partikuläre  essentia 
besitzt,  nämlich  sein  Wesen.    Es  ist  zugleich  bekannt,  daß  die 


>)  Es  ist  der  dl  aXXijXatv  oQiafioq, 

^  z=  xo  xi  ^v  xivi  elvai,  das  Wesen. 

*)  Das  universelle  Sein  ist  der  transcendentale  Begriff  des  Seins,  das 
partikol&re  die  Wesenheiten  der  Dinge,  das  singol&re  das  Individuom. 

*)  Der  transcendentale  Begriff  des  Seins  ist  in  der  Wesenheit  nicht 
enthalten.    Diese  ist  also  kontingent  und  zuf&llig. 

s)  Ans  diesem  Grunde  kann  er  das  eine  bezeichnen  ohne  das  andere. 

^  Die  ovalay  arab.  baqiqa,  ist  nach  Aristoteles  x6  Sv,  xd  &7Ü,diq  ov. 


Digitized  by 


Googk 


49 

essentia  jedes  Dinges,  die  ihm  in  besonderer  Weise  zukommt, 
verschieden  ist  von  dem  Sein,  das  beständig  folgt  auf  den 
Beweis  für  die  Existenz  (oder:  das  Eintreten  ins  Dasein).0  Der 
Grund  dafftr  ist  folgender:  Wenn  du  sagst,  das  Wesen  dieses 
Gegenstandes  hat  wirkliche  Existenz  entweder  in  den  indi- 
viduellen Dingen  oder  im  Geiste  oder  absolut  genommen,  indem 
letzterer  Begriff  die  beiden  ersten  umschließt,  so  bedeutet  diese 
Aussage  etwas  Bestimmtes  und  begrifflich  Faßbares.^)  Sagst 
du  aber,  das  Wesen  dieses  Dinges  ist  das  Wesen  dieses  Dinges 
und  das  Wesen  dieses  Dinges  ist  ein  Wesen,  so  ist  dies  eine 
Tautologie,  die  keine  neue  Kenntnis  verleiht  (diese  Tautologie 
tritt  ein,  wenn  man  den  Begriff  des  Dinges  durch  den  des  Seins 
erklären  will).  Sagst  du,  das  Wesen  dieses  Dinges  ist  ein 
Gegenstand,  so  bedeutet  dies  ebenfalls  eine  Aussage,  die  keine 
Erkenntnis  dessen,  was  unbekannt  ist,  verleiht.  Noch  weniger 
führt  zum  Verständnisse  die  Aussage,  daß  das  reale  Wesen  ein 
Ding   sei,   es   sei  denn,   daß  man  unter  Ding*)  das  Seiende 


*)  über  das  Problem  der  Verschiedenheit  Ewischen  Wesen  und  Dasein 
8.  Horten,  Buch  der  Ringsteine  F&r&bls  S.  323—340  und  Ringsteine  Fftr&bls  Nr.l. 

*)  Das  Pr&dikat  des  Satzes  essentia  existit  bezeichnet  etwas  anderes 
als  sein  Subjekt,  weil  das  Wesen  durchaus  verschieden  ist  vom  Dasein  und 
daher  enthält  dieser  Satz  etwas  denkbares. 

>)  Vgl.  dazu  die  Anspielung  bei  Thomas  y.  Aquin,  Sentent.  I,  dist.  XXV, 
q.  1,  art.  4c:  Respondeo  dicendum,  quod  secundum  Avicennam,  ut  supra  dictum 
est,  hoc  nomen  „ens"  et  „res"  diffemnt  secundum  quod  est  duo  considerare  in 
re,  sdlicet  quidditatem  et  rationem  eins,  et  „esse"  ipsius;  et  a  quidditate 
snmitur  hoc  nomen  res  („Ding"  bezeichnet  also  eher  das  Wesen  als  das 
Dasein).  Et  quia  quidditas  potest  habere  „esse"  et  in  singulari  (als  Indi- 
Tiduum)  quod  est  extra  animam  et  in  anima,  secundum  quod  est  apprehensa 
ab  inteUecta;  ideo  nomen  rei  ad  utrumque  se  habet:  et  ad  id  quod  est  in 
anima  (Wesensbegriff),  prout  „res"  didtur  a  „reor",  „reris"  et  ad  id  quod  est 
extra  animam,  prout  „res"  dicitur  quasi  aliquid  ratum  et  firmum  in  nature. 

Die  Erwähnung  Avicennas,  auf  die  im  obigen  Texte  verwiesen  wird, 
lautet:  Quantum  ad  tertium,  scilicet  utrum  rationes  attributorum  in  Deo 
sint,.  sdendum  est,  quod  circa  hoc  videtur  esse  duplex  opinio.  Quidam  enim 
dicunt,  ut  Avicenna,  libr.  de  int6lligentiis(?),  cap.l  et  Rabbi  Moyses,  lib.  I, 
cap.  57  et  58  quod  res  illa,  quae  Dens  est,  est  quoddam  esse  subsistens,  nee 
aliquid  aliud  nisi  „esse"  in  Deo  est.  Unde  dicunt,  quod  est  „esse"  sine  essentia. 

In  ähnlicher  Weise  zitiert  Thomas  denselben  Gedanken  Avicennas  Lib. 
sent.  n,  dist.  XXXVn,  q.  1,  art.  Ic  fin.  bei  Gelegenheit  der  Frage,  ob  die 
Sünde  etwas  Reales  sei:  Similiter  autem  (sicut  nomen  „naturae")  et  nomen 
„rei"  duplidter  sumitur.  Simpliciter  enim  dicitur  „res",  quod  habet  esse 
„ratum"  et  firmum  in  natura;  et  dicitur  „res"  hoc  modo  accepto  nomine  „rei" 

Horten,  Dm  Baoh  der  Oeneeang  der  Seele.  4 


Digitized  by 


Googl( 


50 

verstehe,  und  dann  ist  der  Inhalt  des  obigen  Ausdruckes:  die 
Wesenheit  dieses  Dinges  ist  eine  existierende  Wesenheit  Wenn 
du  aber  sagst,  das  Wesen  von  a  ist  ein  gewisses  Ding  und  das 
Wesen  von  b  ebenfalls  ein  Ding,  so  ist  dieses  unbedingt  richtig 
und  verleiht  eine  gewisse  Erkenntnis;  denn  du  denkst  dabei  in 
deinem  Geiste,  daß  es  ein  anderes,  bestimmtes  und  von  jenem 
ersten  verschiedenes  Ding  sei.  Das  gleiche  würde  der  Ausdruck 
bedeuten,  daß  das  Wesen  von  a  ein  (wirkliches)  Wesen  und  das 
Wesen  von  b  ebenfalls  ein  solches  sei  Wenn  aber  jener  Gredanke 
und  diese  Verbindung  der  beiden  Sätze  zu  einem  Ganzen  nicht 
einträten,  dann  würde  dadurch  keine  Erkenntnis  gegeben. 

Das  Wort  „Ding"  bedeutet  daher  diesen  bestimmten  Begriff. 
Der  des  Seins  steht  in  notwendiger  und  beständiger  Verbindung 
mit  ihm;  er  haftet  dem  des  Dinges  deshalb  ununterbrochen  an, 
weil  das  Ding  „seiend"  ist  entweder  in  den  Individuen  (der 
Außenwelt)  oder  in  der  inneren  Vorstellung  und  im  Geiste. 
Trifft  dieses  (das  Existieren)  nicht  zu,  dann  ist  es  kein  DingJ) 


secnndum  quod  habet  qoidditatem  vel  essentiam  qnamdam ;  „ens"  Tero, 
secnndom  qaod  habet  esse,  ut  dicit  Ayicenna  Metaph.  tractatus  I,  cap.  VI 
(statt  V)  distingnens  entis  et  rei  significationem.  Sed  qoia  res  per  essentiam 
soain  cognoscibilis  est,  transsumptnin  est  nomen  „rei*'  ad  omne  id  qnod 
in  cogTiitione  vel  intellectu  cadere  potest,  secnndnm  quod  „res"  a  „reor", 
„reris*'  dicitor;  (also  bezeichnet  es  vor  allem  die  essentia)  et  per  hnnc  modnm 
dicontnr  res  rationis  qoae  in  natura  ratum  esse  non  habent,  secnndnm  quam 
modnm  etiam  negationes  et  privationes  „res''  dici  possnnt,  sicnt  et  entia 
rationis  dicuntur.  Primo  ergo  modo  sumendo  nomen  rei,  pecatnm,  inquantom 
est  actus,  est  res  quaedam;  sed  inqnantum  peccatum  est  ex  priratione 
ordinis  debiti,  non  est  res  quaedam,  sed  privatio;  privatio  autem  res  naturae 
non  est,  sed  rationis  tan  tum.  Ibid.  ad  4:  Iterum  etiam  illa  privatio  acdpitnr 
ut  forma  eins,  secnndnm  quod  in  considerationem  rationis  venit  (als  Wesen- 
heit, nicht  als  Dasein);  et  ideo  ex  parte  privationis  potest  dici  „res"  secnndnm 
quod  „res"  a  „reor",  „reris"  dicitur. 

*)  Vgl.  denselben  Gedanken  bei  Thomas  v.  Aquin  (Sum.  theol.  1 39, 3  ad  3): 
hoc  nomen  „res"  est  de  transcendentibns;  ib.  48, 2  ob.  2:  ens  et  res  convertuntur; 
ib.  6, 3  ob.  1  und  Opusc.  philos.  39  (Viv^s  Bd.  28,  S.  5,  art.  1)  Sunt  autem  sex 
transcendentia,  videlicet:  ens,  res,  aliquid,  unum  verum,  bonum,  quae  re  idem 
sunt,  sed  ratione  distinguuntur.  Sicut  enim  in  demonstrationibus  resolvere 
oportet  omnes  propositiones  usque  ad  principia  ipsa  (prima)  ad  quae  necesse 
est  Stare  rationen,  ita  in  apprehensione  dictorum  oportet  stare  ad  ens,  quod 
in  quolibet  cognito  naturaliter  cognoscitur,  sicut  et  principium  in  omnibns 
propositionibus,  quae  sunt  post  principium,  continetur.  Contr.  Gent,  m,  8  ad  6: 
Praeterea  res  et  ens  convertuntur.  „Est"  autem  malum  in  mundo;  ergo  et 
„res"  aliqua  et  natura. 


Digitized  by 


Googk 


51 


Man  sagt,  das  Ding  ist  dasjenige,  von  dem  der  Begriff  der 
Wahrheit*)  ausgesagt  wird.  Trotzdem  sagt  man,  das  Ding  sei 
manchmal  in  allgemeiner  absoluter  Bedeutung  nicht  existierend. 
Diese  Schwierigkeit  müssen  wir  nun  betrachten.  Versteht  man 
unter  dem  Begriff  des  Nichtseienden  dasjenige,  was  nicht  in 
einzelnen  Individuen  vorhanden  ist,  so  kann  das  oben  Behauptete 
richtig  eintreffen;  denn  das  Ding  kann  im  Geiste  Existenz  haben 
und  zugleich  in  den  realen  Dingen  der  Außenwelt  nicht  vorhanden 
sein.  Versteht  man  aber  (unter  dem  Ausdrucke  des  Nichtseins) 
etwas  anderes  (das  Nichtseiende  sowohl  im  Geiste  wie  auch  in 
der  Außenwelt),  so  ist  die  obige  Behauptung  unrichtig  und  ent- 
hält (überhaupt)  kein  Prädikat,  das  von  dem  Dinge  ausgesagt 
würde.  Es  war  zudem  nur  „nicht  existierend"  in  dem  Sinne, 
daß  es  nur  im  Greiste  als  Vorstellung  existiert  (nicht  außer  uns). 
Wenn  man  demgemäß  sagen  wollte,  daß  das  Ding  in  der  Seele 
als  Erkenntnisform  vorgestellt  sei,  die  auf  ein  Ding  der  Außen- 
welt hinweise,  so  träfe  auch  die  obige  Aussage  nicht  zu  (denn 
diese  enthält  eine  Vorstellung,  die  nicht  auf  ein  Ding  der 
Außenwelt  hinweist).  Es  wäre  kein  Prädikat  (in  der  Aussage) 
vorhanden;  denn  das  Prädikat  ist  immer  eine  Aussage  von  einem 
Dinge,  das  im  Geiste  wirklich  ist.  Dasjenige  aber,  was  absolut 
genommen  nicht  existiert,  kann  kein  Gegenstand  positiver  Aus- 
sage sein.  Wenn  aber  nun  trotzdem  von  ihm  Aussagen  gebildet 
werden,  selbst  dann,  wenn  es  nur  negative  wären,  so  supponiert 
man  dem  Nichtseienden  eine  gewisse  Art  der  Existenz  im  Geiste, 
denn  der  Ausdruck  „es"^)  enthält  einen  Hinweis.  Nun  aber  ist 
ein  Hinweis  auf  ein  Nichtexistierendes,  das  in  keiner  Weise,  auch 
nicht  im  Geiste,  eine  gewisse  Erkenntnisform  habe,  unmöglich.  Wie 
kann  man  da  von  dem  Nichtexistierenden  etwas  Positives  3)  aus- 
sagen?  Der  Ausdruck  „das  Nichtexistierende*)  ist  so  beschaffen" 


')  Vgl.  Thomas  Sum.  theol.  1 1, 1  ob.  2:  Praeterea,  doctrina  non  potest 
esse  nisi  de  ente;  nihil  enim  scitor  nisi  yeniin,  quod  com  ente  convertitur. 
Sed  de  omnibns  partibns  entis  tractatur  in  disciplinis  philosophicis,  etiam  de 
Deo;  unde  quaedam  pars  philosophiae  dicitur  theologia,  sive  seien tia  divina 
(=  die  Metaphysik)  ut  patet  per  philosophum.  Non  fuit  i^tur  necessarium 
praeter  philosophicas  disciplinas  aliam  doctnnam  fieri. 

*)  In  arab.  hat  es  zugleich  die  Bedeutung  der  Kopula:  das  Nichtseiende 
„ist"  das  und  das. 

»)  Wörtlich:  „ein  Ding". 

*)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1089  a  20:  ßovXsrai  fjikv  ö^  zo  xpe^Sog  xal  zavTTjv 
j^v  (pvoiv  leyetv  xo  ovx  ov,  iS  ov  xal  xot  Svxog  nokXa  za  ovzcc  und  ib.  16: 

4* 


Digitized  by 


Googk 


bedeutet,  daß  die  Eigenschaft  des  Sobeschaffenseins  dem  Nicht- 
existierenden  aktuell  zukomme.  Nun  aber  besteht  kein  Unter- 
schied zwischen  dem,  was  einem  Dinge  wirklich  zukommt,  und 
dem  Seienden,  und  daher  besagt  der  obige  Ausdruck,  daß  diese 
Eigenschaft  (des  Sobeschaffenseins)  in  dem  Nichtexistierenden 
wirklich  existiere.  Wir  sagen  sogar:  was  vom  Nichtexistierenden 
als  Eigenschaft  und  Prädikat  ausgesagt  wird,  ist  entweder  als 
Existierendes  und  wirklich  Seiendes  in  dem  Nichtexistierenden 
vorhanden  oder  nicht.  Kommt  es  nun  dem  Nichtexistierenden 
als  Existierendes  und  wirklich  Seiendes  zu,  dann  muß  es  selbst 
in  sich  entweder  existierend  oder  nicht  existierend  sein.  Ist 
es  nun  existierend,  dann  kommt  dem  Nichtexistierenden  eine 
„existierende"  Eigenschaft  zu!  Ist  nun  aber  die  Eigenschaft 
existierend,  dann  muß  durch  dieselbe  (und  mit  derselben)  auch 
das  Subjekt  der  Eigenschaft  real  existieren,  und  daher  muß 
auch  das  Nichtseiende  „sein".  Das  ist  aber  unmöglich.  Ist  nun 
aber  die  Eigenschaft  (des  Sobeschaffenseins)  nicht  existierend, 
wie  kann  dann  dies  in  sich  nicht  Existierende  in  irgend  einem 
Dinge  (hier  dem  Nichtseienden)  real  „existieren"!  Dasjenige, 
was  in  sich  selbst  nicht  real  existiert,  kann  keinem  Dinge  als 
ein  real  Existierendes  zukommen.  Freilich  manchmal  existiert 
das  Ding  in  sich  selbst  (substantia  prima),  0  ohne  einem  anderen 
Dinge  zu  inhärieren.  Wenn  nun  die  Eigenschaft  in  dem  non 
ens  nicht  existiert,  so  kommt  dieses  der  Verneinung  der  Eigen- 
schaft inbezug  auf  das  non  ens  gleich;  denn  wenn  dieses  nicht 
gleich  der  Verneinung  wäre  und  wenn  wir  dann  die  Eigenschaft 
von  dem  non  ens  verneinen,  dann  müßte  diese  Verneinung  das 
contradictorium  des  obigen  (daß  die  Eigenschaft  in  dem  non  ens 
nicht  existiert)  sein  und  dann  müßte  sie  in  ihm  real  existieren. 
Dieses  alles  aber  ist  unrichtig. 

Wir  behaupten  nun  aber,  von  dem  Nichtexistierenden  ein 
Wissen  zu  besitzen;  denn  wenn  der  Begriff  in  der  Seele  allein 
wirklich  geworden  ist,  auch  ohne  daß  in  ihm  ein  Hinweis  auf 
die  Existenz  in  der  Außenwelt  enthalten  ist,  dann  ist  das 
Erkannte  nur  das,  was  in  der  Seele  vorhanden  ist  (nicht  ein 


TioXkax^  y&Q  xal  x6  fitj  ov,  hieidri  xal  x6  ov,  xal  to  fjikv  fi^  avO^omov 
aijfialvsi  x6  fATi  elvai  xoöi  (individueUe  Substanz)  xo  öe  /ui}  evd^i  xo  fjLij  üvai 
xoiovöl,  xo  öh  fiij  XQinrixv  xo  iifj  elvcct  xoaovöL 

')  Arist.  (AoxQoßioxriq  465b 7:    6ia  xo  firjöevog  vnoxHuhov  xaxfjyo- 
QBla^ai  xrv  ovalav  und  Kategorien  2a  1  bis  3a 32. 


Digitized  by 


Googl( 


53 

Ding  der  Außenwelt).  Die  Überzeugung  von  der  realen  Existenz 
in  der  Außenwelt,  >)  die  positive  Aussage,  die  besteht  aus  den 
beiden  Teilen  (dem  Subjekt  und  dem  Prädikat)^)  des  innerlich 
Vorgestellten,  ist  möglich  gerade  in  der  Natur  dieses  (subjektiven) 
Erkenntnisinhaltes  nach  Art  einer  logischen  Beziehung  des  Be- 
griffes auf  das  Objekt  der  Außenwelt,  und  zwar  jetzt  (d.  h.  zur 
Zeit  der  Aussage).  Daher  hat  sie«)  also  keine  reale  Beziehung 
zur  Außenwelt,  noch  ist  ihr  Inhalt  (der  Begriff  des  non  ens) 
etwas  anderes  als  das,  was  er  selbst  vorstellt.*)  Die  meisten 
Philosophen,  die  diese  Ansicht  teilen,  behaupten  nun  aber,  daß 
in  den  Prädikaten,  die  von  dem  non  ens  ausgesagt,  und  den 
Bestimmungen,  die  von  ihm  gewußt  werden,  viele  Dinge  ent- 
halten sind,  denen  im  Bereiche  des  Nichtseins  durchaus  nichts 
gleicht.*)  Wer  über  dieses  noch  weiter  betrachten  will,  der 
möge  hingehen  zu  den  Spielereien  der  philosophischen  Rede- 
weisen, die  nicht  würdig  sind,  daß  man  sich  mit  ihnen  be- 
schäftiga«)  Jene  Leute  verfielen  in  ihren  Irrtum,  weil  sie  nicht 
wußten,  daß  die  Prädikation  sich  auf  Begriffe  bezieht,  die  in 
der  Seele  eine  Art  Existenz  haben,  selbst  wenn  sie  in  der 
Außenwelt  nicht  existieren  (sie  erkannten  also  nicht  die  subjektiv- 
logischen Momente  des  menschlichen  Erkennens).  Der  Begriff 
der  Prädikation  von  diesen  Begriffen  bedeutet  dann,  daß  sie 
irgend  eine  Beziehung  zu  den  individuellen  Dingen  besitzen, 
z.  B.  wenn  du  sagst,  „der  Tag  der  Auferstehung  wird  kommen", 
so  verstehst  du  den  Begriff  der  Auferstehung  und,  daß  sie  kommen 
wird,  und  du  prädizierst  das  letztere,  das  in  deiner  Seele  ist,  von 


0  et-tafdiq. 

')  So  Cod.  &,  Cod.  c:  „herkommt  von  einer  Individualität '',  d.h.  ro 
dXrj^vetv  $  tpevdea^ai  (Arist.  interpretatione  17  a  3)  ist  in  der  Aussage 
(ta^diq),  dem  kayog  &no<pavxix6q,  durch  Beziehung  auf  ein  reales  Individuum 
enthalten. 

*)  Die  affirmative  Aussage  ttber  das  non  ens. 

*)  Er  hat  also  kein  reales  Korrelat  in  der  Außenwelt;  ist  nur  subjektiv. 

*)  Subjekt  (das  non  ens)  und  Prädikat  sind  also  total  verschieden,  d.  h. 
die  Aussage  ist  falsch. 

*)  Vielleicht  liegt  darin  eine  Anspielung  auf  die  Spitzfindigkeiten 
Zenons  von  £lea  oder  auf  die  Lehre  des  Mu^taziliten  abu  H&§im  von 
Ba^ra  933t  und  anderer:  das  Nichtsein  werde  gedacht.  Ihm  mttsse  also  eine 
Art  Wirklichkeit  zukommen.  Avicenna  bezeichnet  „jene''  nicht  als  fal&sifa, 
was  die  griechischen  Philosophen  bezeichnen  würde,  sondern  (wohl  in  ver- 
ächtlichem Sinne)  als  Leute. 


Digitized  by 


Googl( 


54 

der  „Auferstehung",  die  ebenfalls  in  deiner  Seele  ist,  indem  dieser 
Gedanke  (daß  sie  kommen  wird)  richtig  ist  von  einem  anderen 
Gedanken,  der  ebenfalls  nur  eine  logische  Existenz  hat  Er  besagt 
für  eine  zukünftige  Zeit,  daß  er  (der  Begriff  der  Auferstehung) 
einen  dritten, ^)  logischen  Begriff,  nämlich  den  der  Existenz,  als 
Eigenschaft  annehmen  wird.  Ebenso  ist  das  Verhältnis  betreffe 
der  Vergangenheit 

Daher  ist  es  klar,  daß  das  Subjekt  der  Prädikation  in 
irgend  einer  Weise  im  Geiste  existieren  muß.  Das  Prädizieren 
im  eigentlichen  Sinne ^)  erstreckt  sich  also  auf  Inhalte,  die  im 
Geiste  existieren,  und  nur  per  accidens^)  auf  das  Wirkliche  der 
Außenwelt 

Dadurch  ist  nunmehr  klar  geworden,  inwiefern  das  „Ding" 
verschieden  ist  von  dem  Begriffe  der  Existenz  und  des  Wirklich- 
seins und  daß  beide  trotzdem  korrelative  (und  notwendig  ver- 
bundene) Begriffe  sind.  Dem  entspricht,  was  ich  von  vielen 
Philosophen  hörte,  die  der  Ansicht  sind,  daß  das  Wirkliche  eben 
nur  ein  „Wirkliches",  kein  „Existierendes"  sei  —  manchmal  ist 
das  Wirkliche  Eigenschaft  eines  Dinges,  nicht  aber  selbst  ein 
„Ding",  weder  ein  existierendes,  noch  ein  nicht  existierendes  — 
und  daß  die  Ausdrücke  „welcher"  und  „was"  etwas  anderes 
bedeuten  als  das  Ding  (res).  Diese  Leute  aber  unterscheiden 
nicht  hinreichend  (den  sprachlichen  Ausdruck  und  dessen  Inhalt 
Ersterer  ist  verschieden,  letzterer  ist  derselbe).  Beginnen  sie 
die  richtige  Distinktion  dieser  Ausdrücke  anzuwenden  inbezug 
auf  deren  Objekte,  dann  wird  ihr  Irrtum  aufgedeckt*) 

Daraufhin  behaupten  wir  jetzt:  Wenn  auch  die  Existenz, 
wie  du  gesehen  hast,  kein  genus*)  ist,  noch  von  dem,  was  in 


^)  Die  drei  Begriffe  sind:  Anferstehong,  Zukunft,  Wirklichsein. 

*)  Vgl.  den  inhaltlich  gleichen,  wenn  auch  änfierlich  yerschiedenen 
Ausdruck  Arist.,  Analyt.  I,  66  h  20:  olov  sl  ^v<J^x€Tat  ro  avxo  TiXaiooi  Tt^iaTc»^ 
(=  xad^  avzo,  primo,  per  se)  vna^x^^^'  Bil-haqiqati,  dem  wahren  Wesen 
nach,  wäre:  xarä  t^v  ovoiav;  vgl.  Arist.,  Metaph.  1024a 20:  a  xatä  njv 
ovaiav  d^iaiv  ixei. 

•)  xatä  ovfißeßrpcoq. 

*)  Wörtlich:  „sie  werden  hloßgest^t",  das  auch  den  Sinn  haben  kann: 
„sie  werden  besiegt". 

*)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1054a  14 f.:  . . .  rf  noQoxoXovB^tlv  (Subjekt  xo 
fv)  iaaxSg  xaTq  xaxrjyoQiaiq  xc:l  fu)  elvai  iv  (iriötfJLiä^  olov  oix  iv  xf  xi 
ioxtv  oix  iv  tf  noTov,  äX)^  hfiouoq  txei  &one^  xo  Sv  und  Thomas  opuscul. 
philos.  No.39  (ed.Viv^  Bd.  28,  S.5),  cap.  1:  Nulla  autem  differentia  (spedfica) 


Digitized  by 


Googl( 


55 

ihren  Umfang  fällt,  ^)  in  gleicher  Weise  (univoce  ofuovvfioyg) 
ausgesagt  wird, 2)  so  ist  sie  dennoch  ein  Begriff,  in  dem  die 
Dinge  nach  dem  Früher  oder  Später  3)  übereinstimmen.  In 
erster  Linie*)  wird  er  von  der  Wesenheit  ausgesagt,  die  die 
Substanz  ist,  in  zweiter  Linie  von  den  Dingen,  die  auf  die 
Substanz  folgen  (die  neun  Akzidenzien).  Weil  nun  dieser 
Begriff  ein  einziger  ist  in  dem  Sinne,  wie  wir  es  früher  an- 
deuteten,*) so  haften  ihm  Akzidenzien  an,  die  ihm  in  eigen- 
tümlicher Weise  zukommen,  wie  wir  es  ebenfalls  früher  erklärt 
haben,*)  und  daher  erstreckt  sich  auf  ihn  nur  eine  einzige 
Wissenschaft,  wie  auch  für  alles,  was  die  Gesundheit*^)  angeht, 
nur  eine  Wissenschaft  (die  Medizin) »)  besteht. 


potest  accipi,  de  cnins  inteUectu  non  sit  ens;  unde  manifestum  est  quod  ens 
Don  potest  habere  differentias  sicnt  genns  habet.  Et  ideo  „ens"  genus  non 
est,  sed  est  de  omnibns  communiter  praedicabile  analogice  (non  nnivoce). 
Similiter  dicendnm  est  de  aliis  transcendentibus  (nämlich  res,  aliqnid,  nnum 
Tenim,  bonnm). 

>)  Wörtlich:  „was  unter  ihr  ist". 

^  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1003  a  33:  ro  Sh  dv  XiyBxai  fdv  nokkaxdk,  äXXa 
n^oq  *iv  xal  /niav  tivä  «pvaiv,  xal  ovx  o/nwvvfjKog  dXX*  SoTieQ  xal  x6  vyieivov 
anav  TiQoq  iyleiav,  ro  fjtkv  T<p  <pvXitreiv,  to  6h  t(S  noisXVy  x6  6h  T<p  at^fjietov 
elvai  Tfjg  iyieuxQ,  zo  <J*  8u  Sexxtxov  arr^?;  1001  a21:  ro  5v  xal  x6  «V  ^axi 
xa9-6Xov  fjiaXiata  navxcav. 

•)  Siehe  Arist.,  Metaph.  999a 6:  hi  iv  olg  xo  uqoxbqov  xal  voxiqov 
iaxiVf  ovx  oiov  X8  to  inl  xovxtov  elvai  xi  naga  xavxa. 

*)  Vgl  Arist.,  Eategor.  2 all:  ovaCa  ioxlv  rj  xvQiwxaxa  xe  xal  TtQwxwq 
xal  fjLaXioxa  Xsyofdvrj  ij  /nifue  xa^  vnoxeifdvov  xivog  Xiyexai  iirix  iv  ino- 
xetfiivtp  xivi  iativ  und  Metaph.  1045  b  29 :  x6  7tQ(6xo)g  Sv  tiqoq  6  näaai  a\ 
aXXai  xaxtiyoQiai  ävatpigovxat,  17  ovaia,  ib.  1028  a  31:  xo  itQioxmg  Sv  xal  ov 
xl  iv  dXX*  iv  etTtXdig  ^  ovaia  &v  stij,  tiq^xov  navxcav  xal  Xoytp  xal  yvdasi 
xal  XQOV<^. 

*)  i^ap.  2  Mitte.  Weil  das  Seiende  formeUes  Objekt  der  Metaphysik 
ist,  muß  es  ein  einziger  und  einheitlicher  Begriff  sein ;  denn  eine  Wissenschaft 
kann  kein  zweifaches  Objekt  haben. 

•)  Siehe  Kap.  4  Mitte.    Die  Arten  und  Akzidenzien  des  Seins. 

^  Vgl.  dasselbe  Beispiel  bei  Arist.,  Metaph.  1003  a  35:  vymvov  noXXax&g 
XiyBxaif  ä)X  anav  TiQog  iyUtav,  1060  b  37:  hixe  6^  xo  alQrifihov  Xiyead^ai 
XQinov  xaQ-ajUQ  xo  xb  laxgixov  xal  vyieivov  xal  yag  xovxwv  ixaxegov 
noXXax^  Xiyofiev,  Uyexai  öh  xoCxov  xov  txaaxov  x<j}  xo  fihv  TiQog  n}v 
laxgixijv  inioxrifiTiv  avaysaO^al  nwgt  xo  Sh  Tigog  vyieiav,  xo  d*  aXXmg,  ngog 
xavxo  (J*  sxaoxov,  laxQixog  yaQ  Xoyog  xal  (xaxalgiov  Xiyexai  X(S  xo  fihv  and 
xflg  laxQixfjg  hiioxriiirig  elvai,  xo  öh  xavxy  ;f(>j5cJtjUOV. 

*)  Danach  ist  also  das  formeUe  Objekt  der  Medizin  die  Gesundheit,  das 
materieUe  der  menschliche  Körper. 


Digitized  by 


Googk 


56 


Die  Modi  des  Seienden. 

In  gleicher  Weise  (wie  die  Definition  des  Seienden)  ist  es 
uns  unmöglich,  1)  das  Notwendige,^)  Mögliche  und  Unmögliche 
in  eigentlicher  Definition   zu  definieren.     Wir  können  es  nur 


*)  Wörtlich:  „ist  es  uns  schwer". 

')  Gorg&ni  1413  t  (definiüones)  definiert  diese  modi  entis  auf  folgende 
Weise :  „Das  seinem  Wesen  nach  Notwendige  (S.  269)  ist  das  Seiende,  dessen 
Nichtsein  unmöglich  ist,  indem  das  Sein  ihm  nicht  von  einem  anderen, 
sondern  von  sich  selbst  zukommt.  Man  nennt  es  ein  durch  sich  Notwendiges, 
wenn  die  Notwendigkeit  der  Existenz  ihm  a  se  zukommt,  und  ein  durch  ein 
anderes  (die  Ursache)  Notwendige,  wenn  die  Existenz  ihm  ab  alio  gegeben 
wird".  Das  necessarium  wird  hier  durch  das  impossibile  definiert  „Das 
seinem  Wesen  nach  Unmögliche  (S.  249)  ist  dasjenige,  das  auf  Grund  seines 
Wesens  das  Nichtsein  mit  Notwendigkeit  erfordert.  Das  seinem  Wesen  nach 
Mögliche  ist  dasjenige,  das  auf  Grund  seines  Wesens  keines  notwendig 
erfordert,  weder  das  Sein  noch  das  Nichtsein,  wie  z.  B.  die  Welt."  Sie  kann 
sein  und  auch  nicht  sein.  Das  Unmögliche  wird  also  wiederum  durch  das 
Notwendige  und  das  Eontingente  durch  die  beiden  anderen  Begriffe  definiert. 
Der  circulus  yitiosus  ist  also  offenbar.  Das  gleiche  zeigen  die  Bestimmungen 
des  Aristoteles  274  b  13 :  äSvvatov  ylvead^ai  8  fjirj  ivöixetai  Y^viaBai  (ro  iv- 
öexofievov  =  ens  contingens);  Metaph.  1019  b  23:  äövvawv  ov  xo  havzLov  c{ 
avayxriq  ciXtjd^iq  (in  dem  i^  ävayxrjq  liegt  das  necessarium,  ävayxalov); 
Metaph.  1072  b  11 :  avayxatov  to  fihv  ßia  Stc  naga  xriv  iQfx^v,  x6  6'k  ov  ovx 
avev  xo  6V,  x6  6h  (irj  ivÖ€x6fJievov  oXXcjq  und  1015  a  34:  dvayxaZov  xo  fi^ 
ivöexofievov  oXkoog  ix^iv.  (Die  Definition  geschieht  also  durch  den  Begriff 
des  possibile)  . . .  Analyt.  I,  32  a  18:  xo  ivöexofievov  ov  fiij  i)Toc,  X€$^lvxoq  cJ' 
vnoQX^^yf  ovdhv  %oxai  öia  xotk'  aSvvaxov  und  Physik  243 al:  xoC  ivöexo' 
fdvov  xed^ivxog  ovöhv  ixonov  {Sei  avfißaivsiv.  Der  Begriff  des  impossibile 
und  necessarium  ist  in  beiden  Formulierungen  klar  ausgesprochen.  Es  liegt 
also  eine  Begriffsbestimmung  öl  akXrhov  vor.  Dazu  ygL  Thomas,  Peri- 
hermeneias  I,  lect.  14  med.:  Est  autem  considerandum,  quod  sicut  Boetius 
dicit  hie  in  Commento,  circa  possibile  et  necessarium  diversimode  aliqui  sunt 
opinati.  Quidam  enim  dixerunt  ea  secundum  eventum,  sicut  Diodorus  307  t, 
qui  dixit,  illud  esse  impossibile  quod  nunquam  erit,  necessarium  vero  quod 
semper  erit,  possibile  vero  quod  quandoque  erit,  quandoque  non  erit.  Stoici 
vero  dixerunt  hoc  secundum  exteriora  prohibentia.  Dicunt  enim  necessarium 
esse  illud,  quod  non  potest  prohiberi  quin  sit  verum;  impossibile  vero  quod 
semper  prohibetur  a  veritate;  possibile  vero  quod  potest  prohiberi  vel  non 
prohiberi.  Utraque  autem  distinctio  videtur  esse  incompetens.  Nam  prima 
distinctio  est  a  posteriori:  non  enim  aliquid  est  necessarium  quia  semper  erit; 
sed  poüus  ideo  semper  erit,  quia  est  necessarium;  et  idem  patet  in  aliis. 
Secunda  autem  assignatio  (Stoicorum)  est  ab  exteriori  et  quasi  per  acddens; 
non  enim  ideo  aliquid  est  necessarium,  quia  non  habet  impedimentum ;  sed 
quia  est  necessarium,  ideo  impedimentum  habere  non  potest    Et  ideo  alii 


Digitized  by 


Googl( 


57 

durch  ein  Zeichen  erläutern.  Alles,  was  über  die  Definition 
dieser  Begriffe  (der  modi  entis)  gesagt  wurde  —  du  hast  es 
von  den  früheren  Philosophen  gehört  — ,  schließt  wohl  einen 
circulus  vitiosus  ein.  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  sie  sich  in 
den  Gedanken  bewegen,  die  du  aus  den  Teilen  der  Logik 
erlernt  hast')  Wenn  sie  das  Mögliche  definieren  wollten,  so 
bedienten  sie  sich  dazu  des  Begriffes  des  Denknotwendigen  oder 
des  Unmöglichen,  ohne  auf  andere  Möglichkeiten  der  Definition 
zu  verfallen.  Wollten  sie  aber  das  Denknotwendige  definieren, 
so  bedienten  sie  sich  dazu  entweder  des  Möglichen  oder  des 
Unmöglichen.  Wollten  sie  schließlich  das  Unmögliche  definieren, 
so  nahmen  sie  dazu  entweder  den  Begriff  des  Denknotwendigen 
oder  den  des  Möglichen.  So  definierten  sie  z.  B.  das  Mögliche  und 
sagten  das  eine  Mal,  daß  es  entweder  das  Nichtdenknotwendige 
sei,  oder  (das  andere  Mal),  daß  es  das  Nichtreale  sei,  in  dem 
Zustande,  dessen  Existenz  unmöglich  ist  für  irgend  eine  beliebige 
Zeit,  die  in  der  Zukunft  angenommen  wird.^) 


melius  ita  dixenmt  secnndiun  natnram  rerom,  ut  scilicet  dicatur  illud  neces- 
sarinm,  qnod  in  sna  natura  detenninatum  est  solum  ad  esse;  impossibile 
autem,  quod  est  detenninatum  solum  ad  non  esse;  possibile  autem,  quod  ad 
neutrum  est  omnino  detenninatum,  sive  se  habeat  magis  ad  unum  quam  ad 
altenim,  sive  se  habeat  aequaliter  ad  utmmque,  quod  dicitur  contingens  ad 
utrumlibet.  Et  hoc  est  quod  Boetius  attribuit  Philoni.  Sed  manifeste  haec 
est  sententia  Aristotelis  in  hoc  loco.  Assignat  enim  rationem  possibilitatis  et 
contingentiae,  in  bis  quidem  quae  sunt  a  nobis,  ex  eo  quod  sumus  consiliativi; 
in  aliis  autem  ex  eo  quod  materia  est  in  potentia  ad  utnunque  oppoaitorum. 
Sed  videtur  baec  ratio  non  esse  suffidens.  Sicut  enim  in  coiporibus  comipti- 
bilibus  materia  invenitur  in  potentia  se  babens  ad  esse  et  non  esse,  ita  etiam 
in  corporibus  coelestibus  invenitur  potentia  ad  diversa  „ubi";  et  tamen  nibil 
in  eis  evenit  contingenter,  sed  solum  ex  necessitate. 

«)  Vgl.  Logik  VI,  und  IV,  Teü  IX 12. 

')  Thomas  v.  Aquin  definiert  in  anderer  Weise:  de  Potent.  VI,  2  ad  11: 
Ad  undecimum  dicendum,  quod  logicus  et  matbematicus  considerat  tantum 
res  secundum  prindpia  formalia;  unde  nihil  est  impossibile  in  logids  vel 
mathematicis,  nisi  quod  est  contra  rei  formalem  rationem.  Et  buius  modi 
impossibile  in  se  contradictionem  daudit,  et  sie  est  per  se  impossibile. 
Naturalis  autem  applicat  ad  determinatam  materiam;  unde  reputat  im- 
possibile etiam  id  quod  est  huic  impossibile.  Nihil  autem  prohibet  Deum 
posse  facere  quae  sunt  inferioribus  agentibus  impossibilia.  Sum.  theol.  I  41, 
art  4  ad  2:  Ad  secundum  dicendum  quod  possibile,  secundum  quod  necessario 
opponitur,  sequitur  potentiam  passivam.  Vgl.  c.  Gentes  m,  86 :  Possibile  enim 
quoddam  est  quod  ad  necessarium  sequitur;  nam  quod  necesse  est  esse, 
poeaibile  est  esse;  qnod  enim  non  possibile  est  esse,  impossibile  est  esse  et 


Digitized  by 


Googk 


58 

Wenn  sie  nun  das  Denknotwendige  definieren  mußten,  so 
sagten  sie  entweder,  daß  es  dasjenige  sei,  das  nicht  als  nicht- 
existierend  angenommen  werden  könne,  oder  dasjenige,  das  eine 
Unmöglichkeit  zur  Folge  habe,  wenn  man  es  in  anderen  Ver- 
hältnissen voraussetze,  als  die  ihm  zukommen.  Also  verwandten 
sie  manchmal  das  Mögliche  in  seiner  Definition  und  manchmal 
das  Unmögliche.  Zur  Definition  des  Möglichen  aber  verwendete 
man  vordem  entweder  das  Denknotwendige  oder  das  Unmögliche. 
Wenn  man  sodann  das  Unmögliche  definieren  wollte,  so  nahm 
man  in  seine  Definition  entweder  das  Denknotwendige  hinein, 
indem  man  sagte:  das  Unmögliche  sei  dasjenige,  das  mit  Denk- 
notwendigkeit nicht  existiere,  oder  das  Mögliche,  indem  man 
sagte:  das  Unmögliche  sei  dasjenige,  das  nicht  existieren  könne; 
oder  man  verwandte  irgend  einen  anderen  Ausdruck,  der  sich 
in  den  gleichen  Gedankengängen  als  diese  beiden  bewegte. 

Ebenso  verhält  sich  dasjenige,  was  man  betreffs  des  Un- 
möglichen aussagt,  es  sei  dasjenige,  was  nicht  existieren  könne, 

quod  imposaibile  est  esse,  necesse  est  non  esse.  Igitur  qnod  necesse  est  esse, 
necesse  est  non  esse.  Hoc  autem  est  impossibile.  Ergo  impossibile  est  quod 
aliquid  necesse  sit  esse  et  tarnen  non  sit  possibile  illud  esse.  Ergo  possibile 
esse  sequitnr  ad  necesse  esse.  .  .  .  Non  dicitur  aliquid  per  hunc  modom 
possibile  et  contingens  ex  hoc  solum  quod  qnandoque  sit  in  potentia  et  qoan- 
doque  in  acta;  nam  sie  etiam  in  motibns  coelestibus  est  possibile  et  con- 
tingens. .  .  .  Sed  possibile  yel  contingens  quod  opponitur  necessario  hoc  in 
sua  ratione  habet  quod  non  sit  necesse  illud  fieri  quando  non  est; 
quod  quidem  est  quia  non  de  necessitate  sequitnr  ex  causa  sua.  Hier  bewegt 
sich  Thomas  in  den  (bedanken  ÄTicennas.  Diesem  widerspricht  er  jedodi 
Sum.  theol.  I  25,  3  ad  4 :  Possibile  absolutum  non  dicitur  neque  secundum 
causas  superiores  neque  secundum  causas  inferiores,  sed  secundum  seipsum. 
Possibile  vero  quod  dicitur  secundum  aliquam  potentiam,  nominatur  possibile 
secundum  proximam  causam,  ib.  corp.  dicitur  aliquid  possibile  yel  impossibile 
absolute  ex  habitudine  terminorum;  possibile  quidem,  quia  praedicatum  non 
repugnat  subiecto,  ut  Socratem  sedere;  impossibile  vero  absolute,  quia  praedi- 
catum repugnat  subiecto,  ut  hominem  esse  asinum.  Dem  entspricht  ib.  19,3c: 
necessarium  dicitur  aliquid  dupliciter,  scilicet  absolute  et  ex  suppositione. 
Necessarium  absolute  iudicatur  aliquid  ex  habitudine  terminorum,  utpote  quia 
praedicatum  est  in  definitione  subiecti,  sicut  necessarium  est  hominem  esse 
animal  (genus);  yel  quia  subiectum  est  de  ratione  praedicati,  sicut  est  hoc 
necessarium  numerum  esse  parem  yel  imparem.  Sic  autem  non  est  necessarium 
Socratem  sedere.  Unde  non  est  necessarium  absolute,  sed  potest  dici  necessarium 
ex  suppositione;  supposito  enim  quod  sedeat,  necesse  est  eum  sedere  dum 
sedet  (sensus  compositus).  Ayicenna  hat  in  seiner  Definition  der  modi  entis 
aus  der  Ursache  die  physische,  Thomas  y.  Aquin  die  logisch -mathematische 
Seite  im  Auge. 


Digitized  by 


Googk 


59 

d.h.  dasjenige,  was  notwendigerweise  nicht  existiert;  femer  das 
Notwendige  sei  dasjenige,  dessen  Nichtexistenz  undenkbar  und 
nnmdglich  ist  —  es  sei  nicht  möglich,  daß  es  nicht  sei  — ; 
femer  das  Mögliche  sei  dasjenige,  dessen  Existenz  und  ebenso 
seine  Nichtexistenz  nicht  unmöglich  sei,  oder  es  sei  dasjenige, 
dessen  Existenz  oder  Nichtexistenz  nicht  notwendig  seL  Alle 
diese  Definitionen  bewegen  sich  ofEenkundigerweise  im  Kreise. 

Die  Erklämng  dieser  Verhältnisse  ist  in  dem  enthalten, 
was  du  bereits  aus  den  AnalyticaO  erlerat  hast  Derjenige 
Begriff  nämlich,  der  in  erster  Linie  begrifflich  gefaßt  wird,  ist 
der  des  Notwendigen.  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  das  Not- 
wendige eine  unzweifelhaft  sichere  Existenz  bedeutet  Die 
Existenz  ist  nun  aber  bekannter  als  die  Nichtexistenz;  denn 
die  Existenz  ist  durch  sich  selbst  erkennbar,  die  Nichtexistenz 
aber  in  gewisser  Weise  durch  die  Existenz.  Aus  der  Dar- 
legung dieser  Verhältnisse  leuchtet  dir  die  Unrichtigkeit  der 
Behauptung  ein,  die  besagt,  daß  das  Nichtseiende^)  wiederum 
zur  Existenz  gebracht  werden  könne;  3)  denn  es  sei  das  Erste,*) 
von  dem  die  Existenz  ausgesagt  werde.  Das  Nichtseiende 
nämlich,  wenn  es  wiedemm  zur  Existenz  zurückgeführt  wird, 
muß  sich  unterscheiden  von  dem  ihm  Ähnlichen  —  wenn  über- 
haupt ein  Ersatz  für  das  non  ens  eingetreten  ist^)  Wenn  das 
„Wiederkehrende"  daher  dem  Ersten  (nur)  ähnlich  ist,  dann  ist 
es  eben  nicht  genau  jenes  Erste,  weil  es  nicht  dasjenige  ist, 
was  veraichtet  wurde.  Im  Zustande  des  Nichtseins  0)  ist  dieses 
(das  Zweite)  nicht  jenes.')  Auf  diese  Weise  wird  das  Nicht- 
seiende zum  Seienden  nur  in   der  Weise,   wie  wir  es  früher 


1)  Logik  IV.  und  V.  Teil. 

«)  Wörtlich:  „das  Vernichtete". 

')  Es  schwebt  wohl  die  Lehre  vor,  dafi  im  Kreislanfe  des  Geschehens 
aUe  Dinge  wiederkehren,  ohne  irgend  welche  Verschiedenheit  mit  ihrer 
früheren  Existenz  aufzuweisen.  Alle  individuellen  Bestimmungen  müßten 
dann  dieselben  bleiben. 

*)  Der  Ausgangspunkt  des  Werdeprozesses  ist  das  non  ens  in  dem  Sinne 
des  NocÄinichtseienden,  nicht  dem  des  absolut  Nichtseienden.  Dieser  Ausgangs- 
punkt ist  naturgemäß  das  erste,  das  mit  dem  Prädikate  seiend  bezeichnet  wird. 

^)  oder:  „wenn  es  als  ein  Ersatz  für  dasselbe  einträte". 

^  d.  h.  in  der  Vergangenheit,  als  das  erste  noch  existierte,  das  zweite 
aber  noch  nicht 

*)  Wenn  beide  also  in  der  Vergangenheit  verschieden  waren,  können 
sie  jetzt  oder  in  der  Zukunft  nicht  identisch  werden. 


Digitized  by 


Googl( 


60 

besprochen  haben-*)  Ein  weiterer  Grund  ist  der,  daß  das  Nicht- 
seiende,  wenn  es  wiederum  zur  Existenz  gelangt,  in  allen  seinen 
individuellen  Eigentümlichkeiten,  durch  die  es  das  (Individuum) 
war,  was  es  war,  wieder  in  die  Existenz  treten  muß.*)  Nun  aber 
gehört  die  Zeit  zu  seinen  individualisierenden  Eigentfimlichkeiten. 
Wenn  man  daher  seine  Zeit  wieder  zum  Dasein  bringt,  dann  ist 
das  Nichtseiende  (das  Vergangene)  selbst  nicht  „wiederkehrend" 
zum  Dasein;  denn  das  „Wiederkehrende"  ist  ein  Ding,  das  in 
einer  (anderen)  zweiten  Zeit  nochmals  existiert  Wenn  daher 
das  Nichtseiende  und  ebenso  die  dasselbe  begleitenden,  nicht- 
existierenden  Dinge  wiederkehren  können,  dann  ist  es  auch 
möglich,  die  Zeit  und  die  (individualisierenden)  Umstände 
wiederum  zum  Dasein  zurückzurufen.  Die  Zeit  ist  entweder  ein 
Ding,  das  das  Wesen  eines  Realen  besitzt,'^)  und  wird  dann  ver- 
nichtet (es  ist  absolute  Zeit),  oder  sie  besteht  in  der  Koinzidens«) 
eines  Seienden  (einer  Handlung)  mit  irgend  einem  Ereignis,  wie 
es  als  Ansicht  der  Philosophen  bekannt  ist.  Es  entsteht  daher 
(wenn  die  Vergangenheit  mit  allen  ihren  individuellen  Be- 
stimmungen wiederkehrt)  keine  neue  Zeit  neben  der  anderen^) 


»)  Vgl.  Naturw.  m.  Teil  (Der  Kreislauf  des  Geschehens)  und  ü.  Teil,  S.  10. 

')  Dies  ist  aher  deshalh  nicht  möglich,  weil  die  principia  individuantia 
nicht  ttbertraghar  sind. 

*)  Cod.  c  61.:  „So  ist  es  Ansicht  der  Gelehrten,  die  die  Zeit  als  das 
Maß  der  Bewegung  bezeichnen".  Vgl.  Arist.,  Physik  11.  219  b  1:  TotJto  ya^ 
iüuv  b  XQ^'^^ii  oQiB^fioq  xtvrioitaq  xatä  to  TiQoteQOv  xal  vctegov,  ovx  oqu 
xlvrjoig  b  XQ^^^^  ^^'  i  ^^^f^ov  l/ft  fj  xivrjaig.  Vgl.  Worms,  Die  Lehre  von 
der  Anfangslosigkeit  der  Welt,  Münster  1900,  S.  23  Anm.  5,  M  und  35. 

*)  Vgl.  die  Darstellung  der  Philosophie  ASaris  in  de  Boer,  Gesch.  d. 
Phil,  in  Islam,  S.  57:  „Die  Zeit  ist  nichts  anderes  als  Koexistenz  ver- 
schiedener Gegenstände  oder  simultane  Beziehung  der  Vorstellung".  Dies  ist 
aber  nicht  die  Definition  der  Zeit,  sondern  die  der  Kategorie  des  nozif 
quando;  s.  Arist.,  Kategor.  2  a 2:  Twzh  6h  olov  ix^h*  TäQvaiv;  Phys.  222a24 
bis  222b  7:  t^  6e  noti  X9^vog  aigiafdvoq  nQog  x6  tiqoxbqov  vUv,  olov  äot^ 
iXr^B-ri  Tgoia,  xal  noxk  ^atai  xataxkvofjiog,  Aristoteles  definiert  das  noti 
nach  dem  Jetzt,  Aäari  nach  irgend  einem  festgesetzten  Zeitpunkte.  Ein 
wesentlicher  Unterschied  wird  dadurch  nicht  begründet.  Vgl.  Thomas,  lib. 
Sent.  IV,  d.  16,  q.  1,  art.  1,  q.  3  solutio  I  . . .  sicut  locus  aut  tempus;  vel  ipsa 
conceptio  quae  ex  illis  relinquitur,  ut  quando  et  ubi.  Das  „Wann"  ist  also 
proportio  relicta  ex  tempore.  Avicenna  will  sowohl  die  relative  wie  die 
absolute  Zeit  als  Bestimmungen  der  Dinge  bezeichnen. 

^)  Cod.  c  Glosse:  „Es  entsteht  also  keine  Zeit,  die  von  neuem  beginnt* 
(unter  anderen  Umstanden),  und  eine  andere  Zeit,  die  (mit  denselben  Um- 
ständen) wiederkehrt". 


Digitized  by 


Googk 


^1 

(der  vergangenen);  (sondern  die  erste  Zeit  würde  selbst  zur 
nochmaligen  Existenz  gebracht,  d.  h.  dieselbe  bleiben);  noch  gibt 
es  daher  eine  eigentliche  „Wiederkehr",  weil  der  Verstand 
dieses  entschieden  zurückweist,  ohne  daß  er  dafür  einen  Beweis 
beizubringen  hätte.  Alles,  was  in  diesem  Sinne  (zum  Beweise 
einer  Wiederkehr  der  Dinge)  behauptet  wird,  bewegt  sich 
außerhalb  der  wissenschaftlichen  Methode. 


Sechstes  Kapitel. 

Ober  das  notwendig  Seiende  und  dae  MSgliche.    Das  notwendig 
Seiende  hat  Iceine  Ursache;  das  MSgliche  ist  aber  verursacht.    Das 
notwendig  Seiende  ist  im  Sem  keinem  anderen  gleichgeordnet,!) 
noch  auch  von  einem  anderen  abhängig.    Beginn^)  der  Darlegung. 

Wir  kehren  also  zu  dem  zurück,  womit  wir  uns  früher^) 
beschäftigt  haben  und  sagen:  jedes,  das  Notwendige  sowohl  wie 
das  Mögliche,  besitzt  Eigentümlichkeiten.  Die  Dinge,  die  in  das 
Sein  eintreten,  können  nach  der  verstandesmäßigen  Erfassung  in 
zwei  Teile  zerlegt  werden.  Einige  (die  kontingenten  Dinge)*) 
verhalten  sich  so,  daß  sie,  wenn  man  sie  in  ihrem  eigenen  Wesen 
betrachtet,  nicht  notwendig  existieren.  Ebensowenig  ist  ihre 
Existenz  nicht  unmöglich;  sonst  könnten  sie  nicht  in  das  Sein 
eintreten.  Ein  solches  Ding  wird  als  ein  „mögliches"  (kontin- 
gentes)  bezeichnet  Andere  (entia  necessaria)  sind  in  ihrer 
Existenz  notwendig,  wenn  man  dieselben  in  sich  betrachtet. 

Daher  lehren  wir:  L  das  notwendig  aus  sich  Seiende  hat 
keine  Ursache;  das  aus  sich  heraus  nur  Mögliche  besitzt  aber 


>)  Wörtlich:  „steht  nicht  in  reziprokem  Verhältnisse  zu  einem  anderen". 

*)  Die  Fortsetzung  s.  Kap.  7.    Weiteres  Abh.  Vm. 

*)  Kap.  5  Anfang. 

*)  Kontingent  ist  ein  Ding,  das  existiert,  indem  es  auch  nicht  existieren 
könnte,  möglich  ein  Ding,  das  noch  nicht  existiert,  aber  existieren  könnte. 
Aristoteles  faßt  beide  zusammen  in  dem  Begriffe  des  ens  contingens;  de 
Generat.  anim.  781b  25:  iTisl  yoQ  iott  ta  fikv  dtöia  xal  ^Za  x(ov  ovtwv,  za 
ö*  ivöexo/Jieva  xal  elvai  xal  (iri  elvat,  ro  öh  xaXov  xal  xh  ^eZov  attiov  del 
xttxa  Tj}v  avToi;  <pvaiv  to€  ßiXxiovoq  iv  toTq  ivdexofiivotq,  ro  6h  fi^  atSiov 
ivöexofievov  iari  xal  slvai  xal  fietaXafißaveiv  xal  xoü  xBif^ovoq  xal  xoü 
ßeXxlovoq. 


Digitized  by 


Googk 


62 

eine  solche;  ü.  das  aus  sich  notwendig  Seiende  ist  ein  in  jeder 
Hinsicht  notwendig  Seiendes;  IQ.  daher  kann  das  notwendig 
Seiende  nicht  einem  anderen  gleichgeordnet»)  sein  in  seiner 
Existenz,  so  daß  jedes  von  beiden  dem  anderen  gleich  wÄre 
inbezug  auf  die  Notwendigkeit  der  Existenz,  und  daß  sie  sich 
beide  gegenseitig  bedingten;  IV.  das  notwendig  Seiende  kann  in 
seiner  Existenz  2)  nicht  durch  die  Summierung  einer  Vielheit 
entstehen;  V.  das  notwendig  Seiende  kann  in  seinem  realen 
Wesen  in  keiner  Weise  universeller^)  Natur  sein.  Indem  wir 
diese  Thesen  darlegen,  wird  sich  ergeben,  daß  das  notwendig 
Seiende  nicht  relativer  Natur,  noch  veränderlich,  noch  eine 
Vielheit  in  sich  bergend,  noch  in  der  ihm  eigentümlichen 
Existenz  universeller  Natur  sein  kann. 

Das  Notwendige  hat  also  I.  keine  Ursache,  und  das  ist 
evident;  denn  hätte  es  inbezug  auf  seine  Existenz  eine  Ursache, 
dann  müßte  seine  Existenz  durch  diese  Ursache  wirklich  sein. 
Alles  nun,  dessen  Existenz  durch  ein  anderes  Ding  wirklich  ist, 
besitzt  nicht  in  notwendiger  Weise  die  Existenz,  wenn  man  es  in 
sich  selbst  ohne  jenes  (Ding)  betrachtet.  Nun  aber  ist  alles,  was 
in  sich  selbst,*)  ohne  Beziehung  zu  einem  anderen  betrachtet, 
nicht  notwendig  existiert,  nicht  aus  sich  notwendig  seiend. 
Daher  ist  es  einleuchtend,  daß,  wenn  dem  notwendig  Seienden 
eine  Ursache  zukäme,  es  nicht  das  durch  sich  notwendig  Seiende 
wäre.    Dadurch  ist  bewiesen,  daß  dem  notwendig  Seienden  keine 


1)  Wörtlich:  „reciprok". 

•)  Ebenso  in  seinem  Wesen. 

*)  Wörtlich:  „ein  Ding,  an  dem  andere  gemeinsam  teilnehmen '*. 

*)  d.h.  in  seinem  Wesensbegrifife.  YgL  Thomas,  Sum.  theol.  I  82,1c: 
Bespondeo  dicendnm  quod  necessitas  dicitar  multipUciter.  Necesse  est  enim 
quod  non  potest  non  esse;  quod  qoidem  convenit  alicui  uno  modo  ex  principio 
intrinseco  siye  materiaU,  sicut  cum  dicimos,  quod  omne  compositum  ex  con- 
trariis  necesse  est  corrumpi;  sive  formali,  sicut  cum  dicimus,  quod  necesse  est 
triangulum  habere  tres  angulos  aequales  duobus  rectis.  Et  haec  est  necessitas 
naturalis  et  absoluta.  Alio  modo  convenit  aUcui,  quod  non  possit  non  esse 
ex  aliquo  extrinseco  yel  fine  vel  agente  (Gredankengang  Avicennas);  fine 
quidem,  sicut  cum  aliquis  non  potest  sine  hoc  consequi  aut  bene  consequi 
finem  aliquem,  ut  dbus  dicitur  necessarius  ad  vitam,  et  equus  ad  iter;  et 
haec  Yocatur  necessitas  finis,  quae  interdum  etiam  utilitas  (ygl.  Kap.  8  der 
Metaphysik  Avicennas)  dicitur;  ex  agente  autem  hoc  alicui  convenit  sicut 
cum  aliquis  cogitur  abaliquo  agente  ita  quod  non  possit  contrarium  agere. 
VgL  femer  n,  n  32,6c;  58,3.2«;  83,13c;  88,2c;  6,1";  141,6.2»; 
186,5.  5"»;  189,2.  2«";  m  1,2c;  14,2c;  46,1c;  65,4;  84,5. 


Digitized  by 


Googl( 


63 

Ursache  zukommen  kann  und  daß  femer  kein  Ding  ein  durch 
sich  und  zugleich  durch  einen  anderen  notwendig  Seiendes  sein 
kann;  denn  wenn  seine  Existenz  (erst)  durch  einen  anderen 
notwendig  wird,  kann  es  ohne  diesen  anderen  nicht  existieren, 
und  daher  kann  seine  Existenz  unmöglich  aus  sich  heraus  not- 
wendig sein.  Wäre  sie 'aus  sich  heraus  notwendig,  dann  müßte 
sie  wirklich  sein,  ohne  daß  eine  hervorbringende  Einwirkung 
des  anderen  auf  seine  Existenz  bestände.  Dasjenige,  auf  dessen 
Existenz  ein  anderes  eine  Einwirkung  ausübt,  existiert  nicht 
notwendig  aus  sich  heraus. 

Alles  femer,  was  in  sich  betrachtet  nur  möglicherweise 
existiert,  erhält  sowohl  seine  Existenz  als  auch  seine  Nicht- 
existenz  durch  eine  Ursache;  denn  wenn  dieses  Ding  existiert, 
dann  hat  es  bereits  die  fertige  Existenz  erlangt,  die  es  von 
dem  Nichtsein  unterscheidet,')  und  wenn  dieses  Ding  nicht 
existiert,  so  hat  es  das  Nichtsein  erlangt,  das  es  von  dem  Sein 
unterscheidet  Jede  einzelne  dieser  beiden  Bestimmungen  (das 
Sein  oder  das  Nichtsein)  kommt  dem  Gegenstande  entweder  von 
einem  anderen  oder  nicht  von  einem  anderen  zu.  Im  ersten 
Falle  ist  dieser  andere  die  Ursache.  Tritt  aber  der  zweite  Fall 
ein,  dann  ist  dieses  Ding  durch  seine  Wesenheit,  durch  sich 
selbst  notwendig.  Es  ist  nämlich  klar,  daß  jedes  Ding,  das 
nicht  existierte  und  dann  zu  einer  Existenz  gelangte,  durch  ein 
anderes  äußeres  2)  Ding  dazu  determiniert  wurde.  Ebenso  ver- 
hält es  sich  beim  Nichtsein,  und  zwar  deshalb,  weil  für  diese 
Determinierung  (zum  Dasein)  entweder  die  Wesenheit  des  Dinges 
genügt  (das  innerlich  Notwendige)  oder  nicht.  Wenn  nun  die 
Wesenheit  zu  irgend  einer  der  beiden  Bestimmungen  (des  Seins 
oder  des  Nichtseins)  genügt,  so  daß  dieselbe  (durch  die  Wesenheit 
allein)  wirklich  wird,  dann  ist  dieses  Ding  ein  necessarium  a  se. 
Nun  hatten  wir  aber  vorausgesetzt,  daß  es  nicht  notwendig  seL 
Dies  aber  ist  ein  Widersprach.  Genügt  aber  die  Wesenheit  nicht, 
die  Existenz  zu  verleihen,  und  ist  vielmehr  ein  anderes  erforderlich, 
zu  dem  die  Existenz  des  (kontingenten)  Dinges  in  Relation  tritt. 


1)  In  sich  betrachtet  ist  es  indifferent  zum  Sein  nnd  Nichtsein.  Die 
„Unterscheidung",  ob  die  eine  oder  die  andere  „Wagschale  vorwiegen  soll", 
wird  durch  die  Ursache  gegeben.  YgL  die  Ansführongen  des  Kommentators 
der  Bingsteine  F&r&bls  S.  823—364,  bes.  357. 

*)  Codd  per  rem  transeontem,  d.  h.  die  Wirkursache,  die  von  der  Potenz 
2um  Akt  übergeht. 


Digitized  by 


Googl( 


64 

dann  wird  kotisequeüterweide  die  Existenz  dem  Dinge  durch  die 
Existenz  eines  anderen  verliehen,  das  verschieden  ist  von  dem 
Wesen  des  ersten.  Es  verhält  sich  dann  zu  ihm  wie  die  Ursache^ 
Dem  ersten  kommt  also  eine  „Ursache"  zu. 

Kurz:  eine  der  beiden  Bestimmungen  (das  Sein  oder  das 
Nichtsein)  kommt  dem  Dinge  keinesfalls  aus  sich  selbst  heraus 
zu,  sondern  nur  auf  Grund  einer  Ursache,  und  zwar  die  Be- 
stimmung, wirklich  zu  sein,  durch  eine  Ursache,  die  selbst 
wirklich  ist,  und  die  Bestimmung,  nicht  zu  sein,  durch  eine 
Ursache,  die  die  Nichtexistenz  derjenigen  Ursache  bedeutet,  die 
das  Wirklichsein  verleiht 

Entsprechend  dem,  was  du  nunmehr  kennen  gelernt  hast, 
lehren  wir:  der  (Gegenstand  muß  durch  die  Ursache  und  in  Be- 
ziehung zu  ihr  zu  einem  notwendigen  werden;  denn  wenn  er 
nicht  zu  einem  notwendigen  würde,  so  müßte  er,  wenn  die 
Ursache  existiert  und  wenn  er  in  Beziehung  zu  ihr  tritt,  ein 
nur  möglicher  sein  (ens  possibile),  und  dann  kOnnte  er  sowohl 
existieren  als  auch  nicht  existieren,  ohne  durch  eine  dies^ 
beiden  Bestimmungen  determiniert  zu  sein.  Ein  so  beschaffenes 
Ding  aber  (ein  ens  possibile)  bedarf  durchaus  der  Existenz  eines 
dritten,^)  durch  das  ihm  die  Existenz  eher  zukomme 2)  als  das 
Nichtsein,  oder  das  Nichtsein  eher  als  das  Sein,  wenn  (und 
trotzdem)  die  Ursache  existiert  Dieses  ist  dann  also  eine  andere 
Ursache,  und  so  dehnt  sich  die  Diskussion  ohne  Ende  aus  (da 
nun  auch  für  diese  Ursache  sich  die  Frage  stellt,  ob  sie  allein 
die  Existenz  verleihen  kann  oder  nicht).  Dehnt  sich  aber  die 
Diskussion  in  dieser  Weise  ohne  Ende  aus,  dann  wird  dem 
Gegenstande  trotzdem  die  Existenz  nicht  *)  zuteil  werden.  Er 
wird  daher  die  Bestimmung  des  Wirklichen  nicht  erhalten. 
Dieses  aber  ist  unmöglich,*)  und  zwar  nicht  allein,  weil  die 
Diskussion  inbezug  auf  die  Ursachen  ohne  Ende  fortgeführt 
würde  —  dieses  Problem  (ob  die  Existenz  einer  unendlichen 
Kette  von  Ursachen  möglich  ist)  bleibt  an  diesem  Orte*)  inbezug 

^)  Genügt  die  Ursache  nicht  zur  Wirkung,  dann  ist  eine  weitere  Ursache 
erforderlich. 

•)  Wörtlich:  „damit  die  Existenz  für  dasselbe  determiniert  werde". 

^  Infinitom  non  potest  transirL  Arist.,  Physik  268a 6:  t&  S*  onsiQa 
iivvaxov  SieS^Xd-sTv. 

4)  Wenn  die  adftqnate  Ursache  gesetzt  ist,  muß  auch  die  Wii^nng  folgen.' 

^  Es  wird  Ym,  8  entschieden  und  bedeutet  den  QottesbeweiB  ans  der 
Notwendigkeit  einer  ersten  Wirkarsache  und  eines  ersten  Bewegers. 


Digitized  by 


Googk 


65 

auf  seine  Unmögliclikeit  noch  zweifelhaft  —  sondern  vielmehr, 
weil  dann  dasjenige  noch  nicht  existieren  würde,  wodurch  das 
Ding  seine  Bestimmung  erhält  (ein  Seiendes  zu  sein).  Der 
Voraussetzung  0  nach  müßte  es  aber  existieren.  Es  ist  also 
klar,  daß  jedes  mögliche  Sein  nur  dann  existiert^  wenn  es  durch 
die  Relation  zu  seiner  Ursache  notwendig  ist.^)  Weiterhin  HL 
behaupten  wir  (betrete  der  Einheit  des  Notwendigen):  das  not- 
wendig Seiende  kann  nicht  gleichgeordnet  sein  einem  anderen 
notwendig  Seienden,  so  daß  dieses  mit  jenem  und  jenes  mit 
diesem  zugleich  existierte,  ohne  daß  das  eine  von  beiden  die 
Ursache  für  das  andere  wäre,  sondern  yiehnehr  so,  daß  beide 
inbezug  auf  das  notwendige  Elxistieren  sich  gleichständen.  (Die 
Existenz  zweier  notwendigen  Dinge  ist  unmöglich);  denn  be* 
trachtet  man  das  eine  von  beiden  ohne  das  andere,  so  muß  es 
entweder  in  sich  notwendig  sein  oder  nicht  Trifft  nun  das 
erstere  zu,  so  muß  ihm  das  Notwendigsein  auch  in  diesem  Falle 
zukommen  entweder  insofern  es  verbunden  ist  mit  dem  zweiten  — 
das  Ding  wäre  dann  in  sich  selbst  und  zugleich  durch  ein  anderes 
notwendig.  Dies  aber  ist,  wie  früher  auseinandergesetzt  wurde, 
unmöglich  —  oder  nicht  durch  das  zweite.  3)  Dann  aber  muß 
seine  Existenz  der  des  anderen  nicht  folgen  noch  ihm  notwendig 
anhaften; 4)  vielmehr  hat  seine  Existenz  keine  notwendige  Ver- 
bindung mit  dem  anderen,  so  daß  es  nur  dann  existieren  könnte, 
wenn  auch  das  andere  existierte.  Soweit  sei  diese  Möglichkeit 
ausgeführt.  Trifft  aber  nun  das  zweite  zu,  daß  es  nicht  aus  sich 
selbst  notwendig  existiert,  dann  ist  es  notwendigerweise  rück- 
sichtlich seines  eigenen  Wesens  ein  ens  possibile  und  rücksichtlich 
des  anderen  ein  ens  necessarium.  Dieses  andere  muß  sich  dann 
entweder  gerade  so  verhalten  (also  auch  ein  necessarium  ab  alio 
sein)  oder  nicht.  Im  ersteren  Falle  (wenn  also  das  zweite  ein 
ens  possibile  ist)  muß  das  Notwendigsein  dem  ersten  zukommen 
von  dem  zweiten,  während  doch  jenes  zweite  in  den  Bereich 
des  nur  a)  Möglichen  oder  auch  b)  in  den  des  Notwendigen  fällt 
Kommt  nun  aber  das  Notwendigsein  dem  ersten  von  dem  zweiten 


^)  Der  Beweis  g\jkg  von  einem  tatsächlich  Existierenden  aas,  dessen 
Dasein  anf  eine  Ursache  zurttckgeftthrt  werden  soUte. 

*)  YgL  dazn  die  gleiche  Definition  F&r&bis,  Ringsteine  Nr.  2. 

«)  Wörtlich:  „das  andere«. 

*)  Die  Existenz  wftre  dann  ein  notwendiges  Akzidens.   Vgl.  Bingsteine 
P&rabls  Nr.  1,  zweiter  Teil. 

Horten,  Daa  Bnoh  der  Qenenmg  der  Seele«  5 


Digitized  by 


Googl( 


66 

her  zu,  während  das  zweite  b)  die  Eigenschaft,  notwendig  zu 
sein,  besitzt,  und  zwar  nicht  aus  sich  heraus  oder  von  einem 
dritten,  das  ihm  vorausginge,  wie  wir  früher  auseinandergesetzt 
haben,  sondern  yielmehr  von  demjenigen  (dem  ersten),  das  von 
diesem  zweiten  stammt,  dann  ist  das  Notwendigsein  dieses  ersten 
eine  Bedingung,  in  der  eine  notwendige  Existenz  enthalten 
(d.  h.  vorausgesetzt)  ist,  die  nach  der  notwendigen  Existenz  des 
ersten  Dinges  erfolgte  in  einem  Später  dem  Wesen  (nicht  der 
Zeit)  nach.  Dann  aber  wird  das  Notwendigsein  dem  ersten 
überhaupt  nicht  von  außen  zukommen  (weil  es  in  sich  schon 
die  Notwendigkeit  besitzt).  0  Wenn  nun  die  Notwendigkeit  dem 
ersten  vom  zweiten  zukäme,  während  das  zweite  a)  in  den 
Bereich  des  Möglichen  fiele,  dann  stammte  die  Notwendigkeit 
des  ersten  aus  dem  Wesen  des  zweiten,  während  dieses  selbst 
ein  ens  possibile  wäre.  Das  Wesen  des  zweiten,  also  dieses 
ens  possibile,  würde  dem  ersten  die  notwendige  Existenz  ver- 
leihen, ohne  daß  jenem  zweiten  die  Bestimmung  des  Möglichseins, 
sondern  vielmehr  die  des  Notwendigseins  2)  von  jenem  ersten  zu- 
käme. Die  Ursache  für  das  ersteh)  wäre  dann  das  Möglichsein 
des  zweiten  und  zugleich  wäre  das  Möglichsein  des  zweiten  nicht 
von  jenem  ersten  verursacht.  Beide  sind  also  nicht  sich  gleich- 
stehend (reciprok)  im  Sein  —  beide,  d.  h.  dasjenige,  was  seinem 
Wesen  nach  Ursache  und  was  seinem  Wesen  nach  Wirkung  ist 
Zu  dieser  Inkonvenienz  kommt  noch  eine  andere  hinzu.  Wenn  das 
Möglichsein  des  zweiten  die  Ursache  des  Notwendigverursacht- 
werdens  des  ersten  ist,  dann  ist  die  Existenz  des  ersten  nicht 
abhängig  von  der  Existenz  des  zweiten,  sondern  vielmehr  von 


>)  Dazn  bemerkt  eine  Glosse  in  a:  „Dieses  bedeutet:  die  Notwendigkeit 
des  Ersten  ist  nichts  anderes  als  die  Notwendigkeit  des  Ersten",  d.  h.  es  ist 
necessariom  a  se.  Das  Erste  besitzt  also  zunächst  die  Notwendigkeit  in 
seiner  Substanz,  dann  die  notwendige  Bestimmung,  Voraussetzung  för  das 
Zweite  zu  sein.  Und  nun  soll  das  Zweite,  das  nur  eine  necessitas  participata 
a  primo  hat,  diesem  Ersten  die  Notwendigkeit  verleihen!  Dies  ist  das  an- 
gedeutete absurdum. 

*)  Das  Zweite  besitzt  eine  necessitas  ab  alio  nempe  a  primo  und  zugleich 
ist  es  ein  possibile  a  se,  was  denkmöglich  ist..  Der  Widerspruch  liegt  nur 
darin,  daß  das  Zweite  vermöge  seines  Charakters  als  ens  possibile  dem  Ersten 
die  necessitas  verleihen  soU.  Darin  läge  ein  Mißverhältnis  zwischen  Ursache 
und  Wirkung.  Zudem  sind  zwei  Dinge,  die  sich  wie  Ursache  und  Wirkung 
verhalten,  nicht  gleichgeordnet  im  Sein. 

•)  d.  h.  für  die  Notwendigkeit  des  ersten. 


Digitized  by 


Googk 


67 

dessen  MöglichseiiL  Dann  könnte  also  konsequenterweise  die 
Existenz  dieses  ersten  (des  Notwendigen)  zugleich  mit  der 
Nichtexistenz  des  zweiten  0  bestehen.  Die  Voraussetzung  aber 
war,  daß  beide  im  Sein  sich  gleichgeordnet  seien.  Dies  aber  ist 
ein  Widerspruch. 

Daher  können  beide  in  der  Existenz  nicht  gleichgeordnet  sein 
in  irgend  einem  Zustande,  solange  sie  nicht  beide  zusammen  von 
einer  äußeren  Ursache  abhängen.  2)  Es  muß  vielmehr  das  eine 
von  beiden  dem  Wesen  nach  das  erste  sein;  oder  es  muß  eine 
äußere  Ursache  geben,  die  beide  zugleich')  in  notwendiger 
Weise  dadurch  hervorbringt,  daß  sie  die  Verbindung,  die  zwischen 
beiden  herrscht,  hervorbringt  (und  damit  per  accidens  auch  die 
Substanz  schafft),  oder  daß  sie  beide  Substanzen  zunächst  schafft 
und  dadurch  auch  die  Verbindung  beider  (per  accidens)  hervor- 
bringt Von  zwei  relativen  Dingen  ist  das  eine  nicht  durch  das 
andere,  sondern  zugleich  mit  demselben  notwendig.  Dasjenige, 
was  beide  (Kelativa)  hervorbringt,  ist  aber  die  Ursache,  die  beide 
zusammenfügt*)  —  sie  selbst  oder  auch  die  beiden  Materien  oder 
die  Substrate,  in  denen  beide  Relativa  sich  befinden.  Die  Existenz 
dieser  beiden  Materien  oder  Substrate  oder  eines  von  beiden 
genftgt  nicht  (um  die  Relativa  zur  Existenz  zu  bringen).  Es 
ist  vielmehr  die  Existenz  eines  dritten  erforderlich,  das  beide 
zusammenfügt  Der  Qrund  dafür  ist  der,  daß  die  Existenz  jedes 
einzelnen  der  beiden  Kelativa  und  sein  eigentliches  Wesen  ent- 
weder darin  besteht,  daß  es  mit  dem  anderen  zusammen  existiert; 
dann  ist  aber  die  Existenz,  die  es  durch  sein  Wesen  besitzt,  nicht 
notwendig.  Es  muß  demnach  ein  ens  possibile  und  infolgedessen 
auch  verursacht  sein;  und  seine  Ursache  ist  ihm  in  der  Existenz 
nicht  gleichgeordnet,  wie  wir  dargelegt  haben.  Seine  Ursache 
ist  daher  ein  anderes  Ding;  sie  ist  also  nicht  das  Ding  selbst,^) 


*)  Das  ens  contingens  —  ein  solches  wäre  das  Erste  —  kann  ebensowohl 
existieren  als  nicht  existieren. 

')  Dann  sind  sie  insofern  gleichgeordnet,  als  beide  Wirkungen  sind. 

^  Cod.  c  GL:  „dies  ist  eine  Widerlegung  der  Mutakallimün". 

*)  Für  die  Ursache  von  zwei  relativen  Dingen  wird  ein  formelles  und 
einheitliches  Objekt  gesucht.  Die  beiden  relativen  Substanzen,  einzeln 
betrachtet,  können  dies  also  nicht  sein,  da  sie  höchstens  materieUes  oder 
akzidenteUes  Objekt  der  Ursache  werden. 

*)  Das  Notwendige  ist  für  sich  selbst  Ursache  in  dem  Sinne,  daß  es 
den  Grund  seiner  Existenz  in  sich  selbst  hat. 


Digitized  by 


Googl( 


j 


B8 

während  zugleich  das  andere  (das  dritte)  Ursache  für  die  Ver- 
bindung beider  Eelativa  wäre.  Ursache  ist  vielmehr  jenes 
andere;  —  oder  zweitens  darin,  daß  die  Existenz  und  das 
eigentliche  Wesen  jedes  der  beiden  Relativa  nicht  darin  besteht^ 
daß  es  mit  dem  anderen  zusammen  existiert.  Das  Zusammensein 
muß  dann  seiner  individuellen  Existenz  von  außen  zukommen 
und  ihm  anhaften.  Femer  ist  die  Existenz,  die  jedem  der 
Relativa  besonders  eigen  ist,  nicht  von  einem  anderen,  das  ihm 
im  Sein  gleichgeordnet  ist,  als  solchem  ableitbar.  Sie  stammt 
Tielmehr  von  einer  Ursache,  die  vorausgeht,  wenn  das  Relativum 
überhaupt  die  Eigenschaft  einer  Wirkung  hat  Dann  also  (wenn 
es  sich  um  ein  relativum  causatum  handelt)  sind  zwei  Fälle  zu 
berücksichtigen.  Entweder  muß  diese  seine  Existenz  von  dem 
anderen  Terminus  der  Relation  i)  ihm  zukommen,  jedoch  nicht, 
insofern  er  dem  zu  Verursachenden  (dem  ersten  Terminus)  im 
Sein  gleichsteht,  sondern  vielmehr  auf  Grund  der  besonderen 
Existenz  dieses  anderen  Terminus.')  Daher  sind  beide  (in  dieser 
Hinsicht,  die  das  individuelle,  nicht  das  gemeinsame  Sein  des 
verursachenden  Terminus  ins  Auge  faßt)  nicht  sich  gleich- 
geordnet im  Sein,  sondern  verhalten  sich  wie  Ursa<jhe  und 
Wirkung.  Zugleich  aber  ist  dieser  Terminus  (z.  B.  der  Vater) 
auch  Ursache  für  die  innerlich  vorstellbare  Verbindung  zwischen 
beiden  Relativa.  So  verhält  sich  z.  B.  der  Vater  zum  Sohne 
(indem  er  ihn  erzeugt,  bringt  er  den  Sohn  und  zugleich  die 
Relation  der  Vaterschaft  und  Sohnschaft  hervor).  Was  aber  den 
zweiten  Fall  angeht, »)  so  besteht  er  darin,  daß  beide  Termini 
der  Relation  nach  der  ganzen  Fülle  ihres  Inhaltes  <)  sich  nicht 


*)  Wörtlich:  „a  socio  suo". 

^)  Die  ratio  formalis,  auf  Gnind  deren  das  eine  von  zwei  Eelativen, 
z.  B.  Vater  und  Sohn,  das  andere  hervorbringt,  ist  die  dem  einen,  also  dem 
Vater,  in  besonderer,  individueller  Weise  zukommende  Existenz,  nicht  das 
Sein,  in  dem  er  dem  anderen  Terminus,  also  dem  Sohne,  gleichsteht.  Letztere 
würde  die  Wirkung,  den  anderen  Terminus,  bereits  voraussetzen,  könnte  ihn 
also  nicht  mehr  verursachen. 

•)  Der  zweite  FaU  besagt,  dafi  keiner  der  beiden  Termini  Ursache  des 
anderen  ist.  Beide  müssen  dann  auf  eine  gemeinsame  Ursache  zurück- 
geführt werden. 

*)  Wenn  der  eine  Terminus  der  Belation  Ursache  des  anderen  ist,  dann 
sind  beide  nur  auf  Grund  eines  Teiles  ihres  Seins  Belativa.  Auf  Grund 
des  anderen  yerhalten  sie  sich  wie  Ursache  und  Wirkung,  können  also  nicht 
Eelativa  sein.    Sind  aber  beide  Termini  auf  Grund  der  ganzen  FüUe  ihres 


Digitized  by 


Googk 


69 

so  verhalten,  daß  der  eine  Ursache  des  anderen  wäre  und  daß 
die  Verbindung  (die  Relation  beider)  ihrer  beiderseitigen  Existenz 
notwendig  anhaftete  wie  ein  Akzidenz.  Dann  also  ist  die  erste 
Ursache  der  Verbindung  (der  Eelation  beider)  ein  außer  ihrem 
Wesen  liegendes  reales  Ding,  entsprechend  dem,  was  du  früher 
kennen  gelernt  hast.^)  Nun  aber  ist  die  Verbindung  (der  Eelation) 
ein  Akzidens,  und  daher  sind  beide  Termini  der  Eelation  nur 
durch  ein  Akzidens,  sei  es  ein  trennbares,  zufälliges  oder  ein 
notwendig  anhaftendes,  sich  gleichgeordnet  im  Sein.  Dies  aber 
ist  ein  anderes  Problem  als  das,  mit  dem  wir  uns  hier  be- 
schäftigen. Dasjenige,  was  per  accidens  existiert  (die  Eelation 
der  Termini),  muß  nun  aber  notwendigerweise  eine  Ursache 
haben,  und  daher  müssen  beide  Termini,  insofern  sie  sich  gleich- 
geordnet sind  (d.  h.  insofern  sie  relativa  oder  correlativa  sind), 
verursacht  sein.') 


Siebentes  Kapitel. 

Ober  die  Einheit^)  des  notwendig  Seienden. 

Der  notwendig  Seiende,  so  behaupten  wir  femer  IV.,^)  muß 
ein  einziges  Wesen  sein.  Leugnet  man  dies,  so  nehmen  wir 
einmal  an,  er  bestände  in  einer  Vielheit.  Dann  mtlßte  jeder 
einzelne  Teil  dieser  Vielheit  ein  notwendig  Seiendes  sein.  Dann 
aber  treffen  zwei  Fälle  ein.  Jedes  einzelne  von  diesen  ist  in 
dem  Begriffe,  der  sein  wahres  Wesen  ausmacht,  von  dem  anderen 
durchaus  nicht  verschieden,  oder  doch.  Wenn  das  eine  sich 
dann  von  dem  anderen  in  dem  Wesensbegriffe  nicht  wesentlich 


Seins  Belativa,  dann  können  sie  nicht  mehr  anf  Grund  eines  Teiles  ihres 
Seins  Ursache  und  Wirknng  sein.  Sie  sind  dann  Belativa  ihrem  glänzen 
Wesen  nach,  primo  et  per  se. 

J)  Im  ohigen  nnd  Logik  I,  Teil  IV,  3—5. 

*)  Von  den  fünf  zu  Anfang  dieses  Kapitels  au^pesteUten  Thesen  wurden 
bisher  nur  zwei,  I  und  HI,  bewiesen,  n  ist  in  I  einbegriffen.  IV  und  V 
finden  in  Kap.  7  und  Abhandl.  Vm,  4—7  (Die  Eigenschaften  Gottes)  ihre  Er- 
ledigung. 

')  Sie  wird  deshalb  besonders  hervorgehoben,  weil  die  Einheit  Gottes 
Grunddogma  des  Islam  ist;  vgL  Abh.  Vm,  4—7. 

^  Thesis  IV  des  Kap.  6,  Anfang. 


Digitized  by 


Google 


70 

(per  se,  in  notwendigen  Bestandteilen)  unterscheidet  und  wenn 
es  dennoch  von  dem  anderen  dadurch  verschieden  ist,  daß  es 
nicht  dieses  andere»)  ist  —  dies  aber  ist  notwendig  eine  Ver- 
schiedenheit —  dann  findet  dieselbe  in  etwas  anderem  als  dem 
Wesensbegriffe  statt.  Denn  der  Wesensbegriff,  der  in  der  Viel- 
heit 2)  vorhanden  ist,  ist  selbst  nicht  verschieden. 3)  Zugleich 
aber  ist  etwas  mit  ihm  verbunden,  wodurch  er  dieses  bestimmte 
Individuum  wird  oder  in  demselben*)  vorhanden  ist;  oder  es 
verbindet  sich  mit  der  Wesensform  nichts  anderes  als  die  Be- 
stimmung, daß  sie  selbst  dieses  Individuum  oder  in  diesem 
Individuum  sei.^)  Dieses  Individuationsprinzip  verbindet  sich  in 
dem  anderen  nicht  mit  diesem  Wesensbegriffe.  Mit  dem  Wesens- 
begriffe verbindet  sich  in  dem  anderen  vielmehr  das,  wodurch 
jenes  zu  diesem  Individuum  wird,«)  oder  nichts  anderes  als 
die  Bestinmiung,  daß  jener  Wesensbegriff  jenes  Individuum  seL 
Dadurch  ist  eine  Art  der  Individuation  gegeben,  die  sich  mit 
jenem  Wesensbegriffe  verbindet  und  durch  die  zwischen  beiden 
Individuen  eine  Trennung  entsteht.  Jedes  einzelne  von  beiden 
ist  folglich  durch  dieses  Individuationsprinzip  von  dem  anderen 
verschieden,  ohne  daß  es  sich  von  ihm  in  dem  Wesensbegriffe') 
unterschiede.  Daher  muß  die  Verschiedenheit  außerhalb  des 
Begriffes  der  Species  liegen.     Die  Dinge  femer,  die  außerhalb 


0  Cod.  c  Gl. :  d.  h.  „das  Individuum".  Wenn  die  Verschiedenheit  zweier 
Dinge  nicht  in  dem  Genus,  der  Species,  der  Differenz  und  den  Propria  besteht, 
dann  kann  sie  sich  nur  noch  auf  das  Individuationsprinzip  erstrecken. 

•)  Cod.  a,  d:  „in  beiden". 

•)  Er  bildet  die  Species  dieser  Individua. 

*)  Die  Species  oder  die  Wesensform  ist  in  einer  aufnehmenden  Materie 
und  vrird  dadurch  individualisiert. 

*)  Im  ersten  FaUe  tritt  das  Individuationsprinzip  zur  Wesensform 
hinzu;  im  zweiten  ist  es  in  ihr  und  durch  sie  gegeben.  Die  Wesensform 
selbst  ist  dann  Individuum,  d.  h.  sie  subsistiert  als  solche,  ohne  daß  eine 
Vielheit  von  Individuen  dieser  Species  entstehen  könnte.  So  verhalten  sich 
die  „Ideen"  Piatos  und  die  reinen  Geister.  Jedes  „Einzelding"  von  ihnen  ist 
eine  Species.  Diese  ist  dann  nicht  „in  diesem  Individuum"  wie  in  einem 
aufnehmenden  Prinzip,  sondern  „dieses  Individuum"  ist  nichts  anderes  als 
die  Wesensform.  Vgl.  dazu  die  Lehre  über  die  Engel  bei  F&rabi  (Ring- 
steine Nr.  29)  und  Thomas  v.  Aquin  Sum.  theol.  I  50,  5c.  56,  Ic:  Angelus  est 
ipsa  forma  subsistens;  ib.  47,2c:  In  rebus  incorruptibilibus  non  est  nisi  nnum 
Individuum  unius  spedei  und  50,  4  c.  62,  6.  3™.  75,  7  c  76,  2. 1™  u.  s.  w. 

^  Also  ein  von  außen  kommendes  individualisierendes  Moment 

')  Cod.  c  GL:  „nämlich  dem  notwendigen  Sein". 


Digitized  by 


Googk 


71 

des  Wesensbegriffes  liegen,  sich  jedoch  mit  demselben  verbinden, 
sind  die  Akzidenzien  und  Inhärenzien,  die  nicht  wesenhaft  sind. 
Dann  sind  zwei  Fälle  zn  unterscheiden.  Diese  Akzidenzien 
haften  dem  Wesen  des  Dinges  entweder  infolge  dieses  seines 
bestimmten  Wesens  an  oder  seinem  Dasein,  insofern  es  dieses 
Dasein  ist  Dann  mufi  also  das  Ganze  (in  allen  seinen  Teilen) 
in  denselben  übereinstimmen  (weil  Wesen  und  Dasein  ebenfalls 
allen  Teilen  gemeinsam  sind).  Die  Annahme  besagte  jedoch, 
daß  die  Teile  innerhalb  des  Umfanges  des  Wesensbegriffes  Ver- 
schiedenheiten aufweisen,  was  einen  Widerspruch  bedeutet  Oder, 
zweitens,  die  Akzidenzien  haften  dem  Wesen  an  auf  Grund 
äußerer  Ursachen,  nicht  infolge  des  Wesens  selbst  Wenn  daher 
jene  Ursache»)  nicht  existierte,  so  könnten  auch  die  Akzidenzien 
dem  Wesen  nicht  anhaften.  Wenn  daher  jene  Ursache  nicht 
existierte,  entstände  keine  Verschiedenheit  (der  einzelnen  Indi- 
viduen innerhalb  der  Species,  d.  h.  der  verschiedenen  notwendigen 
Substanzen  der  Götter).  Wenn  daher  jene  Ursache  nicht  existierte, 
so  bildeten  diese  Wesenheiten  eine  einzige  Einheit  (weil  ihre 
Species  durch  kein  Individuationsprinzip  in  eine  Vielheit  geteilt 
würde);  oder  sie  käme  überhaupt  nicht  zur  Existenz.^)  Wenn 
daher  jene  Ursache  nicht  existierte,  so  wäre  weder  dieses  Indi- 
viduum noch  auch  jenes  in  seiner  Besonderheit  das  notwendig 
Seiende.^)  Daher  wäre  die  Notwendigkeit  eines  jeden  von  beiden, 
die  ihm  eigentümlich  ist  und  ihm  in  besonderer  Weise  zukommt,*) 
ihm  mitgeteilt  von  einem  anderen.  Nun  aber  wurde  bereits 
behauptet,  daß  jedes  Ding,  das  durch  ein  anderes  notwendig  ist, 
nicht  aus  sich  heraus  den  Charakter  des  Notwendigen  besitzen 
kann.*)  Nach  der  Definition  seines  Wesens  muß  es  vielmehr  ein 
ens  possibile  sein.  Daher  wären  alle  einzelnen  dieser  Dinge, 
trotzdem  sie  ihrem  Wesen  zufolge  notwendig  wären,  ein  nur 


*)  Aviceima  bald  „die  Ursachen",  bald  „die  Ursache"  der  Verschiedenheit, 
je  nachdem  er  an  einen  einzelnen  Teil  des  Ganzen  oder  an  alle  denkt.  Ein 
wichtiger  Unterschied  ist  damit  nicht  gegeben. 

')  Indiyidualität  nnd  reale  Existenz  werden  gleichgesteUt  (vgl.  dazu 
F&r&bis  Bingsteine  Nr.  1);  denn  nicht  die  „Ideen",  sondern  nur  das  Einzelding 
existiert  real. 

*)  Cod.  a  add.:  „und  zwar  nicht  infolge  der  Existenz  (wie  dies  in  Gott 
der  FaU  ist),  sondern  infolge  dieser  (yon  außen  vemrsachten)  Akzidenzien". 

*)  Nach  der  Annahme  k&me  die  Notwendigkeit  jedem  als  Indiyidnnm, 
nicht  tÜB  Species  oder  Wesenheit  zn. 

*)  Siehe  Kap.  6. 


Digitized  by 


Googk 


72 

mögliches  Ding  (ebenfalls)  zufolge  der  Definition  ihres  Wesens. 
Dieses  aber  ist  unmöglich. 

Wir  wollen  nun  annehmen,  daß  das  eine  von  dem  anderen 
verschieden  sei  in  einem  ursprünglichen  Begriffe,*)  nachdem  es 
mit  ihm  in  dem  Begriffe  (d.  h.  dem  Wesen)  2)  übereinstimmt 
Dieser  andere  Begriff  muß  dann  entweder  eine  Bedingung  sine 
qua  non  für  das  notwendige  Sein  bilden  oder  nicht  Ist  er  nun 
eine  Bedingung  für  das  notwendige  Sein,  so  muß  offenbar  jedes 
Notwendige  in  ihm  (mit  dem  anderen)  übereinstimmen.  Ist  er 
aber  keine  Bedingung  für  die  Notwendigkeit,  dann  besteht  die 
Notwendigkeit  als  solche  auch  ohne  denselben.  Er  aber  wäre 
etwas  von  außen  Hinzutretendes,  ein  Akzidens,  das  dem  Wesen 
anhaftet,  nachdem  es  als  notwendiges  Sein  zur  Vollendung 
gelangt  ist  Dieses  jedoch  wurde  bereits  ausgeschlossen  und  als 
unrichtig  erwiesen.  Daher  kann  also  das  Erste  im  Begriffe 
nicht  verschieden  sein  von  dem  Zweiten.  Jedoch  müssen  wir 
zu  diesem  einen  weiteren  Beweis  hinzufügen,  der  von  einer 
anderen  Betrachtung  ausgeht  Wird  der  Begrifft)  des  Not- 
wendigen in  eine  Vielheit  zerlegt,  so  können  zwei  Möglichkeiten 
eintreffen.  Entweder  wird  er  geteilt  nach  Art  der  Teilung 
durch  spezifische  Differenzen  oder  durch  Akzidenzien.  Es  ist 
nun  aber  bekannt,  daß  die  spezifischen  Differenzen  nicht  in  die 
Definition  dessen  eintreten,  was  die  Stelle  des  Genus  vertritt*) 
Denn  diese  verleihen  dem  Genus  nicht  sein  eigentliches  Wesen, 
sondern  geben  ihm  vielmehr  nur  das  aktuelle  Bestehen.  *)  So 
verhält  sich  z.  B.  (die  spezifische  Differenz)  „rationale".  Dieselbe 
verleiht  dem  „animal"  nicht  den  Begriff  der  animaJitas,  sondern 
vielmehr  das  aktuelle  Bestehen  als  ein  reales  Wesen,  das  indi- 
viduell existiert  Infolgedessen  müßten  auch  die  Artunterschiede 
des  Notwendigen,  wenn  es  richtig  ist,  daß  sie  ihm  nicht  die 
Notwendigkeit  selbst  verleihen,  dennoch  das  eigentliche  Wesen 
des  Notwendigen  ausmachen;  ja,  sie  verleihen  ihm  sogar  das 
aktuelle  Existieren  (wie  auch  das  animal  durch  das  rationale 


*)  CJod.  c  Gl.:  „d.  h.  den  Differenzen". 

«)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  dem  notwendigen  Sein". 

*)  d.h.  „ratio",  die  anch  das  reale  Wesen  bezeichnet. 

*)  YgL  dieselben  Ausdrücke:  F&r&bi,  Ringsteine  Nr.  6. 

^)  Die  Differenzen  verleihen  die  Aktualität,  zu  der  das  Genus  sich  in 
der  Potenz  befindet,  also  das  actu  esse.  Freilich  ist  das  Individuationsprinzip 
d&mit  nicht  ausgeschlossen. 


Digitized  by 


Google 


73 

das  aktuelle  Existieren  empfängt).  Dieses  aber  (daß  das  Not- 
wendige das  Dasein  empfangen  könnte)  ist  unmöglich  aus 
zwei  Gründen.  Der  erste  besagt:  das  eigentliche  Wesen  des 
Notwendigen  ist  nichts  als  das  sich  Bestätigen  der  Existenz. 
Es  verhält  sich  also  nicht  wie  das  Wesen  der  animalitas,  die 
ihrerseits  ein  anderer  Begriff  ist  als  das  sich  Bestätigen  der 
Existenz.  Der  animalitas  haftet  die  Existenz  wie  ein  beständiges 
Akzidens  an  oder  sie  bildet  etwas,  das  von  außen  hinzutritt,») 
wie  bekannt  ist  Daher  ist  das  Verleihen  der  Existenz  an  das 
Notwendige  notwendigerweise  dasselbe  wie  das  Verleihen  einer 
conditio  sine  qua  non  für  sein  Wesen.  Dieses  2)  aber  wurde 
(oben)  als  unmöglich  bezeichnet  in  dem  Verhältnisse  von  Genus 
und  Differenz. 

Der  zweite  Grund,  weshalb  dem  Notwendigen  die  Existenz 
nicht  verliehen  werden  kann,  besagt:  das  Wesen  des  Notwendigen 
müßte  in  diesem  Falle,  damit  es  aktuell  wirklich  werde,  in  not- 
wendige Verbindung  und  Abhängigkeit  treten  von  einem  not- 
wendig Verursachenden.  Dann  aber  müßte  die  „ratio",^)  wodurch 
das  Ding  den  Charakter  des  Notwendigen  erhält,  durch  eine 
äußere  Ursache  die  Existenz  erhalten.  Unsere  Diskussion  er- 
streckt sich  nun  aber  auf  das  durch  sein  Wesen  Notwendige. 
Infolgedessen  müßte  das  durch  sein  Wesen  Notwendige  durch 
eine  äußere  Ursache^)  notwendig  werden.  Dieses  aber  haben 
wir  bereits  als  falsch  erwiesen,  und  daher  ist  klar,  daß  die 
Teilung  des  Notwendigen  in  verschiedene,  individuelle  Dinge 
sich  nicht  verhalten  kann  wie  die  Teilung  des  Genus  durch  die 
spezifischen  Differenzen, 

Es  ist  folglich  einleuchtend,  daß  die  „ratio",  die  die  Not- 
wendigkeit des  Seins  bedingt  (und  bedeutet),  nicht  die  Natur 
des  Genus  haben  kann,  das  durch  spezifische  Differenzen  oder 
Akzidenzien  geteilt  wird.  Daher  bleibt  nur  die  Möglichkeit 
übrig,  daß  sie  ein  Artbegriff  sei.  In  diesem  Sinne  behaupten 
wir,    der  Artbegriff  des  Notwendigen  kann   nicht  von   vielen 


>)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  ein  zuföUiges  Akzidens";  vgl.  Logik  I,  Teil  I,  8—13. 

*)  d.  h.  dafi  das  Notwendige  sich  durch  eine  conditio  sine  qua  non 
seines  Wesens  von  einem  anderen  Notwendigen  unterscheiden  könnte. 

*)  arab.  ma*n&,  d.  h.  hier  das,  was  dem  Begriffe  in  der  Außenwelt 
entspricht. 

*)  Wörtlich:  „einem  anderen"  necessarium  a  se  esset  necessarium 
ab  alio. 


Digitized  by 


Googk 


74 

Einzeldingen  ausgesagt  werden;  denn  entsprechend  dem,  was 
wir  bewiesen  haben,  0  müssen  die  Individuen  einer  Art,  wenn 
sie  nicht  in  dem  Wesensbegriffe  verschieden  sind,  ihre  Ver- 
schiedenheit durch  Akzidenzien  erhalten.  Diese  Möglichkeit 
aber  (das  Hinzutreten  von  Akzidenzien  zum  Wesen)  haben  wir 
von  dem  notwendigen  Sein  ausgeschlossen.  Wir  können  dasselbe 
in  kurzer  Weise  darlegen,  indem  der  Zweck  dieser  Ausführung 
zurückgeht^)  auf  das,  was  wir  bereits  angeführt  haben.  Wir 
behaupten  daher:  3)  ist  das  Notwendige  Eigenschaft  eines  Dinges 
und  in  ihm  real  existierend,  so  können  zwei  Fälle  eintreten. 
Entweder  liegt  es  in  dieser  Eigenschaft,  d.  h.  in  der  Notwendig- 
keit des  Seins  wesentlich  begründet,  daß  gerade  „diese"  Eigen- 
schaft in  „diesem"  Subjekte  der  Eigenschaft  real  existiert  Dann 
aber  kann  das  eine  von  beiden*)  (die  Eigenschaft)  nur  real 
existieren,  wenn  es  Eigenschaft  „dieses"  Subjektes  ist  Es  kann 
also  nicht  existieren,  indem  es  einem  anderen  inhaliert,  und 
daher  haftet  (nur)  „diesem"  seine  Existenz  notwendig  an*)  oder 
die  Existenz  dieser  Eigenschaft  in  „diesem"  Subjekte  ist  eine 
nur  mögliche,  nicht  eine  notwendige.«)  Dann  kann  also  dieses 
Ding  (das  Subjekt)  eventuell  auch  nicht  ein  ens  necessarium  a  se 
sein  und  trotzdem  wäre  das  Ding  aus  sich  heraus  notwendig 
(nach  der  Annahme).    Dieses  aber  ist  ein  Widerspruch. 

Die  Eigenschaft  des  notwendigen  Seins  haftet  infolgedessen 
nur  einem  einzigen  an.  Dagegen  könnte  jemand  einwenden:  der 
Umstand,  daß  die  Existenz  des  Notwendigen  für  dieses  Individuum 
eine  Eigenschaft  ist,  hindert  nicht,  daß  das  Notwendige  als  Eigen- 
schaft auch  einem  anderen  inhäriere,  und  umgekehrt  hindert  also^) 
der  Umstand,  daß  das  Notwendige  als  Eigenschaft  dem  anderen 
inhäriert,  nicht  das  andere,  nämlich,  daß  es  notwendigerweise 


»)  Logik  I,  Teü  1, 10—12, 

*)  d.  h.  identisch  ist  mit  dem,  was  n.  s.  w. 

^  Avicenna  widmet  diesen  Auseinandersetzungen  eine  so  große  Ab- 
handlang, weil  sie  die  Existenz,  das  Wesen  und  die  Einheit  Gottes  darlegen 
sollen,  indem  sie  zeigen,  daß  Er  notwendig  per  se  existieren  muß.  Sie 'bilden 
zugleich  die  Grandlage  für  die  Abhandlang  Ym. 

*)  Beide,  d.  h.  da«  Subjekt  und  Akzidens. 

*)  Cod.  b,  d:  „haftet  es  diesen  aUein  notwendig  an''. 

*)  Der  Charakter  des  notwendigen  Seins  kann  dann  auch  einem  anderen 
inhärieren. 

^  Cod.  c:  „als  Existenz  ist  es  keine  Eigenschaft";  denn  die  Existens 
kann  kein  Akzidens  sein;  s.  F&r&bi,  Ringsteine  Nr.  1. 


Digitized  by 


Googk 


75 

Eigenschaft  dieses  ersten  ist.  Darauf  erwidern  wir:  die  Diskussion 
erstreckt  sich  darauf,  daß  das  notwendige  Sein  als  eine  Eigen- 
schaft „dieses"  Dinges  in  individueller  Weise  bestimmt  werde, 
insofern  es  diesem  Dinge  zukommt,  indem  man  bei  der  Betrachtung 
dieses  Subjektes  von  dem  anderen  absieht.  Dieses  (d.  h.  das  not- 
wendige Sein  in  diesem  individuellen  Sinne  verstanden)  inhäriert 
in  seiner  Individualität  also  einem  anderen  nicht  als  Eigenschaft. 
Dem  anderen  inhäriert  vielmehr  höchstens  etwas  ähnliches  wie 
diese,  d.  h.  das  Notwendige  in  ihr  (die  notwendigen  Bestandteile 
dieser  Eigenschaft,  nicht  ihre  individuellen  Bestimmungen,  die 
zufällig  sind)  ist  dasjenige,  was  nach  seiner  eigensten  Natur  in 
jenem  anderen  notwendig  inhäriert. 

In  einer  anderen  Betrachtungsweise  antworten  wir:  zwei 
Bestimmungen  sind  festzuhalten:  a)  das  eine  Individuum  der 
(dieses  Kapitel,  Anfang)  angenommenen  innergöttlichen  Vielheit 
ist  der  notwendig  Seiende  und  b)  dasselbe  ist  zugleich  dieses 
Individuum  selbst  (Gott,  der  eine).  Was  nun  den  Fall  anbetrifft, 
daß  diese  beiden  Bestimmungen  eins  und  dasselbe  sind,  so  be- 
deutet er,  daß  alles  notwendig  Seiende  in  sicli  selbst  dieses 
Individuum  sei,*)  nicht  etwas  anderes.  Wenn  aber  der  Umstand 
eintrifft,  daß  das  esse  en§  necessarium  in  ihm  verschieden  ist 
von  dem  esse  hoc  Individuum,  dann  verbindet  sich  also  das  esse 
necessarium  mit  ihm  (dem  esse  Individuum  und  es  entsteht  eine 


1)  In  Gott  faUen  das  esse  hoc  individanm  und  esse  hanc  spedem  zu- 
sammen. Vgl.  dazu  Thomas,  Sum.  theoL  I  3,  5c:  Tertio,  quia  omnia  quae 
sunt  in  genere  uno,  communicant  in  quidditate  yel  essentia  generis,  quod 
praedicatur  de  eis  in  eo  quod  quid  (t<p  xl  yv  elvai)]  differunt  autem  secundum 
esse  (als  Individua).  Non  enim  idem  est  esse  hominis  et  equi  (das  Wesen) 
nee  huius  hominis  et  illius  equi  (das  Individuum);  et  sie  oportet  quod  quae- 
cumque  sunt  in  genere,  differant  in  eis  „esse''  (die  Individualität,  die  Gleich- 
steUung  von  Sein  und  Individuum  s.  ehenfalls  in  F&rftbi,  Ringsteine  Nr.  1)  et 
quod  quid  est,  id  est  essentia.  In  Deo  autem  non  differunt,  ut  ostensum  est. 
Unde  manifestum  est  quod  Dens  non  est  in  genere  sicut  species,  et  ex  hoc 
patet  quod  non  habet  genus  neque  differentias,  neque  est  definitio  ipsius 
(s.  F&rabi,  Bingsteine  Nr.  8),  neque  demonstratio  (la  burh&na  aleihi  Avicenna, 
Metaph.  Vm,  5  Ende)  nisi  per  effectum  (dalü!  ibid.);  quia  definitio  est  ex 
genere  et  differentia;  demonstrationis  autem  medium  est  definitio.  Gleich- 
bedeutend mit  diesem  sind  die  scholastischen  Lehren:  In  solo  Deo  esse  et 
essentia  sunt  idem  realiter  Sum.  theol.  I,  q.  1,  Ic  et  passim;  Dens  est  sua 
essentia  ib.  I  3,  3;  Essentia  divina  est  omne  quod  est  in  ea  ib.  q.  40, 1. 1™.  In 
solo  Deo  sunt  idem  suppositum  et  natura. 


Digitized  by 


Googk 


76 

Zweiheit),  denn  dieses  Individuum*)  ist  entweder  ein  Ding,  das 
aus  sich^)  existiert,  oder  ein  solches,  das  eine  von  ihm  ver- 
schiedene, primäre  oder  sekundäre  Ursache  oder  ein  notwendig 
wirkendes  Prinzip  hat.  Wenn  dieses  (das  esse  individuum) 
daher  aus  sich  selbst^)  existiert  und  auch  weil  es  (oder  Er)  der 
notwendig  Seiende  ist,  dann  muß  alles,  was  notwendig  Seiend 
ist,  dieses  Ding  selbst  sein  (das  Individuationsprinzip  in  Gott 
und  der  Charakter  des  Notwendigen  würden  zusammenfallen). 
Existiert  dasselbe  (das  esse  individuum  im  Notwendigen)  aber 
durch  eine  primäre  oder  sekundäre  Ursache  oder  ein  notwendig 
wirkendes  Prinzip,  das  von  ihm  selbst  verschieden  ist,  so  hat 
sein  „esse  hoc  individuum"  eine  äußere  Ursache.  Dadurch  hat 
aber  ebenso  seine  singulare  Existenz,  die  einzigartige,  eine  Ursache 
und  ist  daher  „verursacht".^) 

Das  notwendig  Seiende  ist  daher  nur  eins  nach  der  ganzen 
Fülle  seines  Wesens.  Es  verhält  sich  nicht  wie  Arten,  die  unter 
einem  Genus  sind.  Es  ist  der  Zahl  (d.  h.  dem  Individuum)  nach 
eins,  und  zwar  nicht,  wie  Individuen,  unter  einer  Art,  sondern 
es  ist  ein  Wesen  (ratio),  dessen  Inhalt  <)  ihm  allein  zukommt 
Seine  Existenz  ist  nicht  universell  (so  daß  andere  Individuen  an 
ihr  teilnehmen  könnten).  Dieses  werden  wir  an  einem  anderen 
Orte*)  noch  weiter  erklären.  Das  Aufgezählte  (die  5  Thesen  in 
Kap.  6  Anfang)  sind  also  die  Bestimmungen,  die  dem  notwendig 
Seienden  besonders  zukommen. 

Was  aber  das  Mögliche  <^)  anbetrifft,  so  ist  aus  obigem 
seine  Eigentümlichkeit  klar.  Sie  besteht  darin,  daß  es  not- 
wendig eines  anderen  Dinges  bedarf,  durch  das  es  in  die 
aktuelle  Existenz  versetzt  wird.')    Jedes  „möglich  Seiende"  ist 


0  Wörtlich:  „Er  in  »ich  selbst",  d.  h.  die  Individualität  Gottes. 

*)  oder:  auf  Grund  seines  Wesens. 

^  Da  dies  aber  von  Gott  auszuschließen  ist,  so  ist  seine  Individualität 
identisdi  mit  seinem  Wesen.  Eine  Vielheit  ist  demnach  (Thesis  IV,  Kap.  6 
Anfang)  in  dem  notwendig  Seienden  absolut  auszuschließen. 

*)  Wörtlich:  „die  Erklärung  seines  Namens". 

»)  Abh.VIII,4-7. 

^  Fortsetzung  von  Kapitel  5,  Ende. 

"*)  Diese  Definition  (vgl.  F&räbi,  Bingsteine  Nr.  2)  weist  Thomas  v.  Aquin 
(Sum.  theoL  1 25, 4  ad  4)  ab :  Possibile  absolutum  non  didtur  neque  secundum 
causas  superiores  (el-^ilal)  neque  secundum  causas  inferiores  (el-^asb&b),  sed 
secundum  seipsum,  id.  e.  Q^ssibile  dicitur)  absolute,  propter  ipsam  habitudinan 
terminorum. 


Digitized  by 


Googl( 


77 

inbezug  auf  sein  Wesen  immer  nur  möglich.  Manchmal  jedoch 
kommt  es  ihm  als  Akzidens  zu,  daß  seine  Existenz  durch  einen 
anderen  notwendig  0  ist  Dieses,  die  Notwendigkeit  der  Existenz 
ab  alio,  kommt  ihm  nun  entweder  immer  ^)  als  Akzidens  zu  oder 
nicht  immer,  sondern  vielmehr  nur  in  bestimmten  Zeiten.  Ein 
solches  Ding  muß  eine  Materie  besitzen,  die  der  Zeit  nach  der 
Existenz  des  Dinges  vorausgeht,  wie  wir  später  darlegen  werden.^) 
Dasjenige  aber,  dessen  Existenz  immer  (von  Ewigkeit)  durch 
einen  anderen  notwendig  erfolgt,  ist  femer  in  seinem  Wesen 
nicht  einfach  (sondern  zusammengesetzt),  denn  dasjenige,  was 
ihm  durch  sein  Wesen  zukommt,  ist  verschieden  von  dem,  was 
ihm  durch  einen  anderen  zukommt.  Das  Ding  selbst  aber  wird 
in  seiner  Individualität  durch  beides  zusammen  in  der  realen 
Existenz  wirklich.*) 

Daher  ist  nichts  außerhalb  des  notwendig  Seienden  frei 
von  der  Beimischung  alles  dessen,  was  in  sich  selbst  betrachtet 
Potential  und  kontingent  ist.  Er  ist  die  Einheit,  alle  anderen 
Dinge  sind  zusammengesetzte  Zweiheit») 


0  Die  Ewigkeit  der  geschaffenen,  geistigen  Substanzen,  der  Engel,  ist 
damit  ausgesprochen  und  zugleich  gezeigt,  daß  zwischen  dem  Gteschaffensein 
und  dem  Anfangslossein  kein  Widerspruch  besteht.  Vgl.  dazu  Horten,  Das 
Buch  der  Ringsteine  F&räbls,  S.  301—313.  Das,  was  in  einer  Materie  ist,  ist 
zeitlich  geschaffen.  Die  Materie  selbst  jedoch  ist  ebenso  anfangslos  wie 
die  Geister. 

')  In  einem  anderen  Sinne  als  dem  der  Rücksicht  auf  die  Ursache  gilt  der 
scholastische  Satz:  nihil  est  contingens,  quod  non  habeat  aliquid  necessarium; 
8.  Thomas  Sum.  theoL  I  86,3  c.  Contingentia  dupliciter  possunt  considerari: 
uno  modo  secundum  quod  contingentia  sunt;  alio  modo  secundum  quod  in  eis 
aliquid  necessitatis  invenitur;  nihil  enim  est  adeo  contingens,  quin  in  se 
aliquid  necessarium  habeat;  sicut  hoc  ipsum  quod  est  „Socratem  currere"  in 
se  quidem  contingens  est;  sed  habitudo  cursus  ad  motum  est  necessaria. 
Necessarium  enim  est  Socratem  moveri,  si  currit  ib.  84, 1  ad  3"*. 

«)  Vgl  Abb.  Vm  und  IX. 

*)  Aus  sich  selbst  hat  es  das  Wesen  (Materie  und  Form),  von  der 
Vi^kursache  das  Dasein.  Die  hier  angedeutete  Zusammensetzung  ist  nicht 
die  aus  Materie  und  Form,  sondern  die  aus  Wesenheit  (quod  quid  est)  und 
Dasein.    Vgl  Thomas,  Sum.  theoL  1 3,  5  c. 

*)  d.  h.  aus  essentia  und  existentia. 


Digitized  by 


Google 


78 


Achtes  Kapitel 

Das  Wahre  und  die  Wahrheit  0  und  die  Verteidigung  des  ersten 
Prinzips  unter  den  wahren  Prämissen. 

Unter  dem  Wahren  versteht»)  man  das  Sein  in  den  Individuen 
im  allgemeinen,')  das  immerdauemde  Sein,^)  das  gesprochene  Wort 
und  der  Gedanke,*)  der  auf  einen  Zustand  des  Dinges  in  der 
Außenwelt  hinweist,  wenn  er  sich  mit  diesem  deckt*)  Daher 
sagen  wir,  dieses  ist  ein  wahres  Wort  und  dieses  ist  eine  wahre 
Überzeugung. 

Der  notwendig  Seiende  ist  daher  der  durch  sein  Wesen 
ewig  Wahre.  Das  der  Möglichkeit  nach  Seiende  (das  ens 
possibile)^)  ist  durch  einen  anderen  wahr,  in  sich  selbst  aber 
unwahr.^)  Alles,  was  außerhalb  des  notwendig  Seienden,  des 
Einzigen,  sich  befindet,  ist  also  in  sich  selbst  unwahr  (und 
trügerisch).  Die  Wahrheit,  die  in  der  Übereinstimmung  mit 
dem  Objekte  (die  logische)  besteht,  verhält  sich  wie  das 
Eichtige,  jedoch  wird  dieselbe  als  (logisch)  Richtiges  bezeichnet, 
indem  man  es  betrachtet  mit  Rücksicht  auf  seine  Beziehung 
auf  ein  Ding  der  Außenwelt,  als  (ontologische)  Wahrheit,  mit 
Rücksicht  auf  die  Beziehung  des  Dinges  auf  das  (logisch) 
„Richtige".  Die  Aussage,  die  am  meisten  wahr  ist,  ist  die- 
jenige, die  die  Eigenschaft  des  Richtigseins  immer  besitzt  Das 
am  meisten  Wahre  von  diesem  aber  ist  dasjenige,  was  in 
ursprünglicher  Weise  (also  a  se)  richtig  ist  nicht  durch  eine 


1)  d.  h.  die  objektive  und  subjektive,  die  ontologische  und  logische 
Wahrheit. 

')  al  ovalat  a\  Ttgcitai,  Analyt.  I  52  a  32  ro  aXtid^q  x<p  %axtv  bfiolioq 
tamtat  (mutÄbiq). 

•)  Vgl  Arist.,  Metaph.  993  b  27:  dXij&iatazov  ro  zotq  iazigoii  aXxiov 
xoi  äXfi^ioiv  elvat-j  dies  sind  die  ersten  Seinsprinzipien. 

*)  WörtUch :  „der  Zustand  der  Bede  und  des  Verstandes,  des  Denkens". 
VgL  Arist.:  z6  Xiyeiv  x6  ov  elvai  xal  ro  fijj  iv  fi^  elvai  akrj&tg.  Metaph. 
1011  b  27  und  19  a33:  dfi6i(og  ol  loyoi  aXTjd^eTq  Sotisq  xa  nQayfiaxa  Thomas  c. 
Gentes  I^  1  fin.    Sic  enim  est  dispositio  rerum  in  veritate  sicut  in  esse. 

*)  Der  Mangel  dieser  Kongruenz  ist  das  Unwahre. 

•)  verum  ab  alio. 

^  WörtUch:  „eitel,  vergänglich,  falsch'^.  Das  Seiende  ist,  wenn  auf 
den  InteUekt  bezogen,  wahr;  das  Nichtseiende  nicht  wahr.  Das  Eontingente 
ist  ein  Nichtseiendes. 


Digitized  by 


Googk 


79 

Ursache  (cL  h.  ein  allgemeineres  Prinzip).  Die  erste  aller  ricMigen 
Aussagen,  cL  h.  diejenige,  auf  die  bei  der  Analyse  alle  Dinge 
letzthin  hinauslaufen,*)  so  daß  sie,  sei  es  potentiell  oder  aktuell, 
in  allen  Dingen  prädiziert  wird,  die  einleuchtend  ist  oder  durch 
die  ein  beliebiges  Ding  verständlich  wird,  wie  wir  es  in  dem 
Buche  über  den  Beweis  auseinandergesetzt  haben, 2)  diese  erste 
Aussage  besagt:  zwischen  der  Affirmation  und  der  Negation 
gibt  es  kein  Mittelglied 3)  (kein  tertium,  wie  ein  solches 
zwischen  kontradiktorischen  Urteilen  ausgeschlossen  ist).  Diese 
Eigentümlichkeit  gehört  zu  den  Akzidenzien  keines  anderen 
Dinges,  als  zu  denen  des  Seienden  als  solchen, <)  weil  dieses 
allgemein  ist  in  jedem  Existierenden.  Wenn  der  Sophist  dieses 
leugnet,  so  leugnet  er  es  nur  mit  der  Zunge  aus  Hartnäckigkeit 
oder  es  verwirrt  ihn  ein  Zweifel  betreffs  einiger  Dinge,  indem 
die  beiden  Glieder  der  kontradiktorischen  Aussage  über  dieselben 

^)  Siehe  Ariat.,  Metaph.  997  a  13:  xa^olov  fiaXiaxa  xal  narTwv  oqx^^ 
ta  aSicifiara  iaxiv.  Thomas,  Opusc.  XXXTX  (edit.  Viv^),  cap.  1:  Sicut  in 
demonstrationibns  resolvere  oportet  onmes  propositiones  osqne  ad  prima 
prindpia  ipsa,  ad  qnae  necesse  est  stare  rationem,  ita  in  apprehensione 
dictomm  (transcendentalinm)  oportet  stare  ad  ens.  Et  passim:  in  primnm 
principium  omnia  redncnntur. 

«)  Vgl.  Logik  V,  Teü  I,  4.  5  nnd  II,  1—10. 

»)  Vgl  Aristoteles,  Metaph.  1005  a  19  bis  1011  b  23  und  1061b  34  bis 
1063  b  36,  besonders  die  klassische  Darlegung  1005  b  11:  Beßatoxarrj  S*  oqx^ 
TtaoSv  tieqI  §v  Siaxpevad-fjvai  aSvvarov  yvtoQi^wraTtjv  xe  yäg  ävayxatov 
tlvai  x^v  totavxriv  xal  iyvnod-etov^  §v  yä^  ävayxatov  f/ftv  xov  6xio€v 
iwtivxa  x&v  ovxatv,  xo€xo  oix  vnod^satg,  8  6h  yvoßQl^eiv  ävayxatov  x^ 
oxiolh^  yvwQl^ovxi  xal  fjxeiv  exovxa  ävayxatov  (sie  ist  also  wenigstens 
potentiell  in  aUen  Erkenntnissen  und  „Dingen"  enthalten)  Stt  fikv  ovv  ^ 
zoiavxfi  naodiv  ßeßatfoxaxrj  OQX^f  ö^Xov,  ,..  xo  yag  avxo  &fia  vnaQX^^^ 
TB  xal  fi^  ^na(>x£^v  dSvvaxov  x<p  avxtp  xal  xaxa  xd  avxo. 
Thomas,  Metaph.  IV,  lect.  6  med.  nnd  Sentent.  m,  d.  37,  q.  1,  art.  m,  solntio  n 
ad  2:  Sicut  ib.  (in  specnlativis)  post  primnm  principium  ad  quod  omnia  redn- 
cnntur, ut  dicitur  in  IV  Metaph.  scilicet  quod  affirmatio  et  negatio  non  veri- 
ficatur  de  eodem  (auch:  non  contingit  idem  simul  esse  et  non  esse  secundum 
idem),  ponuntur  alia  prindpia  magis  propinqua  particularibus  conditionibus, 
ita  etiam  in  lege  praeter  dilectionem  praximi  oportuit  poni  aliqua  specialia 
praeeepta.  Vgl.  auch  Sum.  theol.  I,  n  94,  2c  und  n,  n  1,  7c.  Die  Formu- 
lierung ist  daher  verschieden,  weil  sie  manchmal  ontologisch,  manchmal 
logisch  gefaßt  ist.  Beide  zugleich  Arist.,  Metaph.  1011  b  16:  iiiel  S*  aSvvaxov 
rrjv  avxUpaciV  8fjia  aXf^d-evea^ai  xaxa  xof}  avxo^,  ipavegov  Sxi  ov6h  xavavxla 
ofia  i^a^;^£cv  ivSixexai  xip  avx^.  Von  Anaxagoras  wurde  dies  Prinzip  ge- 
leugnet; 8.  Anst.,  Metaph.  1012  a  26. 

*)  Daher  liegt  die  Besprechung  des  ersten  Prinzips  dem  Metaphysiker  ob. 


Digitized  by 


Googk 


80 

ihm  nicht  zum  Bewußtsein  kamen  auf  Grund  eines  Irrtums,  der 
ihm  unterliet  Dies  kann  zutreffen,  indem  z.  B.  die  Kontrarietät 
nach  all  ihren  Bedingungen  ihm  nicht  deutlich  0  wurde. 

Die  Aufgabe,  den  Sophisten  zu  tadeln  und  den  Perplexen 
(auf  das  Richtige)  aufmerksam  zu  machen,  fällt  in  allen  Ver- 
hältnissen ausschließlich  dem  Philosophen^)  zu.  Diese  Diskussion 
muß  zweifellos  in  einer  Art  Unterredung  stattfinden.  Diese 
Unterredung  muß  aber  in  einer  Art  Syllogismus  bestehen,  die 
ihre  Konklusion  notwendig  zur  Folge  hat;  oder  sie  ist  in  sich 
selbst  3)  kein  Syllogismus,  der  sein  Ergebnis  notwendig  zur 
Folge  hätte.  Jedoch  wird  sie  vermittels  des  Syllogismus  selbst 
ein  Syllogismus  (d.  h.  die  Unterredung  mit  dem  Sophisten  kann 
in  einem  Syllogismus  formuliert  werden).  Der  Grund  dieser 
Unterscheidung  liegt  darin,  weil  der  Syllogismus,  der  (in  demon- 
strativer Weise)  sein  Ergebnis  zur  Folge  hat,  in  zweifacher 
Weise  in  sich  selbst <)  ein  Syllogismus  ist,  nämlich:  entweder 
ein  Syllogismus,  dessen  Prämissen  in  sich  selbst  evident  und 
zugleich  bei  den  verständigen  Leuten  bekannter  sind  als  die 
Konklusion  —  seine  Zusammensetzung  muß  eine  solche  sein, 
daß  sie  eine  Konklusion  zur  Folge  hat  —  oder  ein  solcher 
Syllogismus,  der  sich  ebenso  verhält  (daß  sich  aus  ihm  eine 
Konklusion  ergibt),  aber  durch  Vermittlung  eines  anderen  Syllo- 
gismus. Er  ist  so  beschaffen,  daß  die  Prämissen  sich  in  der 
Überzeugung  des  Diskutierenden  ebenso  verhalten  (wie  die 
Prämissen  des  ersten  Syllogismus  für  alle  denkenden  Menschen^ 
so  daß  er  das  Ding  zugibt,  auch  dann,  wenn  es  nicht  richtig 
ist.  Wenn  es  aber  richtig  ist,  dann  ist  es  ebensowenig  allgemein 
bekannt,  als  die  Konklusion,  die  jener  nicht  zugibt  Dann  wird 
gegen  seine  Aufstellungen  ein  Syllogismus  konstruiert,  der  richtig 
ist,  d.  h.  entweder  allgemeingtUtig  oder  nur  nach  seiner  Über- 
zeugung annehmbar. 

Kurz:  der  Syllogismus  kommt  dann  zustande,  wenn  seine 
Prinzipien  zugegeben  werden  und  sich  aus  ihnen  ein  Resultat 
notwendig  ergibt  Dieses  wird  dann  auf  Grund  dieser  seiner 
individuellen  Beschaffenheit«^)  ein  Syllogismus.     Es  ist  jedoch 


»)  Wörtlich:  „ihm  nicht  aktueU  wurde". 
>)  d.  h.  dem  Metaphjsiker. 
*)  d.  h.  wohl  dem  materieUen  Wortlaute  nach. 
*)  d.  h.  nach  seinen  notwendigen  Bestandteilen. 
*)  d.  h.  der  inneren  Konsequenz. 


Digitized  by 


Google 


81 

nicht  notwendig,  daß  jeder  Syllogismus  ein  solcher  sei,  der  sein 
Resultat  notwendig  zur  Folge  hat;  denn  sein  Resultat  ergibt 
sich,  wenn  er  (der  Syllogismus,  d.  h.  seine  Prämissen)  als  richtig 
angenommen  ist.  Wenn  aber  das  letztere  nicht  der  Fall  ist, 
kommt  auch  noch  ein  Syllogismus  zustande;  denn  in  ihm  ist 
dasjenige  (solche  Aussagen)  enthalten,  das,  wenn  es  aufgestellt 
und  anerkannt  wird,  die  Konsequenz  notwendig  ergibt.  Wird 
es  jedoch  noch  nicht  allgemein  anerkannt,  dann  folgt  auch  die 
Konsequenz  noch  nicht  notwendig.  Daher  ist  das  esse  syllo- 
gismum  von  größerem  Umfange  als  das  esse  syllogismum,  cuius 
conclusio  sequitur  ex  necessitate.  Dieses  letztere,  daß  der 
Denkakt  ein  Syllogismus  ist,  der  seine  Konsequenz  notwendig 
zur  Folge  hat,  tritt  in  zwei  Arten  auf,  entsprechend  dem,  was 
du  kennen  gelernt  hast.*)  Der  Syllogismus,  der  also  seine  Kon- 
klusion denknotwendig  folgert  kraft  seines  eigenen  Bestandes,^) 
ist  ein  solcher,  dessen  Prämissen  in  sich  allgemein  zugegeben 
(per  se  evident)  und  (logisch)  früher  als  die  Konklusion  sind. 
Was  nun  den  Syllogismus  anbetrifft,  der  durch  einen  ^)  (anderen) 
Syllogismus  zustande  kommt,  so  ist  es  ein  solcher,  dessen 
Prämissen  der  Diskutierende  zugegeben  hat.  Dann  hat  er  seine 
Konklusion  notwendig  zur  Folge.  Es  trifft  sich  nun  sehr  gut,^) 
daß  der  Sophist,  der  sich  in  einen  Disput  verwickelt,  zu  einem 
von  zwei  Dingen  (einem  Dilemma)  hingedrängt  wird,  zum 
Schweigen  und  Aufgeben  der  Diskussion  oder  zum  Zugeständnisse 
mancher  Dinge  ^)  und  zum  Eingeständnisse,  daß  sie  gegen  ihn 
(seine  Stellungnahme)  erwiesen  wurden. 

Widerlegung  des  Skeptikers. 

Der  Perplexe«)  ist  zu  behandeln,')  indem  man  seine 
Zweifel  löst  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  der  Perplexe  aus 
einer  zweifachen  Veranlassung  in  seinen  Zustand  verfallen  ist. 

0  Vgl.  Logik  IV.  und  V.  TeU. 

')  d.  h.  nicht  auf  Grund  eines  anderen  Syllogismus. 

^  Wörtlich:  „durch  den  SyUogismus",  d.  h.  durch  den  eigentlichen,  den 
in  sich  evidenten  SjUogisnius. 

*)  Wörtlich:  „es  ist  wunderhar". 

*)  Sobald  er  nur  eines  zugibt,  nimmt  er  das  Prinzip  des  Widerspruches  an. 

^  d.  h.  der  Skeptiker. 

*)  Das  arab.  Wort  wird  von  dem  Arzte  gebraucht,  der  einen  Kranken 
behandelt. 

Horten,  Dm  Boeh  der  Genesung  der  Seele.  Q 


Digitized  by 


Google 


^ 


82 

Es  verleitete  ihn  entweder  die  Meinungsverschiedenheit  der 
meisten  Philosophen.  Er  sieht  dieselbe  und  ist  Zeuge  von  ihr. 
Seine  Perplexheit  geht  daraus  hervor,  daß  die  Ansicht  jedes 
einzelnen  Philosophen  der  Ansicht  eines  anderen  widerspricht 
der  den  ersten  für  einen  gleichwertigen  Nebenbuhler  hält.  Nach 
seiner  Meinung  ergibt  es  sich  dann  nicht  notwendig,  daß  eine 
der  beiden  Behauptungen  in  größerem  Maße  wahr  sei  als  die 
andere J)  (Der  Sophist  bestreitet  beide  kontradiktorischen  Gegen- 
sätze, der  Skeptiker  stellt  sie  inbezug  auf  die  Wahrheit  gleich.) 
Oder  seine  Perplexheit  geht  daraus  hervor,  daß  er  von  den  er- 
wähnten^) und  bekannten  Philosophen  vernahm,  was  diesen  in 
vorzüglichem  Maße  bekannt  ist  (und  für  evident  gilt),  nämlich 
Reden,  die  sein  Verstand  nicht  mit  klarer  Einsicht  aufnehmen 
kann,  wie  z.  B.  der  Ausspruch  dessen,  der  sagte,  daß  du  dasselbe 
Ding  nicht  zweimal  sehen  kannst,»)  ja  sogar  nicht  ein  einziges 
Mal, 4)  und  daß  kein  Ding  in  sich  selbst  existiert;*)  es  bestehe 
nur  relativ.«)  Wenn  nun  derjenige,  der  solche  Reden  vorbringt, 
durch  Weisheit  bekannt  ist,  so  ist  es  leicht  möglich,  daß  der 
Einfältige  verwirrt  wird  wegen  dieser  Aussprüche.  Drittens 
können  die  skeptischen  Bedenken  dadurch  entstehen,  daß  ver- 
schiedenartige Syllogismen  mit  sich  widersprechenden  Kon- 
klusionen in  seinem  Geiste  zusammenkommen,  unter  denen  er 
keine  als  richtig  auswählen  noch  die  andere  als  schlecht  ver- 
werfen kann.  Der  Philosoph  aber  faßt  die  Einwände  dieser 
Leute  von  zwei  Seiten  an.  Er  löst  die  Zweifel,  in  die  sie  ver- 
fielen, und  weist  dann  auf  das  Richtige  hin;  zwischen  zwei 
kontradiktorischen  Gegenständen  kann  kein  Mittelglied  existieren. 


^)  Heraklit  soU  das  Gesetz  des  Widerspruches  geleugnet  haben.  Arist. 
1005  b  24:  ndivaxov  yoQ  bvnvoCv  tavtov  xmoXafißavsiv  elvat  xal  fiij  eivai, 
xa^&nsQ  xivkq  ol^vxai  XfyBiv  ^HqüocIsitov;  1012  a  24:  foixe  d*  i  fi^v  ^H^a- 
xXslxov  ^.oyoit  Xiyatv  navza  elvai  xal  /mj}  eivaif  cbtavta  äXtf^  TWieTVt  o  6* 
jiva^ayoQOv  elvai  xi  (leta^v  xfjq  avxi^ioewg,  Söxe  navxa  tpevS^, 

•)  d.  h.  berühmten. 

')  Ein  Gedanke  HerakUts.  Arist.,  Metaph.  1010  a  13:  "^HQoxXeixi^  inexifjia 
iinovxi  OTi  6lg  x<p  avxt^  Tioxafup  ovx  iaxiv  ifißfjvai  und  nivxa  ^€l, 

*)  Ausspruch  des  Schülers  Heraklits,  des  Lehrers  Piatos,  Kratyloa. 
Metaph.  1010  a  12:  avxog  y&Q  ^exo  ovo'*  Sna^. 

')  Lehre  der  Eleaten,  besonders  Parmenides'  und  Zenons;  vieUeicht  auch 
Heraklit:  navxa  xtveta^at. 

*)  d.  h.  in  Relation  zum  Menschen.  Protagoras:  nayxopv  xQrifiaxiov 
[itxQOv  avd'Qixmog. 


Digitized  by 


Googl( 


83 

Er  löst  die  vorhandenen  Zweifel,  ind^  er  z.  B.  dem  Skeptiker 
klar  macht,  daß  der  Mensch  ein  (dem  Irrtum  unterworfener) 
Mensch  ist,  nicht  ein  Engel;  und  trotzdem  ergibt  sich  nicht 
notwendig,  daß  alle  sich  gleichstehen  in  der  Relation,  i)  noch 
auch  daß  der  eine  Ausspruch,  wenn  er  richtiger  als  ein  anderer 
ist,  bezüglich  eines  bestimmten  Dinges,  dem  anderen  nach- 
stehen kann  in  der  Wahrheit  rücksichtlich  eines  anderen  Gegen- 
standes. Femer  ist  bekannt,  daß  die  meisten,  die  sich  als 
Philosophen  gebärden,  die  Logik  zwar  erlernen,  sie  aber  nicht 
anwenden  und  letzthin  in  der  Diskussion  zum  natürlichen  Ver- 
stände zurückkehren.  Mit  diesem  galoppieren  sie  dahin,  ohne 
daß  sie  die  Zügel  straff  anziehen  und  das  wilde  Roß  bändigen. 
Femer  möge  der  Skeptiker  bedenken,  daß  manche  vorzüglichen 
Philosophen  sich  in  unverständlichen  und  geheimnisvollen  Worten 
ausdrücken  oder  auch  deutliche  Reden  führen,  die  entweder 
höchst  bedenklich  oder  sogar  ganz  falsch  sind.  Dabei  verfolgt 
der  Betreffende  aber  einen  heimlichen  Zweck.  Doch  nicht  nur 
die  Scheinphilosophen,  auch  die  meisten  Grelehrten  und  sogar  die 
Propheten,  die  dem  Irrtume  und  der  Vergeßlichkeit  in  keiner 
Weise  ausgesetzt  sind,  befolgen  dieselbe  Methode.  Durch  diese 
Überlegungen  beschwichtigt  der  Perplexe  die  Unruhe  seines 
Herzens,  die  entstanden  war  infolge  der  Sätze,  die  die  Gelehrten 
als  Leugner  der  Wahrheit  aufgestellt  haben. 

Widerlegung  der  Sophistik. 

Diesem  schließen  wir  eine  Belehmng  an,  indem  wir  be- 
haupten: wenn  du  vemünftig  sprichst,  so  beabsichtigst  du  mit 
deinen  Worten  entweder  irgend  ein  individuelles  Ding  zu  be- 
zeichnen oder  nicht  Wenn  nun  der  Gegner  sagt:  „indem  ich 
rede,  will  ich  kein  Ding  bezeichnen",  2)  so  weicht  er  von  dem 
Gebrauche  der  vemünftig  denkenden  Menschen  und  auch  der 
Skeptiker  ab.  3)  Der  Zustand  seiner  Seele  ist  anormal  Die 
Unterredung  mit  einem  solchen  Sophisten  ist  aber  nicht  in  dieser 
(der  gewöhnlichen)  Weise  zu  führen.   Wenn  er  aber  sagt:  „wenn 


*)  Je  nach  der  Beziehong  und  Intention  der  Lehren  bedeuten  die  gleichen 
Worte  yerschiedenes  (secundnm  diversa). 

•)  Wörtlich:  „verstehe  ich  kein  Ding". 

^  CJod.  c  (H.:  Br  tritt  damit  in  die  Klasse  der  sich  hartnackig  (gejafen 
die  Wahrheit)  verschließenden. 

6* 


Digitized  by 


Google 


I 

ich  eine  verständliche  Rede  spreche,  so  bezeichne  ich  mit  dem  / 
Worte  jedes  beliebige  Ding",  so  weicht  er  ebenfalls  ab  von 
dem  Gebrauch  der  richtig  denkenden  Menschen.  Wenn  er  aber 
sagt:  „wenn  ich  rede,  so  vei-stehe  ich  mit  dem  Worte  ein 
individuelles  Ding  oder  bestimmt  definierte  Gegenstände",  so 
gebraucht  er  in  jedem  Falle  einen  Ausdruck  in  der  Bedeutung 
von  individuellen  Dingen,  ohne  daß  in  diese  Bedeutung  eine 
fremde  eindränge  (und  sie  undeutlich  machte).  Wenn  nun  diese 
(von  dem  Sophisten  bezeichnete)  Vielheit  von  Gegenständen  in 
einem  einzigen  Begriffe  übereinstimmt,  so  bedeutet  der  Ausdruck 
auch  einen  einzigen  Begriff.  Wenn  es  sich  aber  nicht  so  verhält, 
so  ist  das  Wort  universell.»)  Es  kann  konsequenterweise  für 
jedes  einzelne  Ding  dieser  Summe  als  Name  besonders  gebraucht 
werden.  Dieses  gibt  jeder  zu,  der  richtig  denkt.^)  Bedeutet  der 
Name  nun  ein  einziges  Ding,  wie  z.  B.  homo,  dann  bezeichnet 
er  in  keiner  Weise  den  non-homo,  d.  h.  alles,  was  verschieden 
ist  von  homo;  denn  dasjenige,  was  das  Wort  homo  bezeichnet 
ist  etwas  anderes  als  dasjenige,  was  das  Wort  non-homo  bedeutet 
Wenn  daher  das  Wort  homo  auch  den  non-homo  bezeichnet,  so 
ist  notwendigerweise  der  Mensch,  der  Kahn,  der  Stein  und  der 
Elefant  ein  und  dasselbe  Ding;  ja,  es  (d.  h.  das  Wort  homo)  be- 
deutet sogar  das  Weiße  und  Schwarze,  das  Schwere  und  Leichte, 
kurz  alles,  was  außerhalb  des  Begriffes  Mensch  liegt.  Ebenso 
(wie  das  Wort)  verhielte  sich  das,  was  man  unter  diesen  Aus- 
drücken versteht.  Daraus  ergäbe  sich,  daß  jedes  beliebige  Ding 
auch  jedes  beliebige  andere  wäre,  daß  femer  keines  von  den 
Dingen  mit  sich  selbst  identisch  sein  könnte  und  daß  keine  Rede 
einen  Sinn  hätte. 

Femer  könnten  zwei  Fälle  eintreten.  Entweder  verhielt« 
sich  auf  diese  Weise  jedes  Wort  und  alles,  was  mit  einem 
solchen  bezeichnet  wird,  oder  nur  ein  Teil  dieser*)  Dinge  be- 
säßen diese  bestimmte  Eigenschaft,*)  ein  anderer  Teil  eine 
andere.  Wenn  dieses  aber  bei  allen  Gegenständen  zutrifft,  dann 
gibt  es  keine  Rede,  keine  Auseinandersetzung,  ja  sogar  keinen 
Zweifel  mehr,  noch  auch  einen  Beweis.    Wenn  aber  bei  einigen 

*)  Cod.  c  Gl.:  „ein  terminologisch  UniverseUes". 
•)  Wörtlich:  „der  sich  auf  dem  richtigen  Wege  befindet"*. 
•)  d.  h.  der  irdischen  Dinge. 

*)  Diese  besteht  darin,  daß  die  Dinge  keine  ihnen  eigentümliche  Be- 
stimmung besäßen. 


Digitized  by 


Googl( 


85 

Dingen  die  affirmative  und  negative  Aussage  sich  unterscheidet, 
bei  anderen  Dingen  aber  nicht,  so  ist  notwendigerweise  in  der 
l^ategorie  der  Dinge,  wo  sich  die  Aussagen  unterscheiden,  das, 
was  man  mit  homo  bezeichnet,  verschieden  von  dem,  was  non- 
homo  bedeutet.  In  der  Kategorie  aber,  in  der  sich  die  Dinge, 
^de  z.  B.  das  Weiße  und  nicht  Weiße,  nicht  unterscheiden,  ver- 
hielten sie  sich  wie  ein  und  dasselbe.  Jedes  Ding,  das  nicht 
weiß  ist,  ist  dann  weiß  und  umgekehrt,  jedes  Ding,  das  weiß 
ist,  ist  zugleich  nicht  weiß.  Wenn  demnach  homo  einen  Begriff 
wiedei^bt,  ist  dieser  ein  distinkter  (deutlicher).  Wenn  der 
Mensch  dann  weiß  ist,  so  wäre  er  auch  nicht  weiß,  nämlich 
derjenige,  der  mit  dem  Weißen  ein  und  dieselbe  Person  bildet. 
Ebenso  verhielte  sich  der  non-homo.  Ein  anderes  Mal  würde 
es  sich  dann  ereignen,  daß  homo  und  non-homo  nicht  verschieden 
wären.  Dieses  und  ähnliche  Dinge  verscheuchen  die  Krankheit 
des  Perplexen,  der  den  richtigen  Weg  sucht,  indem  sie  ihn  be- 
lehren, daß  Behauptung  und  Verneinung  nicht  zugleich  (in  einem 
Subjekte)  bestehen  können,  noch  zugleich  wahr  sind.  Auf  diese 
Weise  ist  es  zugleich  einleuchtend,  daß  sie  beide  ebensowenig 
zugleich  zu  verneinen,  noch  auch  zugleich  als  falsch  zu  be- 
zeichnen sind.  Denn  wenn  beide  zu  gleicher  Zeit  als  falsch 
hingestellt  werden  inbezug  auf  ein  Ding,  dann  ist  dieses  Ding 
z.  B.  weder  homo  noch  non-homo,  und  daher  würden  beide,  sowohl 
homo  als  auch  non-homo,  seine  Verneinung,  in  einem  Dinge  ver- 
einigt   Dieses  aber  wurde  als  Falsch  angedeutet. 

Diese  und  ähnliche  Dinge  bedürfen  nicht  der  langen  Aus- 
einandersetzung. Wir  können  den  Skeptiker  aber  wieder  auf 
den  richtigen  Weg  bringen  durch  die  Lösung  der  Schwierig- 
keiten, die  aus  den  Syllogismen  des  Skeptikers  sich  ergeben  und 
zueinander  in  Opposition »)  stehen.  Gegen  den  böswilligen  Nörgler 
aber  müssen  wir  das  Feuer  in  Anwendung  bringen,  wenn  das 
Feuer  und  das  Nicht-Feuer  ein  und  dasselbe  sind.  Wir  müssen 
ihm  Schmerz  zufügen,  indem  wir  ihn  schlagen,  wenn  der  Schmerz 
und  der  Nicht-Schmerz  ein  und  dasselbe  sind.  Wir  müssen  Speise 
and  Trank  von  ihm  fernhalten,  wenn  das  Zusichnehmen  von  Speise 
und  Trank  und  das  Sichenthalten  von  beiden  ein  und  dasselbe  sind. 

Dieses  also  (daß  Affirmation  und  Negation  sich  ausscbließen) 
ist  das  Prinzip,  das  wir  gegen  seine  Leugner  verteidigt  haben. 

*>  Es  sind  die  sich  nfiderstreitenden  Lehi*eii  der  Philosophen. 


Digitized  by 


Google 


86 

Es  ist  das  ei*ste  Prinzip  der  Beweise.  Den  Metaphysikern  lie^ 
es  ob,  dasselbe  zu  verteidigen.  Die  Prinzipien  der  Bewei^ 
führen  hin  zur  Kenntnis*)  der  Demonstrationen;  die  Demori- 
strationen verleihen  das  Wissen  von  den  wesentlichen  Bc'- 
Stimmungen  (wörtlich:  den  Akzidenzien)  ihrer  Substrate,  üii 
Kenntnis  der  Substanz  dieser  Substrate,  die  wir  früher^)  dai- 
getan  haben,  wird  allein  durch  die  Definition  klar  erkannt 
Auch  diese  muß  der  Philosoph  also  an  dieser  Stelle  (d.  h.  in 
der  Metaphysik)  zur  deutlichen  Erkenntnis  bringen.  5)  Daher 
muß  diese  einheitliche  Wissenschaft  von  zwei  Dingen  zu  gleicher 
Zeit  handeln*)  (den  Beweisen  und  den  Prinzipien  der  Beweise; 
den  Akzidenzien  und  der  Substanz).  Dagegen  erhebt  man 
manchmal  eine  Schwierigkeit,  indem  man  sagt:  wenn  diese 
Wissenschaft  (die  Metaphysik)  von  den  beiden  genannten  Dingen 
handelt,  indem  sie  dieselben  definiert  und  ihren  Begriff  aufstellt^ 
so  ist  dies  dasselbe  Objekt,  von  dem  auch  der  mit  in  einer 
partikulären  Wissenschaft^)  Beschäftigte  handelt.  Wenn  der 
Metaphysiker  aber  von  beiden  handelt,  indem  er  Aussagen  auf- 
stellt, so  wird  die  Diskussion  über  beide  einen  demonstrativen 
Charakter  annehmen  müssen.  Darauf  erwidern  wir,  daß  die- 
jenigen Gegenstände,  die  (formelle)  Objekte  anderer  ^\'issen- 
schaften  sind,  akzidentelle  Objekte  werden  für  die  Metaphysik; 
denn  dieselben  sind  Zustände,  die  dem  Seienden*)  zukommen  und 
seine  Arten  bilden.  Daher  wird  dasjenige,  was  in  einer  anderen 
Wissenschaft  nicht  bewiesen  wird,  hier  behandelt.  Femer  wenn 
man  abstrahiert  von  einer  anderen  Wissenschaft  und  diese 
Wissenschaft  (inbezug  auf  ihr  Objekt)  in  Substanz  und  Akzi- 
denzien einteilt,  die  ihr  besonders  zukommen,  dann  ist  diese 
Substanz,  die  das  (formelle)  Objekt  für  eine  beliebige  Wissen- 
schaft ist,  oder  die  Substanz  im  allgemeinen  nicht  das  (formelle) 
Objekt  der  Metaphysik,  sondern  nur  ein  beliebiger  Teil  ihres 
(formeUen)  Objektes.  Daher  ist  die  Substanz  in  gewisser  Weise 
ein  „Akzidenz"  für  die  eigentliche  Natur  des  formellen  Objektes 


0  Wörtüch:  „nützen". 

«)  Vgl.  Logik  n,  Teil  I,  3—6. 

*)  Wörtlich:  „aktueU  (erkannt)  machen". 

*)  Cod.  c  GL;  „d.  h.  dem  Begriffe  und  der  Aussage". 

*)  Die  Metaphysik  ist  dieser  gegenüber  die  uniyerselle  Wissenschaft. 

•)  Das  Seiende  ist  per  se  Objekt  der  Metaphysik. 


Digitized  by 


Google 


87 

der  Metaphysik,  nämlich  des  Seienden, ^)  wenn  nämlich  diese 
Substanz  olme  Hinzutreten  eines  anderen  Dinges  der  Natur  des 
Seienden  in  der  Weise  zukommt,  daß  sie  mit  ihm  verbunden  ist 
oder  das  Seiende  selbst  ausmacht  Denn  das  Seiende  ist  eine 
gewisse  Natur,  die  von  jedem  Dinge  ausgesagt  werden  kann, 
sei  es  nun,  daß  dieses  Ding  eine  Substanz  ist  oder  etwas  anderes. 
Das  Ding  ist  nämlich  nicht  deshalb  Substanz  oder  eine  beliebige 
Substanz  oder  ein  Substrat,  weil  es  ein  Seiendes  ist  entsprechend 
den  früheren  Ausführungen.^)  Trotz  alle  diesem  ist  die  Unter- 
suchung über  die  Prinzipien  der  Begriffsbildung  und  der  Definition 
selbst  keine  Definition,  noch  Begriffsbildung,  und  ebensowenig  ist 
die  Untersuchung  über  die  Prinzipien  des  Beweises  selbst  ein 
Beweis.3)  Dann  würden  beide  naturgemäß  sich  unterscheidende 
Untersuchungen  ein  und  dieselbe  werden. 


^)  Das  Seiende  ist  nicht  notwendig  Substanz.  In  diesem  Sinne  ist  ihm 
das  esse  sabstantiam  akzidenteU. 

*)  Dann  könnte  das  Seiende  nur  Substanz,  nicht  Akzidens  sein.  Über 
die  körperUche  Substanz  handelt  die  Naturwissenschaft  I,  Teil  I,  6  und  die 
Logik  n,  Teil  1, 3.  6;  DI,  1—3. 

')  Die  Untersuchung  über  den  Beweis  ist  nicht  derselbe  Beweis,  der 
auch  Objekt  der  Untersuchung  ist.  Avicenna  will  den  Vorwurf  des  circulus 
vitiosus  vermeiden;  der  Nachweis  der  Prinzipien  des  Beweises  setzt  dieselben 
bereits  als  allgemein  angenommen  voraus. 


Digitized  by 


Google 


Zweite  Abhandlung. 


Erstes  Kapitel. 

Die  Definition  der  Substanz  und  ihre  Arten.    Eine  allgemeine 
Darlegung  0  des  Problems. 

Daher  lehren  wir:  die  dem  Dinge  anhaftende  Existenz 
kommt  ihm  manchmal  in  und  durch  sich  selbst  zu,*)  wie  die 
Existenz  des  Menschen  als  eines  Menschen')  manchmal  per 
accidens,  wie  die  Existenz  der  weißen  Farbe.  Die  Dinge,  die 
per  accidens  sind,  können  nicht  definiert,  d.  h.  in  Grenzen  ein- 
geschlossen*) werden.  Daher  wollen  wir  diese  für  jetzt  beiseite*) 
lassen  und  uns  mit  dem  Sein<J)  beschäftigen,  nämlich  dem  Sein, 
das  in  se  und  per  se  (jedoch  nicht  a  se)  existiert.  Dieser  Aus- 
führung schicke  ich  die  Einteilung  voraus,  in  die  die  per  se 
existierenden  Dinge  zerfallen.    Letzteres  ist  die  Substanz;  denn 

')  Die  Darlegung  im  einzelnen  s.  folgende  Kapitel. 

')  Dann  existiert  es  nicht  in  einem  subjectum  inhaesioni«,  sondern  in 
se  und  per  se. 

•)  VgL  Thomas  c.  gent.  I,  25 :  substantia  e^t  res  cui  convenit  e^se  non 
in  subiecto;  Sum.  theol.  1,3.5  ad  1:  substantiae  nomen  significat  essen tiam 
cui  competit  „sie"  esse  id  est  per  se;  ib.  HE  77, 1  ad  2 :  non  est  definitio  sub- 
stantiae, ens  per  se  sine  subiecto,  sed  quidditaü  seu  essentiae  substantiae 
competit  habere  esse  non  in  subiecto;  Arist.  Kategorien  2a  10:  ovaia  St  ^iv 
rl  xvQidzctta  ts  xal  TiQcizwg  xcd  iia).ioxa  Xiyofdvri,  §  ^j/te  xa^'  vTtoxeifidvov 
tivog  Xtyszai  fiiir*  iv  vnoxsifjiivip  tivi  ictiv,  olov  o  tiq  avB^amog  ^  6  zig 
Tjmog,  Das  im  Texte  erwähnte  Beispiel  bezeichnet  ebenfalls  den  individueUen 
Menschen. 

*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  können  nicht  aufgezählt  werden",  weil  sie  negativ 
unendlich  an  Zahl  sind,  indem  sie  sich  in  stetem  Wechsel  ablösen. 

*)  Das  Akzidens  wird  Abb,  IH  besprochen. 

•)  Dem  Sein,  das  in  erster  Linie  ein  Wirkliclies  Ist,  die  Substanz,  /}  oittla 
7^  TiQonn, 


Digitized  by 


Googl( 


89 

das  Wirkliche  zerfällt  in  zwei  Teile.  Der  eine  wird  gebildet 
durch  das  Ding,  das  in  einem  anderen  existiert,  indem  jenes 
andere  Ding  (das  Substrat)  in  sich  selbst  im  Vollbesitze  sowohl 
des  Bestehens  als  auch  seiner  Art  ist.  Das  erste  existiert  dann 
in  diesem  zweiten  nicht  etwa  so,  wie  die  Existenz  eines  Teiles 
(in  dem  zweiten  wie  in  einem  Ganzen),  ohne  daß  es  jedoch 
deshalb  von  den  anderen  getrennt  werden  könnte.  Dieses  ist 
dasjenige  Sein,  das  in  einem  Substrate  existiert.»)  Den  zweiten 
Teil  des  Wirklichen  bildet  das  Sein,  das  nicht  in  irgend  einem 
anderen  Dinge  in  der  eben  angegebenen  Weiset)  existiert. 
Daher  existiert  es  durchaus  nicht  in  einem  Substrate.  Dies  ist 
die  Substanz.3)  Wenn  nun  das  als  erster  Teil  des  Seienden  be- 
zeichnete Wirkliche  (das  Akzidens)  in  einem  Substrate  existiert, 
so  muß  folglich  auch  dieses  Substrat  notgedrungen  zu  einem 
von  beiden  Teilen  des  Wirklichen  gehören  (entweder  zu  der 
Kategorie  des  Akzidens  oder  der  der  Substanz).  Wenn  daher 
das  Substrat  eine  Substanz  ist,  dann  findet  also  das  Bestehen 
des  Akzidens  in  einer  „Substanz"  statt.  Ist  aber  das  Substrat 
keine  Substanz,*)  dann  muß  es  seinerseits  ebenfalls  in  einem 
Substrate  sein  (denn  nur  das,  was  Substanz  ist,  besteht  nicht 
in  einem  Substrate),  und  auf  diese  Weise  kehrt  die  Untersuchung 
zum  Ausgangspunkte  zurück  (indem  dann  für  dieses  Substrat 

*)  Siehe  Thomas,  Sum.  theol.  11177,1  ad  2:  non  est  definitio  accidentis 
„ens  in  suhiecto"  sed  quidditati  sive  essentiae  accidentis  competit  habere  esse 
in  sabiecto;  ib.  I  90,2c:  accidens  dicitnr  magis  entis  ens  quam  ens;  Arist. 
Kategorien  lb20:  Twv  Svtojv  xa  fjkv  xad^  vnoxei/itvov  tivog  ^Jyezai,  ^v  imo- 
xttfdvip  ÖS  ovSbvI  iativ  , , ,  ta  Sh  iv  vnoxeifxevqf  fdv  iouy  xad-*  iiwxHiikvov 
Sk  ovSevog  Xeyixatf  iv  inoxstfdvqf  6h  X^yto^  8  tv  xivi  fiij  dg  fd^og  vn&QXov 
aSvvaxov  ywglg  eivai  xo€  iv  <p  iaxiv.  Die  Definition  Avicennas  ist  die  Über- 
setznng  dieser.  Thomas  betont  nicht  so  sehr  das  wirkUche  Inhärieren  als  die 
Mögüchkeit  und  Fähigkeit  dazu.    Vgl.  weiter  Arist.  ib.  2  a  12. 13,  3  a  7— 9. 

*)  sicut  in  snbiecto  inhaesionis. 

')  Die  snbstantia  prima,  das  Einzelding. 

*)  Das  erste  Akzidens  existiert  dann  in  einem  anderen  Akzidens.  Vgl. 
dazu  Thomas,  Sum.  theol.  I  50, 2  ad  2:  Accidens  per  se  non  potest  esse 
subiectum  accidentis;  sed  quia  etiam  in  ipsis  accidentibus  est  ordo  quidam, 
subiectum  secundum  quod  est  sub  uno  accidente,  intelligitur  esse  subiectum 
alterius  et  sie  dicitur  unum  accidens  esse  subiectum  alterius,  nt  superficies 
coloris,  et  hoc  modo  potest  potentia  esse  subiectum  habitus.  Ein  Akzidens 
kann  also  nur  auf  Grund  und  kraft  der  Substanz  Subjekt  eines  anderen 
Akzidens  werden,  da  sie,  wie  Avicenna  im  folgenden  lehrt,  dem  Akzidens  das 
Sein  verleiht. 


Digitized  by 


Googk 


90 

sich  wiederum  die  Frage  stellt,  ob  es  Substanz  oder  Akzidens 
sei).  Nun  aber  ist  es  unmöglich,  daß  dieses  (das  Inhärenz- 
verhältnis  des  Akzidens  zum  Subjekte  und  die  Untersuchung 
darüber)  ohne  Ende  fortschreitet  (ohne  daß  ein  letztes  Substrat 
bestände),  wie  wir  es  in  ähnlichen  Untersuchungen  eingehend 
beweisen  werdend)  Das  letzte  Glied  muß  daher  notwendig  in 
einem  Dinge  sein,  das  selbst  nicht  wiederum  in  einem  Substrate 
ist,  und  daher  muß  es  in  einer  Substanz  haften.  Es  ist  folglich 
die  Substanz,  die  es  dem  Akzidens  ermöglicht^  real  zu  existieren,*) 
ohne  daß  sie  selbst  aber  durch  das  Akzidens  ihr  Bestehen  er- 
hielte. Daher  Lst  die  Substanz  das  im  Dasein  vorausgehende. 
Was  nun  aber  das  Problem  angeht,  ob  ein  Akzidens  in  einem 
anderen  Akzidens  inhärieren  könne,  so  soll  dieses  (in  obiger 
Argumentation)  durchaus  nicht  geleugnet  sein;  denn  in  dieser 
Weise  inhäriert  z.  B.  die  Schnelligkeit  in  der  Bewegung,  die 
gerade  Richtung  in  der  Linie  und  die  zweidimensionale  (Jestalt 
der  Fläche  (als  Grenze)  in  dem  einfachen^)  Körper.  Ein  weiterer 
Beweis  für  dieses  doppelte  Inhärenzverhältnis  liegt  femer  dann, 
daß  die  Akzidenzien  zurückgeführt  werden  auf  die  Einheit  und 
Vielheit.  Solche  (metaph3\sischen)  Begriffe  aber  (wie  die  zwei 
letztgenannten)  sind,  wie  wir  später  auseinandersetzen  werden,*) 
alle  eigentliche  Akzidenzien  (und  in  diesen  inhärieren  wiederum 
andere  Akzidenzien).  Nun  aber  befindet  sich  das  Akzidens, 
selbst  wenn  es  einem  anderen  Akzidens  inhäriert,*)  gemeinsam 
und  zugleich  mit  diesem  in  einem  Substrate.  Zugleich  aber  ist 
das  Substrat  in  Wirklichkeit  dasjenige,  das  beiden  zusammen 

*)  Die  Absicht  Avicennas  ist  die,  zn  beweisen,  daß  Substanzen  existieren. 
£r  folgt  darin  der  Aristotelischen  Methode,  daß  vor  aUer  Untersachong  über 
Wesen,  Eigenschaften  und  Ursachen  eines  Gegenstandes  die  Frage  el  SaT^  ob 
er  existiert,  zu  erledigen  ist.  Siehe  Arist.,  Analyt.  n  89  b  23;  Thomas  y.  Aqoin, 
Analyt.  TL  2,  lect  1;  Metaph.  7,  lect  17. 

')  Sie  verleiht  dem  Akzidens  das  „Bestehen"  (muqawwim). 

^  VieUeicht  ist  basit,  „einfach",  hier,  entsprechend  der  Bedeutung  der 
Wortwurzel,  mit  „ausgebreitet"  wiederzugeben.  Die  Fläche  haftet  in  der 
Quantität  und  diese  ihrerseits  in  der  Substanz.  Ebensogut  wie  die  Quantität 
sind  auch  Bewegung  und  Linie  Akzidenzien.  In  allen  drei  angezählten 
FäUen  ist  also  das  Inhärenzverhältnis  ein  doppeltes. 

*)  Siehe  Abh.  m,  2—6. 

^)  Zu  dem  accidens  accidentis  vgl.,  abgesehen  von  den  eben  zitierten 
Worten  von  Thomas,  Arist.  Phys.  195 hl:  fon  ^  xal  xmv  ovfißeßrjxotmr 
u?J.a  äXXixtv  7iOQQ<utt(fOv  xal  iyytUQov;  ib.  1014  a  4  und  Metaph.  1017  a  19: 
za  iJUiV  ovv  xaxa  ovtißeßrixoq  blvai  ktyoiitva  ofkw  Uytxai  §  &iixi  r<p  ovt^ 


Digitized  by 


Googk 


91 

ihr  Bestehen  verleiht,  während  es  selbst  in  se  und  per  se  sub- 
sistiert.  Viele  von  denjenigen,  die  vorgeben,  die  Wissenschaft 
zu  besitzen,»)  behaupten,  es  sei  möglich,  daß  irgend  ein  Ding 
Substanz  und  Akzidens  zugleich  sei,  wenn  man  es  nämlich  in 
zwei  verschiedenen  Beziehungen  auffasse.  In  diesem  Sinne  lehrte 
(en-Nazzäm)  man,  die  Hitze  sei  freilich  ein  Akzidens,  wenn  sie 
einem  anderen  Körper  als  dem  des  Feuers  anhafte.  In  der 
Masse^)  des  Feuers  jedoch  ist  sie  nicht  Akzidens  (sondern  gilt 
als  Substanz  und  selbständiges  Element);  denn  in  ihm  existiert 
sie  nach  Art  des  Teiles.^)  Sie  kann  femer  nicht  von  dem  Feuer 
entfernt  werden,  indem  zugleich  das  Feuer  in  seinem  ganzen 
Wesen  bestehen  bliebe.  Daher  existiert  sie  im  Feuer  nicht  in 
der  Weise  des  Akzidens,  das  in  einer  Substanz  existiert.  Wenn 
daher  die  Existenzweise  der  Hitze  im  Feuer  nicht  die  eines 
Akzidens  ist,  dann  muß  sie  die  der  Substanz  sein.  Dies  ist  aber 
ein  großer  Irrtum.  Über  ihn  haben  wir  bereits  hinlänglich  ver- 
handelt zu  Anfang  der  Logik,*)  obwohl  jener  nicht  der  geeignete 
Ort  war.s) 

ovtt  afitpw  vni^x'^i  5  ^"^^  ^*'^^  ixtivot  v:iu^j(^i,  rj  oti  avxo  iouv  (p  vnaQ'/jti 
ov  avto  xcaijyogettcci,  —  Gorgäni  definiert  (ed.  Flügel  S.  149):  „Das  Akzidens 
eines  Dinges  ist  dasjenige,  was  von  ihm  ansgfesagt  wird,  indem  es  sich  außerhalb 
seines  Wesens  befindet.  Der  Begriff  »accidens'  hat  einen  weiteren  Umfang  als 
der  des  accidens  universaliter  samptnm;  denn  in  letzterem  Sinne  sagt  man 
auch,  die  Substanz  sei  Akzidens  in  dem  Sinne,  wie  die  Wesensform  (die  im 
uneigentlichen  Sinne  Substanz  ist)  der  ersten  Materie  ,accidit^  Sie  wird 
aber  nicht  im  eigentlichen  Sinne  als  Akzidens  bezeichnet".  —  Hawärizmi  (S.  142) 
definiert:  „Das  Akzidens  ist  dasjenige,  wodurch  ein  Ding  (Individuum)  sich 
von  dem  anderen  unterscheidet,  und  zwar  nicht  in  seinem  Wesen  wie  weifi 
und  schwarz,  Hitze  und  Kälte".  F&rüqi  1745  t  (S.  986):  „Akzidens  bezeichnet 
bei  den  Mutakallimfin,  den  Gelehrten  und  anderen  das,  was  der  Substanz 
gegenübersteht  (als  zweiter  Teil  des  Seienden).  Auch  das  Universelle,  das 
von  dem  Dinge  der  Aufienwelt  prädiziert  wird,  nennt  man  Akzidens". 

*)  Es  ist  eine  Gruppe  der  Mutaziliten  gemeint,  die  Nazz&mlja,  die  mit 
en-Nazzam  lehrten,  einige  Akzidenzien,  z.  B.  das  Wasser,  das  das  Kleid 
feucht  madit,  seien  Substanzen.  Sie  woUten  damit  die  AufsteUungen  der 
Philosophen  verbessern  und  vertiefen.  Vgl.  Avicenna:  Logik  H,  Teil  I,  Kap.  6. 

')  Diese  wird  als  per  se  existierend  gedacht,  also  als  Substanz. 

*)  Die  Definition  des  Akzidens  besagt,  dafi  dasselbe  ein  Wirkliches  sei, 
das  in  einem  anderen  inhäriere,  jedoch  nicht  nach  Art  der  Inhärenz  des 
Teiles  im  ganzen. 

*)  Logik  n,  TeU  DG,  in  1—3. 

^)  Die  Logik  hat  nur  über  die  begriffliche,  nicht  die  reale,  ontologische 
Seite  der  psychischen  Inhalte  zu  verhandeln,  und  diese  letztere  Seite  kommt 


Digitized  by 


Googk 


92 

In  dieser  einzigen')  Frage  jedoch  irrten  jene  Philosophen, 
und  daher  erwidern  wir  ihnen:  aus  dem  früher  Erwähnten-) 
ist  klar,  daß  zwischen  dem  aufnehmenden  Prinzipe  (z.  B.  d^n 
Subjekte  der  Inhäsion)  und  dem  (realen)  Substrate^)  ein  Unter- 
schied besteht.  <)  Denn  das  Substrat  bedeutet  dasjenige,  was 
durch  sich  und  seine  Art  Bestand  hat  (und  daher  selbst  Substanz*) 
ist).  Es  wird  sodann  zur  Ursache  dafür,  daß  durch  seine  Ver- 
mittlung ein  Ding  existiert,  das  „in"  dem  Substrate  vorhanden 
ist,  und  zwar  nicht  so  wie  ein  Teil  im  Ganzen.  Das  aufnehmende 
Prinzip  jedoch  ist  jedes  (irgendwie)  Wirkliche,  in  welchem  ein 
anderes  Wirkliche  vorhanden  ist  (wörtlich:  in  dem  sich  ein  anderes 
niederläßt).  Durch  dieses  Wirkliche  tritt  das  aufnehmende  Prinzip 
folglich  in  einen  gewissen  Zustand  des  Seins  ein  (durch  den  ^ 
Subjekt  des  anderen  ist),  und  daher  ist  es  nicht  unmöglich,  daß 
ein  Ding  in  dem  aufnehmenden  Prinzipe  real  existiere,  während 
zugleich  dieses  Prinzip  nicht  durch  sich  selbst  eine  Art  (Wesen- 
heit) darstelle,  die  (wie  die  Substanz)  in  sich  subsistiere  und 
aktuell  vollendet  sei/)  sondern  es  ist  möglich,  daß  die  Subsistenz 
dem  Substrate  (der  materia  prima)  nur  von  demjenigen  zukomme, 
das  „in"  ihm  existiert,  oder  auch,  daß  sie  ihm  zukomme  in  Ver- 


hier  ausschUeßlich  in  Betracht.  Das  Problem  ist  also  ein  metaphysisches, 
kein  logisches. 

*)  Darin  liegt  eine  wohlwoUende  Anerkennung  der  Mntazüiten.  Der 
Text  hat  deutlich  innama  =  nur. 

«)  Vgl.  Logik  n,  Teil  14— 6,  1114,  IV,  V,  VI  und  Avicenna,  Definitionen 
gedr.  Konstantinopel  1298  d.  H.  S.  60  und  61. 

5)  FärüqS  (Dictionary  S.  352)  definiert:  „Das  aufnehmende  Prinxip 
(wörtlich:  der  Ort)  bedeutet  bei  den  Gelehrten  nur  die  erste  Materie  und  das 
Substrat  (obiect).  Bei  den  Grammatikern  bezeichnet  es  das  Objekt".  Substrat 
(ib.  S.  1487)  bedeutet  viele  Dinge.  1.  Das  Ding,  das  den  Inhalt  eines  Begriffes 
bildet.  2.  Das  Ding,  das  Gegenstand  eines  sinnlichen  Hinweises  (to  zoSe  n 
Arist.  Anal.  II  85  a  34  et  passim)  ist.  3.  Das  Objekt  einer  prädikativen  Aus- 
sage. In  diesem  Sinne  verstehen  die  Logiker  den  Terminus.  4.  Das  Auf- 
nehmende (der  Ort),  der  auf  Grund  seiner  Wesensfülle  ein  Aufgenommenes 
•entbehren  kann,  um  zu  existieren,  also  die  Substanz. 

*)  Cod.  c  Gl. :  „der  Begriff  des  aufnehmenden  Prinzips  ist  umfang- 
reicher" als  der  des  realen  Substrates. 

*)  Die  erste  Materie  ist  daher  kein  „Substrat**,  sondern  nur  ein  auf- 
nehmendes Prinzip  oder  ein  „erstes"  in  sich  unreales  Substrat. 

®)  Avicenna  will  mit  diesen  Ausführungen  zu  dem  Begriffe  der  materia 
prima  und  forma  substantialis  überleiten,  die  nur  im  uneigentlichen  5>inne 
Substanzen^  sind. 


Digitized  by 


Googl( 


93 

bindnng  und  gleiclizeitig  0  mit  einem  (der  Form)  oder  mit  vielen 
anderen  Dingen  (den  Akzidenzien),  die  zu  einer  Einheit  verbunden 
werden.  Diese  bringen  dann  jenes  Ding  zur  aktuellen  Existenz 
oder  machen  es  zu  einer  Species,  die  in  individuo  existiert.  Das 
in  diesem  aufnehmenden  Prinzipe  Existierende  kann  nun  seiner- 
seits ohne  Zweifel  nicht  wieder  in  einem  Substrate  inhärieren. 
Denn  ein  Ding  kann  als  in  einem  anderen  existierend  nur  dann 
bezeichnet  werden,  wenn  es  in  ihm  ist  wie  in  einer  Summe  oder 
in  einem  aufnehmenden  Prinzipe.^)  In  einer  „Summe"  existiert 
ein  Ding  aber  nach  Art  eines  Teiles.  Nun  aber  wird  das  Sub- 
strat als  dasjenige  bezeichnet,  in  dem  ein  Ding  vorhanden  ist, 
ohne  zugleich  Teil  desselben  zu  sein.  In  einem  „aufnehmenden 
Prinzipe"  existiert  femer  ein  Ding  nicht  wie  ein  Wirkliches  in 
einem  anderen  Wirklichen,  so  daß  letzteres  bereits  als  vollendete 
Art  existierte  und  dann  erst  in  zweiter  Linie  dem  Inhärierenden 
das  Bestehen  verliehe.  Vielmehr  haben  wir  dieses  aufnehmende 
Prinzip  als  ein  solches  bezeichnet,  das  nur  dadurch  seine  Sub- 
sistenz  erhält,  daß  das  in  ihm  Aufgenommene  ihm  den  Bestand 
verleiht.  Oder  wir  bezeichneten  es  (mit  Rücksicht  auf  die 
Inhärenzien)  als  ein  solches,  das  durch  das  Aufgenommene  die 
ganze  FüDe  seiner  Artbeschaffenheiten  nur  dann  erhält,  wenn 
diese  in  ihm  dadurch  aktuell  werden  und  auftreten,  daß  sich 
viele  Dinge  zu  eins  vereinigen,  deren  Summe  jene  Art  ausmacht. 
Daher  ist  es  klar,  daß  einige  Dinge  (z.  B.  die  Wesensform),  die 
in  einem  aufnehmenden  Prinzipe,  einem  „ersten"  Substrate  sind, 
sich  dadurch  noch  nicht  zugleich  in  einem  realen  und  selbständigen 
Substrate  befinden. 

Was  nun  den  Beweis  dafür  angeht,  daß  in  der  Tat  dieses 
Ding  existiert,  das  zwar  in  einem  aufnehmenden  Prinzipe  ist, 
ohne  dadurch  schon  in  einem  in  sich  realen  Substrate  zu  sein, 
so  liegt  dieser  uns  ob  kurz  nach  dieser  Ausführung.^)    Wenn 


^)  Das  Sabsistieren  und  das  Dasein  kommt  der  Materie  gleichzeitig  mit 
der  Wesensform  zn,  weil  erst  das  Compositum,  in  dem  die  zusammensetzenden 
Teile  gleichzeitig  sind,  subsistiert. 

*)  Avicenna  hätte  der  Vollständigkeit  wegen  noch  hinzufügen  können: 
„oder  in  einem  realen  Substrate".  Jedoch  übergeht  er  diese  Möglichkeit,  weil 
bei  der  Konstituierung  der  Körper  aus  forma  und  materia  kein  bereits  reales 
Substrat  Yorausgesetzt  werden  kann. 

*)  Siehe  folgendes  Kapitel.  Cod.  c  Gl. :  „Es  ist  die  Wesensform  gemeint". 
Der  Ausdruck  „aufnehmendes  Prinzip"  ist  dem  arabischen  (=  Ort,  wo  etwas 


Digitized  by 


Googk 


94 

wir  seine  Existenz  dartun,  wird  sich  zeigen,  daß  es  sich  um  ein 
Ding  handelt,  das  wir  in  einem  so  beschaffenen  Substrate") 
speziell  mit  dem  Namen  „Wesensform"  bezeichnen,  obwohl  wir 
häufig  andere  Inhalte  in  synonymer  Weise  mit  dem  Namen 
„Wesensform  "2)  benennen.  Wenn  nun  aber  das  Wirkliche,  das 
nicht  in  einem  „realen"  Substrate  seinen  Bestand  hat,  Substanz 
genannt  wird,  so  ist  die  Wesensform  ebenfalls  Substanz.')  Das 
gleiche  gilt  auch  von  dem  aufnehmenden  Prinzipe,  welches  nicht 
in  einem  [anderen  aufnehmenden  Prinzipe  existiert  Von  ihm 
gilt  ebenfalls,  daß  es  nicht  in  einem  realen  Substrate  existieren 
kann;  denn  alles,  was  in  einem  solchen  existiert  (subaltemierter 
Begriff),  ist  damit  zugleich  in  einem  aufnehmenden  Prinzipe  (im 
allgemeinen  Sinne)  aufgefaßt  (subaltemierender  Begriff),  ohne  daß 
eine  conversio  beider  stattfinden  könnte.^)  Daher  ist  das  im 
eigentlichen  Sinne  aufnehmende  Prinzip  (d.  h.  das  allererste  und 
fundamentalste  Substrat)  zugleich  Substanz  und  die  Summe  (die 
aus  diesem  substratum  primum  und  der  forma  substantialis  be- 
steht) ist  ebenfalls  eine  solche. 

Aus  den  Proprietäten,  die  dem  notwendig  Seienden  zu- 
kommen, hast  du  bereits*)  erkannt,  daß  dasselbe  nur  ein 
Einziges  ist  und  daß  das  Ding,  das  Teile  enthält  und  das  der 
Existenz  Gottes  gleichwertig  gegenüberstände«)  (wie  ein  zweiter 
Gott),  nicht  das  notwendig  Seiende  ist.')  Daraus  erkennst  du,  daß 
dieses  (aus  Teilen)  Zusammengesetzte,  wie  auch  alle  diese  Teile 
in  sich  selbst  nur  der  Möglichkeit  nach  seiend  sind  und  daß  sie 


sich  niederläßt)  nachgebildet.  Die  Scholastiker  geben  den  gleichen  Gedanken 
mit  snbstratnm  primom  wieder. 

')  event.  „in  dieser  Diskussion". 

*)  in  dem  Sinne  von  Erkenntnisbild,  das  auch  „forma"  genannt  wird. 

*)  Ihr  Sabstrat  ist  ein  in  sich  Unreales,  die  materia  prima.  Subsistierende 
reine  Wesensformen  sind  die  Gteister. 

*)  Es  folgt  nicht  umgekehrt,  daß  etwas,  das  in  einem  „aufnehmenden 
Prinzip"  ist,  auch  in  einem  realen  Substrate  sei,  wie  die  Wesensform,  deren 
Substrat  die  unreale  Materie  ist. 

»)  Siehe  Abh.  I,  7. 

')  Der  arab.  Ausdruck  bezeichnet:  in  reziprokem  VerhUtnisse  stehen 
wie  Vater  und  Sohn,  doppelt  und  halb  u.  s.  w. 

^  Das  Sein  kann  in  nur  einem  Wirklichen  wesenhaft  sein;  denn  zwei 
identische  Dinge,  die  doch  wiederum  verschieden  wären,  sind  nicht  mög^ch. 
In  aUen  außergöttlichen  Dingen  ist  daher  Wesenheit  und  Dasein  verschieden. 
Vgl.  F&rftb!,  Kingsteine  Nr.  1—5. 


Digitized  by 


Googk 


95 

konsequenterweise  eine  Ursache  haben  müssen,  die  ihre  Existenz 
mit  Notwendigkeit  hervorbringt. 

Daher  lehren  wir  zunächst,  daß  jede  Substanz,  die  also  in 
se  und  per  se  besteht,  9  entweder  corpus  oder  non- corpus  ist. 
Im  letzteren  Falle  ist  sie  entweder  Teil  eines  Körpers  2)  oder 
nicht,  und  dann  ist  sie  von  allen  Körpern  getrennt  oder  trennbar 
(d.  L  unkörperlicher  Natur).  Ist  sie  nun  aber  Teil  eines  Körpers, 
so  stellt  sie  entweder  seine  Wesensform  oder  seine  Materie  dar. 
Ist  sie  aber  unkörperlicher  Natur,  also  nicht  Teil  eines  Körpers, 
so  ist  sie  entweder  mit  einem  solchen  verbunden,  indem  sie  sich 
als  bewegendes  Prinzip  3)  in  den  Körpern  betätigt,  und  wird  dann 
Seele  genannt  (Seele  der  Sphären,  Engel  und  Menschenseele) 
oder  sie  ist  in  jeder  Beziehung  frei  von  der  Materie  und  wird 
dann  als  Geist*)  bezeichnet.  Unser  Bestreben  besteht  darin,  die 
Existenz  und  Natur  jedes  einzelnen  dieser  Teile  darzulegen. 


^)  Dies  YieUeicht  Glosse  von  a. 

*)  Der  Teü  des  Körpers  wird  als  non -corpus  bezeichnet,  weil  unter 
corpus  nur  die  körperliche  Substanz,  die  also  nicht  „Teil  eines  anderen  ist'', 
yerstanden  wird. 

*)  In  diesem  Ausdrucke  zeigt  sich  die  platonische  Auffassung  von  dem 
Verhältnisse  der  menschlichen  Seele  zum  Körper.  Avicenna  wählte  ihn,  um 
die  Seelen  der  Himmelssphären  mitzubezeichnen. 

*)  Die  Gruppierung  dieser  Substanzen  stellt  sich  im  Überblicke  wie 
folgt  dar: 

Substanzen  sind 

I 

i  I 

selbständige  nicht  selbständige 

Gegenstände, Körper  Gegenstände;  diese 


Teile  des  Körpers  nicht  Teile  des  Körpers, 

also  unkörperlich 


I  I  I  I 

Wesensform  erste  Materie       Seele  Geist 


Digitized  by 


Google 


96 


Zweites  Kapitel. 

Die  Bestimmung  des  Wesens  der  körperlichen  Substanz  und  der 
Naturen,  aus  denen  sie  zusammengesetzt  ist. 

An  erster  Stelle  steht  das  Problem  der  Erkenntnis  des 
Körpers*)  und  die  Darlegung  seiner  realen  Wesenheit  Was 
nun  den  Beweis  dafür  anbetrifft,  daß  der  Körper  eine  Substanz 
sei,  und  zwar  eine  einheitliche,  kontinuierliche,  die  nicht  aus 
unteilbaren  2)  Teilen  zusammengesetzt  ist,  so  haben  wir  den- 
selben bereits  abgeschlossen.  3)  Was  nun  weiterhin  die  Be- 
stimmung seines  Wesens  und  seine  Definition  angeht,^)  so  ist  es 
Tradition  der  philosophischen  Schulen,  den  Körper  zu  definieren 
als  eine  Substanz,  der  Länge,  Breite  und  Tiefe  zukommt  Wie 
dieses  zu  verstehen  sei  und  sich  verhalte,  müssen  wir  näher 
betrachten.  (Die  Definition  scheint  unanfechtbar  zu  sein),  jedoch 
bedeutet  jedes  einzelne  dieser  Worte:  Länge,  Breite  und  Tiefe 
mannigfache  Dinge.  Manchmal  verwendet  man  das  Wort  Länge 
für  die  Linie,  wie  auch  immer  sie  beschaffen  sein  möge;  manchmal 
nur  für  die  größere  von  zwei  Linien,  die  die  Fläche,  ihre  Aus- 
dehnung bestimmend,  umgeben;  manchmal  für  die  größte  der 
Dimensionen,  die,  sich  gegenseitig  schneidend  (und  demnach  ein 
stereometrisches  Gebilde  darstellend),  in  irgend  welcher  Weise, 
als  Linie  oder  nicht  als  Linie,  sich  erstrecken;  manchmal  für 
die  Entfernung,  die  beim  Menschen  zwischen  Haupt  und  Fuß 
als  dem  gegenüberstehenden  Endpunkte,  beim  Tiere  zwischen 
Kopf  und  Schwanz  besteht 

Das  Wort  „Breite"  wird  femer  gebraucht  für  die  Fläche 
selbst;   sodann  für  die  kleinere  von  zwei  Ausdehnungen,  um 


^)  Ist  das  Objekt  der  Metaphysik  nur  das  Unmaterielle,  dann  kann 
dieses  Problem  nicht  in  ihren  Bereich  fallen.  Es  hat  aber  insofern  an  dieser 
SteUe  seine  Berechtigung,  als  die  körperUche  Substanz  ein  „Prinzip'',  d.  h. 
eine  Voraussetzung  der  Naturwissenschaften  ist.  Der  Metaphysik  fäUt  aber 
die  Aufgabe  zu,  die  Voraussetzungen  der  übrigen  Wissenschaften  zu  prüfen. 
Zudem  wird  die  körperliche  Substanz  hier  nicht  als  Subjekt  der  Bewegung 
und  Ruhe,  sondern  als  Art  des  Seienden  als  solchen,  d.  h.  als  ixlyTjxov  (Arist. 
Metaph.  1064  a  28  ft.)  betrachtet. 

•)  Die  Widerlegung  der  Atomistik  s.  Naturw.  I.  Teil,  m,  4  ff. 

»)  Siehe  Naturw.  I.  Teil,  m,  Kap.  12. 

*)  Das  erste  Problem  ist  die  generische  Bestimmung  des  Körpers  und 
die  Widerlegung  der  Atomistik,  das  zweite  die  Aufstellung  der  aus  Genus 
und  Differenz  zusanmiengesetzten  Definition  desselben. 


Digitized  by 


Googk 


97 

diese  zu  messen,  oder  für  die  Distanz,  die  zwischen  der  rechten 
und  linken  Seite  ist 

Das  Wort  „Tiefe"  wird  ebenfalls  in  verschiedener  Weise 
gebraucht:  für  die  Art  der  Entfernung,  die  zwischen  zwei 
Flächen  stattfindet,  sodann  für  die  Entfernung,  die  man  von 
oben  nach  unten  rechnet,  so  daß  sie  Höhe  genannt  wird,  wenn 
man  sie  von  unten  nach  oben  mißt.  Dieses  sind  die  bekannten 
Grebrauchsweisen  der  Worte. 

Es  ist  nicht  erforderlich,  daß  in  jedem  (physischen  oder 
mathematischen)  Körper  eine  gerade  Linie  aktuell  vorhanden 
sei  So  ist  z.  B.  in  der  Kugel  durchaus  keine  gerade  Linie 
aktuell  vorhanden,  noch  wird  in  ihr  die  Achse  irgendwie  ge- 
kennzeichnet, solange  die  Kugel  sich  nicht  bewegt.  Damit  die 
Kugel  ein  Körper  sei,  ist  es  nun  aber  durchaus  nicht  erforderlich, 
daß  sie  sich  bewege,  so  daß  in  ihr  eine  Achse  oder  gerade  Linie 
gekennzeichnet  werde;  denn  sie  wird  in  realer  Weise  dadurch 
ein  Körper,  daß  die  körperliche  Natur  (Länge,  Breite  und  Tiefe) 
in  ihr  zustande  kommt,  und  dann  erst  inhäriert  in  ihr  in 
zufälliger  oder  notwendiger  Weise  (die  Sphären)  die  Bewegung. 

Der  Körper  als  solcher  besitzt  ebensowenig  notwendiger- 
weise eine  Fläche.  Eine  solche  kommt  ihm  nur  insofern  zu,  als 
er  begrenzt  9  tind  endlich  ist.  Damit  er  nun  aber  das  reale 
Wesen  des  Körpers  besitze  und  damit  wir  ihn  als  (physischen 
oder  mathematischen)  Körper  begrifflich  erkennen  können,  ist 
es  nicht  erforderlich,  daß  er  „endlich"  sei')  Die  Endlichkeit 
ist  vielmehr  (nicht  Teil  seines  Wesens,  sondern)  nur  ein  Akzidens, 
das  ihn  notwendig  inhäriert.  Deshalb  ist  es  auch  nicht  er- 
forderlich, daß  wir  uns  die  Endlichkeit  als  dem  Körper  eigen 
begrifflich  vorstellen,  wenn  wir  das  Wesen  des  Körpers  denken 
wollen.  Wer  sich  femer  einen  Körper,  der  unendlich  ist,  be- 
grifflich vorstellt,  der  stellt  sich  nicht  etwas  als  Körper  vor, 
was  kein  Körper  ist;  ebenso  ist  es  richtig,  daß  sich  jemand  das 
Unendliche  nur  dann  vorstellen  kann,  wenn  er  sich  einen  Körper  3) 

*)  Die  Fläche  wird  als  Grenze  des  Körpers  definiert.  Der  Begriff  der 
begrenzenden  Flache  ist  nicht  in  der  Definition  des  Körpers  eingeschlossen. 
Letztere  enthält  nur  die  Dreidimensionalität. 

*)  Der  Begriff  der  Endlichkeit  ist  nicht  identisch  mit  dem  der  Körperlichkeit. 
Man  diskutierte  sogar  ttber  den  Begriff  eines  anendlichen  Körpers. 

*)  Dennoch  deckt  sich  der  Begriff  der  Unendlichkeit  (der  anendlichen 
Ausdehnung  des  Raumes)  nicht  mit  dem  des  Körpers.  Gott  ist  „nicht  von 
Grenzen  eingefaßt". 

Horten,  Dm  Buoh  der  Geneeung  der  Seele.  7 


Digitized  by 


Googk 


98 

denkt.  Freilicli  stellt  er  sich  dann  etwas  falsches  vor  wie  der- 
jenige, der  lehrte,  ^)  daß  der  Körper  ein  Instrument  (Gk)ttes)  sei 
(so  daß  er  aus  sich  selbst  keine  Wirkung  hervorbringen  könne, 
sondern  nur  aktiv  sei  als  instrumentum  Dei).  Er  beging  einen 
Irrtum  nur  inbezug  auf  die  reale  Existenz  des  Objektes.^)  Er 
irrte  aber  nicht  betreffs  der  begrifflichen  Vorstellung  von  den 
beiden  einfachen  Teilen  des  Körpers,  nämlich  von  dem  auf- 
nehmenden Prinzipe,  dem  Substrate,  und  dem  in  diesem  Auf- 
genommenen, der  Form*)  Femer  wenn  auch  der  Körper,  damit 
er  die  reale  Natur  des  Körpers  habe,  notwendigerweise  eine 
Fläche  besitzen  muß,  so  existieren  doch  vielfach  Körper,  die 
eine  einzige  Fläche  von  allen  Seiten  umgibt  Ein  solcher  ist 
die  Kugel.  ^)  Ebensowenig  gehört  es  zu  den  notwendigen  Be- 
dingungen des  Körpers,  damit  er  Körper  sei^  daß  er  Dimensionen 
besitze,  die  der  Größe  nach  voneinander  unterschieden  sind;  denn 
der  Würfel  ist  ebenfalls  ein  Körper,  obwohl  er  umgeben  ist  von 
sechs  begrenzenden  Flächen,  in  denen  trotzdem  die  Dimensionen 
sich  nicht  durch  verschiedene  Größe  unterscheiden.*)  Er  besitzt 
folglich  Länge,  Breite  und  Tiefe  in  der  eigentlichen  Bedeutung 
des  Wortes.  Ebensowenig  ist  das  esse  corpus  notwendig  ab- 
hängig von  der  Bestimmung,  daß  er  unter  dem  Himmel  seinen 
natürlichen  Ort  habe,  so  daß  ihm  die  verschiedenen  Seiten  zu 
eigen  sind  (oben,  unten  u.  s.  w)  auf  Grund  der  verschiedenen 


^)  Die  MntakaUimdn  steUten  in  diesem  theologischen  Sinne  die  Lehre 
der  atomiBtischen  Zusammensetzung  der  Körper  nnd  die  der  Leugnung  der 
natürlichen  Ursachen  auf. 

')  WörtUch:  „in  der  Aussage".  Der  in  der  realen  Außenwelt  existierende 
Körper  besitzt  also  eine  „Naturkraft"  und  kausales  V7irken. 

^  WörtUch:  „dem  Prädikate".  Betrachtet  man  diese  Begriffe  in  sich, 
so  schließen  sie  die  Unendlichkeit  nicht  aus. 

*)  Avicenna  wiU  diejenigen  Momente  aus  dem  Begriffe  des  Körpers 
ausscheiden,  die  nicht  sein  eigentliches  Wesen  ausmachen.  Zu  diesen  gehört 
die  Vielheit  der  Flächen.  Sie  ist  deshalb  unwesentlich,  weil  sie  einer  großen 
Gruppe  von  Körpern,  den  Kugeln,  nicht  zukommt.  Wenn  femer  den  Körpern, 
d.  h.  Omnibus  et  ubique,  eine  Fläche  eigen  ist,  damit  „sie  in  der  realen  Katar 
des  Körpers"  in  die  Erscheinung  treten  können,  so  ist  damit  nur  ein  proprium, 
noch  nicht  eine  essentieUe  Bestimmung  angegeben. 

^)  Die  Dreizahl  charakteristisch  verschiedener  Dimensionen  ist  ebenso- 
wenig eine  essentieUe  Bestimmung  des  Körpers;  denn  Höhe,  Breite  und 
Länge  des  Würfels  können  z.  B.  beliebig  vertauscht  werden,  sind  also  nicht 
charakteristisch  verschieden,  ohne  daß  der  Würfel  deshalb  aufhörte,  ein 
Körper  zu  sein. 


Digitized  by 


Googl( 


99 

Richtungen  des  Weltalls  (Norden,  Süden  u.  s.  w.).  Er  besitzt 
dann  also  (wenn  er  nicht  durch  diese  Seiten  bestimmbar  ist, 
wie  z.  B.  die  oberste  Sphäre,  die  kein  „oben"  hat)  Länge,  Breite 
und  Tiefe  in  einer  anderen  Weise  (wörtlich:  secundum  aliam 
rationem).  (Die  Seiten  und  Eichtungen  sind  daher  keine  wesent- 
lichen Bestimmungen  des  Körpers)  selbst  dann,  wenn  es  unum- 
gänglich ist,  daß  ein  Körper  entweder  der  Himmel  selbst  oder 
innerhalb  der  Sphäre  des  Himmels  ist. 

Wie  es  aus  dem  Dargelegten  einleuchtet,  ist  es  nicht  er- 
forderlich, daß  der  Körper  aktuell  drei  Dimensionen  habe  in 
der  Weise,  wie  die  verschiedenen  Begriffe  der  drei  Dimensionen 
gewöhnlich  verstanden  werden, >)  damit  er  aktuell  ein  Körper 
sei  Wenn  sich  nun  die  Sache  so  verhält,  wie  können  wir 
da  gezwungen  sein,  drei  Dimensionen,  die  aktuell  im  Körper 
existieren  (und  voneinander  unterschieden  sind),  als  Bedingung 
dafür  anzunehmen,  daß  er  ein  Körper  sei.  Die  oben  erwähnte 
definitio  descriptiva^)  des  Körpers  besagt  vielmehr,  daß  er  eine 
Substanz  sei,  in  der  du  von  irgend  einem  beliebig  gewählten 
Ausgangspunkte  aus  eine  Dimension  annehmen  kannst.  Diese 
Dimension,  die  du  zuerst  in  den  Körper  hineinlegst,  möge  z.  B. 
die  Länge  sein.  Sodann  kannst  du  eine  weitere  Ausdehnung 
annehmen,  die  jene  erste  rechtwinklig  schneidet.  Diese  zweite 
ist  dann  die  Breite.  Femer  kannst  du  eine  dritte  Dimension 
annehmen,  die  die  beiden  vorhergehenden  rechtwinklig  schneidet 
und  die  alle  drei  in  einem  Orte  zusammentreffen.^)  Du  kannst 
nun  keine  in  gleicher  Weise  sich  verhaltende,  (zu  allen  drei 
vorhandenen)  senkrecht  stehende  weitere  Dimension  konstruieren, 
die  verschieden  wäre  von  diesen  dreien.  Daß  der  Körper  mit 
dieser  Eigenschaft  behaftet  sei,  ist  dasjenige,  was  man  bezeichnen 
will,  wenn  man  den  Körper  breit  und  tief  nennt.  Nur  in  diesem 
Sinne  ist  die  Redeweise  zu  verstehen,  die  besagt,  der  Körper  sei 
dasjenige,  was  sich  nach  allen  Dimensionen  teilen  lasse.^)  Dieselbe 


1)  d.  h.  in  dem  Sinne,  daß  die  Dimensionen  sich  als  Länge,  Breite  und 
Höhe  charakteristisch  unterscheiden,  sind  sie  also  nicht  essentielle  Bestandteile 
des  Körpers. 

*)  Ayicenna  nennt  also  die  Bestimmung  des  Körpers  als  einer  Substanz, 
die  Länge,  Breite  und  Tiefe  besitzt,  nicht  eine  eigentliche  Definitio. 

*)  Die  Bestimmung  der  einzelnen  Dimensionen  als  Länge,  Breite  und 
Tiefe  ist  demnach  subjektiv,  freilich  cum  fundamento  in  re. 

*)  Der  arab.  Ausdruck  bezeichnet  sowohl  divisus  als  auch  divisibilis. 

-  .        1* 


Digitized  by 


Googl( 


100 

bedeutet  nicht,  daß  er  aktuell  geteilt  sei,  indem  die  Teilung 
vollständig  durchgeführt  wäre,  sondern  nur,  daß  der  Körper  so 
beschaffen  sei^  daß  man  diese  Teilung  an  ihm  ausführen  „kann". 

Dementsprechend  muß  der  Körper  definiert  werden  als 
Substanz,  deren  Wesensform  sich  so  verhält  (daß  sie  die  drei 
Dimensionen  in  der  oben  erwähnten  Weise  annehmen  kann). 
Durch  diese  Wesensform  ist  der  Körper  (zunächst)  das,  was  er 
(als  Körper)  ist.^  Alle  Dimensionen,  die  im  Körper  innerhalb 
seiner  Grenzen  angenommen  werden,  auch  die  Grenzen  des 
Körpers,  seine  Gestalten^)  und  Lagen  sind  folglich  Dinge,  die 
nicht  integrale  Bestandteile  3)  seines  Wesensbegriffes  ausmachen. 
Sie  folgen  vielmehr  (in  ontologischer  und  logischer  Ordnung) 
auf  seine  Substanz.  Das  eine  oder  andere  von  ihnen  haftet 
manchmal  einigen  oder  auch  allen  Körpern  (der  betreffenden 
Art)  beständig  an.^)  Manchmal  haftet  auch  eines  oder  auch 
mehrere  von  ihnen  einer  Gruppe  von  Körpern  nicht  an.  Wenn 
du  z.  B.  ein  Stück  Wachs  nimmst  und  ihm  eine  bestimmte  Gestalt 
gibst,  so  erhält  es  innerhalb  dieser  Grenzen  in  aktueller  Weise 
bestimmte  Dimensionen,  die  eine  gewisse  Zahl  und  gewisse  End- 
punkte haben.  Veränderst  du  dann  diese  Gestalt,  so  bleibt  von  den 
Dimensionen  nichts  aktuell  bestehen,  als  dasselbe  Individuum^) 
behaftet  mit  demselben  Endpunkte  und  demselben  Maße  (wie 
in  der  ersten  Gestalt).  Es  sind  vielmehr  andere  Dimensionen 
entstanden,  die  sich  numerisch  (nicht  spezifisch)  von  jenen  ersten 
unterscheiden. 

Diese  Dimensionen  gehören  demnach  in  die  Kategorie  der 
Quantität«)  Wenn  es  nun  einen  Körper  gibt,  wie  z.  B.  die 
Himmelssphäre,  dem  bestimmte  Dimensionen  in  einer  immer 
sich  gleichbleibenden  Weise')  zukommen,  so  haftet  ihm  diese 


^)  In  dem  Begriffe  der  snbstantia  corporea  sind  also  die  Dimensionen 
noch  nicht  enthalten.  Diese  verhalten  sich  demnach  zum  Wesensbegriffe  wie 
propria. 

•)  Den  Plural  setzt  Avicenna  hier  in  der  Absicht,  um  hervorzuheben, 
daß  die  vielfach  wechselnden  Gestalten  sicherUch  nicht  das  unveränderliche, 
ewig  sich  gleichbleibende  und  einfache  Wesen  bilden  können. 

•)  Cod.  c  GL:  „Teile  seines  Wesensbegriffes". 

*)  Im  ersteren  FaUe  bilden  sie  Akzidenzien,  im  letzteren  propria. 

^  Es  ist  die  individueUe  Dimension,  nicht  das  Individuum  des  Körpers 
gemeint 

*)  Sie  sind  also,  weil  die  Quantität  ein  Akzidens  ist,  accidentia  accidentiä. 

')  Wörtlich:  „eine  Art  von  Dimensionen". 


Digitized  by 


Googl( 


101 

Bestimmung  nicht  an,  weil  er  ein  Körper  ist,^  sondern  wegen 
einer  anderen  Natur  und  Beschaffenheit,  die  die  Aufgabe  hat, 
die  Vollkommenheiten  dieses  Körpers,  die  in  zweiter  Ordnung 
kommen,  zu  erhalten.  (Als  Vollkommenheit  erster  Ordnung  gilt 
das  Wesen  selbst,  als  solche  zweiter  Ordnung  sind  die  Akzidenzien 
zu  betrachten,  die  das  Wesen  bereits  voraussetzen.  Die  Be- 
ständigkeit der  Dimensionen  gilt  demnach  als  ein  Akzidens  der 
Sphäre.)  Das  eigentliche  Wesen  der  Körperlichkeit  ist  die 
Wesensform  der  Kontinuität,  die  aufnahmefähig  ist  für 
die  Art  und  Weise  der  drei  Dimensionen,^)  die  wir  oben 


*)  Gehörten  sie  zum  Wesen  des  Körpers,  dann  müßten  alle  Körper  diese 
Bestimmung  besitzen. 

*)  Hawarizmi  (um  990)  definiert:  „Der  Naturkörper  ist  das  Ding,  das 
Quantität  besitzt,  dem  Eindringenden  Widerstand  entgegensetzt  und  in  seiner 
ihm  zukommenden  Zeit  aktueU  existiert.  Der  mathematische  Körper  ist  der 
innerlich  vorgesteUte,  der  in  der  Phantasie  seinen  Bestand  hat  und  nur 
begrifflich -logisch  vorgesteUt  wird".  Gk)rg&ni  1413  f  (ed.  Flügel  S.  79)  hat 
die  Definition  Avicennas  angenommen,  da  er  nicht  die  tatsächlich  bestehenden 
Dimensionen,  sondern  die  Aufnahmefähigkeit  für  dieselben  als  Wesen  des 
Körpers  angibt:  „Der  Körper  ist  eine  Substanz,  die  aufnahmefähig  ist  für 
die  drei  Dimensionen".  Färftqi  1745  t  (Dictionary  S.  256)  nimmt  in  seiner 
Definition  auf  dieses  Kapitel  Bezug:  „Bei  den  Gelehrten  bezeichnet  , Körper* 
als  gemeinsamer  Terminus  zwei  Begriffe.  Der  eine  ist  der  Naturkörper,  so 
genannt,  weil  die  Naturwissenschaft  ihn  untersucht.  Man  definierte  ihn  als 
Substanz,  in  der  man  drei  Dimensionen,  die  sich  rechtwinklig  schneiden,  an- 
nehmen kann.  In  seiner  Definition  richtete  man  ein  besonderes  Augenmerk 
auf  die  (Möglichkeit  der)  Annahme,  nicht  auf  die  reale  Existenz  (der  drei 
Dimensionen),  weil  die  sich  rechtwinklig  schneidenden  Dimensionen  vielfach 
nicht  real  und  aktueU  im  Körper  existieren,  z.  B.  in  der  Kugel,  dem  Zylinder 
nnd  dem  Kegel,  die  runde  Gestalt  haben.  Existieren  dieselben  aber  aktuell 
in  ihm,  wie  z.  B.  im  Würfel,  so  besteht  seine  Körperlichkeit  nicht  durch  die 
Hinsicht  auf  jene  Dimensionen,  die  in  ihm  real  sind;  denn  manchmal  hören 
sie  auf,  zu  existieren,  indem  dennoch  die  körperliche  Natur  in  ihrer  Indi- 
Tidualität  bestehen  bleibt.  Man  begnügte  sich  daher  mit  der  Möglichkeit  der 
Annahme;  denn  das  Wesen  der  Körperlichkeit  ist  nicht  die  aktu  ausgeführte 
Annahme  der  Dimensionen,  so  daß  der  Körper  das  esse  corpus  verlöre,  wenn 
diese  nicht  in  ihm  angenommen  würden.  Ihr  Wesen  ist  vielmehr  die 
Möglichkeit  der  Annahme,  sei  es,  dafi  dieselbe  aktueU  stattfindet  oder  nicht. 
Du  stellst  dir  die  Annahme  dieser  sich  schneidenden  Dimensionen  dadurch 
vor,  dafi  du  im  Körper  irgend  eine  in  beliebiger  Richtung  konstruierst. 
Dies  ist  die  Länge;  dann  eine  andere  in  einer  beliebigen  Richtung  von  den 
zwei  noch  übrigbleibenden,  so  daß  sie  die  erste  rechtwinklig  schneidet.  Dies 
ist  die  Breite,  sodann  eine  dritte,  die  diese  beiden  in  rechten  Winkeln 
schneidet.    Dies  ist  die  Tiefe."    „Der  zweite  Begriff  ist  der  mathematische 


Digitized  by 


Googl( 


102 

dargetan  haben.  Dieser  Begriff  (der  drei  noch  undeterminierten 
und  noch  nicht  aktuell  unterschiedenen  Dimensionen)  ist  ver- 
schieden von  dem  des  Maßes  (das  einen  Körper  aktuell  deter- 
miniert) und  verschieden  von  der  Körperlichkeit,  die  dem  mathe- 
matischen Körper  zukommt  (in  welchem  die  drei  Dimensionen 
ebenfalls  bestimmt  sind).  Denn  dieser  Körper,  insofern  ihm 
diese  bestimmte  Wesensform  (ein  Kontinuum  zu  sein)  zukommt^ 


Körper.  Man  definierte  ihn  als  Quantität,  die  aufnahmefähig  ist  fttr  die  drei 
Dimensionen,  die  sich  in  rechten  Winkeln  schneiden.  Der  Unterschied 
zwischen  dem  mathematischen  und  dem  natürlichen  Körper  ist  offenkundig.  Du 
kannst  z.  B.  einem  Stücke  Wachs  verschiedene  Gestalten  geben,  in  denen  die 
Ausdehnung  der  Flächen  immer  eine  andere  wird.  Dadurch  wird  auch  der 
mathematische  Körper  vervielfältigt.  Der  Naturkörper  bleibt  aber  in  allen 
diesen  Gestalten  ein  und  derselbe.  WoUte  man  beide  Begriffe  in  eine  defijutio 
descriptiva  zusammenfassen,  so  könnte  man  sagen,  der  Körper  ist  dasjenige, 
das  aufnahmefähig  ist  für  die  Annahme  der  sich  rechtwinklig  schneidenden 
Dimensionen.  Die  Nennung  der  Substanz  und  der  Quantität  (die  Unterschiede 
des  natürlichen  und  mathematischen  Körpers)  unterblieben  also.''  „Die 
Dimensionen  sind  für  den  Naturkörper  ein  proprium,  für  den  mathematischen 
Körper  ein  Wesensbestandteil.  Kurz  das  Angeführte  ist  eine  definitio  des- 
criptiva des  Körpers,  nicht  eine  wesentliche  (eigentliche)  Definition;  denn  die 
Bestimmung  der  Dimensionen  ist  entweder  nicht  existierend  —  und  dann 
kann  sie  keinen  wesentlichen  Bestandteil  des  Körpers  bilden,  der  zu  den 
realen  Substanzen  der  Außenwelt  gehört  —  oder  existierend.  Sie  existiert 
dann  durch  den  Körper.  Dann  ist  sie  also  Akzidens.  Dieses  verleiht  der 
Substanz  nicht  den  Bestand  und  kann  deshalb  keine  Differenz  sein."  „Die 
erste  Materie  ist  nicht  durch  sich,  sondern  durch  Vermittlung  der  Wesensform 
aufnahmefähig  für  die  drei  Dimensionen.''  Dadurch  unterscheidet  sie  sich 
von  dem  Körper.  —  Vgl.  Thomas,  Sum.  theol.  118,  2c:  Hoc  nomen  corpus 
impositum  est  ad  significandum  quoddam  genus  substantiarum  ex  eo,  quod  in 
eis  inveniuntur  tres  dimensiones;  et  ideo  aliquando  ponitur  hoc  nomen 
„corpus"  ad  significandas  tres  dimensiones,  secundum.  quod  corpus  ponitur 
spedes  quantitatis.  Arist.  n.  ovgavov  268a 7:  oöfia  6h  ro  navtg  diatQerov^ 
fieysO^ovg  Ss  xd  fisv  i<p*  ev  yQafjtfii^f  to  ö^  iiü  Ovo  iiÜTieSov,  zo  S*  iiü  tp/a 
odffia,  xal  nagä  zafrta  ovx  aaxiv  aV.o  (dy^^oi  Öia  x6  za  zgia  navza  elvtu 
xal  z6  zqIq  navzji;  ib.  274  b  19:  äXXa  atSfia  ^v  zo  navzjf  Siaazaatv  f/or. 
284  b  24  bezeichnet  Arist.  die  Dreiheit  der  Dimensionen  als  eine  wesentliche 
Bestimmung  nur  des  vollkommenen  Körpers.  Der  Unterschied  der  Betrachtungs- 
weisen ließe  sich  demnach  formulieren  Thomas  (Sum.  theol.  1 3, 1  ad  1):  corpus 
enim  est,  quod  habet  trinam  dimensionem.  Avicenna:  corpus  est  substantia, 
quae  potest  habere  trinam  dimensionem.  Der  Unterschied  beider  Definitionen 
ist  jedoch  unbedeutend;  denn  beide  kommen  in  dem  Gedanken  überein,  dafi 
der  Körper  eine  Substanz  sei,  die  drei  an  und  für  sich  noch  nicht  determiniert« 
Dimensionen  besitzt. 


Digitized  by 


Googl( 


103 

unterscheidet  0  sich  noch  nicht  von  einem  anderen  Körper, 
indem  er  (auf  Grund  der  genannten  Wesensform)  größer  oder 
kleiner  wäre,  noch  auch  dem  anderen  dadurch  gliche,  daß  er 
eine  gleiche  Größe  besäße,  durch  den  der  andere  wie  durch  eine 
Einheit  gemessen  würde  oder  eine  Einheit  für  die  zahlenmäßige 
Bestimmung  des  anderen  bildete,  mit  ihm  übereinstimmte  in 
irgend  einer  Beschaffenheit  oder  von  ihm  verschieden  wäre. 
(Alle  diese  Bestimmungen  sind  in  der  Wesenheit  des  Körpers 
als  Körper  noch  unbestimmt  gelassen.)  Sie  kommen  dem  Körper 
aktuell  vielmehr  nur  dadurch  zu,  daß  in  ihm  eine  Maßbestimmung 
ausgeführt  wird,  und  dadurch,  daß  ein  wirklicher  Teil  von  ihm 
seine  Größe  in  Zahlen  bestimmt^)  Diese  Betrachtungsweise 
kommt  dem  Körper  zu  in  Verschiedenheit  3)  von  der  anderen 
Betrachtungsweise,  die  nur  seine  Körperlichkeit  berücksichtigt, 
die  wir  erwähnt  haben.  Diese  Dinge  haben  wir  dem  Leser 
bereits  an  einem  Orte*)  breit  auseinandergesetzt,  auf  den  er  zur 
Aufklärung  des  hier  Ausgeführten  zurückgreifen  möge.  Deshalb 
(weil  die  Größe  der  Ausdehnung  nicht  wesentlich  ist)  kann 
derselbe  Körper  auf  dem  Wege  des  Erhitzens  und  Abkühlens 
sich  verflüchtigen  oder  dichter  werden  (also  ein  größeres  oder 
geringeres  Volumen  einnehmen.  Dies  wäre  unmöglich,  wenn 
Dimensionen  bestimmter  Größe  dem  Körper  wesentlich  wären). 
Daher  ist  auch  die  Ausdehnung  seiner  körperlichen  Natur  viel- 
gestaltig, während  jedoch  diese  seine  körperliche  Natur  selbst, 
die  wir  erwähnt  haben  (und  die  in  der  Kontinuität  besteht), 
immer  die  gleiche  bleibt.*)  Daher  ist  der  Naturkörper  eine 
Substanz,  die  ausgestattet  ist  mit  dieser  Eigenschaft  (d.  h.  sie 
besitzt  diese  Bestimmung  sich  verflüchtigen  oder  verdichten  zu 
können  und  bestimmte  Dimensionen  zu  besitzen  nicht  als  Wesens- 
begriff, sondern  als  „Eigenschaft",  die  dem  Wesen  inhäriert). 


')  Wenn  die  genannte  Bestimmung  die  einzelnen  Körper  nicht  unter- 
scheidet, sondern  ihnen  aUen  gemeinsam  ist,  dann  hat  sie  als  das  eigentliche 
Wesen,  als  die  aUe  umfassende  Artbestimmung  zu  gelten. 

*)  Diese  Bestimmung  ist  also  eine  Determinierung  des  in  der  Wesens- 
form  noch  undeterminiert  gelassenen. 

*)  Die  aufgezählten  sekundären  Bestimmungen  kommen  dem  Körper 
nicht  auf  Grund  seines  Wesens,  der  kontinuierlichen  Ausdehnung,  zu. 

0  Naturw.  I,  Teü  I  und  IV. 

*)  Wörtlich:  „nicht  vielgestaltig  ist,  noch  sich  verändert".  Das  Wesen 
ist  wie  die  Wahrheit  ewig  und  unveränderlich. 


Digitized  by 


Googl( 


104 


Definition  des  mathematischen  KBrpers. 

Was  aber  den  mathematischen  Körper  angeht,  so  bezeichnen 
wir  mit  diesem  Ansdrucke  die  Wesensform  dieses  (physischen 
Körpers),  insofern  er  bestimmte  Grenzen  und  Größenverhältnisse 
hat  und  in  der  Seele,  nicht  in  der  realen  Außenwelt  existiert 
(also  nur  als  logischer  Begriff  zu  bezeichnen  ist).  Oder  wir 
bezeichnen  mit  diesem  Ausdrucke  auch  die  Ausdehnung  und 
Maßbestimmung  der  Substanz,  die  Kontinuität  besitzt  in  der 
eben  angegebenen  Eigenschaft,  insofern  sie  nämlich  eine  fest 
umgrenzte  Kontinuität  >)  besitzt,  sei  es  als  Begriff  in  der  Seele 
oder  (als  realer  Körper)  in  einer  Materie.  Daher  verhält  sich 
der  mathematische  Körper  so,  als  ob  er  in  seinem  eigenen  Wesen 
ein  Akzidens  dieses  (physischen)  Körpers  wäre,  dessen  Natur 
wir  dargelegt  haben.  Die  Fläche  ist  seine  Grenze  und  die 
Linie  ist  die  Grenze  dieser  seiner  Grenze. 

Die  Widerlegung  der  Atomistilc. 

Über  beide  werden  wir  später  noch  ausführlicher  sprechen.*) 
(Jetzt)  wollen  wir  betrachten,  wie  die  Kontinuität  den  mathe- 
matischen und  wie  sie  den  physischen  Körpern  zuzusprechen  ist. 
Daher  lehren  wir  erstens:  es  gehört  zu  den  natürlichen  Eigen- 
schaften der  Körper,  daß  sie  teilbar  sind.  Um  dieses  zu  beweisen 
genügen  die  Daten  der  sinnlichen 3)  Erfahrung  nicht;  denn  jemand 
könnte  folgenden  Einwand  machen:  keiner  derjenigen  Körper, 
die  Objekte  sinnlicher  Erfahrung  sind,  ist  ein  absolut  einziger 
und  einfacher^)  Körper  (der  nur  den  „reinen"  Wesensbegriff 
des  Körpers   in   sich   trüge).     Sie   sind   vielmehr   aus    vielen 


>)  Das  Objekt  der  Geometrie  und  Stereometrie  besteht  also  in  abstrakt 
aofgefaflten  Dimensionen,  die  sich  an  and  für  sich  indifferent  dazu  verhalten, 
ob  sie  als  psychische  Inhalte  und  logische  Begriffe  oder  als  physische  Realitäten 
aufgefaßt  werden  soUen.  Diese  Distinguierung  ist  zu  vergleichen  mit  der 
Auffassung  Avicennas  betreffs  der  universalia  als  indifferent  für  das  esse  in 
multis  und  das  esse  unum.  Die  scharf  präzisierte  Betrachtung  des  Begriffes 
in  sich  führte  in  beiden  FäUen  zu  derselben  Auffassung. 

>)  Metaph.  m,  9. 

*)  Cod.  c  GL:  „Man  muß  vielmehr  zu  unkörperlichen,  psychischen  Inhalten 
greifen". 

*)  Est  corpus  perfecte  „unum".  Der  Terminus  „unum"  ist  hier  in  dem 
Sinne  von  „einfach"  zu  verstehen,  wie  die  GegenübersteUung  im  folgenden  zeigt. 


Digitized  by 


Googk 


105 

Körpern  zusammengesetzt.  Damit  wäre  der  andere  Einwand 
verbunden,  daß  die  einfachen  Körper  nicht  sinnlich  wahr- 
nehmbar seien  und  daß  sie  in  keiner  Weise  geteilt  werden 
könnten.  Diese  Schwierigkeiten  haben  wir  schon  durch  Be- 
weise, die  in  den  Bereich  der  Naturwissenschaften  gehören,  0 
und  besonders  in  der  einfachsten  Art  und  Weise  der  Wider- 
legung als  falsch  erwiesen.  Es  ist  die  Art  und  Weise  desjenigen, 
der  auf  Grund  der  äußeren  Gestalten  eine  Verschiedenheit  der 
Körper  herbeiführen  will.  2)  Wenn  nun  jemand  den  Einwand 
erhöbe,  daß  die  Naturen  der  Körper  und  ihre  Gestalten  sich 
einander  „gleichen", ')  so  müssen  wir  seine  Lehren  und  seine 
Ansicht  durch  eine  Lehre  unsererseits  widerlegen.  Daher  lehren 
wir:  wenn  jemand  den  kleinsten  Körper  herstellt,  der  keine 
Teilung  weder  der  Möglichkeit  noch  der  Aktualität  nach  mehr 
zuläßt,  so  daß  er  sich  schlechthin  wie  ein  Punkt  verhält,  dann 
gilt  von  diesem  Körper  sicherlich  ebenso^)  wie  von  dem  Punkte, 
daß  aus  ihm  unmöglich  ein  sinnlich  wahrnehmbarer  Körper 
durch  Zusammensetzung  entstehen  kann.^)    Verhält  es  sich  nun 


»)  Naturw.  I,  Teü  m,  12. 

»)  Diese  Lehre  bezeichnet  die  Ausdehimng  und  Teilbarkeit  als  Wesens- 
bestimmungen des  Körpers.  Ein  Atom,  also  ein  Körper,  der  weder  Ausdehnung 
noch  Teilbarkeit  besäfie,  ist  dabei  undenkbar. 

*)  Cod,  d  GL:  d.  h.  „Verschiedenheit"  des  Wesens  bei  Übereinstimmung 
in  Akzidenzien.  Die  Gestalten  stehen  in  notwendiger  Beziehung  zu  den 
Wesenheiten.  Die  Verschiedenheit  der  Körper  wird  durch  die  Verschiedenheit 
der  Ausdehnung  nicht  genügend  erklärt,  da  diese  nur  Akzidens  ist.  Die 
Verschiedenheit  muß  im  Wesen,  in  der  „Natur"  begründet  sein.  Zwei  unaus- 
gedehnte Körper  können  sich  daher  sehr  wohl  unterscheiden  —  so  die  Ver- 
teidigung der  Atome  gegei^  das  oben  Angeführte. 

*)  Wörtlich:  „das  Seinsgesetz  dieses  Körpers  ist  identisch  mit  dem 
Gesetze,  das  von  dem  Punkte  gilt,  und  besagt,  daß  u.  s.  w.". 

•)  Vgl.  zu  dieser  Lehre  Arist.  232  a  24:  SiSeixtat  yog  Sri  äSvvarov  i^ 
atoftwv  elval  u  avvexig,  f^iye&og  <J*  iarlv  arcav  avrf/^c;  233  b  16:  tpaveQOV 
ovv  ix  T<5v  BlQtifdvwv  (oq  oizB  ygafifi^  oite  htlneöov  oixe  SIqk;  tiSv  ovvsxfSv 
ovi^hv  €oxai  atofiov;  ebenso  315  b  26  bis  317  a  17.  Die  Zeit  ist  ebensowenig 
wie  der  Körper  in  Atome  zerlegbar,  Physik  263  b  27:  ovx  olov  re  üq  axofiovq 
Xfiovovg  SiaigeTod-cct  tov  xqovov.  Thomas  Sent.  IE,  d.  14,1,  art.  1  ad  4:  Ad 
quartum  dicendum  quod  corpora  naturalia  in  infinitum  dividi  non  possunt, 
quia  omnium  natura  consistentium  est  terminus  magnitudinis,  nee  tan  tum  in 
augmento  sed  etiam  in  diminutione  ...  et  ideo  in  qualibet  specie  oportet  esse 
terminum  quemdam  rarefactionis,  ultra  quem  species  non  salvatur.  Unde 
ultima  raritas  ad  quam  potest  perveniri  est  secundum  quod  materia  stat  sub 
forma  ignis.    Die  letzten  Bestandteile  der  Analjse  sind  also  nicht  die  Atome, 


Digitized  by 


Googk 


106 

aber  (betreffs  der  aktuellen  und  potentiellen  Teilung  der  kleinsten 
Körper)  nicht  so,  sondern  ist  das  Atom  in  sich  selbst  so  beschaffen, 
daß  ein  Teil  von  dem  anderen  abgesondert  werden  könnte  —  dabei 
wäre  jedoch  die  Ausführung  der  Trennung  dieser  beiden  Teüe, 


Hondeni  die  Materie  und  die  Wesensform.  —  Färüqi  (S.  186)  definiert:  „Atom 
ist  der  Teil,  der  nicht  mehr  teilbar  ist.  Er  wird  auch  Einheit  der  Substanz 
genannt.  Seine  Definitio  lautet:  es  ist  eine  Substanz,  die  räumliche  Lage 
(situs)  besitzt,  die  Teilung  weder  durch  Schneiden  noch  durch  Brechen,  weder 
in  der  VorsteUung  noch  auch  der  Supposition  (des  Greistes)  irgendwie  zuläßt. 
Die  Mut&kallimün  behaupteten  die  Existenz  dieser  Atome,  andere  Grelefarte 
leugneten  sie.  Die  Substanz  vertritt  in  der  Definition  die  SteUe  des  Grenus. 
Ein  Punkt  kann  sie  nicht  sein  (oder  der  „Punkt"  bildet  keinen  Teil  der 
Definition),  weiJ  dieser  Akzidens  ist.  Der  Ausdruck  „räumliche  Lage  habend'' 
bedeutet:  „aufnahmefähig  für  den  sinnlichen  Hinweis"  (der  sich  auf  diese« 
Individuum  da,  to  toöe  ri,  richtet);  oder  er  bedeutet:  „dem  Wesen  nach  einen 
Baum  erfüllend".  Dadurch  gehört  sie  nicht  in  den  Bereich  der  unkörperlichen 
Dinge  nach  der  Ansicht  derer,  die  die  Existenz  solcher  annehmen;  denn  diese 
lassen  weder  einen  sinnlichen  Hinweis  noch  die  BaumerfüUung  zu.  Der 
Ausdruck  „die  die  Teilung  nicht  aufnimmt"  schließt  den  Körper  aus.  Der 
Ausdruck  „in  keiner  Weise  zuläßt"  entfernt  (aus  dem  Begriff  des  Atoms)  die 
Linie  und  die  Fläche,  die  substanzartig  sind,  da  sie  die  Teüung  in  gewisser 
Richtung  zulassen.  Die  Teilung  in  der  Vorstellung  ist  nach  der  inneren 
Vorstellung  und  individueU,  die  der  Supposition  ist  die  nach  Maßgabe  des 
Verstandes  und  universeU.  Man  bringt  die  verstandesmäßige  Teilung  in  die 
Definition  hinein,  weil  die  innere  VorsteUung  manchmal  es  nicht  vermag, 
sich  das  präsent  zu  machen,  was  sie  zerlegt  wegen  seiner  Kleinheit  oder 
weil  sie  den  ganzen  Umfang  dessen  nicht  umspannt,  was  unendlich  ist 
(und  gerade  die  unendliche  Teilbarkeit  soUte  ausgeschlossen  werden).  Die 
inteUektueUe  Supposition  aber  stößt  nicht  auf  eine  Grenze  (wörtlich:  hält 
nicht  ein),  weil  sie  die  universalia  denkt,  die  das  Kleine  und  Große,  das 
Endliche  und  Unendliche  umfassen.  So  der  Kommentar  der  Hinweise  (Isarät, 
verfaßt  von  Fahr  addin  er  R&zi  1209  t.  I>ie  „Hinweise"  wurden  veröffentlicht 
von  J.  Forget,  Leide  1892.  Le  livre  des  th^remes  et  des  avertissements). 
Wendest  du  nun  ein :  die  Existenz  eines  Dinges,  das  der  Verstand  nicht  mehr 
per  suppositionem  teilen  kann,  ist  nicht  vorstellbar,  so  antworte  ich:  wenn 
man  die  Aufnahmefähigkeit  für  die  verstandesmäßige  Teilung  leugnet,  so 
bedeutet  dies,  daß  der  Verstand  die  TeUung  in  dem  Atome  nicht  zuläßt, 
nicht  als  ob  er  dieselbe  nicht  mehr  ausführen,  d.  h.  denken  und  innerlich 
erfassen  könnte.  Dies  ist  nicht  unmögUch.  Der  Verstand  kann  aUe  Dinge 
supponieren  und  sich  vorsteUen,  sogar  die  Existenz  von  Unmöglichkeiten  und 
die  Nichtexistenz  seiner  selbst.  Kurz  dieser  Ausdruck  bezeichnet  die  negative 
(wörtlich:  die  entfernende)  Supposition,  nicht  die  Neues  erfindende,  noch  die 
universellste,  die  diese  beiden  in  sich  begreift.  „Atom"  bezeichnet  auch  die 
Ursache  der  Wesenheit  —  es  wird  auch  Element  genannt  — ,  femer  einen  Teil 
der  360  Grade  des  Kreises,  auch  die  kleinere  Zahl,  die  in  der  größeren  restlos 
aufgeht."    Gorgani  definiert  (S.  78):  „Der  unteilbare  Teil  ist  eine  Substanz, 


Digitized  by 


Googl( 


107 

die  per  suppositionem  in  der  inneren  Vorstellung  trennbar  sind, 
unmöglich 0  —  dann  lehren  wir:  das  Verhältnis  des  einen  Teiles 
zum  anderen  im  Atome  ist  (im  angenommenen  Falle)  verschieden 
von  dem  Verhältnisse,  in  dem  ein  Teil 2)  eines  realen  Körpers 
zum  anderen  steht,  indem  die  beiden  Teilet)  des  Körpers  sich 
nicht  (in  gleicher  Weise  wie  im  Atome)  zusammenschließen,^) 
während  die  beiden  Teile  des  Atomes  sich  nicht  (in  gleicher 
Weise  wie  im  Körper)  voneinander  trennen.  Diese  Verschiedenheit 
hat  nun  notwendigerweise  ihr  Fundament  entweder  in  der  Natur 
des  Dinges  und  seiner  Substanz  oder  in  einer  äußeren  Ursache,*) 
die  verschieden  ist  von  der  Substanz  und  der  Natur.*»)  Im  ersteren 
FaUe  ist  die  Ursache  entweder  eine  solche,  die  der  Natur  und 
der  Substanz  das  aktuelle  Bestehen  verleiht  —  so  verhält  sich 
die  Wesensform  zur  Materie,  das  Substrat  zu  dem  „Akzidens"  <»)  — 
oder  eine  solche,  die  nicht  diese  Funktion  ausübt.  Verleiht  nun 
die  Ursache  ihrem  Substrate  nicht  das  Bestehen,  dann  ist  es 


die  Lage  besitzt  und  die  Teilung  in  keiner  Weise  zuläßt,  weder  in  der 
Außenwelt  noch  in  der  VorsteUung  oder  der  begrifflichen  Supposition.  Die 
KOrper  werden  aus  diesen  einzelnen  Substanzen  zusammengesetzt,  indem  die 
eine  zur  anderen  hinzutritt". 

^)  Es  handelt  sich  also  um  potentieUe,  nicht  um  aktueUe  Teile.  Diese 
Potentialität  ist  jedoch  ganz  eigener  Natur:  sie  kann  nie  aktualisiert  werden. 
Die  Teile  des  „Atomes"  verhalten  sich  also  anders  als  die  Teile  des  Kontiuuum, 
die  auch  potentieU  sind,  aber  aktualisiert  werden  können.  —  Die  Aktualität 
der  Teile  des  Atomes  muß  ausgeschlossen  werden,  weil  das  Atom  nach  der 
Annahme  der  aktuell  kleinste  Teil  des  Körpers  ist.  Eine  weitergehende 
Teilung  ist  also  nur  noch  potentialiter  et  suppositive  möglich.  Dabei  ist  es 
jedoch  sicherlich  nicht  die  Meinung  Avicennas,  diese  Potenz,  die  nicht 
aktualisierbar  ist,  sei  ohne  jedes  fundamentum  in  re  und  sei  eine  rein  sub- 
jektive und  willkürliche  Annahme ;  denn  im  Wesen  der  realen  Köriier  könnte 
diese  Potenz  in  der  Tat  begründet  sein.  Daß  sie  nicht  aktualisierbar  ist, 
wäre  dann  auf  ein  „Akzidens"  zurückzuführen. 

•)  oder:  Atome. 

•)  Die  Teile  des  kontinuierlichen  Körpers  sind  aktuell  trennbar,  die  des 
Atomes  aber  nicht.  Wenn  daher  auch  beide  der.  Potenz  nach  vorhanden 
sind,  so  stehen  sie  doch  nicht  in  demselben  Verhältnisse  zueinander. 

*)  Cod.  c  GL:  d.  h.  die  Ursache  der  Trennung. 

*)  Natur,  (pvai<;,  bezeichnet  die  im  Körper  vorhandene  Kraft,  die  die 
Ursache  für  die  Funktionen  und  Wirkungen  des  Körpers  ist.  Vgl.  dazu 
Avicenna,  Naturw.  I.  Teil,  1, 5. 

•)  Unter  Substrat  ist  hier  ein  in  sich  noch  unreales  substratum  primum 
zu  verstehen,  das  durch  das  ihm  „akzidenteU"  zukommende,  also  nicht  durch 
ein  Akzidens  im  eigentlichen  Sinne,  erst  subsistierend  wird. 


Digitized  by 


Googk 


108 

von  Seiten  der  Natur  und  der  Substanz  des  Dinges  (die  bereits 
in  sich  subsistieren)  möglich,  daß  zwischen  beiden  (Teilen  des 
Atomes)  eine  Vereinigung  stattfindet,  die  auf  die  Trennung  folgt, 
und  eine  Trennung,  die  auf  die  Vereinigung  folgt')  Die  körperliche 
Natur  (des  Atomes)  ist  dann  also  in  sich  betrachtet  aufnahme- 
fähig für  eine  Teilung.  Trifft  nun  diese  Teilung  nicht  ein,  so 
liegt  der  Grund  dafür  in  einer  äußeren  Ui-sache  (deren  Wirken 
im  Verhältnis  zur  Substanz  des  Dinges  ein  Akzidens  ist).  Dies 
möge  als  Ausführung  in  der  uns  hier  beschäftigenden  Frage 
genügen. 

Wenn  diese  Ursache  nun  jedem  einzelnen  Teile  sein  Be- 
stehen verleiht,  indem  sie  entweder  in  seine  Natur  und  seine 
Wesenheit  als  konstituierender  Bestandteil  eintritt  oder  indem 
sie  durch  das  Verleihen  der  Existenz  dem  Dinge  auch  das 
aktuelle  Bestehen  gibt,  ohne  einen  inneren  Teil  seiner  Wesenheit 
zu  bilden  —  es  bleibt  also  dann  eine  reale  Verschiedenheit  be- 
stehen —  so  ergibt  sich  unmittelbar,  daß  diese  Körper  (die  Teile 
des  Atomes)  der  Substanz  nach  verschieden  sind,  ohne  daß  jene 
Philosophen  dieses  lehren.  Zweitens  ergibt  sich,  daß  diese  (Art 
der  Zusammensetzung)  für  die  körperliche  Natur  (in  sich  be- 
trachtet, die  den  Teilen  zukommt)  nicht  unmöglich  ist.  Eine 
solche  Unmöglichkeit  tritt  nur  ein  infolge  einer  Wesensform,  die 
das  Genus  des  Körpers  zur  Art  bestimmt.  Diesem  widersprechen 
wir  aber  nicht  Es  ist  nämlich  (im  Werdeprozesse  des  Dinges) 
möglich,  daß  zu  der  körperlichen  Natur  eine  bestimmte  Realität 
hinzutritt,  die  diesem  Körper  den  Bestand  als  eine  solche  Art 
verleiht,  die  dann  keine  weitere  Teilung,*)  noch  eine  Verbindung 
mit  einem  anderen  Körper^)  zuläßt  Dieses  lehren  wir  von  der 
Himmelssphäre.  ^)     Was  wir   au   diesem   Orte   der  Metaphysik 

*)  Die  Teile  des  Atomes  beständen  dann  nicht  mehr  rein  potentieü, 
sondern  auch  aktueü,  was  der  ersten  Annahme  von  kleinsten  Teilen 
widerspricht. 

')  Eine  weitere  Teilung  könnte  in  Individuen  stattfinden,  die  den 
Umfang  der  Art  bilden.  Dies  ist  für  die  himmlischen  Körper  unmöglich; 
denn  die  Sonne  z.  B.  erfüllt  die  gesamte  Materie,  die  für  die  essen tia  solis 
aufnahmefähig  ist.  Daher  kann  keine  zweite  Sonne  existieren.  Ebensowenig 
kann  die  quinta  essentia  der  himmlischen  Materie  eine  Zerlegung  in  Teile 
zulassen,  obwohl  dieselbe  per  suppositionem  denkbar  ist. 

•)  oder:  „noch  die  Kontinuität  ab  alio";  denn  er  besitzt  sie  a  se. 

*)  Thomas  Sent.  II,  d.  11,  q.  2,  2c:  Respondeo  dicendum  quod  cum  omnes 
res  determinantur  a  fine,   oportet  conditiones  coeli  empyrei  (der  feurigen 


Digitized  by 


Googl( 


109 

(betreffs  des  angeregten  Problems)  für  erwähnenswert  halten, 
ist,  daß  die  Natur  des  Körpers  als  solche  jenes  (die  Teilung) 
nicht  hindert 

Daher  sagen  wir  zunächst:  bereits  haben  wir  festgestellt, 
daß  die  körperliche  Natur  als  solche  aufnahmefähig«)  ist  für 
die  Teilung.  Daher  liegt  es  in  der  Natur  der  Körperlichkeit, 
daß  sie  eine  Teilung  annehmen  kann.  Es  ist  also  klar,  daß  die 
Wesensform  des  Körpers  und  der  Dimensionen  in  einem  Dinge 
Bestand  hat 2)  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  diese  Dimensionen  — 
nämlich  die  kontinuierlichen  Verbindungen  5)  selbst  oder  ein  reales 
Ding,  das  dieser  kontinuierlichen  Ausdehnung  wie  ein  Akzidens 
zukommt  entsprechend  dem,  was  wir  später*)  ausführen  werden  — 
nicht  solche  Dinge  sind,  denen  die  Kontinuität  nach  Art  eines 
Akzidens  zukommt    (Sie  ist  vielmehr  ihre  Wesensform;  s.  oben 


Umgebongssphäre)  acdpere  secnndum  quod  convenit  statoi  bonorum  (der 
Seligen)  propter  qnod  factum  est;  et  qoia  Uli  sunt  in  plena  participatione 
aetemae  luci8(!)  et  qnietis  et  aetemitatis,  ideo  decet  caelum  empyrenm 
lucidum,  immobile  et  incormptibile  esse;  ib.  d.  12, 1,  Ic:  Super  hoc  (materia 
corporum)  invenitur  duplex  philosophorum  opinio,  quarum  utraque  sectatores 
habet.  Avicenna  enim  (sufficientia  lib.  I,  cap.  3  wohl  Naturw.  I.  Teil,  I,  6 
und  n.  Teil,  1, 2)  yidetnr  ponere  unam  materiam  esse  omnium  corporum, 
argumentum  ex  ratione  corporeitatis  assumens,  quae  cum  sit  unius  rationis. 
una  aibi  materia  debetur.  Haue  autem  positionem  Commentator  improbare 
intendit  in  principio  Caeli  et  mundi  et  in  pluribus  aliis  locis,  ex  eo  quod 
cum  materia,  quantum  in  se  est,  sit  in  potentia  ad  omnes  formas,  nee  possit 
esse  sub  pluribus  simul,  oportet  quod  secundum  quod  est  sub  una,  inveniatur 
in  potentia  ad  alias.  Nulla  autem  potentia  passiva  invenitur  in  natura  cui 
non  respondeat  aliqua  potentia  activa  potens  eam  in  actum  reducere;  alias 
talis  potentia  frustra  esset.  Unde  cum  non  inveniatur  aliqua  potentia  naturalis 
activa  quae  substantiam  coeli  in  actum  alterius  formae  reducat,  quia  non 
habet  contrarium,  sicut  motus  ostendit,  quia  motui  naturali  eins  (coeli) 
sdlicet  circulari,  non  est  aliquid  contrarium,  oportet  quod  in  ipso  nihil 
inveniatur  de  materia  prima  inferiorum  corporum.  Vgl.  Arist.  270  b  15:  ovShv 
ipaivtxai  titiCLßißXrixoq  oixe  xa&*  8X0 v  tov  ioxatov  ovQavov  oixe  xccta 
fiOQWv  airoü  t<ßv  oheelwv  ovSiv,  Metaph.:  atSioq  6  nQ&xoq  ovQttvoq  (und 
286  a  10):  a&iii  xt  »bTov,  F&rftql  (Dictionary  S.  1134):  „Die  Himmelssphäre 
ist  die  in  kreisförmiger  Bewegung  ewig  aus  ihrem  Wesen  (per  se)  bewegte 
Sphäre«. 

*)  Wörtlich:  „nicht  aufnahmeunf&hig  ist".  Das  Atom  wäre  also 
kein  Körper. 

*)  Wenn  dieselben  einem  Dinge  eigen  sind,  dann  bilden  sie  Teile  der 
Wesenheit,  die  dem  Dinge  „das  Bestehen«  verleihen. 

•)  CJod.  c  GL:  d.  h.  das  körperliche  Volumen. 

*)  Siehe  Abb.  m,  4  und  9. 


Digitized  by 


Google 


110 

die  Definition  des  Körpers.)  Denn  der  Ausdruck  „Dimensionen" 
ist  ein  Ausdruck  für  die  kontinuierlichen  Quantitäten  selbst, 
nicht  für  die  wirklichen  Dinge,  denen  die  Kontinuität  nach  Art 
eines  Akzidens  zukommt.  Nun  aber  kann  das  Ding,  das  in  sich 
die  Kontinuität  selbst  ist  (die  Dimensionen)  oder  das  in  seinem 
Wesen  kontinuierlich  ist,  unmöglich  in  sich  selbst  bestehen  bleiben, 
wenn  die  Kontinuität  in  Wegfall  kommt.^)  Wenn  nämlich  die 
Kontinuität  irgend  einer  Dimension  in  ihre  Bestandteile  zerlegt 
wird,  dann  wird  die  bestimmte  Dimension  vernichtet  und  es 
entstehen  zwei  andere  Dimensionen.  Ebenso  verhält  es  sich 
umgekehrt:  wenn  eine  neue  Kontinuität  auftritt, 2)  d.  h.  jenes 
Kontinuum,  das  eine  Differenz  ^)  bezeichnet,  nicht  ein  Akzidens  — 
an  einem  anderen  Orte^)  haben  wir  dieses  bereits  auseinander- 
gesetzt —  dann  tritt  auch  eine  andere  Dimension  auf  und  zugleich 
verliert  jeder  einzelne  der  beiden  Teile  (die  zu  einem  Kontinuum 
zusammentreten)  das,  was  in  seiner  (früheren)  Eigentümlichkeit 
lag.'^)  So  existiert  also  in  den  Körpern  etwas,  was  Substrat  für 
die  Kontinuität,  die  Teilbarkeit  und  die  bestimmt  abgegrenzten 
Größen  ist,  die  der  Kontinuität  als  Akzidenzien  zukommen. 
Ferner:  der  Körper  als  solcher  besitzt  die  Wesensform  der 
Körperlichkeit.  Er  ist  also  in  aktueller  Weise  ein  Ding.  Insofern 
er  aber  ausgestattet  ist  mit  Dispositionen«)  in  irgend  welcher 
Weise,  ist  er  der  Möglichkeit  nach  (ein  Ding).  Nun  aber  besteht 
das  Ding 7)  nicht  in  der  Weise,  daß  es  der  Möglichkeit  nach  etwas») 

^)  Die  Dimensionen  des  Körpers  können  also  nicht  ans  Atomen  bestehen, 
da  diese  die  Dimension  zn  einer  diskontinnierlichen  machen  würden,  d.  h.  ihr 
eigenstes  Wesen  aufhöben.  Aus  Atomen  kann  nur  eine  quantitas  discreta 
entstehen. 

•)  Wenn  zwei  Dimensionen  zu  einem  Kontinuum  verbunden  werden, 
wird  das  Wesen  der  früheren  Dimensionen  vernichtet. 

')  Nur  solche  Dinge  kommen  in  Betracht,  in  denen  die  Kontinuitfit 
Wesensbestandteil  ist. 

*)  Naturw.  I.  Teil,  UI,  1  und  2. 

»)  Ein  formelles  Prinzip  ging  verloren.  Dennoch  bleibt  etwas  anderes 
übrig.    Neben  der  Form  muß  es  also  eine  Materie  geben. 

•)  Der  Prozeß  des  Werdens  zeigt,  daß  im  Körper  Dispositionen  zur 
Aufnahme  anderer  Wesensformen  vorhanden  sein  müssen.  Das  Subjekt  dieser 
Dispositionen  kann  nicht  die  Wesensform  sein.  Neben  dieser  existiert  also 
ein  anderes  Prinzip  im  Körper,  die  Materie. 

')  Cod.  c :  d.  h.  dasselbe  Ding. 

")  Der  Potenz  nach  ist  also  der  Körper  noch  nicht  ein  Etwas,  noch 
nicht  ein  Seiendes;  sonst  würden  in  dem  wirklichen  Körper  zwei  selbständig 
Seiende  zusammentreffen,  also  keine  einheitliche  Natur  entstehen. 


Digitized  by 


Googl( 


111 

ist  und  der  Wirklichkeit  nach  etwas  anderes.  Die  Möglichkeit 
besteht  demnach  für  den  Körper  nicht,  insofern  er  die  Wirklichkeit 
besitzt 0  Daher  verbindet  sich  die  Wesensform  des  Körpers  mit 
einem  anderen  Dinge,  das  verschieden  ist  von  dem  Körper,') 
insofern  er  eine  Wesensform  ist  (d.  h.  besitzt).  Der  Körper  ist 
also  eine  Substanz,  die  zusammengesetzt  ist  aus  einem  Dinge, 
durch  das  ihr  die  Potenz  zukommt,  und  aus  einem  anderen  Dinge, 
durch  das  ihr  die  Aktualität  zuteil  wird.  Dasjenige,  durch  das 
der  Körper  die  Aktualität  besitzt,^)  ist  seine  Wesensform,^)  und 


^)  In  der  PotentmUtät  ist  der  KOrper  dnrchaos  ohne  AktnaUtät,  und 
auch  logisch  gUt:  insofern  man  den  KOrper  als  in  potentia  betrachtet, 
schlieft  man  die  ivx^UxBia  ans. 

*)  oder:  das  darin  verschieden  ist  von  dem  ersten,  daß  dieses  seine 
Wesensd^orm  ist. 

*)  oder;  dasjenige,  wodurch  der  Körper  „actu"  ist. 

*)  Vgl.  F&rüql  (Dictionary  S.829):  „Form  bezeichnet  in  der  Terminologie 
der  Gelehrten  nnd  anderer  viele  Begriffe:  1.  Die  Qualität,  die  im  Verstände 
wirklich  wird.  Sie  ist  ein  Organ  und  ein  Spiegel,  um  das  zu  erschauen,  was 
eine  Form  besitzt  (die  Dinge).  Sie  ist  ein  Abbild  und  Gleichnis,  das  dem 
Bilde  im  Spiegel  ähnlich  ist.  2.  Dasjenige,  wodurch  ein  Ding  als  in  sich 
bestimmt  und  von  anderen  sich  unterscheidend  auftritt,  allgemein  genommen, 
sei  es  in  der  Außenwelt  oder  im  Geiste.  Sie  bezeichnet  Körper  und  Begriffe. 
So  sagt  man:  dies  ist  die  Form  der  Frage,  die  Form  dieses  Zustandes 
(d.  h.  sein  Wesen).  Form  Gottes  bezeichnet  sein  Ihm  eigenttlmliches  Wesen, 
das  frei  ist  von  Ähnlichkeit  mit  irgend  einem  Dinge  außer  Ihm.  3.  Die 
gedankliche  Form,  d.  h.  das  Gewußte,  das  sich  im  Verstände  deutlich  unter- 
scheidet (d.  h.  bewußt  wird).  Es  bezeichnet  die  Wesenheit,  die  in  einer 
schattenhaften  Existenz  wirkUch  ist ,  d.  h.  einer  gedanklichen.  Die  Dinge 
sind  in  der  Außenwelt  Individua,  im  Geiste  Formen  (der  Erkenntnis). 
Letzteres  muß  als  existierend  angenommen  werden,  weil  das  im  Geiste 
Wirkliche  in  intelligibeler  Weise  determiniert  werden  muß,  um  es  von  den 
anderen  Erkenntnissen  zu  unterscheiden.  Die  gedanklichen  Wesensformen, 
seien  es  nun  die  universeUen,  die  Begriffe,  oder  die  individuellen,  die  Vor- 
stellungsbilder sinnlicher  Dinge,  sind  den  Wesensformen  der  Außenwelt  voll- 
ständig gleich  in  der  Wesenheit  (dem  Inhalte)  selbst.  Sie  unterscheiden  sich 
von  ihnen  in  den  notwendigen  Akzidenzien  (gemäßigter  Realismus);  denn  die 
begrifflichen  Wesensformen  schließen  sich  nicht  gegenseitig  aus  in  ein  und 
demselben  Substrate  (dem  Geiste,  der  das  Heiße  und  Kalte  zugleich  denken 
kann).  Sie  können  zugleich  in  ihm  sich  „niederlassen'^  im  Gegensatze  zu  den 
Wesensformen  der  Außenwelt".  „Auch  können  sich  die  großen  Erkenntnis- 
fonnen  in  einem  kleinen  Substrate  (dem  menschlichen  Geiste)  niederlassen, 
nnd  zwar  zugleich.  Daher  kann  die  Seele  die  Himmel  und  die  Erde  sich 
zugleich  vorsteUen."  „Sodann  entschwindet  das  Erkenntnisbild,  das  eine 
schwache  QuaUtät  besitzt,  nicht  aus  der  erkennenden  Kraft,  wenn  ein 
Erkenntnisbild  von  starker  Qualität  auftritt."    „Einige  behaupten,  die  Dinge 


Digitized  by 


Googk 


112 

dasjenige,  wodurch  er  die  Potentialität»)  erlangt,  ist  seine  Materie, 
und  dies  ist  die  Hyle.^) 

seien  nicht  im  Geiste  nach  ihrem  eigentlichen  Wesen,  sondern  in  meta- 
phorischer Weise  (Nominalisten)."  „Die  Form  der  Außenwelt  hat  entweder 
in  sich  selbst  Bestand  (als  Geist),  wenn  sie  selbst  snbstanzartig  ist,  oder 
sie  besteht  in  einem  aufnehmenden  Prinzipe,  das  verschieden  ist  von  dem 
Geiste,  wenn  sie  ein  Akzidens  ist,  wie  z.  B.  die  Form  im  Spiegel"  Sie 
bezeichnet  auch  eine  Substanz,  die  ihr  aufnehmendes  Prinzip  von  der  Potenz 
zum  Akte  überführt.  Diese  ist  zweifach,  entweder  körperlich  —  die  Substanz, 
die  in  der  ersten  Materie  sich  niederläßt.  Sie  wird  auch  quantitative  Natnr, 
Kontinuum,  Ausgedehntes  genannt;  —  oder  spezifisch  —  die  Substanz,  die 
sich  in  der  zweiten  Materie  niederläßt.  Sie  ist  eine  Substanz,  die  in  den 
fertigen  Körper  eintritt.  Vermöge  ihrer  Wirkungen  verhält  sie  sich  wie  ein 
Prinzip,  z.  B.  das  Leuchten,  das  Brennen.  Durch  dieselbe  sind  die  Körper 
spezifisch  verschieden,  d.  h.  sie  stehen  der  spezifischen  Verschiedenheit  sehr 
nahe.  Die  körperliche  Wesensform  verhält  sich  ebenso.  Diese  Substanz  wird 
auch  Naturkraft  genannt,  insofern  sie  Prinzip  für  die  Bewegung  und  Rohe 
ist.  Sie  heißt  auch  „Kraft"  bezüglich  ihrer  Wirkungen  auf  andere.  So 
lehren  es  die  Peripatetiker.  Bei  den  üluminanten  (Mystikern)  ist  es  allgemein 
bekannt,  daß  der  Körper  eine  einfache  körperliche  Form  ist.  Die  Ver- 
schiedenheit in  den  Körpern  besteht  nur  in  den  Akzidenzien,  die  dnrdi  die 
körperliche  Natur  eidstieren.  Jeder  eine  bestimmte  Art  darsteUende  Köiper 
wird  zusammengesetzt  aus  einer  Wesensform  und  einem  Akzidens,  das  in  und 
durch  ihn  besteht.  So  ist  es  die  Lehre  Abharls  1264  t  in  der  „Führung  zur 
Weisheit"  (Brockelmann  1464,  Nr.  23).  Form  bezeichnet  auch  aUes,  wm 
durch  einen  Sinn  wahrgenommen  werden  kann.  Es  wird  Individuum  genannt 
und  steht  dem  Begriffe  (der  universell  ist)  gegenüber.  Haw&rizmi  (S.  136) 
definiert:  „Die  Form  ist  die  Gestalt  und  Figur  des  Dinges,  durch  die  die 
Hyle  geformt  wird.  Durch  dieselbe  erlangt  der  Körper  seine  Vollkommenheit^ 
z.  B.  durch  die  Form  des  Bettes  und  der  Türe,  des  Denars  und  der  Kette. 
Der  Körper  ist  also  aus  Form  und  Materie  zusammengesetzt.  Die  Materie 
hat  ohne  die  Form  keine  Existenz  (s.  Avicenna  Kap.  3),  es  sei  denn  in  der 
inneren  Vorstellung.  Ebensowenig  hat  die  Form  eine  Existenz  ohne  die 
Materie,  es  sei  denn  in  der  inneren  Vorstellung.  Gorg&ni  (ed.  Flügel  S.  141): 
„Die  Form  des  Dinges  ist  dasjenige,  was  man  von  dem  Dinge  (im  Geiste) 
erhält,  wenn  man  die  individualisierenden  Bestimmungen  entfernt.  Form  ist 
auch  dasjenige,  wodurch  ein  Ding  (in  der  Außenwelt)  ,actu'  wird.  Die 
körperliche  Wesensform  ist  eine  kontinuierliche,  einfache  Substanz,  d^-en 
Substrat  nicht  ohne  sie  existieren  kann.  Sie  ist  aufnahmefähig  (Gedanke 
Avicennas)  für  die  drei  Dimensionen,  die  auf  den  ersten  Blick  im  Köiper 
erkannt  werden."  „Die  spezifische  Form  ist  eine  einfache  Substanz,  deren 
Existenz  nicht  actu  vollendet  wird,  ohne  ein  aufnehmendes  Prinzip,  in  dem 
sie  sich  niederläßt."  Vgl.  femer  Avicenna,  Definitionen  (ed.  Konstantinopel 
1298)  S.57,  58  und  Fahereddin  er-Bazi  1210  t:  „Die  Ansichten  der  alten  und 
modernen  Philosophen",  Kairo  1323  =  1905,  S.  83. 

>)  oder:  „durch  das  er  in  potentia  existiert". 

*)  Vgl.  die  Worte  Hawärizmis  (S.  136) :    „Hyle  ist  jeder  Körper,  der 


Digitized  by 


Googl( 


113 

Jemand  könnte  den  Einwand  machen:  die  erste  Materie 
ist  anch  zusammengesetzt;  denn  sie  ist  in  sich  selbst  erste 
Materie  und  zugleich  Substanz  in  aktueller»)  Weise  und  zugleich 
disponiert  (für  die  Aufnahme  der  Form).  Darauf  antworten  wir: 
die  „Substanz"  der  Materie  und  ihr  esse  actu  materiam  primam 
ist  nichts  anderes,  als  daß  sie  eine  Substanz  darstellt,  die  für 
ein  Bestimmtes  disponiert  ist.  2)  Das  esse  substantiam,  das  ihr 
zukommt,  bewirkt  zudem  nicht,  daß  sie  aktuell  irgend  ein  Ding 
seL3)  Es  disponiert  vielmehr  die  Materie  nur,  so  daß  sie  durch 
die  Wesensform  ein  Ding  werden  kann.  Der  Begriff  ihres  esse 
substantiam  besagt  nur,  daß  sie  ein  Ding  ist,  das  nicht  in 
einem  Substrate  existiert  Die  Behauptung  besagt  nui-,  daß  sie 
ein  Ding  ist  Die  Bestimmung  aber,  daß  sie  nicht  in  einem 
Substrate  ist,  ist  eine  Negation.  Die  andere  Bestimmung  hin- 
gegen, daß  sie  ein  Ding  sei,  hat  nicht  zur  notwendigen  Folge, 
daß  sie  ein  individuelles  und  existierendes  Ding  sei;  denn  der 

seine  Wesenaform  trägt,  wie  das  Holz  die  Form  des  Ruhebettes  nnd  der  Türe 
und  das  Silber  die  des  Siegelringes  und  (Geschmeides  nnd  das  Gold  die  des 
Denars  und  der  Kette.  Im  universellen  Sinne  bezeichnet  sie  die  Materie 
(wOrtlich:  der  Lehm)  der  Welt,  d.  h.  den  Körper  der  höchsten  Himmelssphftre 
and  der  Himmel  und  Sterne,  die  sich  innerhalb  dieser  (ersten)  befinden,  dann 
anch  die  vier  Elemente  und  das  ans  ihnen  zusammengesetzte.  Gorg&ni 
(ed.  Flügel  S.  279):  „Hyle"  ist  ein  griechisches  Wort.  Es  bezeichnet  den 
Ursprung  und  die  Materie.  In  der  phiiosophischen  Terminologie  bedeutet  sie 
eine  Substanz  in  einem  KOrper,  die  aufnahmefähig  ist  für  die  Kontinuität 
und  Trennung,  die  diesem  Körper  zukommen.  Sie  ist  aufnehmendes  Prinzip 
für  die  beiden  Formen,  die  der  Körperlichkeit  (esse  corpus)  und  die  der  Art. 
Allst.  Metaph.  1029  a  20:  (^  9>*ij  iotlv)  §  xaB-*  avrijv  iitjjb  xl  fiiqx£  noaov  fiijre 
iXXo  /iTj^lv  }Jyexai  olg  ägiaxai  ro  iv  und  Thomas  Sum.  theol.  I  4, 1  c : 
Primum  principium  materiale  imperfectissimum  est.  Cum  enim  materia 
inquantum  huius  modi,  sit  in  potentia,  oportet  quod  primum  principium 
materiale  sit  maxime  in  potentia  et  ita  maxime  imperfectum. 

^)  Sie  besitzt  also  ebenso  wie  der  fertige  Körper  eine  Materie  und  eine 
Form.  Letztere  verleiht  ihr  die  Aktualität,  wodurch  sie  Substanzialität  und 
Dasein  hat. 

*)  Es  bedarf  also  keines  unterscheidenden  d.  h.  aktuellen  Momentes. 

>)  YgL  Thomas  Sum.  theol.  17,2  ad  3:  materia  prima  non  existit  in 
rerum  natura  per  seipsam,  cum  non  sit  ens  in  actu,  set  potenti&  tantum; 
ib.  115, 1  ad  2 :  materia  prima  est  potentia  pura  und  Arist.  Psych.  412  a  7 
bezeichnet  die  SA17  als  if  xaO-'  avxo  ovx  hxi  xoSe  xi  und  Metaph.  1042  a  27: 
§  fi^  xoSe  XI  ovca  ivsf^sl^  SvvdfiEi  ioxl  xoöe  xi.  Sie  ist  Physik  209b  9:  x6 
doQujxov,  a.a.O.:  x6  äfioQ<pov,  x6  äeiSlg.  Die  verschiedenen  Auffassungs- 
weisen der  Materie  behandelt  Ol.  Bäumker,  Das  Problem  der  Materie  in  der 
griechischen  Philosophie,  Münster  1890. 

Horten,  Das  Baob  d«r  OeMfong  d«r  Seele.  8 


Digitized  by 


Googk 


114 

obige  Ausdruck  („Ding")  ist  ein  ganz  allgemeiner.*)  Der  G^en- 
stand  wird  nun  aber  nicht  aktuell  zu  einem  realen  durch  das 
universelle  (begriffliche)  „Ding",  solange  als  er  nicht  eine 
Differenz  enthält,  die  ihm  speziell  zukommt.  Seine  Differenz 
(die  der  ersten  Materie)  ist  nun  aber  die,  daß  er  disponiert  ist 
für  alle  Dinge,  und  daher  ist  seine  Wesensform  (d.  h.  die  der 
materia  prima),  die  man  ihm  vermutungsweise^)  zuspricht,  die- 
jenige, daß  er  disponiert  und  aufnahmefähig  ist.  Daher  besteht 
also  hier  kein  erstes  reales  Wesen,  das  der  ersten  Materie 
zukäme  und  durch  das  sie  aktuell  würde,  und  daneben  ein 
anderes  reales  Wesen  in  der  Möglichkeit,  es  sei  denn,  daß  von 
außen  her  ihr  eine  Wesenheit  zukomme.^)  Dann  wird  sie  durch 
diese  letztere  aktuell.  Sie  ist  (also)  in  sich  selbst  und  mit 
Rücksicht  auf  das  Wirklichsein  ihres  Wesens  nur  potentieU. 

Diese  reale  W^esenheit  nun  (die  ihr  von  außen  zukommt) 
ist  die  Wesensform.  Die  Beziehung  der  ersten  Materie  zu 
diesen  zwei  Begriffen^)  gleicht  mehr  der  Beziehung  des  Ein- 
fachen zu  dem,  was  Genus  und  Differenz  ^)  ist,  als  der  Beziehung 
des  Zusammengesetzten  zu  dem,  was  erste  Materie  und  Wesens- 
form ist.  Daher  ist  klar,  daß  die  Wesensform  der  Körperlichkeit 
als  solche  der  Materie  bedarf  (um  existieren  zu  können).  Weil 
nun  die  Natur  der  körperlichen  Wesensform  in  sich  selbst  als 
solche  keine  Verschiedenheiten  birgt,  so  ist  sie  eine  einzige  sich 
gleichbleibende  und  einfache,  die  nicht  durch  spezifische,  von 
außen  hinzukommende  Differenzen  in  Arten  zerlegt  werden  kann, 
insofern  sie  das  Wesen  der  Körperlichkeit  hat.  Treten  daher 
spezifische  Differenzen  in  ihr  Wesen  ein,  so  sind  dies  Dinge,  die 
zu  ihrem  Wesen  von  außen  hinzukommen  und  die  zugleich  eine 
der  Wesensformen  sind,  die  mit  der  Materie  sich  verbinden. 
Die  Verbindung  solcher  Dinge  mit  der  körperlichen  Natur  ist 
nicht  zu  beurteilen  wie  die  der  wirklichen,  spezifischen  Differenzen 


*)  Die  Materie  wird  als  „Ding"  bezeichnet  in  dem  Sinne  eines  Genus, 
nicht  eines  realen  Gegenstandes. 

*)  Der  arabische  Ausdruck  bezeichnet  ein  unsicheres,  in  diesem  Zusammen- 
hange wohl  ein  unrichtiges  Aussagen. 

»)  Wörtlich:  „zufliege".  Vgl.  Arist.  679  c 22:  imo  tdjv  ^vQa^ev  ngoa- 
nmrovrcDv. 

*)  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  dem  Ding  (esse  ens)  und  dem  non  esse  in  substrato**. 

^)  Genus  ist  fUr  die  Materie  das  esse  ens,  Differenz  das  non  esse  in 
substrato. 


Digitized  by 


Googl( 


115 

(der  Körperlichkeit).  0  Der  Beweis  dafür  ist  der,  daß  die  körper- 
Uche  Natur,  wenn  sie  sich  von  einer  anderen  unterscheidet,  diese 
Unterscheidung  dadurch  erlangt,  daß  die  eine  z.  B.  heiß  ist,  die 
andere  kalt;  oder  daß  die  eine  die  Natur  der  himmlischen  Sphäre 
hat,  die  andere  eine  irdische  Natur.  Dieses  aber  verhält  sich 
nicht  wie  die  Ausdehnung 2)  (im  mathematischen  Sinne),  die  in 
sich  selbst  kein  wirkliches  Ding  ist,  solange  sie  nicht  die  Natur 
einer  bestimmten  Art  annimmt,  indem  sie  entweder  Linie  oder 
Fläche  oder  dreidimensionaler  Körper  wird.  Noch  verhält  sie 
sich  wie  die  Zahl,  die  ebensowenig  ein  reales  Ding  ist,  solange 
sie  sich  nicht  als  eine  bestimmte  Art  darstellt  in  Gestalt  der 
Zwei  oder  Drei  oder  Vier.  Wenn  dann  (die  bestimmte  Zahl 
oder  Ausdehnung)  zur  wirklichen  Existenz  gelangt,  so  geschieht 
dieses  Wirklichwerden  nicht  dadurch,  daß  ein  reales  Ding  von 
außen  ihm  (dem  Genus  „Zahl"  oder  „quantitas  continua") 
zukommt,  noch  besitzt  die  Natur  des  Genus,  wie  z.  B.  die 
mathematische  Ausdehnung  oder  die  Zahl  ohne  diese  spezifischen 
Differenzen,*)  eine  besondere  Natur,  die  in  sich  besteht  und 
Objekt  eines  Hinweises  (d.  h,  ein  Individuum)  ist  und  zu  der 
eine  andere  Natur  (die  Differenz)  hinzugefügt  würde,  so  daß 
sich  das  Genus  durch  diese  als  eine  bestimmte  Art  darsteUt. 
Die  Natur  der  Zweiheit  ist  vielmehr  selbst  die  der  Zahl,  die 
von  der  Zweiheit  ausgesagt  und  durch  dieselbe  determiniert 
wird.  Die  Länge  selbst  ist  ebenso  die  mathematische  Aus- 
dehnung, die  von  ihr  ausgesagt  und  die  durch  den  Begriff  der 
Länge  bestimmt  wird.*) 

In  dieser  (abstrakten)  Weise  stellt  sich  das  Verhältnis  bei 
den  realen  Körpern  nicht  Wenn  vielmehr  der  körperlichen 
Natur  eine  andere  Wesensform  zugefügt  wird,  so  wird  diese, 
wie  (wörtlich:  die)  man  vermutet,  nicht  zu  einer  spezifischen 
Differenz,  noch  die  Körperlichkeit  dadurch,  daß  sie  sich  mit 
dieser  verbindet,    zur  Körperlichkeit,   sondern  die  körperliche 


1)  Sie  bestimmen  nicht  die  Körperlichkeit  in  ihrer  Art,  sondern  bilden 
innerhalb  des  Genns  „Eörperlichkeif^  neue  Arten. 

*)  Die  Körperlichkeit  ist  kein  logisch-begriffliches,  sondern  ein  physisches 
Genns. 

»)  Wörtlich:   „ohne  sie"  d.  h.  die  aufgezählten  Dinge:  Linie,  Fläche, 
Zweiheit  nnd  Dreiheit. 

*)  YgL  die  Ansftthrongen  in:  Horten,  Das  Buch  der  Bingsteine  Färäbis, 
S.  364  ff. 

8* 


Digitized  by 


Googk 


116 

Natur  ist  einer  der  beiden  Teile,  in  sich  wirklich  und  aus- 
gestattet mit  einer  realen  Wesenheit.  Unter  körperlicher  Natur 
wird  an  diesem  Orte  dasjenige  verstanden,  das  sich  wie  die 
Wesensform,  0  nicht  wie  das  (logische)  Genus  verhält.  Den 
Unterschied  hast  du  bereits  im  Buche  über  den  Beweis*)  kennen 
gelernt  und  auch  hier  wirst  du  eine  Erklärung  und  Auseinander- 
setzung darüber  finden.  Du  hast  aus  dem,  was  klargestellt  wurde, 
den  Unterschied  beider  Begriffe  kennen  gelernt.  Dasjenige,  was 
sich  wie  die  Ausdehnung  verhält,  kann  in  seinen  Arten  5)  ver- 
schiedene Gestalten  annehmen  durch  Dinge,  die  den  Arten*) 
wesentlich^)  zukommen,  während  die  Ausdehnung,  in  universeUem 
Sinne  genommen,  von  diesen  Arten  in  sich  selbst  noch  nichts 
besitzt.  Denn  die  Ausdehnung  in  abstracto  besitzt  aktuell  noch 
kein  Wesen,  das  selbständig  existieren  könnte,«)  wenn  sie  nicht 
zur  Linie  oder  Fläche  wird.  Wird  sie  nun  aber  zur  Linie  oder 
Fläche,  dann  kann  der  Linie  in  ihrem  eigenen  Wesen  eine  Ver- 
schiedenheit gegenüber  der  Fläche  zukommen,  die  in  einer 
spezifischen  Differenz  besteht.  Diese  bewirkt,  daß  die  Natur  der 
(mathematischen)  Ausdehnung  zu  einer  Linie  oder  Fläche  wiri 
Die  körperliche  Natur,  von  der  wir  hier  sprechen,  ist  in 
sich  selbst  (im  Gegensatze  zur  Ausdehnung)  eine  wirkliche 
Natur,  deren  bestimmte  Art  (als  Körperlichkeit)  nicht  durch  ein 
reales  Ding  zustande  kommt,  indem  dieses  ihr  zugefügt  würde,") 
Denn  wenn  wir  uns  in  diesem  Falle  dächten,  dasselbe  würde 
der  körperlichen  Natur  nicht  in  irgend  einer  Weise  zugefügt, 
sondern  sie  wäre  (nur)  eine  körperliche  Natur,  dann  könnte  sie 
in  unserer  Begriffswelt  nur  wirklich  werden  als  die  Vorstellung 
einer  Materie  und  einer  Kontinuität^)    Wenn  wir  in  gleicher 


^)  Die  Wesenaform  ist  in  sich,  selbst  ohne  die  Materie,  etwas  Reales, 
auch  wenn  sie  nicht  ohne  die  Materie  existieren  kann. 

»)  VieUeicht  Logik  U,  Teü  I,  9. 

')  Cod.  d  GL:  d.  h.  in  seinen  Einheiten  (Individuen). 

*)  Zu  erwarten  wäre:  „der  determinierten  Ausdehnung". 

*)  Das  Heiße  und  Kalte,  die  Differenzen  der  Körper,  sind  hingegen 
nicht  Wesensbestandteile  der  Körperlichkeit. 

•)  Wörtlich:  „das  festbegründete  wäre". 

')  Dadurch  wird  nicht  geleugnet,  daß  die  bestimmten  Arten  der  Körper- 
lichkeit, z.  B.  der  heiße  oder  kalte  Körper,  durch  hinzugefügte  Differenzen 
entstehen. 

")  „Körperlichkeit"  würde  also  nicht  Substanz  bedeuten,  sondern  nur 
Kontinuität  und  „esse  materiale". 


Digitized  by 


Googl( 


117 

Weise  mit  der  Kontinuität  (einem  logischen  Genus)  ein  anderes 
Ding  als  verbunden  denken,  verhält  sich  die  Sache  anders;  denn 
die  Kontinuität  selbst  wird  nur  dadurch  von  uns  wirklich  er- 
kannt, daß  wir  ein  anderes  (d.  h.  den  Begriff  der  Linie,  Fläche 
oder  des  Körpers)  zu  ihr  hinzufügen  und  mit  ihr  verbinden.*) 
Durch  manche  andere  Beweise  werden  wir  vielmehr  klar  machen, 
daß  die  Kontiiwiität,  für  sich  allein  genommen,  nicht  aktuell 
existiert  Der  Umstand  also,  daß  das  Ding  nicht  aktuell  und 
real  existiert,  ist  nicht  identisch  mit  dem  anderen,  daß  seine 
Natur  (so  wie  ihre  Wesenheit  logisch  erfaßt  wird)  nicht  wirklich 
ist;  denn  die  weiße  und  schwarze  Farbe  sind  beide  in  ihrer 
Natur  wirklich  als  determinierter  Inhalt  (ratio)  in  der  voll- 
kommensten Wesensbestimmung,  die  in  sich  selbst  abgeschlossen 
ist;  trotzdem  ist  es  nicht  möglich,  daß  das  Weiße  und  Schwarze 
aktueU  existiere,  außer  in  einer  Materie.  Die  (mathematische) 
Ausdehnung  in  abstracto  kann  unmöglich  zur  Natur  eines  Dinges 
werden,  das  Gegenstand  eines  (individuellen)  Hinweises  ist  (rö 
Toöe  Ti)j  außer  wenn  sie  Linie  oder  Fläche  2)  wird,  so  daß  sie 
dann  Realität  annehmen  kann.  Die  Sachlage  verhält  sich  nicht 
so,  daß  die  Ausdehnung  zuerst  als  Ausdehnung  real  existieren 
konnte  und  daß  diesem  Zustande  der  andere  folgte,  daß  sie  zu 
einer  Linie  oder  Fläche  würde.  Das  Verhältnis  ist  vielmehr  so, 
daß  jenes  (die  Art,  z.  B.  die  Linie)  ein  reales  Ding  ist,  ohne 
welches  der  Gegenstand  (d.  h.  das  Genus,  z.  B.  die  Ausdehnung) 
nicht  aktuell  existieren  kann,  selbst  wenn  er  in  seinem 
Wesen  Aktualität  besitzt  J^)  Der  Vorgang  (des  Entstehens)  der 
Körperlichkeit  verhält  sich  aber  nicht  so.    Man  stellt  sich  die 


*)  Ebenso  wie  wir  uns  kein  bestimmtes  Dreieck  denken  können,  das 
weder  gleichseitig  noch  ungleichseitig  ist,  kennen  wir  nns  auch  keine  bestimmte 
Ausdehnung  denken,  die  weder  Linie,  noch  Fläche,  noch  Körper  wäre. 

*)  Gorgani  (ed.  Flügel  S.  79)  definiert  den  „mathematischen  Körper  als 
denjenigen,  der  aufnahmefiüiig  ist  für  die  Teilung  in  Länge,  Breite  und  Tiefe. 
Er  ist  die  Grenze  der  Fläche.  Diese  ist  die  Grenze  des  Naturkörpers.  Er 
wird  mathematischer  Körper  genannt,  da  er  Objekt  der  mathematischen  Wissen- 
schaften ist,  die  die  Zustände  des  kontinuierlichen  und  diskontinuierlichen 
Quantum  (noaov)  untersuchen,  insofern  sie  zur  Mathematik  Bezug  haben. 
Man  ließ  die  Knaben  zur  geistigen  Ausbildung  mit  diesen  Problemen  beginnen, 
weil  sie  leichter  sind  für  das  Verständnis". 

*)  Das  Genus  besitzt  in  dem  Sinne  eine  gewisse  Aktualität,  als  es  ein 
realer  Bestandteil  der  aktueU  existierenden  Art  ist.  Zudem  ist  sein  Begriff 
logisch  fertig  (mutaha^sal)  und  klar. 


Digitized  by 


Googk 


118 

Natur  der  Körperlichkeit  vielmehr  vor  als  eine  solche,  die  durch 
die  verschiedenen  Ursachen  existiert,  denen  es  (z.  B.  der  Form) 
zusteht,  dieselbe  zur  Existenz  zu  bringen  und  in  denen  (z.  B.  in 
der  Materie)  sie  existiert  Sie  ist  reine  Natur  des  Körpers 
ohne  Hinzufttgung  anderer  Bestimmungen  (der  Art).  Die  (mathe- 
matische) Ausdehnung  stellt  man  sich  demgegenüber  nicht  so 
vor,  daß  sie  durch  die  verschiedenen  Ursachen  existiert,  durch 
die  sie  und  in  denen  sie  existieren  muß.  Dieses  ist  die  reine 
Ausdehnung  ohne  Hinzufttgung  anderer  Bestimmungen.  Daher 
bedarf  die  Ausdehnung  ihrem  eigenen  Wesen  zufolge  spezifischer 
Differenzen,  so  daß  sie  zu  einem  real  existierenden,  bestinmiten 
Dinge  wird.  Diese  DifEerenzen  kommen  ihr  wesentlich  zu.  Sie 
bewirken  nicht,  daß  die  Ausdehnung  (ihre  generische  Wesenheit) 
verläßt,  um  dadurch,  daß  die  Differenzen  zu  ihr  hinzutreten, 
etwas  anderes  als  Ausdehnung  zu  werden.  ^)  (Sie  bleibt  also  in 
dem  Bereiche  ihres  Genus.)  Daher  ist  es  möglich,  daß  die  Aus- 
dehnung sich  unterscheide  von  einer  anderen  Ausdehnung  durch 
ein  Ding  (d.  h.  eine  Bestimmung),  das  ihr  wesentlich  zukommt 
Die  Wesensform  der  Körperlichkeit  als  solche  ist  eine 
einzige  (d.  h.  sich  in  allen  in  Frage  kommenden  Individuen 
gleichbleibende),  einfache,  wirkliche  2)  Natur,  die  keine  Ver- 
schiedenheiten in  sich  trägt  Es  unterscheidet  sich  die  reine 
Wesensform  der  Körperlichkeit  von  einer  anderen,  gleichen 
Wesensform  der  Körperlichkeit,  nicht  durch  eine  Differenz,  die 
in  ihr  Wesen  einträte.^)  Was  ihr  anhaftet,  das  haftet  ihr  an, 
insofern  sie  ein  anderes  Ding  als  die  Natur  ihrer  Inhärenzien 
ist  (Sie  haften  ihr  also  an  auf  Grund  eines  neuen  Prinzips, 
das  außerhalb  der  Natur  der  Körperlichkeit  liegt)  Daher  ist 
es  nicht  möglich,  daß  eine  Art  der  Körperlichkeit  einer  Materie 
bedarf,  während  zugleich  eine  andere  Art  der  Körperlichkeit 
nicht  auf  eine  Materie  hingeordnet  ist    Die  äußeren  Inhärenzien 


^)  Die  Ansdehnnng  ist  also  in  der  Linie  „rein'',  per  modom  ideae,  ent- 
halten, die  Körperlichkeit  aber  in  dem  weißen  Körper  nicht  „rein",  sondern 
durch  ein  von  anfien  Kommendes  determiniert.  Die  Linie  oder  Flllche,  oder 
der  stereometrische  Körper  kommen  der  Ausdehnong  wesentlich,  die  weifie 
oder  schwarze  Farbe  dem  Körper  aber  nur  per  acddens  zu. 

•)  Der  Terminus  „Wirklichkeit"  bezeichnet  in  diesen  Ausführungen  eine 
Aktualität  logischer  Ordnung,  ohne  Einschluß  der  Existenz  in  der  Außenwelt. 

>)  Darin  unterscheidet  sie  sich  von  dem  Verhältnis  der  Ausdehnung 
zur  Linie. 


Digitized  by 


Googk 


119 

aber  befreien  das  Wesen  der  Körperlichkeit  durchaus  nicht  von 
seiner  (notwendigen  und  wesentlichen)  Hinordnung  auf  die 
Materie  ;0  denn  die  Hinordnung  kommt  der  Körperlichkeit  und 
jedem  köi-perlichen  Dinge  (primo  et  per  se)  auf  Grund  seines 
Wesens  zu,  und  zwar  der  körperlichen  Natur  als  solcher,  nicht 
insofern  sie  verbunden  ist  mit  einem  Inhärens. 

Daher  ist  klar,  daß  die  Körper  zusammengesetzt  sind  aus 
Materie  und  Form. 


Drittes  Kapitel. 
Die  körperliche  Materie  l(ann  nicht  frei  sein  von  der  Wesensform. 

Wir  lehren  nunmehr:  diese  (individuelle)  körperliche  Materie 
kann  unmöglich  aktuell  existieren,  entblößt  von  der  Wesensform. 
Dieses  wird  schnell  klar  werden  durch  das,  was  wir  dargelegt 
haben,  daß  nämlich  jedes  real  Existierende,  das  ein  aktueUes, 
determiniertes,  subsistierendes  Wirkliche  besitzt  und  ferner  mit 
einer  Disposition  ausgestattet  ist,  etwas  Reales  aufzunehmen,  aus 
Materie  und  Form  zusammengesetzt  ist.  Die  letzte  Materie  2) 
aber  ist  nicht  zusammengesetzt  aus  Stoff  und  Wesensform.  Femer 
wenn  die  Materie  sich  von  der  körperlichen  Wesensform  trennen 
ließe,  dann  müßte  die  prima  materia  Lage  und  Räumlichkeit  in 
dem  Sein  besitzen,  das  ihr  dann  (ohne  Form)  zukommt  oder 
niclit  Besäße  sie  nun  beides  und  könnte  sie  in  Teile  zerlegt 
werden,  dann  müßte  sie  auch  notwendigerweise  Ausdehnung 
besitzen.  Doch  bereits  wurde  vorausgesetzt,  daß  sie  keine  Aus- 
dehnung besitze.     Wenn  sie  nun  nicht  teilbar  ist,  noch  auch 


*)  Eine  Idealmaterie  existiert  also  nicht.  Femer  ist  die  himmlische 
Materie  ein  und  dieselbe  wie  die  irdische.  Vgl.  Thomas  Sent.  ü,  d.  149, 1.  2 
Solutio.  Circa  hanc  quaestionem  fuit  philosophorum  diversa  positio.  Omnes 
enim  ante  Aristotelem  posuerunt  coelmn  esse  de  natura  quatur  elementorum. 
Aristoteles  antem  primus  hanc  viam  improbayit  et  posuit  caelum  esse  quintam 
essentiam  sine  gravitate  et  levitate  et  aliis  contrarüs,  et  propter  efficaciam 
rationom  eins,  posteriores  philosophi  consenserunt  sibi;  unde  nunc  omnes 
opinionem  eins  sequuntur.  Dazu  vgl.  ib.  d.  3  91, 1  solutio.  Secunda  positio 
est  quod  materia  non  est  in  substantiis  incorporeis;  sed  tarnen  est  in  omnibus 
corporibus  (etiam  coelestibus)  etiam  una,  et  haec  est  positio  Avicennae  (vgl. 
die  obigen  Worte). 

«)  Vgl.  Arist  Metaph.  1035  b  30:  ix  x^q  ioxatrjg  Vkrjg. 


Digitized  by 


Google 


120 

räumliche  Lage  besitzt,  dann  ist  sie  nur  ein  Punkt  und  es  ist 
möglich,  daß  bei  ihr  eine  Linie  endige.  Sie  kann  femer  nicht 
allein  für  sich  selbständig  bestehen  entsprechend  anderen  Aus- 
führungenJ)  Wenn  nun  diese  Substanz  (die  materia  prima  ohne 
Form)  keine  räumliche  Lage  besitzt,  noch  Gegenstand  eines 
Hinweises  ist  (d.  h.  keine  Individualität  besitzt),  sondern  viel- 
mehr sich  verhält  wie  die  begrifflichen  Substanzen  (die  sub- 
stantiae  secundae),  dann  können  zwei  Fälle  eintreten.  Entweder 
läßt  sich  in  ihr  die  aktuelle  und  vollständige  Dimension  nach 
ihrem  ganzen  Bestände  nieder,  und  zwar  in  einem  Male^)  (tota 
simul),  oder  die  Dimension  bewegt  sich  zur  Vollendung  ihrer 
Ausdehnung  hin  3)  in  einer  Bewegung,  die  der  Kontinuität  ent- 
spricht. Wenn  nun  die  Ausdehnung  in  ihr  sich  auf  einmal 
niederläßt  und  wenn  sie  dann  konsequenterweise  zugleich  mit 
ihrem  bestimmten  Maße  in  individueller  Räumlichkeit  wirklich 
wird,  dann  hat  sie  (die  Substanz)  also  eine  Ausdehnung  erlangt^ 
indem  sie  vorher  schon  räumlich  bestimmt  wurde;  sonst  könnte 
ihr  überhaupt  keine  bestimmte  Räumlichkeit  in  höherem  Maße 
zukommen  als  eine  andere.  (Räumlich  bliebe  sie  also  trotz 
ihrer  bestimmten  Ausdehnung  indeterminiert,  was  ein  Wider- 
spruch ist)  Dann  erlangt  sie  also  die  Ausdehnung,  indem  ihr 
zugleich  eine  bestimmte  Räumlichkeit  von  außen  zukommt  Das 
heißt  also  nichts  anderes  als:  die  Substanz  (der  formlosen  Materie) 
erlangte  die  Ausdehnung,  während  sie  zugleich  in  dem  Räume 
war,  in  dem  sie  sich  naturgemäß  befindet  Diese  Substanz  ist 
also  dann  räumlich  begrenzt,  abgesehen  von  dem  Falle,  daß  sie 
vielleicht  sinnlich  nicht  wahrnehmbar  wäre.  Die  Annahme 
besagte  aber,  daß  sie  (die  erste  Materie)  in  keiner  Weise 
räumlich  begrenzt  sei.    Dies  ist  aber  ein  Widerspruch. 

Die  Räumlichkeit  kann  ebensowenig  dieser  Substanz  auf 
einmal  zukommen  zugleich  mit  der  Aufnahme  der  Ausdehnung; 
denn  wenn  der  ersten  Materie  die  Ausdehnung  zukommt,  ohne 
daß  sie  räumliche  Grenzen  besitzt,  dann  wird  die  Ausdehnung 
mit  dieser  Substanz  nicht  innerhalb  eines  räumlichen  Volumens 
verbunden.  Sie  kommt  also  der  Substanz  nicht  zu  in  irgend 
einem  bestimmten  Räume  von  den  vielen  verschiedenen  Räumen, 


»)  z.  B.  Naturw.  I,  Teü  1, 2  n.  6. 

*)  Vgl.  Arist.  1418  a  14:  al  xivriOiiq  al  5/Ma;  218a25;  ofia  xaxa  xfiovov. 

*)  Der  Prozeß  hat  also  in  diesem  Falle  verschiedene  Phasen. 


Digitized  by 


Googk 


121 

die  für  diese  Substanz  überhaupt  in  Frage  kommen.  Dann  also 
hätte  diese  Substanz  durchaus  kein  Volumen,  was  unmöglich 
ist;  oder  sie  befände  sich  in  jeder  beliebigen  Form  des  Volumens, 
die  ihr  zukommen  kann,  ohne  daß  sie  in  spezieller  Weise  durch 
ein  bestimmtes  Volumen  individualisiert  würde.  Dies  aber  ist 
unmöglich.  Noch  deutlicher  wird  dieses  hervortreten,  wenn  wir 
uns  die  erste  Materie  eines  Stückes  Erde  vorstellen,  die  abstrakter 
Natur  (i  h.  ohne  die  Wesensform  der  Erde)  wäre.  Dann  würde 
ihr  die  Wesensform  dieses  bestimmten  Stückes  Erde  zukommen.^) 
Eis  ist  also  unmöglich,  daß  diese  in  ihr  wirklich  wird,  ohne  daß 
die  Materie  zu  gleicher  Zeit  in  einem  bestimmten  Räume  ent- 
halten wäre,  und  ebensowenig  ist  es  möglich,  daß  dieses  bestimmte 
Stück  Erde  in  jedem  beliebigen  Baume  wirklich  werde,  der  der 
Potenz  nach  einen  natürlichen  Raum  für  diese  Erde  darstellt. 
Denn  die  Natur  der  Erde  (die  spezifische  Form)  bewirkt  nicht, 
daß  die  Substanz  jede  beliebige  Räumlichkeit,  die  für  ihre  Art 
paßt,  annehmen  kann,  noch  bewirkt  sie,  daß  sie  in  vorzüglicherem 
Sinne  eine  bestimmte  räumliche  Richtung  ihres  Volumens  annimmt, 
als  eine  andere;  noch  ist  es  möglich,  daß  sie  (diese  „Erde")  real 
existiere,  ohne  sich  in  einer  individuellen  Richtung  zu  befinden, 
die  herausgegriffen  ist  aus  der  Summe  des  Raumes  als  eines 
Ganzen.  Ebensowenig  ist  es  möglich,  daß  sie  in  einer  bestimmten 
Richtung  wirklich  wird,  ohne  daß  durch  dieselbe  für  sie  gewisse 
Verhältnisse 2)  determiniert  würden,  da  noch  etwas  mehr  vor- 
handen ist  (nämlich  aUe  Akzidenzien)  als  die  bloße  Verbindung 
einer  Wesensform  mit  einer  Materie.  Dieses  aber  (die  räum- 
lichen Richtungen)  ist  allgemein  möglich  für  das  Wirklichwerden 
(einer  Substanz)  in  irgend  einer  beliebigen  Lage,  die  (für  den 
Körper)  die  natürliche  ist  auf  Grund  der  Teile  der  Erde.»)  Nun 
hast  du  bereits  gelemt^^)  daß  alles  so  beschaffene  Wirklichwerden, 
das  in  einer  bestimmten  Lage  des  Raumes  stattfindet,  nur  dadurch 
in  einem  bestimmten  Orte  auftritt,  daß  es  in  der  Nähe  desselben 


')  In  der  Determination  (diase)  liegt  bereits  eine  gewisse  Räumlichkeit 
einbegiiffen,  da  Ranm  wie  Zeit  individualisierende  Bestimmungen  sind. 

«)  Durch  die  Richtungen  oben,  unten;  rechts,  links  u.s.  w.  sind  gewisse 
Beziehungen  zu  anderen  Körpern  von  selbst  gegeben.  Wörtlich:  „aber  nicht 
in  einem  Determinierten  von  den  Verhältnissen". 

*)  Durch  die  Relation  zu  den  Teilen  der  Erde  und  des  Himmels  besitzt 
der  Körper  verschiedene  Richtungen. 

*)  Naturw.  I,  Teü  1, 1—5. 


Digitized  by 


Google 


122 

durch  Vermittlung  eines  äußeren  Zwanges  statthat,  der  diese 
bestimmte  Nähe  in  ihrer  Richtung  auf  diesen  individuellen  Ort 
determiniert.  Diese  Determination  findet  statt  durch  die  gerad- 
linige Bewegung  oder  dadurch,  daß  die  Substanz  zuerst  (ohne 
vorher  an  einem  anderen  Orte  gewesen  zu  sein)  dort  auftritt 
Durch  diese  Nähe  oder  das  Wirklichwerden  in  derselben,  durch 
Vermittlung  einer  äußeren  Kraft,  die  das  Ding  dorthin  bringt, 
wird  es  in  bestimmter  Weise  (räumlich)  determiniert  Über 
dieses  Thema  wurde  bereits  des  längeren  verhandelt*) 

Die  Materie  der  Erde  ist  nicht  determiniert,  nachdem  sie 
(von  der  Wesensform)  befreit  wurde.  In  diesem  Falle  würde 
die  Wesensform  der  Erde  durch  Vermittlung  einer  bestimmten 
Lage  (die  die  Materie  der  Erde  vor  der  Form  bereits  besäße) 
angenommen.  Es  müßte  denn  sein,  daß  die  Materie  trotz  ihrer 
Abstraktion  (von  der  Wesensform)  sich  in  einer  gewissen  Be- 
ziehung^) befindet,  zugleich  in  jener  bestimmten  Richtung,  und 
zwar  auf  Grund  dieser  Beziehung,  nicht  auf  Grund  dessen,  daß 
sie  in  erster  Linie  Materie  3)  ist  und  in  zweiter  Linie  die 
Wesensforai  in  sich  aufnimmt.  Diese  Wesensform  gibt  ihr  die 
Determination,  und  jene  Beziehung  ist  eine  gewisse  Lage. 

Ebenso  verhält  es  sich,  wenn  die  erste  Materie  die  Aus- 
dehnung in  ihrer  ganzen  VoUkommenlieit  nicht  auf  einmal  auf- 
nimmt, sondern  langsam,*)  und  zwar  auf  Grund  dessen,  daß 
alles,  was  sich  seinem  Wesen  folgend  ausdehnt,*)  Richtungen 
annimmt  Alles  aber,  was  räumliche  Richtungen  besitzt,  hat 
auch  eine  räumliche  Lage,  und  dadurch  erhält  jene  Substanz 
(die  erste  Materie)  Lage  und  Volumen.  Die  Supposition  besagt 
aber,  daß  sie  weder  Lage  noch  Volumen  habe.  Dies  aber  ist 
ein  Widerspruch. 

Dasjenige,  was  alle  diese  Widersprüche  hervorruft,  ist 
unsere  Voraussetzung,  daß  die  erste  Materie  sich  von  der 
körperlichen  Wesensform  trennen  könne.  Es  ist  daher  un- 
möglich, daß  sie  aktuell  existiere,  es  sei  denn,  die  körperliche 


»)  Naturw.  I,  Teü  m. 

*)  Es  sind  die  Beziehungen  zu  anderen  Körpern  und  Teilen  des  Baumes 
gemeint,  die  gleichzeitig  mit  der  Lage  und  Richtung  notwendig  gegeben  sind. 

')  Die  materia  prima  ist  in  sich  weder  determiniert  inbezug  auf  die 
Wesenheit  noch  auch  auf  die  Lage  und  die  Akzidenzien  im  allgemeinen. 

*)  Wörtlich:  „in  (räumlich  und  zeitlich)  ausgebreiteter  Weise". 

*)  Cod,  c  Gl.:  „d.  h.  sich  bewegt**. 


Digitized  by 


Googl( 


123 

Wesensform  gebe  ihr  das  Bestehen.  Wie  kann  überhaupt  ein 
Gegenstand  mit  räumlicher  Lage  existieren,  der  kein  räumliches 
Volumen  weder  in  der  Potenz  noch  im  Akte  hat,  das  aufnahme- 
fähig ist  für  die  Quantität  Es  ist  also  klar,  daß  die  erste 
Materie  nicht  getrennt  (d.  h.  formlos)  existieren  kann.  Femer : 
der  eine  von  zwei  Fällen  muß  notwendig  eintreten.  Ihre 
Wirklichkeit  ist  entweder  die  des  aufnehmenden  Prinzips  — 
dann  ist  sie  immer  nur  aufnehmend  (passiv)  und  kann  nicht  von 
dem  Gregenstande,  den  sie  aufnimmt,  getrennt  werden  —  oder 
sie  hat  eine  individuelle  und  in  sich  bestehende  Existenz,  und 
dann  erst  haftet  ihr  von  außen  her  die  Bestimmung  an,  daß  sie 
aufnahmefähig  ist  Dann  ist  sie  also  durch  ihre  individuelle 
und  in  sich  bestehende  Existenz  weder  mit  Quantität  noch  mit 
Räumlichkeit  ausgestattet  Sie  besteht  also  (wirklich),  ohne 
Quantität  und  Räumlichkeit  zu  besitzen.  Die  körperliche  Aus- 
dehnung ist  demnach  etwas,  was  der  realen  als  Akzidens  zukommt 
und  ihr  Wesen  gestaltet,  insofern  ihr  der  Potentialität  0  nach 
Teile  zukommen.  Dies  alles  tritt  ein,  nachdem  es  ihrem  Wesen 
eigen  ist,  als  Substanz  in  sich  zu  bestehen,  ohne  Räumlichkeit 
oder  Quantität  oder  Aufnahmefähigkeit  für  eine  Teilung  zu 
besitzen.  Wenn  daher  die  individuelle  Existenz  der  Materie, 
durch  die  sie  besteht,  nicht  dauernd  bleibt,  wenn  sie  Vielheit 
annimmt  (indem  sie  sich  zu  Individuen  gestaltet),  dann  ist 
folglich  dasjenige,  was  in  sich  besteht,  indem  es  keine  Teile 
besitzt,  noch  auch  in  der  Vorstellung  und  sogar  der  Supposition 
des  Verstandes  solche  haben  kann,  so  beschaffen,  daß  es  das') 
verlieren  muß,  wodurch  es  aktuell  besteht  Dieser  Verlust 
würde  durch  ein  Akzidens  herbeigeführt,  das  der  (in  sich 
bestehenden)  ersten  Materie  zukäme.  (Die  Wesensform  muß  also 
als  ein  Akzidens  aufgefaßt  werden,  wenn  man  die  Materie  ohne 
die  Form  als  selbständig  existierend  annimmt)  Es  ist  aber 
noch  ein  anderer  Fall  möglich:  diese  Einheit^)  (der  in  sich 
indistinkten  Materie)  besteht  nicht  auf  Grund  dessen,  wodurch 
die  erste  Materie  besteht,  sondern  auf  Grund  eines  anderen 
Dinges.    Dann  ist  dasjenige,  was  wir  als  ein  individuelles  Sein 

*)  AktueUe  Teile  kommen  der  Materie  nur  durch  die  Wesensform  zu. 

")  Nämlich  keine  Teile  zu  haben.    Die  erste  Materie. 

')  Wird  die  Materie  als  formlos  subsistierend  angenommen,  dann  stellt  sie 
^e  Einheit  dar,  da  das  Prinzip  der  aktuellen  Vielheit  der  in  ihr  existierenden 
Art^n  die  Form  ist. 


Digitized  by 


Googk 


124 

(in  der  ersten  Materie)  angenommen  hatten,  nicht  ein  solches 
individuelles  Sein,  wodurch  die  Materie  besteht*)  Dann  muß 
also  der  Materie  eine  akzidentelle  Wesensform  anhaften,  durch 
die  sie  sowohl  der  Potenz  als  auch  dem  Akte  nach  nur  eine 
ist  (für  die  gesamte  Ausdehnung  der  ersten  Materie),  und  femer 
eine  andere  Wesensform,  die  ihr  ebenfalls  akzidentell  anhaftet, 
und  durch  die  sie  der  Potenz  nach  nicht  eine  ist  (sondern  daa 
Prinzip  der  Vielheit  in  sich  trägt).  Zwischen  diesen  beiden 
Zuständen  (der  Materie,  mit  der  ersten  und  der  zweiten  Form 
ausgestattet)  muß  es  etwas  Wirkliches  geben,  das  beide  ge- 
meinsam besitzen,  nämlich  das,  was  aufnahmefähig  ist  für  beide. 
Dieses  ist  so  beschaffen,  daß  es  das  eine  Mal  entsteht,  ohne  in 
sich  die  Möglichkeit  zu  haben,  geteilt  zu  werden,*)  und  das 
andere  Mal  sich  so  verhält,  daß  es  die  Möglichkeit  der  Teilung 
in  sich  trägt,  d.  h.  die  potentia^)  proxima,  die  keine  Vermittlung 
(zwischen  sich  und  dem  Akte)  zuläßt 

Nehmen  wir  nun  an,  diese  Substanz  (der  ersten,  noch 
formlosen  Materie)  teile  sich  aktuell  in  zwei  Dinge  und  jedes 
einzelne  von  beiden  sei  numerisch  verschieden  von  dem  anderen. 
Diese  Substanz  verhielte  sich  femer  so,  daß  sie  von  der  körper- 
lichen Wesensform  getrennt  sei.  Dann  muß  also  auch  jeder 
einzelne  dieser  beiden  Teile  von  der  körperlichen  Wesensform 
getrennt  sein.  Jeder  einzelne  Teil  bleibt  demnach  als  eine 
einzige  Substanz,  sowohl  potentiell  als  aktuell,  bestehen.  Nehmen 
wir  nun  betreffs  jedes  Teiles  im  besonderen  an,  er  könne  nicht 
geteilt  werden;  jedoch  möge  die  körperliche  Wesensform  von 
ihm  entfemt  sein,  so  daß  er  in  der  Potenz  und  im  Akte  als 
eine  einzige  Substanz  bestehen  bleibt  Dann  können  zwei  Fälle 
eintreten.  Entweder  ist  dasjenige,  was  übrig  bleibt,  eine  Sub- 
stanz —  sie  ist  ein  unkörperliches  Ding;  (denn  erst  durch  die 
Verbindung  von  Materie  und  Form  entsteht  der  Körper;  ohne 
die  Form  ist  also  kein  Körper  vorhanden).  In  seiner  individuellen 
Natur  verhält  es  sich  wie  dasjenige,  das  sich  als  sein  Teil*) 

*)  Dasselbe  ist  also  für  die  materia  prima  nicht  wesentlich,  sondeni 
kommt  ihr  von  außen  zu. 

*)  Es  ist  dann  nur  erste  Materie. 

*)  Dieselbe  verhält  sich  zum  ersten  Zustande  wie  eine  Form. 

*)  Dieser  „Körper"  oder  diese  „Substanz"  der  ersten  Materie  yerhält 
sich  so,  wie  ihre  Hyle  sich  verhalten  wttrde,  wenn  diese  Substanz  zusammen- 
gesetzt wäre,  d.  h.  wie  der  Teil  seines  Wesens,  der  nach  Entfernung  der  Fonn 
übrig  bleibt 


Digitized  by 


Googl( 


125 

darstellt  Dieser  Teil  bleibt  in  der  beschriebenen  Weise  abstrakt 
bestellen  ohne  die  Form  —  oder  es  ist  von  einer  Substanz  ver- 
schieden. Ist  es  nun  von  einer  solchen  verschieden,  dann  muß 
der  eine  von  zwei  Fällen  eintreten.  Entweder  geschieht  es 
(4  h.  die  Trennung  von  Materie  und  Form)  auf  Grund  dessen, 
daß  der  eine  (Teil  der  Materie)  bestehen  bleibt,  während  der 
andere  vernichtet  wird,  oder  umgekehrt;  oder  (sie  vollzieht  sich), 
indem  beide  (Teile  der  Materie)  bestehen  bleiben.  Jedoch  0  wird 
der  eine  der  beiden  Teile  durch  eine  Qualität  oder  Wesensform 
determiniert,  die  beide  jenem  anderen  Teile  (der  Materie)  nicht 
zukommen  —  oder  beide  sind  verschieden  durch  ein  Mehr  oder 
Weniger  in  der  Ausdehnung  oder  der  Qualität  oder  ähnlichem, 
nachdem  sie  vordem  tibereinstimmten.  Trifft  nun  der  erste  Fall 
ein,  indem  der  eine  Teil  bestehen  bleibt,  während  der  andere 
vernichtet  wird,  und  ist  zugleich  die  Natur  nur  eine  und  eine 
gleichförmige,^)  und  ist  es  femer  richtig,  daß  nur  die  Entfernung 
der  körperlichen  Wesensform  die  Vernichtung  des  einen  Teiles 
von  beiden  (in  der  Materie)  bedeutet,  dann  ist  es  notwendig, 
daß  eben  dieses  selbe  (die  Trennung  von  Materie  und  Form) 
auch  jenes  andere  (den  anderen  Teil  der  Materie)  vernichtet») 
Wird  aber  der  eine  Teil  durch  eine  bestimmte  Qualität  deter- 
miniert^) und  ist  zugleich  (wie  in  der  ersten  Annahme)  die 


*)  Dadurch  wird  der  Unterschied  der  heiden  getrennten  Teile  der  materia 
prima  hegr&ndet. 

*)  Die  Natur  der  heiden  supponierten  Teile  der  Materie  mnfi  als  eine 
gleichförmige  angenommen  werden,  da  heide  die  Natur  der  materia  prima 
hahen.  Was  also  fOr  den  einen  Teil  gilt,  gilt  mit  demselben  Rechte  auch 
fOr  den  anderen.    Wird  der  eine  Teil  also  vernichtet,  dann  auch  der  andere. 

•)  Wird  die  Wesensform  entfernt,  dann  wird  zugleich  die  Materie  ver- 
nichtet. Der  obige  Fall  ergibt  also,  wenn  ausgeführt,  das  Resultat,  daß  die 
Materie  zugrunde  geht.  Die  Voraussetzung  besagte  aber,  daß  die  Materie  als 
formlose  existieren  könne.  In  diesem  indirekten  Beweise,  der  dartun  soll, 
daß  die  Materie  nicht  ohne  die  Form  existieren  kann,  setzt  Avicenna  ein 
Prinzip  voraus,  das  sein  Gregner  nicht  annehmen  würde.  Denn  wer  behauptet, 
daß  nach  der  Entfernung  einer  partikulären,  körperlichen  Wesensform,  z.  B. 
der  des  Wassers,  die  Materie  bestehen  bleiben  könne,  wird  dasselbe  behaupten 
betreffs  der  Entfernung  der  universellen  Wesensform  der  Körperlichkeit.  Wenn 
die  Übersetzung  die  Gedanken  des  sehr  dunkelen  Textes  richtig  wiedergibt, 
scheint  Avicenna  sich  in  einen  circulus  vitiosus  zu  verwickeln. 

*)  Der  erste  FaU,  daß  bei  der  Trennung  von  Materie  und  Form  der 
eine  supponierte  Teil  vernichtet  werde,  der  andere  aber  bestehen  bleibe,  ist 
durch  die  oben  ausgeführte  deductio  in  absurdum  abgetan.    Es  bleibt  noch 


Digitized  by 


Googk 


126 

Natur  (der  Teile  der  Materie)  eine  einheitliche  und  tritt  femer 
kein  anderer  Zustand  auf,  als  der  der  Trennung  (der  Materie) 
von  der  körperlichen  Wesensform,  und  entsteht  weiterhin  mit 
diesem  Zustande  nur  dasjenige  notwendige  Akzidens,  das  sich 
aus  der  Natur  dieses  Zustandes  der  Trennung  ergibt,  dann  muß 
sich  dementsprechend  auch  der  andere  Teil  (der  Teil  der  Materie) 
verhalten.  *) 

Dagegen  könnte  man  einwenden:  die  beiden  ersten  Teile 
(der  Materie),  es  sind  (in  der  Annahme)  zwei,  vereinigen  sich 
und  werden  zu  einem  einzigen  Dinge  2)  (der  materia  prima). 
Dagegen  erwidern  wir:  es  ist  nun  aber^)  unmöglich,  daß  sich 
zwei  Substanzen  vereinigen;  denn  beide  ergeben,  wenn  sie  sich 
vereinigen,  während  zugleich  jede  von  beiden  real  existiert, 
zwei  Dinge,  nicht  ein  einziges.  Verbinden  sie  sich  aber,  während 
die  eine  von  ihnen  zunichte  wird,  die  andere  aber  real  existiert, 
wie  kann  das  Nichtexistierende  sich  mit  dem  Existierenden  real 
verbinden?  Werden  sie  aber  beide  zunichte,  indem  sie  sich  ver- 
binden, und  entsteht  aus  ihnen  ein  anderes,  drittes  Ding  (die 
materia  prima),  dann  sind  diese  beiden  Teile  selbst  also  nicht  ver- 
bunden, sondern  sie  sind  dem  Untergänge  verfallen,  und  zwischen 
ihnen  und  dem  dritten  besteht  eine  gemeinsame  Materie.^)  Unsere 


der  zweite  FaU,  daß  beide  Teile  bestehen  bleiben,  und  zwar  soU  eine  Qualität 
den  Unterschied  beider  ausmachen. 

0  Die  beiden  Teile  haben  also  kein  unterscheidendes  Merkmal,  d.  h.  sie 
faUen  zusammen  und  bilden  nur  ein  Wirkliches.  Die  formlose  Materie  ist  also 
nicht  teilbar. 

<)  Es  wäre  dies  ein  neuer,  ein  dritter  FaU  neben  den  zwei  erwähnten. 
Durch  ihre  Vereinigung  könnte  die  erste  Materie  als  Substanz  oder  Halb- 
substanz hergesteUt  werden.  Die  Thesis  von  der  Teilbarkeit  der  ersten  Materie 
wäre  dann  annehmbar. 

*)  Die  folgenden  Sätze  sind  als  propositio  minor  eingef&hrt  Die  pro- 
positio  maior  bildet  die  Thesis  des  Gegners  selbst,  deren  Unmöglichkeit  gezeigt 
werden  solL  Die  Konklusionen  folgen  jedem  Satze  der  propositio  minor.  Der 
Beweis  ist  ein  indirekter.  Aus  der  Annahme  des  Gegners  ergeben  sich  Un- 
möglichkeiten.   Folglich  ist  ihr  kontradiktorisches  Gegenteil  richtig. 

*)  Die  Teile  werden  in  ihrer  Wesenheit  vernichtet;  aber  dennoch  bleibt 
etwas  von  ihnen  in  dem  neuentstandenen  Dritten.  Dieses  Etwas  blieb  übrig- 
nach  Vernichtung  der  Wesenheit.  Es  verhält  sich  also  wie  die  Materie  der- 
selben. Die  erste  Materie  wäre  dann  ihrerseits  wieder  aus  Materie  und  Form 
zusammengesetzt.  Auch  in  diesem  FaUe  wäre  die  Existenz  einer  absolut 
ersten  Materie  dargetan,  da  ein  ire  in  infinitum  unmöglich  ist. 


Digitized  by 


Googl( 


127 

Diskussion  aber  betraf  die  Materie  selbst,*)  nicht  ein  Ding,  das 
Materie  besitzt. 

Sind  aber  beide  Teile  der  Materie  verschieden  inbezug  auf 
das  größere  oder  kleinere  Maß^)  oder  im  Mehr  oder  Weniger 
inbezug  auf  etwas  anderes,  dann  bestehen  also  beide  (als 
wirkliche  Dinge),  ohne  daß  sie  eine  körperliche  Wesensform 
hätten.3)  Sie  besäßen  aber  die  Form  der  (mathematischen)  Aus- 
dehnung.^)   Dieses  aber  ist  ein  Widerspruch.*) 

Sind  aber  beide  Teile  der  Materie  in  keiner  Weise  ver- 
schieden, dann  verhält  sich  das  Ding  (der  eine  Teil  der  materia 
prima)  in  dem  Zustande,  daß  das  andere  (der  andere  Teil)  nicht 


>)  Besteht  zwischen  beiden  Teilen  eine  gemeinsame  Materie,  dann  sind 
sie  mit  Materie  „ausgestattete'^  Dinge,  nicht  aber  die  erste  Materie  selbst. 

*)  Wenn  sie  nicht  durch  eine  Qualität  oder  Form  verschieden  sind, 
bleibt  noch  diese  Möglichkeit,  die  Verschiedenheit  in  der  Intensität,  dem  Mehr 
oder  Weniger,  d.  h.  dem  Modus  der  Qualität,  oder  in  der  Quantität  übrig. 
Das  ganze  Schema  der  in  Bücksicht  zu  ziehenden  Fälle  betreffs  der  formlos 
existierenden  Materie  ist  also  folgendes: 

Die  erste  Materie  ist  entweder 


Substanz  keine  Substanz 

und  ungeteilt  und  dann  geteilt. 

Von  den  Teilen  wird 


keiner  vernichtet  einer  vernichtet. 

Beide  Teile 


bleiben  getrennt  vereinigen  sich 

indem  der  Unterschied 
besteht  in  einer 


Qualität  Intensität 

oder  Form  oder  Quantität. 

Alle  diese  möglichen  Fälle  werden  einzeln  widerlegt  und  dadurch  bewiesen, 
daß  die  Materie  nicht  ohne  die  Form  existieren  kann. 

•)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  die  beiden  Dinge". 

*)  Con.  c  GL:  „d.  h.  die  (zweite)  Materie". 

^)  Die  Ausdehnung  ist  ein  Akzidens,  setzt  also  eine  vollkommene,  reale 
körperliche  Substanz  voraus.  Die  formlose  Materie  ist  aber  höchstens  eine 
Teilsubsümz,  eine  unvollkommene  Substanz.  In  ihr  kann  also  die  Ausdehnung 
nicht  inhärieren. 


Digitized  by 


Google 


128 

von  ihm  getrennt  ist  —  und  dieser  Zustand  (mit  dem  anderen 
Teile  verbunden  zu  sein)  ist  zugleicli  der  natürliche  Znstand 
des  Dinges  (des  Teiles  der  materia  prima)  —  genau  so  wie  in 
dem  Zustande,  daß  das  andere  bereits  von  ihm  getrennt  wurde. 
Es  verhält  sich  also  in  seiner  Verbindung  mit  dem  anderen  und 
für  sich  allein  als  eine  Einheit  0  und  von  jeder  beliebigen  Seite 
immer  in  ein  und  derselben  Weise.  Dieses  aber  ist  ein  Wider- 
spruch, nämlich  der,  daß  der  Teil  des  Substrates  und  das  Glänze 
ein  und  dasselbe  in  jeder  Beziehung  sei,  4  h.  das  Ding  bleibt^ 
wenn  es  nicht  geringer  wird  dadurch,  daß  ein  Teil  von  ihm 
entfernt  wird,  dasselbe  (ebenso  groß),  wie  wenn  es  einen  Teil 
verliert,  und  es  verhält  sich,  wenn  nichts  zu  ihm  hinzugefügt 
wird,  geradeso,  als  wenn  ein  Ding  (der  andere  Teil)  ihm  bei- 
gefügt würde. 

Kurz  jedes  Ding,  das  zu  einer  gewissen  Zeit  zu  zwei 
Dingen  werden  kann,  besitzt  in  seiner  eigenen  Natur  eine 
Disposition  zur  Teilung,  und  diese  Disposition  ist  untrennbar 
mit  ihm  verbunden.  Manchmal  wird  jedoch  die  Teilung  ge- 
hindert 2)  durch  ein  „Akzidens",  das  verschieden  ist  von  der 
Disposition  des  Wesens.  Diese  Disposition  ist  aber  nur  dadurch 
möglich,  daß  sich  die  Ausdehnung  mit  dem  Wesen  (das  Subjekt 
der  Disposition  ist)  verbindet »)  Es  bleibt  also  nur  die  eine 
Möglichkeit  noch  übrig,  daß  die  Materie  nicht  von  der  körper- 
lichen Wesensform  befreit  werden  kann,*)  und  weil  diese  Substanz 
(die  erste  Materie)  nur  dadurch  zu  einer  quantitativen  wird, 
daß   eine  Ausdehnung*)    sich    in   ihr  (nach  Art  einer  Form) 

^)  Die  Teile  der  Materie  bilden  dorchaos  ein  und  dieselbe  „Masse",  da 
sie  in  keiner  Weise  voneinander  verscbieden  sind.  Von  „Teilen"  nnd  von 
einer  „Teilung"  kann  also  im  eigentlichen  Sinne  keine  Bede  sein.  Der  Wider- 
spruch liegt  demzufolge  mehr  in  der  Snpposition  einer  solchen  Teilung  als  in 
dem  sich  gleichbleibenden  Verhalten  vor  und  nach  der  Teilung. 

*)  Die  zusammenfassende  Form  verhindert  die  aktueUe  Teilung.  Die 
Form  verhält  sich  zu  der  Natur  der  Materie  wie  etwas  Äußeres,  Fremdes  und 
ist  nur  in  diesem  Sinne  ein  Akzidens.  Per  se  ist  die  Materie  immer  disponiert 
zur  Teilung. 

*)  Es  handelt  sich  um  eine  quantitative  Teilung.  Für  eine  solche  ist 
Vorbedingung,  daß  das  zu  teilende  Wesen  Ausdehnung  besitze.  Eine  Teilunjif 
des  Wesens  in  seine  Bestandteile  und  in  Wesenheit  und  Dasein  ist  auch  in 
unkOrperUchen  d.  h.  unausgedehnten  Substanzen  denkbar. 

*)  Siehe  den  Titel  dieses  Kapitels. 

')  Die  aktueUe  Ausdehnung  kommt  der  Materie  von  außen,  nicht 
per  se  zu. 


Digitized  by 


Googl( 


129 

„Tiiederläßt",  so  ist  sie  also  nicht  durch  sich  selbst  quantitativ. 
Eis  ist  daher  nicht  notwendig,  daß  ihr  Wesen  determiniert  werde 
durch  die  Aufnahme  eines  bestimmten  Volumens  im  G^ensatze 
zu  einem  anderen  und  einer  bestimmten  Größe  im  Gegensatze 
zu  einer  anderen,  selbst  dann,  wenn  die  körperliche  Wesensform 
(aller  Größen)  eine  und  dieselbe  ist.^  Die  Beziehung  dessen, 
was  in  sich  nicht  teilbar  noch  quantitativ  bestimmbar  ist^  sondern 
was  Teile  und  quantitative  Bestimmung  nur  durch  ein  anderes 
(die  spezifische  Form)  annimmt  zu  irgend  einer  Ausdehnung, 
deren  Existenz  möglich  ist,  ist  eine  einzige,  sich  gleichbleibende 
Beziehung,^)  sonst  müßte  es  in  sich  selbst  (per  se)  eine  Aus- 
dehnung besitzen,  die  sich  deckt  mit  dem,  was  ihm  gleichsteht, 
sich  aber  nicht  deckt  mit  dem,  was  größer  ist 3)  Die  Aus- 
dehnung, die  dem  Ganzen  und  dem  Teile  zukommt,  ist  ein  und 
dieselbe  (insofern  die  Größe  des  Teiles  aus  der  des  Ganzen 
genommen  ist);  denn  es  ist  unmöglich,  daß  der  Teil  ein  Teil 
von  dem  Ganzen  sei,  der  einem  Teile  der  Ausdehnung  (des 
Ganzen)  entspricht,  ohne .  daß  er  dem  Ganzen  in  sich  selbst 
(per  se)  zukomme.^) 

Daher  *)  ist  es  klar,  daß  die  Materie  einen  kleineren  Raum 
einnehmen  kann  dadurch,  daß  sie  dichter  wird,  und  einen  größeren 
dadurch,  daß  sie  sich  verdünnt«)  (also  durch  Kontration  und 
Distension).    Dieser  Vorgang  ist  sinnlich  wahrnehmbar.    Es  ist 


»)  Die  Materie  verhält  sich  indifferent  zur  determinierten  Ausdehnung. 
Ebenso  indifferent  ist  auch  die  generische  Wesensform  der  Körperlichkeit. 
Bestimmte  Quantitäten  kommen  also  der  Materie  von  ihrer  spezifischen  Form  zu. 

*)  Die  Materie  muß  eine  bestimmte  Quantität  annehmen.  Aus  sich  heraus, 
per  se,  verhält  sie  sich  aber  zu  aUen  in  Frage  kommenden  indifferent. 

*)  Wenn  der  ersten  Materie  auf  Grund  ihres  Wesens  eine  bestimmte 
Quantität  anhaftete,  dann  müßte  überaU,  wo  sich  das  Wesen  der  ersten 
Materie  vorfindet,  auch  diese  bestimmte  Quantität  eintreten. 

*)  Der  Teil  ist  per  se  ein  Teil  des  Ganzen.  Daher  ist  seine  Ausdehnung 
aach  notwendigerweise  ein  Teil  der  Ausdehnung  des  Ganzen. 

■)  Wenn  die  sich  immer  gleichbleibende  Materie  das  direkte  Prinzip 
der  Quantität  wäre,  dann  müßte  die  Quantität  sich  ebenfalls  immer  gleich- 
bleiben. Eine  extensio  oder  diminutio  des  Körper  setzt  ein  Prinzip  voraus, 
das  sich  verändert.  Diese  Bestimmung  trifft  nur  für  die  Form  zu,  und 
zwar  in  dem  Sinne,  daß  die  eine  Form  durch  Veränderung  zu  einer  anderen 
wird.  So  wird  z.  B.  die  Form  des  Wassers  zu  der  der  Luft,  indem  sie  ihre 
Materie  ausdehnt 

•)  Gorg&ni  (ed.  Flügel  S.  68):  „Das  Sichverdichten  ist  ein  Sichverringem 
(SEU  lesen   intiqä?,   oder  ein  Sichzusammenziehen  inqibad,   nicht  intiq&4  ein 

Horten,  Dm  Baoh  der  GenasaDg  der  Seele,  9 


Digitized  by 


Google  j 


130 

vielmehr  notwendig,  daß  die  Ausdehnung  Ar  die  Materie  individuell 
bestimmt  werde  auf  Grund  und  durch  Vermittlung  einer  Ursache, 
die  in  der  realen  Existenz  diese  bestimmte  Ausdehnung  zur  Folge 
hat  Diese  Ursache  kann  nun  eine  zweifache  sein,  entweder  die 
Wesensformen  und  die  Akzidenzien,  die  in  der  Materie  sind,  oder 
eine  andere  Ursache,  i)  die  von  außen  her  wirkt  Tritt  nun  eine 
von  außen  her  wirkende  Ursache  auf,  so  verleiht  sie  diese  be- 
stimmt abgegrenzte  Quantität  entweder  durch  Vermittlung  eines 
anderen  Dinges  oder  durch  eine  besondere  und  der  Ursache  eigene 
Disposition.  2)  Dieses  letztere  3)  und  das  erstere  sind  ein  und 
dasselbe  und  besagen,  daß  die  Körper  inbezug  auf  ihre  Ausdehnung 
verschieden  sind,  weil  sie  in  verschiedenen  Zuständen  sich  befinden. 
Was  aber  nun  den  Umstand  anbetrifft^  daß  das  Verleihen  der  Aus- 


Sichlostrennen)  der  Teile  des  Zusammengesetzten,  ohne  daß  ein  Teil  sidi  los- 
trenne". „Das  Sichverdünnen  (ib.  S.  55)  ist  ein  Znnehmen  des  Volumens,  ohne 
das  etwas  von  außen  zu  ihm  hinzugefügt  werde.  Es  ist  das  Kontrarinm 
des  Sichverdichtens".  Vgl.  Thomas  Sum.  theol.  11—1124,5  ad  1:  Quantitas 
corporalis  habet  aliquid,  inquantum  est  quantitas,  et  aliquid  inquantum  est 
forma  accidentalis.  Inquantum  est  quantitas  habet  quod  sit  distingnibilis 
secundum  situm  vel  secundum  numerum;  et  ideo  hoc  modo  consideratar 
augmentum  magnitudinis  per  additionem,  ut  patet  in  animalibus.  Inquantum 
vero  est  forma  accidentalis,  est  distingnibilis  solum  secundum  subiectum;  et 
secundum  hoc  habet  proprium  augmentum  sicut  et  aliae  formae  acddentales 
per  modum  intensionis  eins  in  subiecto,  sicut  patet  in  his  quae  rarefiunt 
Vgl.  die  Definitionen  der  raref actio  in  den  „neun  Abhandlungen"  Avicennas, 
Konstantinopel  1298,  S.  66. 

')  Cod.  c  GL:  „d.  h.  die  unkörperlichen  Substanzen"  der  Sphl&ren- 
geister. 

*)  Cod.  c  Gl. :  „die  in  der  Materie  ist",  doch  wäre  dies  nicht  mehr  eine 
„äußere  Ursache". 

•)  Die  bestimmte  Quantität  9rhält  der  Körper  weder  durch  die  Materie, 
noch  durch  die  generische  Form  der  Körperlichkeit,  sondern  entweder  durch 

1 ' 1 

a)  die  Wesensform  b)  eine  äußere  Ursache, 

und  die  Akzidenzien  die 

I — ' — 1 

1)  mit  Vermittlung  2)  ohne  VermittluDg 

wirkt. 
2  und  a  sind  insofern  identisch,  als  sie  per  se  und  ohne  medium  wirkende 
Ursachen  darsteUen,  die  zu  dem  natürlichen  Gesamtbestande  (ahw&l)  eines 
Dinges  gehören.    In  diesen  sind  die  causa  effidens  und  die  causa  finalis  mit 
einbegriffen. 


Digitized  by 


Googk 


131 

dehnung  nicht  auf  Grund  jenes  Dinges,^)  noch  auch  durch  seine 
Vermittlung  geschieht,  so  ist  zu  sagen,  daß  dann  (bei  der  gegen- 
teiligen Annahme)  die  Körper  alle  in  gleicher  Weise  auf  die 
Quantität  und  das  Volumen  hingeordnet  2)  wären.  Dies  aber  ist 
unrichtig.  Trotzdem^)  ist  noch  ein  anderer  Grund  vorhanden 
(weshalb  eine  akzidentelle  Ursache  nicht  eine  bestimmte  Quantität 
bewirken  kann);  denn  es  liegt  keine  Notwendigkeit  vor,  weshalb 
von  dieser  (akzidentellen)  Ursache  ein  bestimmtes  Volumen  mit 
Ausschluß  eines  anderen  herkommen  sollte,  es  sei  denn  auf  Grund 
eines  bestimmten  „Dinges".  Mit  diesem  „Dinge"  bezeichne  ich 
eine  Bedingung,  die  zu  der  Materie  hinzugefügt  wird  und  durch 
die  die  Materie  die  individuell  bestimmte  Ausdehnung  bean- 
sprucht, und  zwar  nicht,  insofern  sie  Materie  ist,  noch  auch 
weil  sie  eine  solche  Materie  ist,  die  ein  Prinzip  besitzt,^)  das 
mit  der  (bestimmten)  Qualität  (den  Körper)  ausstattet.  Die 
Sachlage  verhält  sich  vielmehr  so,  daß  der  Materie  ein  Ding 
zukommt,  auf  Grund  dessen  sie  beansprucht,  daß  der  Verleiher 
der  Formen*)  sie  mit  diesem  bestimmten  Volumen  und  dieser 
bestimmten  Quantität  ausstatte  und  bilde.  Es  ist  möglich,  daß 
die  Quantität  der  Art  (des  Körpers)  nach  schlechthin  ver- 
schieden sei  und  ebenso  kann  sie  sich  unterscheiden  nach  Stärke 
und  Schwäche«)  (innerhalb  derselben  Art),  nicht  schlechthin  der 

^)  Damit  ist  eine  fernliegende  („jene")  Ursache  gemeint,  die  nicht 
per  se,  sondern  per  accidens  wirkt.  Zu  einer  solchen  Ursache  verhalten  sich 
aUe  Körper  in  gleicher  Weise,  d.  h.  sie  stehen  ihr  indifferent  gegenüber  und 
-  nehmen  nur  zufällig  eine  Wirkung  von  ihr  auf.  Eine  solche  auf  alle  Körper 
in  gleicher  Weise  wirkende  Ursache  kann  die  Körper  auch  nur  in  der  gleichen 
Weise  zur  Quantität  bestimmen  und  hinordnen.  Wirkte  also  nur  eine  solche 
Ursache,  dann  erhielten  alle  Körper  dieselbe  Quantität. 

*)  Wörtlich:  „die  Körper  sind  dann  gleich  in  ihrem  Anspruch  auf  das 
nocov  und  in  ihren  Volumina". 

*)  „Trotzdem"  der  erste  Grund  schon  durchschlagend  ist,  möge  noch 
ein  weiterer  angeführt  werden. 

*)  Die  Materie  besitzt  in  sich  ein  solches  aktives  Prinzip  nicht,  da  sie 
formlos  ist. 

*)  der  Demiourg,  der  schaffende  InteUekt. 

*)  Die  Quantität  kann  mit  größerer  oder  geringerer  Intensität  durch 
den  inteUectus  activus  in  dem  Körper  verwirklicht  werden,  d.  h.  der  Körper 
kann  groß  oder  klein  sein.  Der  Ausdruck  bezeichnet  gewöhnlich  die  Unter- 
sdiiede  der  Qualität  (größere  oder  geringere  Intensität),  während  die  der 
Quantität  als  „mehr"  oder  „weniger"  gekennzeichnet  werden.  Der  Unterschied 
der  Art  nach  ist  ein  solcher  Unterschied  in  der  Materie  zweier  Körper,  der 
sich  zurückführen  läßt  auf  wesentliche  Bestandteile  der  Spezies. 


Digitized  by 


Google 


132 

Art  nach,  selbst  wenn  diese  Unterscheidung  der  größeren  oder 
geringeren  Intensität  vielfach  verbunden  ist  mit  der  Ver- 
schiedenheit der  Art  nach;  jedoch  existiert  zwischen  beiden 
Arten  der  Verschiedenheit,  der  der  Art  und  der  der  Intensität, 
ein  Unterschied,  der  bekannt  ist  fftr  jeden,  der  aufmerksam 
betrachtet 

Es  ist  also  klar,  daß  die  erste  Materie  manchmal  in  sich 
selbst  fftr  verschiedene  Größen  disponiert  ist  Dieses  ist  ebenfalls 
eins  der  ersten  Prinzipien  für  die  Naturkörper.«)  Femer:  jeder 
Körper  ist  notwendigerweise  mit  einem  bestimmten  Volumen  in 
besonderer  Weise  ausgestattet;  jedoch  besitzt  er  dieses  sein  be- 
stimmtes Volumen,  das  ihm  besonders  zukommt,  nicht,  insofern 
er  „Körper"  ist  Sonst  mußte  jeder  Körper  dieses  bestimmte 
Volumen  haben.  Es  ergibt  sich  also,  daß  er  mit  diesem  Volumen 
besonders  ausgestattet  ist  (durch  das  andere  Prinzip,  das  neben 
der  Materie  den  Körper  konstituiert,  nämlich)  durch  eine  Form, 
die  in  seinem  Wesen  enthalten  ist  Dies  ist  einleuchtend. 
Femer  2)  kann  sich  der  Körper  auf  zweifache  Weise  verhalten. 
Er  ist  entweder  nicht  aufnahmefähig  für  die  bestimmten  Gre- 
staltungen  und  Teilungen  —  und  dann  ist  es  eine  Form,  auf 
Grund  deren  er  sich  so  verhält;  denn  insofern  das  Ding  ein 
„Körper"  ist,  verhält  es  sich  aufnahmefähig  für  dieses  (die 
Gestaltungen  und  Teilungen)  —  oder  er  ist  aufnahmefähig 
für  diese  Bestimmungen  entweder  mit  Leichtigkeit  oder  mit 
Schwierigkeit  und  in  welcher  Weise  es  auch  immer  sein  möge. 
Dann  verhält  er  sich  also  entsprechend  einer  der  Wesens- 
formen,*) deren  in  den  Naturwissenschaften  Erwähnung  geschah.*) 
Die  Materie  der  Himmelskörper  ist  nicht  aufnahmefähig  für 
eine  andere  Form.  Daher  bleibt  sie  ewig  mit  derselben  Wesens- 
form behaftet  Die  Materie  der  sublunarischen  Körper  jedoch 
ist  aufnahmefähig  für  alle  Formen,  daher  ist  sie  später  Ver- 
änderlichkeit unterworfen.  Daher  existiert  die  in  Körpem  vor- 
handene Materie  nicht  getrennt  von  der  Wesensform.*)    Die 

^)  and  anch  die  Naturwissenschaften.  Weil  es  in  diesen  Voraassetznn^ 
ist,  bildet  es  ein  „Problem''  für  die  Metaphysik  und  wurde  als  solches  hier 
untersucht. 

*)  Avicenna  zieht  hier  die  Konklusionen  des  Kapitels. 

^  Die  Art  und  Weise,  wie  die  Qnantit&t  au^nommen  wird,  wird 
ebenfalls  von  der  Form,  nicht  von  der  Materie  bestimmt. 

*)  Naturw.  I.  Teü  I,  2  und  IV.  Teil. 

^)  Dies  ist  die  Thesis.  des  Kapitels. 


Digitized  by 


Googk 


133 

Materie  also  besteht  aktuell  nur  durch  die  Wesensform,  und 
wenn  daher  die  Materie  in  der  inneren  Vorstellung  von  der 
Wesensform  befreit  wird,  so  macht  sie  einen  (logischen)  Prozeß 
durch,  dem  in  der  realen  Wirklichkeit  kein  Korrelat  entspricht^ 


Viertes  Kapitel. 

Die  Wesensform  geht  der  Materie  voraus  im  Bereiche 
des  Wirldichen.2) 

Bereits  ist  also  klar,  daß  die  körperliche  Materie  nur  dann 
zum  aktuellen  Bestehen  gelangt,  wenn  die  Wesensform  wirklich 
wird.  Femer:  die  materielle  Wesensform  existiert  nicht  getrennt 
von  der  Materie.  Es  tritt  also  der  eine  von  zwei  Fällen  ein. 
Entweder  besteht  zwischen  beiden,  der  Materie  und  der  Form, 
die  Verbindung  der  Relation.  Dann  wird  also  die  Wesenheit 
jedes  einzelnen  von  beiden  nur  in  Beziehung  zu  dem  anderen') 
begrifflich  faßbar  sein.  Jedoch  verhält  es  sich  nicht  so;  denn 
wir  denken  viele  der  körperlichen  Wesensformen  und  müssen 
zugleich  eine  große  geistige  Anstrengung*)  machen,  um  zu 
beweisen,  daß  ihnen  eine  Materie  zukommt  Ebenso  verhält  es 
sich  umgekehrt  mit  dieser  (bestimmten)  Materie.  Wir  fassen 
sie  unter  dem  Begriff  der  Substanz,  die  disponiert  ist  (eine 
Wesensform  aufzunehmen).  Aus  diesem  Begriffe  ist  aber  noch 
nicht  ersichtlich,  daß  von  der  Form,  für  die  die  Materie  disponiert 
ist,  letzterer  ein  Wirkliches  zukommen  muß,  das  aktuell  in  ihr 
ist  Dies  wird  erst  ersichtlich  durch  besondere  Untersuchung  und 
Betrachtung.  Freilich  ist  sie,  insofern  sie  für  die  Wesensform 
disponiert  ist,  in  einer  gewissen  Relation  zu  dem  Terminus,  auf 
den  die  Disposition  hingeordnet  ist  (die  Form),  und  zwischen 
beiden  besteht  die  Verbindung  der  Relation.  Unsere  Aus- 
einandersetzung jedoch  beschäftigt  sich'  nur  mit  der  Proportion 


^)  WörtUch:  „so  wird  mit  ihr  das  getan,  was  nicht  mit  ihr  in  dem 
Sein  besteht". 

«)  Wörtlich:  „auf  der  Stufe"  des  Wirklichen. 

*)  Dies  ist  der  PaU  in  jeder  eigentlichen  Relation ;  s.  Metaph.  HI,  10. 

*)  Vgl.  denselben  Ausdruck  in:  Horten,  Das  Buch  der  Bingsteine 
Färäbis,  S.  320.   Das  Wesen  der  Materie  ist  in  dem  der  Form  nicht  enthalten. 


Digitized  by 


Google 


134 

ihrer  beiden  Wesenheiten  (der  Materie  und  Form)  zueinander, 
ohne  das  zu   betrachten,   was  ihnen   akzidentell  in  zufälliger 
oder   notwendiger  Weise    an  Relationen   zukommt     Wie  sich 
dieses  1)  verhält,  hast  du  bereits  erkannt    Femer  handelt  diese 
unsere  Auseinandersetzung  über  den  Zustand,  der  zwischen  der 
Materie  und  der  Wesensform  besteht,  nur  insofern  sie  existiert*) 
Das  Disponiertsein  hat  nun   aber  durchaus  keine  notwendige 
Verbindung  mit  einem  Dinge  zur  Folge,  das  wirklich  existiert 
(weil  die  Disposition  sich  nur  passiv  und  indifferent  verhält). 
Wenn   nun  diese  Verbindung  eintreten  kann,   dann  sind  zwei 
Möglichkeiten  zu  berücksichtigen.    Die  Verbindung  beider  verhält 
sich  entweder  wie  die  der  Ursache  zur  Wirkung  oder  wie  die 
Verbindung  zweier  Dinge,  die  sich  im  Sein  korrelativ  verhalten, 
ohne  daß  (durch  diese  ihre  Verbindung)  das  eine  Ursache  oder 
Wirkung  des  anderen  würde.    Dennoch  existiert  das  eine  nur, 
wenn   auch   das   andere   existiert,   und   zugleich   ist  jedes   der 
beiden  Dinge  weder  Ursache  des  anderen,  noch  seine  Wirkung. 
Folglich   besteht  zwischen  beiden  diese  bestimmte  Verbindung 
(der  Korrelation).     Daher  ist  es   also  nicht  möglich,  daß  die 
Nichtexistenz  des  einen  von  beiden  Ursache  wäre  für  die  Nicht- 
existenz  des  anderen,  insofern  als  dieser  andere  (in  sich  betrachtet) 
ein    gewisser  Gegenstand    ist     (Durch    die  Nichtexistenz    des 
ersten  wird  die  Korrelation,  die  dem  anderen  als  Akzidens  an- 
haftete, und  auch  vielfach  der  andere  Terminus  der  Korrelation, 
aufgehoben.)    Es  ist  diese  (Nichtexistenz)  vielmehr  etwas,  das 
„mit"  dem  anderen  existiert,^)  d.  h.  es  ist  eine  Nichtexistenz 
(die  des  „einen"),  die  notwendig  verbunden  ist  mit  der  Nicht- 
existenz eines  „anderen"  (nämlich  der  Korrelation  im  „anderen**). 
Es  ist  nicht  ein  solches  Nichtexistieren  (im  ersten),   das  die 
Nichtexistenz  eines  anderen  (d.  h.  einer  anderen  Substanz)  ver- 
ursachte.   (Dies  ist  zutreffend),  auch  wenn  das  andere  vernichtet 


>)  Betreffs  des  Unterschiedes  zwischen  wesentlichen  and  unwesentlichen 
Bestimmungen,  von  denen  letztere  entweder  zufällig  oder  notwendig  (fifux) 
sind,  s.  Logik  IL  Teil  und  I,  Teil  1, 14. 

*)  Objekt  der  Metaphysik  ist  das  Sein  als  solches.  In  der  Hinsicht  auf 
dieses  werden  daher  aUe  Probleme  untersucht. 

*)  Dem  anderen  haftet  nach  Entfernung  des  „einen",  seines  Korrelativen, 
die  Nichtexistenz  dieser  Korrelation  an,  d.  h.  der  terminus  formalis  der  Korre- 
lation wird  vernichtet. 


Digitized  by 


Googk 


135 

werden  müßte J)    Den  Unterschied  beider  hast  du  bereits  kennen 
gelernt*) 

Du  hast  bereits  erkannt^  daß  das  Ding,  dessen  Nichtexistenz 
Ursache  ist  für  die  Nichtexistenz  eines  anderen  Dinges,  auch 
zugleich  seine  Ursache  ist  Dies  ist  dir  bereits  klar  geworden 
an  anderen  Orten,»)  wo  es  im  einzelnen  ausgeführt  wurde.  Das 
Verständnis  dieser  Probleme  möge  noch  vermehrt  werden  durch 
das,  was  du  noch  erfahren  wirst  Was  aber  die  jetzige  Be- 
trachtung angeht,  so  hast  du  hiermit  erkannt,  daß  ein  Unterschied 
besteht  zwischen  der  Behauptung:  „die  Nichtexistenz  eines  Dinges 
ist  Ursache  für  die  Nichtexistenz  eines  anderen"  und  der  anderen: 
„notwendigerweise  ist  mit  der  Nichtexistenz  eines  Dinges  die 
eines  zweiten  verbunden".  Wenn  daher  die  Nichtexistenz  eines 
dieser  beiden  erwähnten  Dinge  (Materie  und  Form)  nicht  Ursache 
ist  für  die  Nichtexistenz  des  anderen,  sondern  wenn  ihr  Ver- 
hältnis nur  ein  solches  ist,  daß  gleichzeitig  mit  der  Nichtexistenz 
des  anderen  notwendig*)  die  des  ersten  eintritt,  dann  können 
zwei  Fälle  eintreten.  Entweder  ist  die  Nichtexistenz  des  einen*) 
von  beiden  Ursache  eines  dritten  Dinges,  das  verschieden  ist 
von  beiden,  oder  sie  ist  selbst  die  Wirkung  der  Nichtexistenz 
eines  dritten,  so  daß,  wenn  jenes  dritte  nicht  aufhörte  zu 
existieren,  auch  dieses  (erste)  nicht  aufhören  könnte.  Der  zweite 
Fall  besagt,  daß  nichts  dieser  Art  (keine  Beziehung  zu  einem 
dritten)  zutrifft.  Wenn  dieses  also  nicht  der  Fall  ist  und  wenn 
vielmehr  das  eine  nur  gleichzeitig  mit  dem  anderen  und  um- 
gekehrt das  andere  nur  gleichzeitig  mit  dem  ersten  vernichtet 
wird,  ohne  daß  ein  drittes  Ding  als  Ursache*)  auftritt  außerhalb 
der  Natur  dieser  beiden  Dinge,  dann  ist  die  Natur  jedes  einzelnen 
dieser  beiden,  um  zu  ihrer  aktuellen  Existenz  zu  gelangen,  abhängig 


*)  Diese  Vernichtung  des  anderen  Terminus  der  Korrelation  würde  aber 
nicht  auf  Grund  der  Nichtexistenz  des  ersten  erfolgen,  sondern  durch  irgend 
eine  beliebige  Ursache. 

*)  Es  ist  der  Unterschied  des  esse  simultaneum  cum  aliquo  und  des 
esse  causatum  ab  aliquo,  oder  der  Begleiterscheinung  eines  Vorganges  und 
des  nrsftchlichen  Wirkens. 

«)  Naturw.  I.  Teil,  I  9—11,  besonders  10  Mitte. 

*)  Wörtlich:  „des  Vernichteten".  Das  Dritte,  das  zu  Wesensform  und 
Materie  hinzukommt,  kOnnte  die  Wirkursache  sein,  die  die  Form  mit  der 
Materie  verbindet,  oder  irgend  etwas,  sei  es  auch  nur  eine  Relation,  die 
zwischen  beiden  eine  Vermittlung  bilden  würde. 

*)  Wörtlich:  „eine  dritte  Ursache". 


Digitized  by 


Google 


136 

von  dem  anderen.  Dieses  Verhältnis  trifft  nun  zu  entweder  für 
die  Wesenheit  beider  (also  in  der  idealen  Existenz  und  der 
logischen  Ordnung)  und  dann  wäre  sie  ein  ens  relativunL»)  Es 
wurde  aber  bereits  bewiesen,  daß  sie  nicht  den  Charakter  eines 
ens  relativum  hat.  Oder  dieses  Verhältnis  trifft  zu  in  ihrer 
Existenz  (also  in  ordine  reali,  ontologico).^)  Es  ist  nun  aber 
klar,  daß  ein  solches  Ding  nicht  das  notwendig  Seiende  sein 
kann  (weil  seine  Wesenheit  keine  notwendige  Beziehung  hat 
zum  Dasein),  und  daher  ist  es  in  seiner  Wesenheit  ein  ens 
possibile.  Es  wird  jedoch  durch  die  kausale  Wirkung  eines 
anderen  ein  ens  necessarium^)  (ab  alio,  non  a  se).  Dann  ist  es 
also  durchaus  nicht  möglich,  daß  es  ein  notwendig  Seiendes 
werde  durch  diesen  anderen*)  (das  ihm  in  der  Seinsordnung 
gleichsteht).  (Daß)  dieses  (unmöglich  sei)  haben  wir  bereits 
bewiesen. 

Daher  ist  es  notwendig,  daß  das  Ding  mit  seinem  Korrelate 
zusammen  ein  notwendig  Seiendes  wird,  und  zwar  am  Endpunkte 
der  Reihe,  wenn  wir  in  der  Kette  der  Ursachen  durch  Ver- 
mittlung eines  dritten^)  Dinges  aufgestiegen  sind.  Dieses  dritte 
Ding,  insofern  es  in  aktueller  Weise  Ursache  ist  für  die  Not- 
wendigkeit der  Existenz  beider  Korrelativa,  verhält  sich  dann 
so,  daß  die  Entfernung  (Vernichtung)  eines  von  beiden  nur 
möglich  ist,  wenn  zu  gleicher  Zeit  die  Ursache  aufhört,  aktuell 


0  Materie  und  Form  wären  in  diesem  FaUe  nicht«  anderes  als 
Beziehungen,  also  Akzidenzien  und  zwar  solche,  die  am  wenigsten  Wirk- 
lichkeit  besitzen.  Demgegenüber  wurde  ihre  Substanzialitftt  in  dem  Sinne 
der  substantia  incompleta  im  Vorhergehenden  nachgewiesen. 

*)  Wesenheit  und  Dasein  gelten  also  als  real  verschieden,  und  ihre 
Verschiedenheit  ist,  wie  das  Folgende  zeigt,  identisch  mit  der  Eontingenz 
des  Dinges. 

*)  Cod.  b  Gl. :  „es  ist  also  in  seinem  Wesen  ein  nur  Mögliches''. 

*)  Nur  dureh  ein  im  Sein  übergeordnetes,  durch  die  Wirkarsache, 
wird  ein  ens  possibile  a  se  zu  einem  ens  necessarium  ab  alio.  Materie  und 
Form  sind  nun  aber  gleichgeordnet,  da  die  eine  nicht  ohne  die  andere 
existieren  kann,  wie  Kap.  8  gezeigt  wurde.  Daher  kann  also  weder  die 
Materie  durch  die  Form,  noch  die  Form  durch  die  Materie  den  Charakter  des 
Notwendigen  erhalten.  Cod.  b  GL:  „dann  müAte  das  andere  (also  Materie 
und  Form)  ein  ens  relativum  sein.  (Dies  ist  aber  unzutreffend);  denn  es 
wurde  bereits  klargestellt,  dafi  beide  nicht  entia  relativa  seien". 

^)  Betreffs  dieses  dritten  steUt  sich  wiederum  dieselbe  Frage:  woher 
hat  es  den  Charakter  der  Notwendigkeit? 


Digitized  by 


Googk 


137 

Ursache  zu  sein,*)  Dann  also  verlieren  beide  das  Dasein  nur 
dann,  wenn  eine  dritte  Ursache  (die  ihre  Zusammensetzung 
herbeigeführt  hat)  nicht  mehr  existiert  Wir  hatten  aber 
vorausgesetzt,  daß  es  sich  nicht  so  verhält.  Das  Gesagte  aber 
ist  ein  Widerspruch. 

Dieses  ist  nun  unrichtig  und  so  bleibt  als  das  Richtige 
einer  der  beiden  anderen  Fälle.  Wenn  daher  ihre  Nichtexistenz 
dadurch  herbeigeführt  wird,  daß  ein  drittes  Ding  vernichtet 
wird,  so  daß  also  diese  beiden  „Wirkungen  "2)  jener  dritten 
Ursache  sind,  so  wollen  wir  nun  betrachten,  wie  es  möglich  ist, 
daß  das  Wesen  jedes  einzelnen  von  beiden  (Form  und  Materie) 
abhängig  ist  von  der  Verbindung  mit  dem  anderen.  Es  können 
zwei  Fälle  eintreten:  jedes  einzelne  von  beiden  erhält  in  not- 
wendiger Weise*)  entweder  seine  Existenz  von  der  Ursache 
durch  Vermittlung  des  anderen.  Dann  ist  jedes  einzelne  von 
beiden  selbst  nächste  Ursache  (causa  proxima)  dafür,  daß  das 
andere  (relativ)  notwendig  existiert  Dieses  aber  ist  unmöglich. 
In  unseren  früheren  Ausführungen  <)  wurde  diese  Unmöglichkeit 
bereits  dargelegt.  Der  zweite  Fall  besagt,  daß  ein  bestimmtes 
von  beiden  allein  jenem  dritten  (der  äußeren  Ursache)  näher 
steht  Dann  ist  dieses  (ev.  die  Form)  die  vermittelnde  Ursache 
und  das  zweite  (ev.  die  Materie)  die  Wirkung.  Das  Richtige 
ist  also  jener  Fall  (wörtlich:  Teil),  den  wir  erwähnt  haben, 
nämlich  daß  die  Verbindung  zwischen  beiden  eine  solche  ist, 
daß  durch  sie  das  eine  Ursache,  das  andere  Wirkung  wird. 
Wir  könnten  noch  einen  dritten  Fall  annehmen:  beide  verhalten 
sich  so,  daß  die  Nichtexistenz  des  einen  von  ihnen  die  Nicht- 
existenz eines  dritten  zur  notwendigen  Folge  hat.  Aus  dieser 
letzteren  ergäbe  sich  weiterhin  die  Nichtexistenz  des  zweiten. 
Aber  auch  in  diesem  Falle  ist  das  eine  von  beiden  die  Ursache 


*)  Die  Ursache  verleiht  den  Charakter  der  Notwendigkeit.  Solange 
also  die  Ursache  hesteht,  sind  beide  Korrelativa  notwendig.  Keines  kann 
demnach  in  Wegfall  kommen. 

*)  Wird  das  Nichtsein  von  a  und  b  dadurch  herbeigeführt,  daß  c 
entfernt  wird,  dann  sind  a  und  b  auch  in  ihrem  positiven  Dasein  „Wirkungen" 
von  c.  Die  Ursache  des  Seins  ist  auch,  wenn  sie  aufgehoben  wird,  Ursache 
des  Nichtseins  und  umgekehrt. 

*)  Jede  Ursache  wirkt  notwendig.  Jede  in  sich  kontingente  Wirkung 
ist  also  relativ  d.  h.  rttcksichtsich  ihrer  Ursache  notwendig. 

*)  Vgl  Metaph.  I,  6  und  7. 


Digitized  by 


Google 


138 

der  (anderen)  Ursache J)  Nun  aber  ist  diese  causa  causae  eine 
(eigentliche)  „Ursache".  Damit  stellt  sich  die  Sache  schließlich 
so,  daß  das  eine  von  beiden  (die  Materie)  „Wirkung",  das 
andere  (die  Form)  „Ursache"  ist. 

Daher  wollen  wir  nun  erwägen,  welches  von  beiden  die 
Ursache  sein  muß.  Die  Materie  kann  nun  aber  nicht  die 
Ursache  für  die  Existenz  der  Form  sein.  Dies  ist  aus  folgenden 
Gründen  einleuchtend:  erstens  die  Materie  ist  nnr  in  dem  Sinne 
Materie,  weil  sie  die  Fähigkeit  hat,  etwas  in  sich  aufzunehmen 
und  (für  etwas)  disponiert  zu  werden.  Dasjenige  aber,  das 
„disponiert"  ist,  kann  als  solches  nicht  Ursache  sein  für  die 
Existenz  dessen,  für  das  es  disponiert  ist  (die  Form).  Wenn  es 
Ursache  wäre,  so  ergäbe  sich  notwendig,  daß  jenes  andere  (die 
Form)  immer  in  ihm  zugegen  sein  müßte,  auch  ohne  vorherige 
Disposition.^)  Zweitens  ist  es  unmöglich,  daß  das  Wesen*)  eines 
Dinges  in  aktueller  Weise  Ursache  für  ein  anderes  Ding  sei, 
während  es  selbst  noch  in  der  Potenz  verharrt  Es  ist  vielmehr 
notwendig,  daß  sein  Wesen  bereits  früher  aktuell  ist,  um  dann 
erst  Ursache  für  ein  anderes  Ding  zu  werden;  sei  es  nun,  daß 
dieses  „Früher"  ein  Früher  der  Zeit  oder  dem  Wesen  nach  ist, 
d.  h.  auch  wenn  der  Fall  so  liegen  würde,  daß  das  Ding  (die 
Materie)  nur*)  existieren  könnte,  indem  sie  Ursache  für  das 
zweite  ist,  und  nur  so,  daß  durch  dieses  erste  jenes  zweite  not- 
wendigerweise zum  Bestehen  gebracht  wird  (es  existiert  also 
keine  auch  nur  denkbare  Zeit,  in  der  jene  Ursache  nicht  wirkte). 
Auch  deshalb  ist  sie  (per  se)  „dem  Wesen  nach"  früher.    Ebenso 


^)  Im  angenommenen  Falle  ist  c  die  Ursache  von  b.  Dm  non-esse  von 
a  ist  aber  zugleich  Ursache  für  das  non-esse  von  c.  Dann  muß  man  also  a 
auch  die  entferntere  Ursache  von  b  nennen;  denn  das  non-esse  von  a  ist  die 
entferntere  Ursache  für  das  non-esse  von  b.  Causa  causae  est  causa  causatL 
Das  Verhältnis  ist  also  dann  wiederum  das  des  ersten  FaUes:  das  eine  ist 
Ursache  des  anderen. 

')  Die  Substanz  der  Materie  würde  aus  sich  heraus  die  Form  bewirken, 
d.  h.  sie  notwendig  und  immer  verursachen. 

')  „Wesen"  bezeichnet  im  eigentlichen  Sinne  nicht  die  Wesenheit  (Genus 
und  Differenz)  noch  die  Wesensform,  sondern  das  „Selbst"  (dÄt)  des  Dinges. 

*)  Eine  solche  Ursache  wirkt  vom  ersten  Augenblicke  ihrer  Existenz 
an.  Ist  ihre  Existenz  also  ewig  und  erfolgt  die  Wirkung  gleichzeitig  mit 
der  Ursache,  dann  ist  die  Wirkung  ewig  und  ohne  Anfang  in  der  Zeit,  ohne 
deshalb  aufzuhören  Wirkung  zu  sein.  In  dem  Begriffe  einer  anfangslosen 
Schöpfung  liegt  also  kein  Widerspruch. 


Digitized  by 


Googk 


139 

indifferent  ist  es  für  das  genannte  Kausalverhältnis,  ob  das 
(erste),  das  Ursache  ist,  mit  dem  anderen  verbunden  bleibt  (wie 
die  Form  mit  der  Materie)  oder  ob  es  von  ihm  getrennt  ist. 
Es  ist  nämlich  möglich,  daß  die  eine  Ursache  für  die  Existenz 
des  Dinges  nur  die  Existenz  eines  solchen  Dinges  verursacht, 
das  mit  dem  Wesen  dieser  Ursache  verbunden  ist  (so  daß 
beide,  Ursache  und  Wirkung,  ein  einheitliches  Wesen  aus- 
machen). Dementsprechend  ist  es  weiter  möglich,  daß  dann  eine 
andere  Ursache  für  die  Existenz  des  Dinges  nur  eine  solche 
Wirkung  hervorbringt,  die  von  dem  Wesen  der  Ursache  ge- 
trennt ist  Der  Verstand  wird  nicht  gehindert  (sieht  keinen 
Widerspruch  darin),  diese  Möglichkeit  zuzugeben.  Die  fernere 
Untersuchung  behauptet  sodann  die  gleichzeitige  ^)  Existenz 
beider  Teile.  Wenn  daher  (nach  der  Annahme)  die  Materie 
„Ursache"  für  die  Wesensform  ist,  dann  muß  sie  ein  aktuell 
bestehendes  Wesen  haben,  das  als  besonderes  früher  vorhanden 
ist  als  die  Wesensform.  Wir  hatten  dieses  aber  bereits  aus- 
geschlossen. Der  Grund  für  dieses  unser  negatives  Urteil 
stützte  sich  nicht  auf  die  Lehre,  daß  das  Wesen  der  Materie 
nur  existieren  kann,  indem  es  naturgemäß  angewiesen  ist  auf 
die  Verbindung  mit  der  Form,  sondern  vielmehr  auf  die  Er- 
kenntnis, daß  das  Wesen  der  Materie  aktuell  nur  durch  die 
Wesensform  existieren  kann.  Beide  Gründe  unterscheiden  sich. 
Die  Materie  kann  drittens  nicht  Ursache  für  die  Form 
sein  aus  folgendem  Grunde.  Wenn  die  Materie  die  nächste 
Ursache  für  die  Form  ist  und  wenn  zugleich  die  Materie  in 
sich  selbst  keine  Verschiedenheit  birgt  —  die  Wirkimg  und 
Konsequenz  eines  Prinzips  aber,  das  in  sich  keine  Verschiedenheit 
enthält,  muß  auch  seinerseits  durchaus  gleichartig  2)  sein  — 
dann  könnten  auch  die  materiellen  3)  Wesensformen  keine  Ver- 
schiedenheit zeigen.  Wenn  daher  ihre  Verschiedenheit  besteht 
auf  Grund  von  Dingen,  die  verschieden  sind  infolge  der  Zu- 
stände (der  modi)  der  Materie  (die  also  nicht  aus  dem  Wesen 


0  Ursache  mid  Wirkung  sind  gleichzeitig,  selbst  wenn  die  Ursache 
„dem  Wesen  und  der  natürlichen  Ordnung  nach"  frtther  ist  als  die 
Wirkung. 

*)  Ursache  und  Wirkung  sind  wesensgleich. 

*)  MaterieUe  Wesensformen  sind  die  der  sublunarischen  Körper  und  der 
Sphären.  Sie  existieren  in  einer  Materie,  ohne  jedoch  in  sich  materieUer 
Natur  zu  sein. 


Digitized  by 


Google 


140 

der  Materie  abgeleitet  werden  können),  dann  sind  diese  Dinge 
selbst  die  ersten  i)  Wesensformen  in  der  Materia  So  kehrt  die 
Diskussion  wieder  zu  demselben  Punkte  zurück.  Nehmen  wir 
also  den  Fall  an,  daß  die  Ursache  für  die  Existenz  dieser  ver- 
schiedenen Wesensformen  die  Materie  sei  in  Verbindung  mit 
einem  anderen  Dinge,  das  gleichzeitig  mit  ihr  besteht,  ohne 
aber  in  2)  ihr  selbst  zu  sein.  Dann  ist  also  nicht  die  Materie 
allein  die  nächste  Ursache,  sondern  die  Materie  in  Verbindung 
mit  einem  anderen  Dinge.  In  diesem  Falle  entsteht,  wenn  sich 
jenes  andere  Ding  und  die  Materie  verbinden,  eine  bestimmte 
individuelle  Wesensform  in  der  Materie.  Wenn  nun  ein  drittes 
Ding,  das  verechieden  ist  von  diesem  „anderen",  existiert  und 
sich  mit  der  Materie  verbindet,  dann  kommt  eine  Wesensfonn 
zur  Existenz,  die  auch  ihrerseits  verschieden  ist  von  jener 
ersten, 3)  determinierten  Wesensform.  Daher  eignet  der  Materie 
(als  spezielle  Funktion)  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  die 
Aufnahmefähigkeit  für  die  Wesensfonn,^)  Die  spezielle  Eigen- 
tümlichkeit jeder  einzelnen  (und  damit  ihre  Verschiedenheit) 
aber  wird  nur  durch  jene  Ursachen  hervorgerufen.  Zugleich 
ist  jede  einzelne  Wesensform  nur  zu  dem,  was  sie  ist^ 
durch  die  ihr  eigentümliche  Natur  geworden.  Daher  ist  die 
Ursache  für  die  Existenz  jeder  (einzelnen)  Wesensform  in  ihrer 
eigentümlichen  Natur  (und  ihrer  Verschiedenheit  von  anderen) 
das  äußere,  reale  Ding  (nicht  ein  interner  Bestandteil).  Die 
Materie  besitzt  also  keine  Art  und  Weise  des  Einwirkens  auf 
das  Entstehen  jener  eigentümlichen  (und  voneinander  ver- 
schiedenen) Naturen  (der  Formen).  Jene  bestimmte  Wesensfonn 
ist  aber  nur  wirklich,  indem  sie  durch  jene  eigentümliche  Natur 
existiert*)    Die  Materie  besitzt  also  keine  andere  Einwirkung 


^)  Unter  „zweiten  Weaensformen''  versteht  man  alle  qualitaüven  Be- 
stimmimgen,  die  das  eigentliche  Wesen  voraussetzen,  z.B.  die  propria.  Das 
esse  rationale  ist  erste,  das  posse  ridere  (Arist.  683  a  8)  zweite  Wesen^orm. 

')  Wenn  dieses  „andere  Ding*'  in  der  Materie  wie  in  einem  aufnehmenden 
Prinztpe  wäre,  dann  bildete  es  die  Wesensfonn  der  Materie.  Deren  Entstehen 
soU  im  folgenden  erkl&rt  werden.  Daher  mnfl  Avicenna  sie  als  nicht  existierend 
voraussetzen. 

*)  Die  Verschiedenheit  der  materiellen  Dinge  wird  also  herbeigef&hrt 
durch  die  Verschiedenheit  äußerer  Agenzien. 

*)  Die  Materie  bewirkt  nicht  die  Verschiedenheit  der  Formen. 

»)  Wenn  ako  die  Materie  die  „Wesenheit"  Jener  Natur  nidit  hervor- 
bringt, dann  auch  nicht  die  „Existenz**  derselben.    Wesenheit  und  Dasein 


Digitized  by 


Googk 


141 

auf  die  eigenttbnliche  Existenz  jeder  Wesensform  als  die,  daß  ihr 
Vorhandensein  unumgänglich  notwendig  ist,  damit  die  Wesensform 
in  ihr  existiere.  Dieses  ist  nun  aber  die  Eigentümlichkeit  der 
aufnehmenden  Ursache,  und  daher  kommt  der  Materie  nur 
die  Funktion  zu,  daß  sie  (die  Form)  aufnimmt 

Wir  haben  damit  widerlegt,  daß  die  Materie  in  irgend 
welcher  Weise  Ursache  für  die  Wesensform  sei.  Daher  bleibt 
nur  noch  der  andere  Fall  übrig,  daß  es  die  Wesensform  ist, 
durch  die  die  Existenz  der  Materie  notwendig  verursacht  wird. 
Wir  wollen  also  jetzt  erwägen,  ob  es  möglich  ist,  daß  durch  die 
Wesensform  allein  die  Existenz  der  Materie  notwendig  ver- 
ursacht werde,  und  daher  lehren  wir:  die  Wesensform,  von  der 
sich  die  Materie  nicht  trennen  kann,  kann  dieses  Verhältnis  zur 
Materie  eingehen«  Diejenige  Wesensform  aber,  die  sich  von  der 
Materie  trennen  läßt,  während  die  Materie  selbst,  mit  einer 
anderen  Wesensform  behaftet,  existieren  bleibt,  kann  es  nicht. 
Der  Grund  dafür  ist  folgender.  Wäre  diese  Wesensform  für 
sich  allein  auf  Grund  ihres  Wesens  Ursache  (für  die  Existenz 
der  Materie),  dann  würde  die  Materie  vernichtet,  wenn  die 
Form  nicht  mehr  existierte,  und  zugleich  müßte  die  voraus- 
gehende 0  Wesensform  eine  andere  Materie  besitzen,  die  von  ihr 
verursacht 2)  wäre;  (denn  die  Ursache  kann  nicht  ohne  ihre 
Wirkung  existieren).  Femer  müßte  jene  Materie  (die  die  zweite 
Form  annimmt)  von  neuem  entstehen  und  folglich  einer  anderen 
Materie  bedürfen.^)  Daher  muß  also  die  Ursache  für  die  Existenz 
der  Materie  ein  (äußeres)  Ding  sein,  das  mit  der  Wesensform 
verbunden  ist,  so  daß  die  Existenz  der  Materie  nur  hervor- 
gerufen wird  durch  jenes  Ding.  Es  ist  jedoch  unmöglich,  daß 
die  Existenz  der  Materie  aus  diesem  Dinge  hervorgehe  ohne 
irgend  eine  Wesensform.     Der  Gegenstand  wird  vielmehr  nur 


werden  also  unterschieden,  und  ferner  gilt  der  Satz:  die  Ursache  der  Wesens- 
form ist  anch  die  Ursache  des  Dinges. 

>)  Es  handelt  «ich  nm  einen  Wechsel  von  Formen  in  einer  und  der- 
selben Materie.    Von  der  Materie  sind  untrennbar  die  himmlischen  Körper. 

*)  Dann  aber  kann  diese  Form  ihre  Materie  nicht  verlieren,  nm  eine 
andere  anzunehmen.  Die  snbstantieUe  Veränderlichkeit  der  Dinge  wäre  also 
unmöglich. 

*)  AUes  neu  Entstehende  setzt  eine  Potenz  d.  h.  ein  materieUes  Prinzip 
voraus.  (Beweis  fOr  die  Anfangslosigkeit  der  Materie.)  Es  ergäbe  sich  also 
eine  endlose  Kette  von  Materien  verschiedener  Ordnung! 


Digitized  by 


Googk 


142 

vollkommen,  wenn  beide  (Wesensform  nnd  Materie)  zusammen 
sind.  Daher  ist  also  die  Materie,  um  zu  ihrer  Existenz  zu 
gelangen,  abhängig  von  jenem  Dinge  und  zugleich  von  einer 
Wesensform,  wie  sie  auch  immer  beschaffen  sein  mag  —  einer 
Wesensform,  die  von  jenem  Dinge  ausgeht  und  in  die  Materie 
hineingesenkt  wird.  Daher  wird  auch  die  Materie  nicht  ver- 
nichtet durch  die  Nichtexistenz  der  Wesensform,  weil  die  Wesens- 
form sich  nur  von  der  Materie  trennt,  um  einer  anderen 
Wesensform  zu  weichen.*)  Diese  andere  Form  bewirkt  im  Bunde 
mit  derjenigen  Ursache,  von  der  die  Existenz  der  Materie  aus- 
geht, dasselbe,  was  die  erste  Wesensform  hervorbrachte.  Ebenso 
wie  also  dieses  Zweite  (die  zweite  Form)  dem  Ersten  (der  ersten 
Form)  darin  gleich  ist,  daß  es  eine  Form  ist,  ist  es  ihm  auch  in 
dem  anderen  Punkte  gleich,  daß  es  (die  zweite  Form)  mitwirkt, 
um  diese  individuelle  Materie  hervorzubringen.^)  Dadurch  aber, 
wodurch  das  Zweite  sich  vom  Ersten  unterscheidet,  macht  das 
Zweite  die  Materie  aktuell  zu  einer  Substanz,  die  verschieden 
ist  von  derjenigen,  die  das  Erste  hervorbrachte.  Viele  von  den 
wirklichen  Dingen  gelangen  nur  durch  die  Existenz  zweier 
Dinge  zur  Vollkommenheit.  Das  Erleuchten  und  das  Entzünden 
kommt  nur  zustande  durch  (zwei  Faktoren)  eine  Substanz,  die 
erleuchtet,  und  eine  Qualität  (die  Qualität  des  Hellen,  die  der 
Substanz  anhaftet  und  durch  das  äußere  Agens  aktualisiert  wird). 
Diese  Qualität  ist  nicht  die  alleinige  Ursache.  Sie  macht  den 
Körper^  der  erleuchtet  werden  soll,  aufnahmefähig  für  die  Strahlen, 
so  daß  diese  in  ihn  eindringen,  ohne  zurückgeworfen  zu  werden. 
(Wenn  die  Strahlen  den  Körper  nicht  durchdringen  und  in  ihm 
verbleiben,  wird  er  nicht  leuchtend  noch  feurig,  sondern  ist 
entweder  diaphan  oder  refraktierend.)  Jene  Qualität  bewirkt 
sodann,  daß  die  Strahlen  mit  einer  bestimmten  Eigentümlichkeit 
ausgestattet  werden,  die  verschieden  ist  von  der  Eigentümlichkeit, 
die  eine  zweite  Qualität  in  dem  Strahle  *)  hervorbringt,  wie  z.  B. 


»)  Wörtlich:  „für  eine  andere  Form"  oder  CJod.  a:  „durch  Vermittlung 
einer  anderen  Form". 

*)  Wechseln  sich  zwei  Formen  in  einer  Materie  ab,  so  ttbemimmt  die 
zweite  die  Funktionen  der  ersten. 

*)  Wenn  ein  und  derselbe  Strahl  in  dem  einen  Körper  die  Erleachtang 
und  die  verschiedenen  Farben,  in  dem  anderen  das  Verbrennen  bewirkt,  so 
mofi  der  Grand  dieser  Verschiedenheit  in  den  Körpern  liegen.  Diese  müssen 
also  verschiedene  Qualitäten  besitzen. 


Digitized  by 


Googk 


US 

die  der  Farben.  Über  diese  Dinge,  die  wir  hier  verhandelt 
haben,  betreffs  des  Durchdringens  der  Strahlen  und  ihres 
Zurückgeworfenwerdens  mögest  du  keine  Schwierigkeiten  er- 
heben, nachdem  du  den  Zweck  der  Darlegung  erkannt  hastJ) 
Wenn  du  weiter  darüber  betrachtest,  findest  du  leicht  noch 
treffendere  Beispiele  für  die  genannte  Thesis.  Jedoch  bringt  es 
(der  Gültigkeit  des  Beweises)  keinen  Schaden,  wenn  du  auch 
keine  weiteren  Beispiele  findest;  denn  nicht  jedes  Ding  bedarf 
einer  Ausführung  durch  Beispiele. 

Jemand  könnte  dagegen  einwenden:  wenn  die  Existenz  der 
Materie  abhängig  ist  von  der  Vereinigung  jenes  Dinges  (der 
äußeren  Ursache)  mit  der  Wesensform,  dann  verhält  sich  also 
die  Verbindung  beider  wie  die  Ursache  für  das  Ding.  Wenn 
nun  die  Wesensform  aufhört,  zu  sein,  dann  wird  ai^ch  diese 
Summe,  die  den  Charakter  der  Ursache  hat,  vernichtet,  und 
folglich  muß  auch  die  Wirkung  aufhören.  Darauf  antworten 
wir:  die  Existenz  der  Materie  hängt  ab  von  der  Verbindung 
jenes  Dinges  mit  der  Wesensform,  jedoch  nicht,  insofern  die 
Wesensform  eine  in  ihrer  Art  bestimmte  ist,  sondern  insofern 
sie  einfachhin  „Wesensform"  ist.  Die  Summe  beider  (nämlich 
jener  äußeren  Ursache  und  einer  beliebigen  Wesensform)  wird 
durchaus  nicht  vernichtet;  denn  es  existiert  immer  jenes  Ding 
und  die  Wesensform  als  solche  2)  (in  der  allgemeinen  Bedeutung 
als  Wesenheit).  Daher  gilt  aber:  wenn  jenes  Wirkliche  nicht 
existierte,  dann  würde  auch  die  Materie  nicht  zum  Dasein  ge- 
langen, und  wenn  die  Wesensform  als  solche  (d.  h.  irgend  eine 
beliebige  Form)  nicht  existierte,  dann  würde  ebenfalls  die 
Materie  nicht  wirklich  sein.  Wenn  daher  die  erste  Wesensform 
aufhörte,  zu  sein,  ohne  daß  sie  durch  eine  zweite  ersetzt 
würde,^)  dann  würde  jenes  für  sich  bestehende,  äußere  Wirkliche 


1)  Sie  soUte  darlegen  wie  ein  Gegenstand  (das  Erleuchten)  ans  zwei 
Teilen,  einem  undifferenzierten  (dem  Strahl)  und  einem  differenzierenden, 
formeUen  (der  Qnalität)  entsteht  Eine  Wirkung  kann  zwei  gleichzeitige 
Ursachen  verschiedener  Ordnung  haben. 

*)  Wenn  zwei  Formen  in  einer  Materie  wechseln,  bleibt  zwar  nicht  ein 
und  dieselbe,  aber  doch  immer  eine  gewisse  Form  mit  der  äußeren  causa 
effidens  verbunden  und  wirkt  auf  die  Materie. 

^  Wörtlich:  „nicht  auf  Grund  des  Nachfolgens  der  zweiten*'.  Die 
zweite  Form  verdrftngt  die  erste  und  ist  in  diesem  Sinne  „Ursache''  dafür, 
dafi  die  erste  die  Materie  verläßt. 


Digitized  by 


Googl( 


144 

(die  causa  efficiens)  allein  sein,  ohne  dafi  das  andere  Bing, 
nämlich  die  Wesensform  als  solche,  existierte.  Dann  wäre  es 
aber  nnmögUch,  daß  von  diesem  Wirklichen  (a  sola  cansa 
efficiente)  die  Existenz  der  Materie  ausginge,  da  dieses  Wirkliche 
für  sich  allein  existierte,  ohne  Verbindung  mit  einem  and«*en 
oder  Beziehnng  zn  einem  solchen.^ 

Dagegen  könnte  jemand  die  Schwierigkeit  machen,  daß  die 
Vereinigung,  die  aus  dieser  Ursache  und  der  Wesensform  besteht, 
nicht  ein  numerisch  einziger  Glegenstand  ist  Sie  ist  vielmehr 
ein  einziger  Gegenstand  nur  der  Art  nach,  4  h.  in  allgemeiner 
Bedeutung.  Dasjenige  nun,  was  in  allgemeiner  Bedeutung  (also 
der  Art  oder  dem  Genus  nach)  ein  einziges  ist,  kann  nicht 
Ursache  werden  für  ein  Ding,  das  numerisch  ein  einziges  ist, 
noch  für  etwas,  das  sich  verhält  wie  die  Natur  der  (realen) 
Materie;  denn  sie  ist  numerisch  ein  einziges. 

Darauf  erwidern  wir:  wir  leugnen  nicht,  daß  dasjenige, 
was  dem  allgemeinen  Begriffe  nach  einheitlich  ist  und  dessen 
Einheit  erhalten  wird  durch  das  numerisch  „Eine",  Ursache 
sein  kann  für  ein  numerisch  Einheitliches.  In  der  snblu- 
narischen  Welt  (wörtlich:  hier)  wird  nun  aber  das  der  Art 
nach  „Eine"  in  seiner  Einheit  erhalten  durch  das  numerisch 
„Eine".  Jenes  ist  das  UnkörperUche.*)  Daher  verursacht  jenes 
Wirkliche  (das  Geistige)  die  Materie.  Letztere  wird  aber  in 
vollendeter  Weise  nur  dadurch  hervorgebracht,  daß  sich  irgend 
ein  Ding  mit  dem  geistigen  Prinzipe  vereinigt  Welches  aber 
dieses  Ding  (das  geistige  Prinzip)  ist,  wirst  du  später*)  er- 
fahren. 

Die  Wesensformen  sind  daher  entweder  solche,  die  von 
der  Materie  nicht  getrennt  (noch  trennbar)*)  sind,  oder  solche, 


>)  Wörtlich :  „sine  socio  vel  conditione".  Cod.  c  add:  Dieses  Ding  ist 
eine  causa  efficiens  nur  anf  Grand  der  Existenz  der  Form  (wörtlich:  „des 
Dinges'*).  Es  bleibt  (in  seiner  Eigenschaft  als  Ursache)  nur  bestehen  durch 
die  Form,  indem  es  jedoch  möglich  ist,  daß  es  existiert  (nicht  als  Ursache) 
aach  ohne  die  Form  (wörtlich:  „ohne  das  Ding''). 

*)  Die  Inhalte  der  Ideenwelt  sind  spezifisch  einheitlich.  Dieselben 
existieren  als  Arten  in  der  materiellen  Welt  durch  namerisch  einheitliche 
Individaen.    Die  Materie  ist  also  Grund  der  numerischen  Vielheit. 

*)  Abb.  VI  und  IX.  Der  aktive  InteUekt  bewirkt  das  Entstehen  der 
Weltdinge  durch  die  vorbildliche  Form,  die  in  ihm  ist. 

*)  Die  Formen  der  himmlischen  Sph&ren  sind  nicht  trennbar  von  ihren 
Materien.    Daher  sind  die  Himmel  unvergänglich. 


Digitized  by 


Googk 


145 

die  von  ihr  getrennt  werden  können.  Die  Materie  kann  daher 
nicht  ohne  eine  ähnliche  Form  existieren  (wenn  die  erste  Form 
die  Materie  verlassen  hat).  Die  Wesensformen,  die  von  der 
Materie  getrennt  werden,  so  daß  für  sie  ein  Ersatz  eintritt, 
werden  dauernd  erhalten  durch  die  in  der  Materie  folgende 
Wesensform,  indem  jene  Formen  sich  ersetzen.  Daher  sind  jene 
Wesensformen  in  gewisser  Weise  eine  Vermittlung  zwischen  der 
Materie,  die  bestehen  bleibt,  und  demjenigen  Prinzip  (dem 
aktiven  Intellekte),  das  ihr  den  Bestand  verleiht  Das  ver- 
mittelnde Prinzip  wirkt  ein  auf  die  Konstituierung  der  Substanz 
Deshalb  muß  zuerst  sein  eigenes  Wesen  konstituiert  werden. 
Dann  erst  wird  durch  dasselbe  ein  anderes  in  seinem  Bestehen 
konstituiert,  und  zwar  per  se,  in  erster  Linie.  ^)  Dieses  Sein 
(die  Form)  ist  die  causa  proxima  des  Dinges  inbezug  auf  das 
Bestehen.  Wenn  diese  (formelle)  Ursache  nun  durch  jenes 
Prinzip  besteht,  das  der  Materie  durch  die  Vermittlung  der 
Form  den  Bestand  verleiht,  dann  erlangt  also  die  (formelle) 
Ursache  ihr  Bestehen  in  ursprünglicher  Weise  (d.  h.  ohne  weitere 
Vermittlung)  von  den  höchsten  Prinzipien.  Dann  erst  (erhält) 
die  Materie  (ihr  Bestehen).  Wenn  aber  die  Form  nicht  durch 
jene  Ursache  (den  aktiven  Intellekt)  besteht,  sondern  durch  sich 
selbst,*)  und  wenn  sodann  die  Materie  durch  die  Form  das  Be- 
stehen erhält,  dann  ist  dieses  Verhältnis  betreffs  der  Form  um 
so  leichter  erkennbar.*)  Die  Wesensformen  aber,  die  sich  nicht 
von  der  Materie  trennen  lassen,  können  nicht  durch  die  Materie 
bewirkt  sein,  so  daß  dann  also  die  Materie  dieselben  notwendig 
hervorbrächte  und  aus  eigener  Kraft  verursachte.   Dann  wäre  die 


0  Zwischen  der  Form  und  der  Materie  existiert  also  keine  weitere 
Vermittlung. 

^  Vgl  daasn  Thomas  de  spirit.  creat.  V,  ad  10:  Licet  materia  non  possit 
sine  forma y  tamen  forma  potest  esse  sine  materia,  qnia  materia  habet 
per  formam  et  non  e  converso. 

*)  Es  handelt  sich  um  die  Thesis,  daß  die  Form  ein  verursachendes 
Prinzip  sei  und  der  Materie  natnrft  nnd  per  se  vorausgehe.  Vgl  Arist. 
Metaph.  1084b  2:  h^t  bI  iöxi  x^Q^<^o<;  i  d^id^fioq,  anogiioBiBV  &v  ng  tioxbqov 
n^ixBQOV  To  Ev  ^  fj  rgiag  xal  rj  6vag,  i  fxkv  Stj  avvB^BToq  6  ägiO-fioq,  xo  ?v, 
i  6k  xo  xad'oXov  uqoxbqov  xal  x6  elSog,  i  oQi&fiog,  Die  Form  ist  also  in 
filmlichem  Sinne  wie  das  Universelle  „früher'^  als  das  compositum.  Vgl.  Thomas 
de  Yerit.  IX,  3  ad  6:  introductio  formae  est  prior  illo  ordine,  quo  forma  est 
prior  materia,  qui  est  ordo  perfectionis. 

Horten,  Dm  Buch  der  Qeneiimg  der  Seele.  10 


Digitized  by 


Googk 


146 

Materie  1)  ein  aktives  Priazip  für  die  Existenz  desjenigeiv 
wodurch  2)  sie  zur  Vollendung  gelangt  Daher  ist  sie  „auf- 
nahmefähig" (aufnehmend),  insofern  sie  durch  etwas  ihre  Voll- 
kommenheit erlangt.  Sie  verhält  sich  jedoch  wie  eine  aktive 
Ursache,  die  die  Existenz  verleiht,  insofern  sie  das  Ding  not- 
wendig hervorbringt  Daher  verursacht  die  Materie  3)  die  Exibstenz 
eines  Dinges  durch  sich  selbst  Nun  ist  aber  das  Ding,  insofern 
es  aufnahmefähig  ist  (für  die  Wesensform),  etwas  anderes  als 
das  Ding,  insofern  es  ursächlich  wirkt,  und  daher  ist  die  Materie 
behaftet  mit  zwei  Wirklichkeiten.  Durch  die  eine  ist  sie  dis- 
poniert (für  die  Aufnahme  der  Wesensform);  durch  die  andere 
verursacht  sie  aus  sich  heraus  ein  Wirkliches  (die  Form  und 
das  Zusammengesetzte).  Daher  ist  der  Teil  von  ihr,,  äet  dis- 
poniert ist  (für  die  Aufnahme  der  Wesensform),  die  Substanz 
der  Materie  und  jenes  andere  (die  Form)  ein  Ding,  das  zu 
ihrem  Sein  als  Materie  hinzugefügt  wird.  Mit  diesem  ver- 
bindet sich  die  Materie  und  bringt  in  ihm*)  eine  Wirkung 
hervor.    So  verhält  sich  die  Naturkraft,  die  auf  die  Bewegung 


^)  Dem  Wortlaute  nach  kOnnte  man  aach  passivisch  übersetzen:  Dana 
ist  also  die  Materie  notwendig  hervorgebracht  durch  etwas  (die  Form),  wo- 
durch sie  vervollkommnet  wird.  Vgl.  dazu  Thomas  de  Verit.  IX,8  ad  6: 
Sicut  forma  est  quodammodo  causa  materiae  inqnantom  dat  ei  esse  acta, 
quodam  vero  modo  materia  est  causa  formae,  inquantum  svatenlali  ipsam. 
Xta  etiam  quodammodo  ea  quae  sunt  ex  parte  £ormae  sunt  priooa  bis  qnae 
sunt  ex  parte  materiae  (vgl  die  Hauptthesis  dieses  £Lapitels)  quaedam  vero  e 
converso.  Ebenso  ib.  XXVUI,  7  c.:  Contingit  secundum  diversa  genera  causamm 
idem  respectn  eiusdem  esse  causam  et  causatum;  sicut  purgatio  est  causa 
sanitatis  in  genere  causae  efficientis,  sanitas  vero  est  causa  purgationis 
secundum  genus  causae  finalis.  Similiter  materia  causa  est  formae  aUquo 
modo  inquantum  sustinet  formam,  et  forma  est  aJiquo  modo  causa  materiae 
inquantum  dat  materiae  esse  actu.  Et  ideo  nihil  prohibet  aUquid  altero  esse 
prins  et  posterius  secundum  diversum  genus  causae.  Ebenso  XV  Üb.  Sent.  d.  17, 
q^  1.  4,  q.  Ic:  Die  Materie  „verursacht''  den  Gegenstand,  insofern  die  Teile 
eines  Zusammengesetzten  dieses  „ verursachen ''. 

')  Die  Form  ist  dasjenige,  wodurch  das  compositum  ex  materia  et  forma 
voUendet  wird. 

>)  Fehlt  Cod.  a. 

*)  Die  Materie  bringt  in  der  Form  eine  Wirkung  hervor,  indem  die 
Form  dadurch,  daß  sie  in  die  Materie  aufgenommen  ist,  modifixiert  wird. 
Dieser  Modus,  in  dem  die  Form  in  der  Materie  erscheint,  haftet  der  Foim 
außerhalb  der  Materie  nicht  an.  Er  ist  also  durch  die  Materie  „venusacbt^y 
insofern  etwas  Passives  überhaupt  Ursache  sein  kann. 


Digitized  by 


Googl( 


14? 

gerichtet  ist,  in  der  Materie.*)  Jenes  Ding  (das  in  gewisser 
Weise  von  der  Materie  „verursacht"  wird)  ist  nun  die  erste 
Wesensform,  und  so  kehrt  die  Diskussion  zum  Anfang  *)  zurück. 

Die  Wesensform  ist  daher  früher  als  die  erste  Materie  und 
man  kann  nicht  sagen,  daß  die  Wesensformen  in  sich  der 
Potenz  nach  immer  existieren  und  nur  aktuell  wirklich 
würden  durch  die  Materie;  denn  die  Substanz  der  Wesensform 
ist  das  Aktuellsein«  Die  Natur  dessen,  was  in  der  Potenz 
existiert,  befindet  sich  (ausschließlich)  in  der  Materie  3)  als 
seinem  Substrate.  Daher  ist  die  Materie  so  beschaffen,  daß 
man  betreffs  ihrer  sagen  kann,  sie  bestehe  in  sich  selbst  der 
Potenz  nach  und  sei  existierend.*)  Aktuell  sei  sie  jedoch 
nur  durch  die  Wesensform,  Wenn  auch  die  Wesensform  nicht 
trennbar  ist  von  der  ersten  Materie,  so  besteht  sie  dennoch 
nicht  durch  dieselbe,  sondern  durch  die  Ursache,  die  sie  in  die 
Materie  hineinsenkt  Wie  könnte  auch  die  Wesensform  durch 
die  Materie  ihr  Bestehen  erhalten!  Wir  haben  doch  bewiesen, 
daß  die  Wesensform  Ursache  der  Materie  ist  Die  Ursache 
aber  besteht  nicht  durch  die  Wirkung,  noch  auch  verhalten 
sich  zwei  (korrelative)  Dinge  so,  daß  das  eine  durch  das  andere 
existiert,  indem  jedes  einzelne  von  beiden  das  andere  in  seiner 
Substanz  und  Existenz  hervorbringt^) 

Die  Unmöglichkeit  dieser  Ansicht  ist  aber  klargestellt 
worden,  und  der  Unterschied  zwischen  demjenigen,  wodurch 
ein  Ding  existiert,  und  demjenigen,  was  nicht  von  ihm  trennbar 


')  Dadurch  daß  die  Naturkraft  in  der  Materie  ist,  wird  sie  in  gewisser 
Weise  modifiziert  und  betätigt  sich  anders,  als  sie  sich  im  rein  idealen, 
nnmaterieUen  Zustande  betätigen  würde.  Vgl.  Bäumker,  Das  Problem  der 
Materie  in  der  griech.  Philosophie,  Münster  1890,  S.  271—281.  Die  Materie 
betätigt  sich  „mitwirkend,  selb  st  wirkend  und  gegen  wirkend". 

*)  Cod.  c:  „Das  was  Materie  genannt  wird  kann  auch  Form  heißen,  und 
was  Form,  auch  Materie".  Insofern  die  Materie  kausalen  Einfluß  ausübt, 
erhält  sie  eine  sonst  der  Form  eigentümliche  Bestimmung. 

*)  Bevor  also  die  Form  existiert,  ist  sie  weder  potentiell  —  sonst  wäre 
sie  Materie  —  noch  aktueU.  Sie  ist  jedoch  als  Idee  im  Geiste  des  aktiven 
Intellektes  der  Mondsphäre  vorhanden. 

*)  Die  neuplatonisch-scholastische  Lehre  bezeichnet  die  Materie  als  reine 
Privation.  Nach  Aristoteles  ist  jedoch  die  Materie  (meistens)  etwas  Positives. 
Dieser  Ansicht  folgt  Avicenna.  Er  zeigt  darin  seine  mehr  auf  das  Empirische 
und  Naturwissenschaftliche  gerichtete  Denkweise. 

»)  Ein  solches  Verhältnis  schließt  einen  Widerspruch  ein,  wie  Avicenna 
es  S.  65  ff.  nachgewiesen  hat. 

10* 


Digitized  by 


Googk 


148 

ist  (wie  die  Wesensform  von  der  Materie),  hast  du  erkannt*) 
Die  Wesensform  existiert  deshalb  nur  in  einer  Materie,  nicht 
als  ob  die  Ursache  ihrer  Existenz  die  Materie  oder  ihr  „esse 
in  materia"  wäre.  So  existiert  die  Ursache  nur  gleichzeitig 
mit  der  Wirkung  nicht  in  dem  Sinne,  als  ob  der  Grund  für  die 
Existenz  der  Ursache  die  Wirkung  oder  ihr  „esse  cum  effectu" 
wäre.  Die  Sache  verhält  sich  vielmehr  anders.  Ist  die  Ursache 
aktuell  Ursache,  so  bringt  sie  die  Wirkung  notwendig  hervor 
und  auch  den  Umstand,  daß  sie  gleichzeitig  mit  der  Wirkung 
existiert  Ebenso  verhält  sich  die  Wesensform.  Ist  sie  eine 
real  existierende  Wesensform,  dann  hat  sie  notwendig  zur  Folge, 
daß  sie  einem  Dinge  den  Bestand  verleiht,  indem  dieses  Ding 
sich  mit  ihrem  Wesen,  der  Form,  verbindet*)  Dasjenige  also, 
was  einem  Dinge  das  aktuelle  Bestehen  verleiht  und  ihm  die 
Existenz  mitteilt,  ist  teils  etwas,  was  die  Existenz  „mitteilt", 
indem  es  von  dem  (entstehenden)  Gegenstande  getrennt  ist*)  — 
und  teils  etwas,  was  die  Existenz  „mitteilt",  während  es  mit 
ihm  verbunden  bleibt  auch  dann,  wenn  dasselbe  keinen  Teil  des 
Gegenstandes  ausmacht  So  verhält  sich  die  Substanz  zu  den 
Akzidenzien,  die  ihr  anhaften  und  sich  notwendig  aus  ihr  ergeben, 
und  zu  den  verschiedenen  Mischungen. 

Es  ist  daher  klar,  daß  jede  Wesensform  in  einer  Materie 
existiert,  die  eine  „körperliche"  (dreidimensionale  und  phjrsische, 
nicht  mathematische)  ist  Sie  existiert  auf  Grund  einer  wirkenden 
Ursache.  Betreffs  der  zeitlich  entstehenden  Wesensform  ist  dieses 
einleuchtend.  Dasselbe  gilt  betreffs  der  -der  Materie  notwendig 
anhaftenden  Wesensform;  denn  die  erste  Materie  wurde  nur  durch 
Einwirkung  einer  Ursache  mit  dieser  Form  determiniert  (d.lL 
ausgestattet).  An  anderen  Orten  werden  wir  dieses  noch  mehr 
auseinandersetzen.^) 


*)  Es  ist  der  Unterschied  zwischen  den  Bestandteilen  eines  Gegens- 
Standes  und  den  notwendigen  Akzidenzien  oder  Voraussetzungen. 

*)  Die  Form  verleiht  also  der  Materie  das  „esse*'  und  das  „esse  coniunctum 
cum  forma^. 

*)  Dies  ist  die  causa  efficiens. 

*)  Vgl.  Abh.  IX. 


Digitized  by 


Google 


Dritte  Abhandlung. 


Erstes  Kapitel 

Kurze  Darlegung  dessen,  was  Aber  die  neun  Kategorien  betreffs 
ihrer  Natur  als  Akzidenzien  0  untersucht  werden  muB.^) 

Daher  lehren  wir:  das  Wesen  der  Substanz  haben  wir 
nunmehr^)  erklärt  und  ausgeführt,  daß  sie  von  dem  Unkörper- 
lichen und  Körperlichen,*)  wie  auch  von  der  Materie  und  der 
Wesensform*)  ausgesagt  wird.  Daß  der  Körper  existiere,«)  bedarf 
keines  Beweises.  Die  Existenz  der  Materie  und  der  Wesensform 
haben  wir  (Abh.  n,  2)  bereits  bewiesen.  Die  der  unkörperlichen 
Substanz  (wörtlich:  des  Getrennten)  haben  wir  (Abh.  11, 1)  in 
potencia  proxima  ad  actum  dargetan  und  wollen  dieselbe  auch 
weiterhin  begründen  (Abh.  VJLLL  und  IX).  Ferner  sei  (als  Nach- 
weis einer  geistigen  Substanz)  auf  folgendes  hingewiesen.  Wenn 
du  dich  dessen  erinnerst,  was  wir  über  die  Seele  gesagt  haben,') 


')  Wälirend  die  Einzelwissenschaften  die  Nennzahl  der  Akzidenzien  und 
ebenso  ihre  Funktion  als  Akzidens,  im  Gegensatz  znr  Substanz,  vor  aus- 
setzen, ist  es  Au^;abe  der  Metaphysik,  diese  Voraussetzungen  zu 
beweisen.  Nur  sie  verfügt  über  die  universeUen  Prinzipien,  aus  denen 
dieser  Beweis  geführt  werden  kann.  Derselbe  sieht  ab  von  der  körperlichen 
Natur  der  Akzidenzien  und  betrachtet  sie  vielmehr  im  absoluten  Sinne,  ist 
also  insofern  eine  Untersuchung  über  das  ens  immobile  und  das  ens  inquantum 
est  ens. 

>)  Cod.  c  und  d  add:  „und  Hinweis  auf  dieselben''  d.  h.  Aufzählung 
derselben. 

*)  Vgl.  Abh.  n. 

*)  Abh.  n,  1. 

»)  Abh.  11,2. 

^  Die  „Existenz"  nachzuweisen  betreffs  der  Objekte  der  Einzelwissen- 
schaften  ist  das  formale  Objekt  der  Metaphysik. 

0  Naturw.  TL  Teü,  II  u.  V2. 


Digitized  by 


Google 


150 

ist  dir  einleuchtend,  daß  eine  körperlose  Substanz,  die  verschieden 
ist  vom  Körper,  existiert  (Nachdem  also  die  Substanz  hinreichend 
besprochen  wurde)  ist  es  nunmehr  angebracht,  das  Wesen  der 
Akzidenzien  und  ihre  Existenz  darzulegen. 

In  diesem  Sinne  sagen  wir:  die  Wesenheit  der  zehn  Kate- 
gorien hast  du  bereits  in  der  Auseinandersetzung  zu  Anfang  der 
Logik  kennen  gelernt J)  Wir  zweifeln  femer  nicht,  daßdasznr 
Gruppe  der  Kategorien  gehörige  Relative,  insofern  es  ein  Relatives 
ist,  notwendigerweise"^)  ein  Akzidens  für  ein  Ding  darstellt  Ebenso 
verhält  es  sich  mit  den  Beziehungen,  die  enthalten  sind  in  dem 
„Wo",  dem  „Wann",  der  Lage,  dem  Handeln  und  Leiden.  Denn 
diese  sind  Verhältnisse  (Zustände)  die  als  Akzidenzien  den  Dingen 
zukommen,  in  3)  denen  die  genannten  Kategorien  sind.  Sie  ver- 
halten sich  darin  wie  das  Wirkliche,  das  sich  im  Substrate  befindet 
Wahrlich  so  ist  es.  Es  mußte  denn  jemand  den  Einwand  erheben: 
das  agere  verhalte  sich  anders,  denn  das  agere  existiere  nicht 
im  Handelnden,  soiidem  in  seinem  Objekte.*)  Wenn  jemand  diese 
Schmerigkeit  erheben  sollte,  und  wenn  ihm  sogar  seine  Behauptung 
zugestanden  würde,  so  bewiese  dieses  dennoch  nichts  gegen  das, 
was  wir  behaupten  wollen,  indem  wir  sagen:  die  Handlung  ist 
etwas,  das  in  einem  Dinge  (als  subiectum  inhaerionis)  existiert 
Das  agere  existiert  also  in  einem  Substrate  (ist  also  Akzidens), 
selbst  wenn  es  nicht  in  dem  Handelnden  ist 

Daher  bleiben  von  den  Kategorien*)  noch  diejenigen  zu 
besprechen  übrig,  die  Anlaß  zu  Zweifeln  geben,  und  es  stellt 
sich  die  Frage,  ob  sie  Akzidenzien  seien  oder  nicht  Eis  handelt 
sich  dabei  um  zwei  Kategorien,  die  der  Quantität  und  die  der 
Qualität    Was  die  Kategorie,  der  Quantität  anbetrifft^  so  lehren 


0  Logik  n.  Teü,  m  1—3. 

*)  Da  es  keine  Substanz  nnd  aach  kein  non  ens  ist,  mnfi  es  konaeqnenter- 
weise  ein  Akzidens  sein. 

*)  Sie  inhärieren  also  den  Substanzen  and  besitzen  daher  das  Wesen 
der  Akzidenzien.  Vgl.  Arist.  Kateg.  1  a  23 :  rc5v  ovratv  ...  ta  6h  iv  v7to- 
xeifdvip  (dv  ioTi,  xa&*  vnoxtifitvov  61  ovSevog  Xiyevai,  iv  vnoxBiidvi^  Ük 
Hyw^  0  hv  xivi  n^  (ug  f^Qog  vnoQyov  dSvvaxov  x^^^  elvai  toC  iv  «^  ^onr, 
olov  ^  tlg  yQa(jL(jLazixri  iv  hioxH^V(o  fdv  tau  tJ  i/^'/j?,  xaS^  vjwxeifiivov 
6*  ovöBvdg  Xiyerat. 

*)  Demnach  ist  das  agere  Akzidens  des  Objektes.  Es  ist  also  doch 
Akzidens.  Wäre  es  kein  solches,  dann  dürfte  es  weder  im  Handelnden  noch 
in  seinem  Objekte  inhärieren. 

^)  Unerwähnt  blieben  Qualität,  Quantität  und  habere.  ^ 


Digitized  by 


Googk 


151 

Tiele,  daS  die  lAme,  die  Fläche  und  die  körperliche  (dreidimen- 
tionale)  AusdehBong  zur  Kategorie  der  Substanz  zu  rechnen  seien. 
Ja,  sie  begnfigen  sich  damit  nicht  einmal,  sondern  behaupten, 
diese  (matiiematischen)  Gegenstände  seien  sogar  die  ersten  Prin- 
zipien der  Substanzen  (Pythagoras).  Andere  (ebenfalls  Pythagoras 
und  seine  Schule)  sind  dieser  Ansicht  inbezug  auf  die  diskon- 
tinuierlichen Quantitäten  d.  h.  die  Zahlen^)  und  halten  diese  für 
die  ersten  Prinzipien  der  Substanzen. 

Betreffs  der  Qualität  lehren  einige  Naturwissenschaftler, 
daS  sie  überhaupt  nicht  wie  ein  Inhaerens  in  einen  Subjekte  sdin 
kaiin.2)  Sie  lehren  vielmehr,  daß  die  Farbe  in  sich  selbst  eine 
Substanz  sei,  ebenso  der  Geschmack  und  der  Geruch,  und  daß 
durch  diese  Qualität  die  sinnlich  wahrnehmbaren  Substanzen  ihr 
Besteh^i  erhalten. 

Die  meistoi  Anhänger  der  G^dmwissensdiaften  hängeji 
dieser  Lehre  an  (als  Alchimisten  lehren  sie,  daß  die  Substanzen 
aller  Körper  wes^isgleich  seien  und  sich  nur  durch  die  Qualitäten 
unterscheiden.  Durch  Entfernung  der  einen  Qualität  und  Ein- 
ffthrung  der  and^*en  können  also  die  Substanzen  z.  B.  Silber  in 
Gold  verwandelt  werden).  Was  nun  die  Schwierigkeiten  betreffs 
der  Substanzialität  der  Qualitäten  angeht,  so  ist  es  das  richtige, 
dieselbe  in  der  Naturwissenschaft  vorzubringen.  Wir  haben 
dieses  auch  bereits  getan.^) 

Was  nun  die  Anhänger  der  Lehre  von  der  Substantialität 
der  Quantität  angeht,  so  sind  es  diejenigen,  die  aufstellen:  die 
kontinuierlichen  Quantitäten  seien  l^bstanzen  und  erste  Prin- 
zipien der  Substanzen.  Man  stellte  die  Ansicht  auf,  die  kon- 
tinuierlichen Quantitäten  seien  die  (physischen)  Dimensionen,  die 
der  körperlichen  Substanz  das  Bestehen  verleihen.  Was  aber 
dem  Dinge  das  Bestehen  verleiht,  ist  „früher"  als  dasselbe. 
Was  aber  „früher"  ist  als  die  Substanz,  ist  in  vorzüglicherem 
Sinne  „Substanz"  und  daher  bezeichneten  jene  Philosophen  von 
den  drei  genannten  Gegenständen  <)  den  Punkt  in  vorzüglichstem 


0  Vgl.  Arist.,  Metaph.  986a20,  987a  18  u.  s.w. 

*)  WOrtlidi:  „sie  ist  nicht  getragen^.  Ck)d.  c:  d.h.  „sie  sind  keine 
Akzidenzien''.  Derselbe  Ausdruck  bezeichnet  auch  das  Prädikat  in  Beziehung 
zvm  Subjekte. 

*)  Vgl.  Naturw.  IV.  Teil;  auch  Logik  11.  Teil,  V  und  VI  bis  Kap.  4. 

*)  Genannt  wurden  expressis  verbis  nur  die  Linie,  Fläche  und  der 
mathematische  Körper.    Der  Punkt  ist  jedoch  in  der  Linie  einbegriffen. 


Digitized  by 


Google 


152 

Sinne  als  „Substanz".  Die  Anhänger  der  Lehre  betrefe  der 
Zahlen  lehren,  daß  diese  die  ersten  Prinzipien  der  Körper  seien. 
Jedoch  behaupten  sie,  die  Zahlen  seien  aus  Einheiten  zusammen- 
gesetzt, so  daß  also  die  Einheiten  ^)  principia  principiorum  seien. 
Sodann  lehi-ten  sie,  die  Einheit  sei  eine  Naturkraft,  die  in 
ihrem  Wesen  nicht  notwendig  abhängig  sei  von  irgend  einem 
Dinge.  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  die  Einheit  in  jedem 
Dinge  enthalten  ist  und  daß  sie  in  „diesem"  Dinge  (d.  h.  in 
jedem  Individuum)  verschieden  ist  von  dem  Wesen  desselben. 
So  ist  z.  B.  die  Einheit  im  Wasser  verschieden  von  dem  Wasser 
und  im  Menschen  verschieden  von  dem  Menschen.  Sie  ist  also 
insofern  sie  „Einheit"  ist,  selbständig  und  ist  nicht  notwendig 
ein  bestimmtes  Ding.  Jedes  Ding  aber  wird  nur  zu  dem,  was 
es  ist  (zu  einer  bestimmten  Wesenheit),  indem  es  zu  einer 
determinierten  Einheit  wird.  Daher  ist  also  die  Einheit  erstes 
Prinzip  für  die  Linie,  die  Fläche  und  für  jedes  Ding;  denn  die 
Fläche  wird  nur  zu  einer  Fläche  durch  die  Einheit  ihrer 
Kontinuität,  die  ihr  in  eigentümlicherweise  zukommt  Ebenso 
verhält  sich  die  Linie.  Der  Punkt  ist  ebenfalls  eine  Einheit, 
die  eine  gewisse  Lage  besitzt  Die  Einheit  ist  daher  die  Ur- 
sache jenes  Dinges  und  das  erste,  was  zum  Bestehen  gelangt 
Aus  der  Einheit  entsteht  die  Zahl.  Diese  ist  daher  eine  ver- 
mittelnde Ursache  zwischen  der  Einheit  und  jedem  realen  Dinge. 
Der  Punkt  ist  also  eine  Einheit  mit  bestimmter  Lage,  die  Linie 
eine  Zweiheit  mit  bestimmter  Lage,  die  Fläche  eine  Dreiheit 
mit  bestimmter  Lage,  der  Körper  eine  Vierheit  mit  bestimmter 
Lage.  2)  Man  ging  dann  von  einem  zum  anderen  weiter  und 
ließ  jedes  Ding  aus  der  Zahl  entstehen. 

Wir  müssen  daher  zunächst  klar  legen,  daß  die  Dimensionen 
und  die  Zahlen  Akzidenzien  sind.    (Kap.  4  und  5.)     Sodann 


")  Es  ist  dies  die  Lehre  der  nenpythagorftischen  Schnle  und  der 
pythagondsierenden  Platoniker.  Vgl.  dagegen  Arist.  Metaph.  1001  a  n.  b  und 
1040  b  18:  <pavsQ6v  Sn  ovxe  xo  €v  oita  tb  Sv  ivSixß'^ai  ovaiav  alvai  xdiv 
ngayfiazcDV, 

*)  Vgl.  dazu  Arist.  Psych.  404  b  22:  in  de  xal  aXX(og,  vofhf  f^kv  to  6v, 
imatijfiriv  dh  xa  6vo,  xov  6h  xoC  iniTiiSov  ägi&fiov  So^av,  aüB^civ  6h  xo^ 
oxBQBo^,  ol  fihv  yoQ  oQi^iiol  xa  eX6ri  oAxa  xal  a\  OQXai  iXeyovxo;  und 
Metaph.  1090  b  21:  Tioiovoi  yoQ  xa  fjieyid^  ix  xfjg  iltjg  xal  oQi&fiolf,  ix  f/kv 
x^q  6va6oq  xa  fjiiixfj^  ix  XQi&6oq  6"  {aox;  xa  i7iin£6a^  ix  6k  xfjg  XBxgi^og  xa 
axBQ€a  ^  xal  i^  SUcdv  ägt^fidivi  und  Polit.  1316  a  8. 


Digitized  by 


Googl( 


153 

mflssen  wir  uns  Mühe  geben,  die  Schwierigkeiten  zu  lösen,  die 
die  entgegenstehenden  philosophischen  Schulen  vorbringen  (Kap.  5). 
Vordem  müssen  wir  aber  die  wahre  Natur  der  Arten  der  Quan- 
tität definieren  (Kap.  9).  In  erster  Linie  müssen  wir  also  die 
Natur  der  Einheit  bestimmen  (Kap.  2  und  8).  Der  Grund  dafür, 
daß  wir  die  Einheit  an  dieser  Stelle ^)  definieren,  ist  ein 
doppelter:  der  erste  besagt,  daß  die  Einheit  eine  überaus  große 
Ähnlichkeit  hat  mit  dem  Seienden,  das  doch  das  (formelle) 
Objekt  dieser  Wissenschaft  ist*)  (unum  et  ens  convertuntur). 
Der  zweite  Grund  besagt,  daß  das  Eine  in  irgend  welcher 
Weise  ein  erstes  Prinzip  für  die  Quantität  ist.  Daß  die  Einheit 
auch  ein  erstes  Prinzip  für  die  Zahl  ist  (also  die  diskontinuier- 
liche Quantität),  ist  ein  der  Untersuchung  dieser  ersten  Frage 
naheliegendes  weiteres  Problem:^)  die  Einheit  ist  weiterhin  ein 
erstes  Prinzip  für  die  kontinuierliche  Quantität,  weil  das  Kon- 
tinum  eine  gewisse  Einheit  ist,  und  weil  sich  die  Einheit  fast 
so  verhält  wie  eine  formelle  Ursache  (also  wie  die  Form)  für 
das  Kontinum  Femer  ist  die  Ausdehnung  nur  aus  dem  Grunde 
eine  Ausdehnung,  weil  sie  gemessen  werden  kann.  Der  Um- 
stand aber,  daß  sie  gemessen  werden  kann,  ist  gleichbedeutend 
mit  der  anderen,  daß  sie  gezählt  werden  kann.  Dieses  letztere 
bedeutet  nichts  anderes  als,  daß  ihr  eine  Einheit  zukommt*) 


1)  Nach  dem  in  1 4  entworfenen  Programme  müßte  die  Metaphysik  ein- 
geteilt werden  in:  I.  Die  Lehre  ttber  das  Sein,  die  Arten  und  Proprietäten 
des  Seins;  IL  Die  Lehre  ttber  das  Eine,  seine  Arten  und  Bestimmungen. 
Von  diesem  Plane  weicht  Avicenna  ab,  indem  er  die  Lehre  ttber  das  Eine 
vorbringt  innerhalb  und  als  Teil  der  Lehre  vom  Sein.  Das  Eine  mttflte 
ttber  aUen  Kategorien  stehen,  und  Avicenna  behandelt  dasselbe  als  Teil  der 
Lehre  ttber  die  Quantität!  Daß  Avicenna  diese  seine  veränderte  Auffassung 
rechtfertigen  muß  ist  selbstverständlich. 

^  Dieser  Grund  beweist  nur,  daß  die  Einheit  in  den  Bereich  der  Meta- 
physik gehört.    Der  folgende  rechtfertigt  ihre  Behandlung  vor  der  Quantität. 

•)  Die  Lehre  ttber  die  Quantität  muß  sowohl  die  kontinuierliche  (geo- 
metrische) als  auch  die  diskontinuierliche  (arithmetische,  die  Zahl)  behandeln. 

*)  ygLArist.MetaplL  1052b  20:  pihQOv  yoQ  iaxiv  y  zo  noahv  yiyvdaxerai' 
yiyvwcxBtai  d*  ?  h'i  i}  äQi^/x<p  x6  noodv  y  noaoVy  i  6*  agi^fioQ  Snag  IW,  äate 
nSv  xi  noaov  yiyvciaxexai  y  noaov  xiy  kvi,  xal  ^  7i^(ox(p  nooa  yiyvwaxtcat, 
xafko  €cvxi  ev. 


Digitized  by 


Google 


154 


Zweites  Kapitel 

Die  Diskussion  über  das  EineJ) 

Das  Eine  wird  in  vieldeutiger  Weise  von  mehiw^  Be- 
griffen ausgesagt,  die  darin  übereinstimmen,  daß  sie  aktuell 
keine  Teilung  enthalten,  insofern  jedes  einzelne  von  ihnen  mit 
sich  selbst  identisch  ist.  Jedoch  existiert  der  Begriff  (des  Einen) 
in  diesen  Dingen  nach  einem  gewissen  Früher  oder  Später  (also 
analogice,  nicht  aequivoce  oder  univoce).  Dies  (gilt  von  dem 
unum  per  se,  das  folgt)  auf  das  unum  per  accidens.*)  Letarteres 
besteht  darin,  daß  von  einem  Dinge,  das  sich  mit  einem  andoen 
verbindet,  ausgesagt  wird,  daß  es  das  andere  sei,*)  und  da8 
beide  zusammen  ein  einziges  Ding  ausmachen.  Dieses  (Ve^ 
hältnis  zweier  Gegenstände)  ist  entweder  L  Subjekt  und  akzi- 
dentelles Prädikat  So  sagen  wir:  Zaid  und  ibn  Abdalkb  ist 
eine  Person  oder:  Zaid  und  der  Arzt  ist  eine  Person  —  oder 
n.  (die  beiden  Gegenstände)  sind  zwei  Prädikate  in  ein^n  Sub- 
jekte.*)   So  sagen  wir:   der  Arzt  und  ibn  Abdallah  ist  eine 


>)  Zum  Begriffe  der  Einheit  TgL  Thomas  totitis  logicae  Summa  tr.  m  1: 
Sciendnm  est,  quod  unum  convertitur  cnm  ente  et  nnnm  est  principinm  nnmen. 
Unum  autem  primo  modo  sumptum  (das  ontologisch  Eine)  nihil  alind  est  quam 
ens  indivisum.  Addit  autem  unum  supra  ens  negationem  seu  privationem 
divisionis.  Et  quia  omne  ens  est  unum  isto  modo  sumptum  ^  ideo  unum  sie 
sumptum  uon  solum  est  in  genere  quantitatis,  sed  in  omnibus  generibus  sicnt 
et  ens  et  ideo  unum  est  de  transcendentibus  . . .  Unum  autem  quod  est  pm- 
cipium  numeri  addit  super  unum  quod  convertitur  cum  ente,  non  rem  aliquam 
sed  concemit  illud  addendo  sibi  duas  rationes:  scüicet  quia  didt  bo«  omnem 
indivisionem,  id  est  non  dicit  omne  ens  in  quantum  est  indivisum,  sed  didt 
ens  indiyisum  quantitatis  continuae  et  didt  rationem  mensurae  dis(»«tiAe  . . . 
Unum  ergo  quod  convertitur  cum  ente,  didt  ens  indivisum,  quodcumque  sit 
illud.  Unum  autem  quod  est  prindpium  numeri  didt  ens  continuim  in- 
divisum. 

*)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1015  b  16:  ^Ev  XeyEvai  to  f^kv  xaxä  avfißtßnxk, 
to  6h  xad-*  avTo^  xata  ovfißeßfjxoQ  fjihv  olov  Kogloxog  xtü  xe  fiovctxov  xai 
KoQlaxoq  iiovaueoq  . . .  navxa  yoQ  zafyta  *iv  kiyevai  xata  avfißeßtjxo^.  Das 
scholastische  Beispiel  ist:  medicus  musicus. 

*)  Koriskos  und  der  Musiker  sind  dieselbe  Substanz. 

')  Den  gleichen  Gedanken  fiUirt  Aristoteles  betreffs  des  numerisch 
Einen  aus  (Topik  103  a  29):  tgltov  f  Stccv  and  roC  ovfißeßipeotog  (to  avzov 
anoSo&§)  olov  to  xad^ijfiBvov  $  to  /xovatxov  Scdxqoui.  navta  ya^  tatta  to 
^v  oQiB^fAt^  ß6v?^tai  at]fi€iveiv. 


Digitized  by 


Googk 


155 

Person,  wenn  es  sich  zufällig  (also  akzidentell)  trifft,  daß  eben 
derselbe  äußere  Gegenstand  zugleich  Arzt  und  ihn  Abdallah 
ist  —  oder  in.  sie  sind  zwei  Subjekte  innerhalb  eines  Prä- 
dikates, das  sich  wie  ein  Akzidens  zu  ihnen  verhält  So  sagen 
wir:  der  Schnee  und  der  Gips  sind  eins  (dasselbe),  d.  h.  sie 
stimmen  überein  in  der  weißen  Farbe.  (Dies  bildet  eine  akzi- 
dentelle Einheit);  denn  es  verhält  sich  akzidentell,  daß  von 
beiden  ein  und  dasselbe  Akzidens  ausgesagt  wird.^ 

Dasjenige,  das  dem  Wesen 2)  nach  eins  ist,  ist  entweder 
eins  im  Genus  oder  eins  in  der  Art,  und  dies  ist  dasjenige,  das 
durch  die  Differenz  eins  ist.  Ein  anderes  ist  eins  durch  die 
Ähnlichkeit,  oder  durch  das  Substrat,  oder  der  ZahP)  nach. 
Letzteres,  das  numerisch  eine,  ist  manchmal  eins  durch  die 
Kontinuität,*)  manchmal  durch  die  Kontiguität  (wörtlich  durch 


*)  Vgl.  Arist.  1.  c:  To  fjikv  öixaiov  xal  to  fiovoixov  {fv  Xtyexai)  on 
filfc  ovolq  avfißtßijxev  (Avicenna  II),  to  6t  fiovaixov  xal  KoqIoxoq^  oxi 
i^azBQOv  ^axtQff  ovfißeßrjxev  (Avicenna  I)  woavtcDg  6h  xav  inl  ytvovg  xh^ 
irü  xo)v  xa^okov  xivoq  ovofiax(üV  Xtyrjxai  x6  avfißeßtjxoQt  olov  8xt  av^ga>7i(x; 
TO  avxo  xal  fiovatxog  iv^gamog.  Diese  Einheit  im  universeUen  Begriflfe 
gribt  Avicenna  in  etwas  abweichender  Auffassung  als  dritte  Art  der  akzi- 
dentellen Einheit.  Auf  I  und  HI  lassen  sich  die  Worte  anwenden:  ov  xov 
avrov  XQonov  aß(p<a  vtioq^bl,  alla  x6  fiev  (III)  c^  ytvog  xal  iv  xy  ovola 
(in  der  weißen  Farbe),  to  6h(I)a>g  fgiq  ^  ndd-og  x^g  ovoiag. 

')  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1015  b  36 :  x&v  6h  xaS^  kwxa  (per  se)  tv  ?.tyo- 
fuvütv  xa  ixhv  Uytxai  x(p  awey^fj  elvai,  olov  ipaxellog  6ea(i(}^  xal  ygafifty] 
xav  xtxafifjLinj  ^,  ovvexi]g  6k,  fila  Xsyexai  , . .  avtwv  6t  xovxiov  fi&).Xov  tv 
xa  <pvaei  avvBx^  ?  ^«/i^,  ovve/tg  6s  tJ-ytxai,  ov  xlvtiaig  fxia  xa^*  avxo  xal 
fi^  hiov  X€  a),Xa>g;  ib.  1016a 9:  xa  xt  6^  vkwg  awey^ri  kv  Xtytxaif  xav  tyjg 
xafjirptv,  xal  Ixi  fiäkXov  xa  fi^  t/ovxa  xccfiiptv  . . .  xal  ^  tv^tia  x^g  xexafi- 
fi^vTjg  fiß?.Xov  tv\  ib.  17:  txi  aklov  xgonov  tv  keyexai  X(p  x6  vnoxeifievov 
(arab.  maudü^)  x<p  eX6h  tlvai  ä6ia(poQov,  d6ia(poQa  6*  <Lv  a6taiQBxov  xo 
eldog  xaxa  x^v  a]!oS^Tjoiv;  ib.  24:  ?.ty6xai  6^  Hv  xal  (ov  xo  y^vog  'iv  6unpiQ0v 
xaZg  ävxixeifitraig  6ia<p0QaTg ;  ib.  32 :  txi  6h  Itv  Xtytxai  Sawv  6  loyog  6  xo  xL 
rjv  dvai  Hytov  (die  Wesenheit)  d6ialQtxog  -XQog  aXkov  xov  6rjXoi}vxa  xi  jjv 
tlvai  xo  TiQtcyixa  \  ib.  1016  b  1 :  8kwg  6h  wv  rj  vor^ig  d6iaiQexog  tj  votca  xo 
xi  ^v  slvai  xal  firj  6vvaxai  ;(C(i(»/occt  fiijxe  yfiovt^  fiijxe  xomo  fiiqxe  Xoytp  /id- 
Xiaxa  xatrca  tv  ...  xa  fxtv  ovv  nkeToxa  tv  ?Jy6xai  x(p  tiegov  xi  §  noieZv  tj 
naayjEiv  §  Jjrfir  §  TiQog  xi  elvai  tv,  xa  6h  TiQwxwg  keyof/eva  tv  i)v  ^ 
ot;o/a  iiia, 

«)  Cod.c:  „dem  Individuum  nach"*.  Arist.:  to  dgi^fun  tv  Metaphysik 
999b33. 

*)  Arist.  Metaph.  1069  a  8  u.  s.  w. :  to  cw^xh» 


Digitized  by 


Googl( 


156 

das  Anrühren),«)  manchmal  ist  es  eins  wegen  seiner  Art;*) 
manchmal  anf  Grund  seines  Wesens.*) 

Das  dem  Genus  nach  eine  ist  ein  solches  manchmal  durch 
das  genus  proximum,^)  (wie  Mensch  und  Tier  in  dem  Genas 
„animal^)  und  manchmal  in  dem  genus  remotum  (wie  Mensch 
und  Stein  in  dem  Begriffe  „corpus").  Ebenso  verhUt  sich  das 
der  Art  nach  eine.  Manchmal  ist  es  eins  durch  die  spezies 
proxima,^)  die  nicht  in  verschiedene  Arten  geteilt  wird,  manch- 
mal durch  die  species  remota  und  stimmt  dann  fib^rein  mit 
einem  der  zwei  Teile  der  obigen  Gruppe,*)  wenn  auch  eine  Ver- 
schiedenheit inbezug  auf  die  logische  Auffassung  vorhanden  ist 
Ist  ein  Gegenstand  nun  eins  der  „Art"  nach,  so  ist  er  not- 
wendig auch  eins  durch  die  „Differenz". 

Es  ist  bekannt,  daß  das  dem  genus  nach  eine  der  Art 
nach  vielfältig  ist,  und  daß  das  der  Art  nach  eine  manchmal 
der  Zahl  nach  vielfältig  ist,  manchmal  auch  nicht,  ^)  wenn  näm- 
lich die  Natur  der  Art  ihrem  ganzen  Begriffe  nach  in  einem 
einzigen  Individuum  vorhanden  ist.')  Dann  ist  sie  in  einer  ge- 
wissen Hinsicht  „Art"  (insofern  sie  durch  G^nus  oder  Differenz 
bestimmbar  ist),  in  einer  anderen  Hinsicht  aber  keine  Art 
(sondern  Individuum  und  enthält  keine  Vielheit  von  Individuen 
unter  sich,  wie  jede  Art  der  sublemarischen  Dinge);  denn  ein 
solcher  Gegenstand  ist  von  einer  Seite  universell,  von  einer 
anderen  Seite  nicht  universell  (sondern  singulär).    Denke  nach 


*)  Arigt.  Metaph.  1082  a  20:  hi  t&  fdv  atpS  iaüv  bv,  xa  cJl  f«i{€i,  xa 
^  dicHf  cäv  ov&BV  ivöix^c^i^  vna^xetv  xati  t^oviciv  i^  äv  ^  Sva^  xal 
^  XQiaQ. 

*)  Arist.  467b 26:  x<p  eÜei  ?v. 

")  Arist  320  b  14:  ?v  xdi  koyqt  und  wv  rj  ovcla  fua. 

*)  Arist.  Metaph.  1016  a  28:  xa^a  Sk  6ü  fjikv  oSro^  ev  kfyexai  (olov 
&710C  avBi^amo(:  xvwv  ?v  xi)  o  i^  ^  xo  avia  yivog,  8  xccvxov  Hyexat^  6p  ^ 
xeXeviaZa  xoü  yivovg  etötj  xa  dvwxiQw  xovxfov, 

*)  Wörtlich:  „durch  eine  sp.  pr." 

*)  Das,  was  von  einem  gewissen  Begriffe  aus  als  genus  proximum  an- 
gesehen wird,  erscheint  von  einem  höheren  Begriffe  aus  als  species  prozima. 
Femer  ist  species  remota  und  genus  proximum  identisch. 

^  Dies  trifft  zu  bei  den  rein  geistigen  Substanzen,  den  Engeln  (vg^ 
Färabf,  Bingsteine  Nr.  23)  und  auch  den  Himmelsphären,  deren  Wesenheit 
die  ganze,  ihnen  zu  Verfügung  stehende  Materie  „actuieren"  und  erfitfsen. 
Für  ein  weiteres  Individuum  derselben  Art  ist  dann  keine  Materie  mehr  ver- 
fügbar. 


Digitized  by 


Googl( 


157 

über  dieses  Problem  an  dem  Orte,')  wo  wir  die  Lehre  fiber  das 
Universelle  darlegen  oder  ziehe  zur  Vergleichung  andere  Kapitel 
herbei,  die  bereits  vorausgegangen  sind.«) 

Das  in  der  Kontinuität  eine  ist  ein  solches,  daß  in  ge- 
wisser Hinsicht  aktuell 3)  eins  ist,  in  anderer  Beziehung  aber 
eine  Vielheit  enthält.  Das  in  Wahrheit  Eine  ist  ein  solches, 
das  nur  der  Potenz*)  nach  eine  Vielheit  enthält.  Es  existiert 
entweder  in  den  Linien  und  ist  dort  eine  solche,  die  keinen 
Winkel  bildet  —  und  auch  in  den  Flächen,  nämlich  die  ein- 
fache (ebene)  Fläche,  ebenso  in  den  dreidimensionalen  Körpern, 
n&mlich  der  Körper,  der  von  einer  solchen  Fläche  umgeben  ist, 
die  keine  Unebenheit  nach  Art  eines  Winkels  enthält  Mit  diesen 
ist  verwandt  dasjenige  „Eine",  in  dem  aktuell  eine  Vielheit  ent- 
halten ist;  jedoch  liegen  die  Endpunkte  dieser  Vielheit  auf  einer 
gemeinsamen  Grenze,'^)  wie  z.B.  die  Summe  zweier  Linien,  die 
einen  Winkel  umgeben.  Verwandt  mit  diesem  ist  das  Ding, 
dessen  Endpunkte  sich  in  einer  solchen  Weise  berühren,  daß  das 
Ganze  einem  Kontinum  darin  ähnlich  ist,*)  daß  die  Bewegung 
des  einen  Punktes  notwendig  in  Verbindung  steht  mit  der  eines 
anderen.    Ihre  Einheit  verhält  sich  dann  wie  eine  Folge  aus 


»)  Abh.  IV,  3  Ende  und  V,  2. 

«)  Logik  I.  Teil,  I,  9—11. 

')  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1023  b  29:  ro  6h  ovvexsQ  xal  TieTUQaofiivov,  Stav 
iv  ZI  ix  TLkeiovtav  y  iwnoQXovxtov,  ftaXiaxa  fikv  Swafuif  el  6h  /tcij,  iveQyiia, 
xoixfov  favxdtv  fiicXlov  xa  <pvaBi  jf  r^x^V  toicdka^  Sütisq  xal  hd  xoC  ^vo? 
Xeyoficv.  Thomas  nnterscheidet  (Sum.  theol.  1 42, 1  Obj.  1):  qnantitas  continua 
intrinseca,  quae  didtnr  magnitndo  und  qnantitas  continua  extrinseca,  quae 
didtor  locus  et  tempus. 

*)  Arist,  Phys.  185  b  10:  cfe  Stkiqov  yoQ  6iaiQ€x6v  x6  ovvexiQ* 

*)  Arist,  Metaph.  1069  a  5:  xo  6lh  avvexh^  Stcsq  ixofjtevov  xi  jj  oTtxofievov. 
Xiyw  6h  awexhg  hav  xivxo  yivtfcai  xal  kv  x6  ixazi^ov  idga^  oic  Snxovxat, 
xal  aw^xovxai^  äaxt  61jXov  8xi  x6  avvtxhi  iv  xovxoiq  i^  äv  ^  xi  7tig>vxe 
ylyvsa^ai  xaxa  x^v  avvcnpiv, 

•)  Vgl.  Arist.,  Phys.  227  a  18:  xo  fikv  yog  anxofievov  iipsSrJQ  avayxri 
slvai  und  Metaph.  1016  a 5,  von  Avicenna  fast  wörtlich  wiedergegeben:  avvexh<: 
6k  Jiiyexaif  ov  xlvrjaii  /xia  xaB-*  aM  xal  ft^  olov  xe  iXX(o<:,  Thomas, 
Metaph.  V,  L  6  med.:  Non  enim  possibile  est  in  continuo,  ut  diversae  partes 
diyersis  motibus  moveantur,  sed  totum  continuum  movetur  uno  motu.  Didt 
aatem  „secundum  se"  (xa&'  aixo)  quia  possibile  est  ut  continuum  moveatur 
uno  modo  per  se,  et  uno  alio  vel  pluribus  per  accidens;  sicut  si  homo  movetur 
in  navi  per  se  contra  motum  navis,  movetur  nihilominus  motu  navis  per  ac- 
ddens  . . .  non  enim  contingit  in  continuo,  quod  una  pars  movetur  et  alia 
qiuieseat 


Digitized  by 


Googk 


t58 

der  Einheit  der  Bewegung;  denn  hier  (in  dieser  Einheit)  liegt 
eine  enge  Verbindung  (von  Teilen)  vor.  Diese  verhält  sich  wie 
die  Glieder  des  Körpers,  die  aus  anderen  Gliedern  zusammen- 
gesetzt sind.  Im  vorzüglichsten  Sinne  verdient  den  Namen  des 
Einen  dasjenige,  dessen  Zusammensetzung  eine  natürliche,  keine 
künstliche  ist.  Kurz  der  Charakter  der  Einheit  in  diesen  letzten 
Beispielen  ist  weniger  vollkommen.  Er  entfernt  sich  von  der 
Einheit  der  Kontinuität  und  nähert  sich  der  Einheit  der  Juxt- 
apposition.0  Die  Einheit  der  Kontinuität  enthält  in  vorzüg- 
licherem Sinne  als  die  der  Juxtapposition  den  Charakter  der 
Einheit  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  die  Einheit  der  Kon- 
tinuität keine  aktuelle  Vielheit  in  sich  enthält,  während  die 
Einheit  der  Juxtapposition  (das  Kontignum)  eine  aktuelle  Vid- 
heit  in  sich  birgt.  In  ihr  besteht  also  eine  Vielheit,  die  durch 
eine  Einheit  gleichsam  bedeckt  wird,  ohne  daß  letztere  die 
Vielheit  aufhöbe.  Die  Einheit  der  Kontinuität  wird  entweder 
in  Verbindung  mit  der  Ausdehnung  allein  gedacht,  oder  sie 
existiert  verbunden  mit  einer  anderen  Natur.  So  ist  die  Ein- 
heit z.B.  Wasser  oder  Luft;  oder  es  haftet  dem  der  Kontinuität 
nach  „Einen"  wie  ein  Akzidens  an,  daß  es  im  Substrate  eins 
ist;  denn  das  Substrat,  das  im  eigentlichen  Sinne  ein  Kontinum 
darstellt,  ist  ein  einfacher  Körper,  von  einer  und  derselben 
Natur.  In  den  Naturwissenschaften  (L  Teil,  in  1  und  2)  hast 
du  dieses  bereits  gelernt  Daher  ist  also  das  Substrat  der  kon- 
tinuierlichen Einheit  auch  seinerseits  eins  durch  seine  Natur, 
insofern  diese  nicht  in  verschiedene  Wesensformen*)  zerfiült 
Wir  lehren  vielmehr,  daß  das  der  Zahl  nach  3)  eine  unzweifel- 
haft nicht  der  Zahl  nach  teilbar  ist,  insofern  es  in  der  Zahl 
eins  ist  Ja  sogar  jede  andere  Art  der  Einheit  ist  nicht  teü- 
bar,  insofern  sie  eine  Einheit  bildet  Jedoch  müssen  wir  dasselbe 
betrachten  hinsichtlich  der  Natur  (Wesenheit),  der  die  Einheit 
als  Akzidens  zukommt  Daher  ist  das  numerisch  Eine  teils  ein 
solches,  in  dessen  Natur,  der  die  Einheit  als  Akzidens  zukommt, 


0  Allst.,  Phys.  281a  23:  avvex^  f^v  iv  xa  saxata  iv,  iatzofitya  6*  mv 
&fia,  i<p6^i  ^  iov  fifiöhv  fieta^v  avyyevig, 

>)  Cod.  o:  „Diese  sind  yorhanden  in  dem  Substrate  der  sosammen* 
g^esetzten  Körper^. 

')  VgL  Arist,  Topik.  103  a  23:  ßakiaza  6^  b(JLohoyov(dvafq  xo  hf  ä^i^fn^ 
xavvov  TtoQa  Ttäai  6oxtt  X&/eaB^ai,  elat&e  6h  xal  xoüxo  oawäiöoa^^u  n/Mnm.' 
X(Bq,  xvQiwxaxa  fihv  xal  Ti^tcixwQ  Sxav  ovofiaxt  f  0Q(p  x6  xccvxov  aJu>dM§^ 


Digitized  by 


Googk 


15Ö 

es  »cht  liegt,  daÄ  sie  eine  Vielheit  yon  Individuen  bilde,  wie 
z.B.  der  eine  Mensch,»)  teils  ein  solches,  zn  dessen  Natur  jene 
BestimnuDg  gehört  (daß  sie  in  selbständige  Individuen  zerfallen 
kann).  So  verhält  sich  die  Einheit  des  Wassers  und  die  der 
Linie;  denn  manchmal  wird  die  Einheit  des  Wassers  in  viele 
einzelne  Teile  und  ebenso  die  Linie  in  viele  Linien  zerlegt. 
Dasjenige  Eine  aber,  das  seiner  Natur  nach  nicht  in  eine  Viel- 
heit zerfallen  kann,  kann  entweder  in  anderer  Hinsicht  eine 
individuelle  Vielheit  bUden,  oder  nicht.  Wie  das  Erste  verhält 
sich  das  numerisch  Eine  z.  B.  der  MenscL  Er  zerfällt  nicht  in 
öne  Vielheit  von  Individuen  zufolge  seiner  Natur  (als  Indi- 
viduum), d.  h.  insofern  er  ein  (bestimmter)  Mensch  ist,  wenn 
man  ihn  teilen  wollte; 2)  jedoch  büdet  er  in  einer  anderen  Hin- 
sicht eine  Vielheit  von  Individuen,  wenn  er  in  Seele  und  Leib 
geteilt  wird.  Daher  besitzt  er  eine  Seele  und  einen  Leib,  ohne 
da&  jedoch  eines  dieser  beiden  „Mensch^  sei  (Erst  die  Zu- 
sammensetzung der  Teile  ergibt  das  Wesen  des  Kompositum.) 

Das  numerisch  Eine  ist  im  zweiten  Falle  nicht  teilbar. 
Dieses  bildet  zwei  Gruppen.  Es  stellt  entweder  ein  Wirkliches 
dar,  das,  trotzdem  es  ein  Ding  ist,  das  nicht  teilbar  ist,  noch 
eine  antere  Natur  (neben  der  Natur  der  Einheit)  besitzt,  oder 
nicht.  Ist  das  Eine  also  ein  Wirkliches,  das  neben  dieser  Be- 
stimmung (eine  res  indivisibilis  zu  sein)  noch  eine  andere  Natur 
besitzt,  so  kann  diese  Natur  entweder  die  räumliche  Lage  sein 
und  etwas,  das  der  räumlichen  Lage  wesensverwandt  ist.  Dieses 
ist  der  Punkt^)  Derselbe  ist  nicht  teilbar,  insofern  er  ein 
Punkt  ist,  noch  auch  in  einer  anderen  Hinsicht.  Dabei  besitzt 
er  neben  der  erwähnten  Einheit  noch  eine  andere  Natur.  (Er 
ist  Prinzip  und  Grenze  der  Linie,  abgesehen  davon,  das  er  eine 
res  indivisibilis  ist)  Oder  diese  andere  Natur  ist  nicht  die 
räumliche  Lage,  noch  etwas  ihr  Verwandtes.  Dann  ist  die  Ein- 
heit z.  B.  ein  Geist,  oder  eine  Seele.  Der  Geist  besitzt  eine 
Existenz,  die  verschieden  ist  von  der  Bestimmung,  die  gegeben 
ist  durch  die  Unteilbarkeit.  Dabei  besteht  dieses  Wirkliche 
nicht  in  einer  räumlichen  Lage,  noch  ist  es  in  seiner  Natur 

^)  Die  prima  sabstantia  ist  nicht  universeller  Natur,  kann  daher  nicht 
von  einer  Vielheit  ausgesagt  werden. 

^  Als  Teile  erhielte  man  nicht  einzelne  Individua  des  Menschen  sondern 
dMen  logisehe  oder  reale  Bestandteile. 

■).  Vgl  Arist,  Psyöh.  409  a 6:  ^  ya^  at^yfi^  fJtovoQ  iativ  Hqvu  fyovaa^ 


Digitized  by 


Googl( 


160 

(selbst)  teilbar,  noch  auch  in  irgend  welcher  anderen  Hinsicht 
Diejenige  Einheit  femer,  in  der  keine  andere  Natur  enthalten 
ist,  verhält  sich  wie  die  Einheit  selbst,  die  das  Prinzip  der 
Zahl  ist  (also  die  numerische,  nicht  die  ontologische,  noch  die 
geometrische),  d.  h.  eine  solche  Einheit,  die  mit  einer  anderen 
verbunden  als  Summe  eine  Zahl*)  ergibt. 

Zu  diesen  Arten  der  Einheit  gehört  dasjenige,  dessen  Begriff 
logisch  nicht  geteilt  wird  (noch  werden  kann),^)  geschweige  denn, 
daß  er  eine  materielle  oder  räumliche  oder  zeitliche  Teilung  zuließe. 

Wir  wollen  nun  die  (Arten  der)  Teilung  aufzählen,  die  auf 
Grund  einer  Einheit  (als  Maß)  und  der  Kontinuität  eine  Vielheit 
von  Einzeldingen  bUdet,  und  zwar  ebenfalls')  insofern  dem  Dinge 
die  einheitliche  Natur  zukommt  Eine  solche  Art  der  Teilung  ist 
z.  B.  diejenige,  deren  individuelle  Vielheit  in  der  Natur  statthat, 
die  in  sich  selbst  durch  eine  Vielheit,^)  gemessen  (und  meßbar) 
ist,  und  zwar  eine  solche,  die  verschieden  ist*)  von  der  Einheit 
(des  Ganzen  d.  h.  der  Wesenheit,  die  die  Ausdehnung  als  Ganzes 
besitzt).  Diese  ist  die  Ausdehnung.  Eine  andere  Art  der  Teilung 
ist  diejenige,  deren  Vielheit  in  einer  solchen  Natur  statthat,  der 
die  Einheit,  die  durch  eine  Vielheit  gemessen  wird,  nur  infolge 
einer  anderen «)  Ursache  zukommt  Dies  ist  der  einfache  Körper, 

0  Vgl  Allst.,  Metaph.  1053 &dOi  i  f  d^i&fiOQ  TiAiJ^c  fiovaSo»v. 

')  Darunter  versteht  Avicenna  die  Gottheit,  deren  Hauptmerkmal  nach 
koranischer  Theologie  die  Einheit  ist. 

»)  Mit  dem  ohen  Erwähnten  stimmt  diese  Art  der  Teilung  darin  über- 
ein, daß  der  geteilte  Gegenstand  abgesehen  von  seiner  Einheit,  eine  bestimmte 
Wesenheit  (Natur)  besitzen  muß. 

*)  Nur  das  Quantitative  ist  per  se  teilbar,  das  Qualitative  dagegen  nur 
per  acddens,  d.  h.  insofern  die  Qualität  in  einer  substantia  quanta  vorhanden 
ist.  Vgl  Arist,  Metaph.  1020a 7:  Iloadv  Xfyetai  to  Siaigsidv  eli  iwnaQxovta 
wv  ixategov  Jj  Sxaotov  sv  u  xal  toSe  xi  Tti^pvxev  elvm.  nUfdoq  fjikv  ovv 
Tioaov  u  Sv  oQi^iirixov  y,  fiiyed-oq  6h  iv  fietQiftdv  y  und  Thomas,  opuscoL 
XLIV  (ed.  Viv^)  tr.  m,  1:  Oontinua  quantitas  didtur  cuius  partes  ad  unum 
communem  terminum  copulantur,  quia  omnes  sunt  coniunctae  et  non  sunt 
actu  separatae,  sed  sunt  separabiles. 

•)  Cod.  d:  „eine  solche,  die  herkommt  von  der  Einheit,  d.h.  (d  GL)  die 
Vielheit  ist  in  eigentümlicher  Weise  ableitbar  von  der  Einheit". 

^  Die  Ausdehnung  besitzt  neben  der  Bestimmung  eine  quantitas  oon- 
tinua zu  sein,  keine  „Wesenheit",  wie  die,  durch  welche  die  Dinge  der 
Außenwelt  zu  Arten  und  Einheiten  werden.  Die  Einheit  der  Ausdehnung: 
ist  hergesteUt  durch  dieselbe  „ratio",  die  auch  per  se  teilbar  ist.  In  den 
übrigen  Dingen  ist  die  „ratio"  oder  „Ursache"  für  die  Einhdt  verschieden 
von  der  für  die  Teilbarkeit,  wie  esse  aquam  verschieden  ist  von  esse  nnnm. 


Digitized  by 


Googk 


161 

wie  z.  B.  das  Wasser;  denn  dieses  Wasser  ist  numerisch  „eins" 
und  ist  zugleich  „Wasser^';  es  enthält  aber  in  sich  die  Möglichkeit, 
in  viele,  numerisch  verschiedene  Teile  „Wasser"  zerlegt  zu  werden. 
Der  Grund  dieser  Zerlegbarkeit  ist  nicht  die  Natur  des  Wassers, 
sondern  eine  (vom  Wesen  des  Wassers  verschiedene)  Ursache, 
die  mit  dem  Wasser  in  Verbindung  steht,  nämlich  die  räumliche 
Ausdehnung.  (Denn  weil  das  Wasser  das  Akzidens  der  räum- 
lichen Ausdehnung  besitzt,  ist  es  in  viele  Teile  zerlegbar.)  Daher 
bilden  jene  numerisch  vielen  Teile  des  Wassers  der  „Art"  nach, 
und  ebenso  ihrem  Substrate  nach  eine  Einheit;  denn  aus  der 
Natur  ihres  Substrates  ergibt  es  sich,  daß  sie  sich  aktuell  ver- 
binden zu  einer  numerischen  Einheit.  Anders  verhalten  sich 
die  Individuen  der  Menschen;  denn  aus  einer  großen  Anzahl 
ihrer  Substrate  ergibt  sich  nicht,  daß  sie  sich  zu  dem  Substrate 
eines  einzelnen  Menschen  verbinden.  Freilich,  jeder  einzelne  von 
Urnen  ist  durch  sein  Substrat,  das  selbst  ein  einzelnes  ist,  ein 
einzelner.  Jedoch  ist  die  Summe,  die  aus  dieser  Vielheit  gebildet 
wird,  dem  Substrat  nach  nicht  ein  einziges  Ding,  noch  ist  das 
Verhältnis  des  einzelnen  Menschen  gleich  dem  jeden  Teiles  des 
Wassers;  denn  jeder  Teil  des  Wassers  ist  in  sich  „einer"  durch 
sein  Substrat.  Die  Summe  aller  Teile  wird  auch  eine  in  dem 
Substrate  einheitliche  genannt;  denn  aus  der  Natur  der  Sub- 
strate (aller  Teile)  ergibt  sich,  daß  sie  sich  zu  einem 0  Substrate 
verbinden.  Daher  wird  die  Summe  der  Teile  zu  einer  Einheit 
^Wasser**. 

Jede  einzelne  der  beiden  Arten  (der  Einheit  die  eine 
Teilung  zuläßt)  ist  femer  entweder  aktuell  ausgestattet  mit 
allem,  was  ihr  zukommen  kann,  oder  nicht.  Trifft  das  erstere 
zu,  dann  ist  sie  vollkommen  und  eine  vollendete  Einheit.  Trifft 
es  nicht  zu,  dann  bildet  sie  eine  Vielheit.  Es  ist  nun  aber  bei 
den  Menschen  üblich,  daß  sie  die  Melheit  von  der  Einheit  unter- 
scheiden. Diese  vollkommene  Einheit  besteht  entweder  durch 
(willkürliche)  Annahme  und  Feststellung  (O^tou  nicht  (fvaei)  wie 
z.  B.  eine  vollkommene  Drachme  oder  ein  vollkommener  Denar, 
oder  sie  wird  „eins"  durch  das  reale  Wesen  (das  willkürliche 
Grenzbestimmungen  ausschließt).  Dies  findet  statt  entweder 
durch  Menschenhand  wie  das  vollendete  Haus,  —  das  noch  nicht 
vollendete  Haus  wird  noch  nicht  „ein"  Haus  genannt  —  oder  durch 

')  Cod.  s:  ,,zu  einem  kontinuierlichen*'. 

norteu,  Das  Bach  der  Genttung  der  Seele.  ü 


Digitized  by 


Googk 


162 

Natur,  wie  z.  B.  die  Person  eines  Menschen,  der  im  Tollbesitze 
seiner  Glieder  ist.  Weil  nun  die  gerade  Linie  manchmal  eine 
Vermehrung  im  Sinne  der  geraden  Richtung  zuläßt  die  sie  vor- 
dem noch  nicht  besaß,  so  ist  sie  nicht  eine  Jünheit**  in  Beziehung 
auf  die  Vollendung  (die  keine  Hinzufügung  oder  Verminderung 
mehr  zuläßt).  Die  kreisförmige  Linie  läßt  aber  keine  Vermehrung 
zu.  Es  haftet  ihr  vielmehr  von  Natur  an,  daß  sie  den  Mittel- 
punkt von  allen  Seiten  umgibt,  und  aus  diesem  Grunde  ist  der 
Kreis  etwas  vollendetes  und  vollkommen  „eins*^  (perfecte  unum). 

In  diesem  Sinne  kann  auch  jede  menschliche  Person 
„eins"  sein,  und  daher  haftet  einigen  Dingen  die  Vollendung 
an  wie  den  Personen  (den  ersten  Substanzen)  und  den  kreis- 
förmigen Linien,  anderen  aber  niclit,  wie  dem  Wasser  und  der 
geraden  Linie. 

Dasjenige  aber,  das  durch  seine  Gleichheit  in  der  Größe 
„eins"  ist,  ist  dadurch  bestimmt,  daß  diese  Gleichheit  in  einer 
Proportion  besteht  Es  ist  „eins"  so  wie  das  Schiff  in  Beziehung 
zum  Kapitäne  und  die  Stadt  in  Beziehung  zu  dem  Könige  eine 
Einheit  bildet;  denn  beide  Verhältnisse  stimmen  übeyein  (bilden, 
insofern  sie  Relationen  sind,  Einheiten).  Ihre  beiderseitige  Einheit 
ist  keine  akzidentelle.  Sie  ist  vielmehr  eine  Einheit,  dessen,  was 
durch  beide  (den  Kapitän  und  den  König)  akzidentell  vereinigt 
wird  d.  h.  die  Einheit  des  „Schiffes"  und  der  „Stadt"-  ist  durch 
beide  eine  akzidentelle  Einheit  Die  Einheit  der  beiden  Ver- 
hältnisse (z.  B.  die  Einheit,  die  durch  die  Relation  der  Stadt 
zum  Könige  hergestellt  wird)  aber  ist  nicht  die  Einheit,  die 
wir  als  akzidentelle  Einheit  definiert  haben.*) 

Zusammenfassend  sagen  wir  daher:  Einerseits  wird  die 
Einheit  entweder  von  Dingen  ausgesagt,  die  eine  numerische 
Vielheit  bilden,  oder  von  einem  Dinge,  das  numerisch  nur  eins 
ist  —  daß  wir  die  Arten  des  numerisch  Einen  vollständig  auf- 
gezählt haben,*)  bewiesen  wir  früher  — .  Daher  wollen  wir  nun 
zu  der  anderen  Seite  (der  Auffassung  des  Einen  und  Vielen) 


*)  Betrachtet  man  Schiff  nnd  Stadt  als  physische  Größen,  dann  ist 
ihnen  die  dnrch  die  Leitung  herheigeführte  Einheit  der  Ordnung,  x§  Tc^f«, 
akzidentell  Betrachtet  man  sie  aher  als  moralische  Größen,  die  in  Beziehung 
stehen  zu  einem  Oherhaupte,  dann  kommt  ihnen  die  Einheit  per  se  zu.  Die 
verschiedene  Betrachtungsweise  macht  hier  den  Unterschied  des  per  se  und 
per  accidens. 

*)  WörtL:  „vni  haben  sie  ganz  umschlossen". 


Digitized  by 


Googl( 


163 

abergehen  und  lehren:  die  Dinge,0  die  numerisch  eine  Vielheit 
bilden,  werden  in  einer  anderen  Hinsicht  als  Einheit  bezeichnet 
weil  zwischen  beiden  (der  Vielheit  und  der  Einheit)  eine  be- 
griffliche Übereinstimmung  besteht.  Diese  Übereinstimmung  be- 
ruht entweder  auf  einer  Relation  oder  einem  (gemeinsamen) 
Prädikate,  das  verschieden  ist  von  der  Relation,  oder  in  einem 
Substrate.  Das  Prädikat  ist  entweder  ein  Genus,  eine  Art, 
eine  spezifische  Differenz  oder  ein  Akzidens.  Aus  dieser  Aus- 
einandersetzung wird  es  dir  leicht,  zu  erkennen,  daß  wir  die 
Teile  des  Einen  in  ihrem  Wesen  bereits  festgestellt  haben.^) 

Aus  dem  vorher  Erkannten  weißt  du  femer,  welche  Art 
im  vorzüglichen  Sinne  eine  Einheit  ist  und  in  erster  Linie  als 
Einheit  bezeichnet  zu  werden  verdient.  Es  ist  also  bekannt, 
daß  das  generisch  „Eine"  in  vorzüglicherem  Sinne  als  Einheit 
zu  bezeichnen  ist  als  das  der  Ähnlichkeit  nach  Eine,  femer  das 
der  Art  nach  Eine  in  vorzüglicherem  Sinne  als  das  generisch 
Eine,  femer  das  numerisch  Eine  in  vorzüglicherem  Sinne  als 
das  der  Art  nach  Eine,  der  einfache  Körper,  der  in  keiner  Weise, 
teilbar  ist,  in  vorzüglicherem  Sinne  als  das  Zusammengesetzte, 
das  Vollkommene,  wenn  es  auch  zu  den  teilbaren  Dingen  gehört, 
in  vorzüglicherem  Sinne  als  das  Unvollkommene. 

Der  Begriff  des  Einen  ist  kongraent^)  (d,  h.  ebenso  umfang- 
reich) dem  des  Seienden  (unum  et  ens  convertuntur),  indem  das 
„Eine"  von  jeder  einzelnen  Kategorie  ausgesagt  wird,  ebenso 
wie  das  Seiende.  Jedoch  ist  der  Begriff  beider,  wie  du  weißt, 
verschieden.  Beide  stimmen  aber  darin  überein,  daß  keiner  von 
beiden  eine  bestimmte*)  Substanz  bezeichnet,  wie  dir  hiermit 
klar  geworden  ist. 


>)  Die  eine  Betrachtungsweise  geht  von  dem  Begriff  der  Einheit  aus, 
die  andere  von  dem  der  Vielheit  der  Dinge. 

*)  Es  kann  nicht  mehr  Arten  geben  als  die  nach  den  fünf  logischen 
Kategorieen  verschiedenen. 

»)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1080  e  10:  to  f  hv  Uyetai  &ctuq  x6  Iv. 

*)  Logik  n.  Teil,  IH;  Metaph.  11. 


11* 


Digitized  by 


Google 


164 


Drittes  Kapitel. 

Die  Definition  des  Einen  und  Vielen*)  und  der  Beweis,  daB  die  Zahl 

ein  Akzidens  ist. 

Dasjenige,  was  uns  nunmehr  (nach  den  vorbereitenden  Er- 
örterungen in  Kap.  2)  nicht  leicht  ist  und  uns  als  schwierige 
Angabe  obliegt,  ist  die  Definition  des  Wesens  des  Einen;  denn 
wenn  wir  sagen:  das  Eine  ist  nicht  teilbar,  so  sagen  wir  damit, 
das  Eine  sei  dasjenige,  das  natumotwendig  keine  Vielheit  in  sich 
enthält  Damit  haben  wir  aber  in  die  Begri&bestimmung  des 
Einen  die  Vielheit  aufgenommen.  Was  nun  die  Vielheit  angdit, 
so  muß  sie  notwendig  bestimmt  werden  durch  die  Einheit;*) 
denn  die  Eins  ist  das  Prinzip  der  Vielheit  und  aus  ihr  erhält 
die  Vielheitihre  Existenz  und  ihr  Wesen.  Femer:  in  welcher 
Weise  wir  auch  immer  die  Vielheit  definieren,  wir  verwenden 
in  ihr  notwendigerweise  das  Eine.  Infolge  davon  ergibt  sich  die 
Aus-  drucksweise:  die  Vielheit  ist  die  aus  Einheiten  bestehende 
Summe.  Damit  haben  wir  aber  die  Einheit  in  die  Definition  der 
Vielheit  aufgenommen. 

')  Vgl.  Allst.,  Metaph.  1017 a 3:  fpavs^ov  dh  xal  Su  ta  noX)M  uvrixti' 
fiivitx;  Aex^i^aera^  Xip  kvL  xa  fxhv  y&Q  zip  fiij  ovvex^  f Zvcrt,  rä  dh  tif  Stat^t^r 
hxeiv  t^v  vAiyv  xata  to  elöog,  ij  tfjv  ti^wzijv  ij  n}v  tsXevvaiaVj  rc  ift  t^  top; 
koyovq  TiXelovg  tovQ  ti  ijv  elvai,  Xiyovtai, 

')  Dieselben  Bedenken  hat  Ayicenna  betreffs  der  traditionellen  Definition 
der  modi  entis  Kap.  1, 7  erhoben.  Vgl.  Thomas  Sam.  theoL  I  85, 8  ad  2:  onitas 
est  mensura  nomeri  et  ideo  ponitnr  in  definitione  nnmeri  mensorati ;  non  antem 
ponitnr  in  definitione  divisibilis  sed  magis  e  converso.  Thomas  vermeidet  also 
den  circulus:  die  Einheit  wird  definiert  durch  das  non  esse  divisnm,  letsteres 
aber  nicht  durch  die  Einheit.  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1021a  13:  to  d*  ?v  tov 
aQi^fioC  agxv  ^«^  fx^tQOv  und  1016  b  18:  to  Sh  hvl  elvcti  apjrij  r«W  ^i 
dgid^/ioC  elvat,  to  yoQ  ngditov  fdtgov  d^x^.  Die  Erklärung  ist  ib.  11, 2  ad  4 
gegeben:  oportet  quod  divisio  sit  prius  unitate  non  simpliciter,  sed  secundom 
rationem  nostrae  apprehensionis.  Apprehendimus  enim  simplicia  per  composita; 
unde  definimus  punctum  „cuius  pars  non  est"  vel  „prindpium  lineae*^.  Sed 
multitudo  etiam  secundum  rationem  (also  nicht  per  se)  consequenter  se  habet 
ad  unum,  quia  divisa  non  intelligimus  habere  rationem  multitudinis,  nisi  per 
hoc  quod  utrique  divisorum  attribuimus  unitatem.  Unde  unum  ponitur  in 
definitione  multitudinis,  non  autem  multitudo  in  definitione  unius.  Sed  divisio 
cadit  in  inteUectu  ex  ipsa  negatione  entis:  ita  quo  piimo  cadit  in  intellectu 
ens  secundo  quod  hoc  ens  non  est  illud  ens.  et  sie  apprehendimus  divisionem, 
tertio  unum  quarto  multitudinem. 


Digitized  by 


Googk 


165 

Ferner  bringen  wii-  (mit  dieser  Art  zu  definieren)  noch 
etwas  anderes  (einen  zweiten  circulus)  fertig.  Dies  besteht  darin, 
daß  wir  den  Begriff  der  Summe  *)  in  die  Definition  der  Vielheit 
emgeführt  haben.  Die  Summe  aber  ist  wohl  nichts  anderes  als 
die  Vielheit  selbst.  Wenn  wir  nun  sagen:  die  Vielheit  besteht 
aus  Einheiten  oder  einzelnen  Gegenständen  oder  Einern,  so  haben 
wir  den  Terminus  der  Summe  mit  aufgenommen.  Dieser  Terminus 
famn  aber  nicht  anders  verstanden  noch  definiert  werden  als  durch 
die  Vielheit.  Wenn  wir  nun  sagen:  die  Vielheit  ist  dasjenige, 
das  durch  Einheiten  gezählt  wird,^)  so  haben  wir  in  die  Definition 
der  Vielheit  die  Einheit  aufgenommen.  Zu  gleicher  Zeit  aber 
haben  wir  die  „Zahl"  und  die  Maßbestimmung  in  die  Definition 
der  Einheit  3)  hineingebracht  und  diese  ist  umgekehrt  (nur) 
imch  den  Begriff  der  Vielheit  verständlich.  Wie  schwer  ist  es 
daher  für  uns,  in  dieser  Frage  etwas  aufzustellen,  was  Beachtung 
beanspruchen  kann. 

Es  ist  jedoch  möglich,  daß  die  Vielheit  für  unsere  Vor- 
stellungsTvelt  auch  noch<)  bekannter  ist  als  die  Einheit,*)  und 
ebenso  ist  es  möglich,  daß  sowohl  die  Einheit  als  auch  die  Viel- 
heit zu  denjenigen  Dingen  gehören,  die  ursprüngliche  Bestandteile 
onserer  Vorstellungswelt  sind.  Jedoch  besteht  der  Unterschied, 
daß  wir  die  Vielheit  in  unserer  Phantasie  in  erster  Linie  uns 
vorstellen,  während  wir  die  Einheit  in  erster  Linie  begrifflich 
fassen.  Die  begriffliche  Fassung  der  Einheit  geht  vor  sich  ohne 
ein  erstes  Prinzip  (von  dem  ihr  Begriff  abgeleitet  würde),  weil 
das  Erfassen  ihrer  Erkenntnisform  geistig -abstrakt  ist,  ja  sogar 
phantasiemäßig,  da  dieses  nun  einmal  (2um  Zustandekommen 
des   Erkennens)    unumgänglich    notwendig    ist«)     Femer:    die 

')  VgL  Arist,  Phys.  207  a  9:  oCtcw  yccg  hgLC^ofiBd-a  zo  olov,  ov  firj^tv 
cmfn  ood  ib.  oh  de  laijdhv  Ifw,  toiyc  iorl  ti?^iov  xcd  oXov. 

*)  Darin  ist  sie  also  der  Zahl  wesensgleich.  Vgl.  Arist,  Metaph.  1056  b  16: 
aU'  Soa  ötai^ttOy  iv  tovxoig  Xiyezai  {zo  nokv)  eva  fjtkv  ZQonov  iav  }  nXfjd^oi 
Ijpv  hifQOxh^  ^  icTiXwQ  $  Tt^oq  zi  (das  zuviel)  xal  zo  oUyov  bcavz(oq  TiMf^o^ 
hfop  iXXtupiv^  ro  ^  cic  igt^ßo^  S  xal  avzlxenai  z(p  hvl  fxovov  und  1020a 8: 
:Uf^  fikv  ohv  nooov  zt  iv  ägt&fifjzov  y,  idy^oq  6h  &v  fiezQfjzov  ^. 

*)  Die  Einheit  ist  Mafi  nnd  Prinzip  der  Zalü. 

*)  Dies  yermehrt  die  genannte  Schwierigkeit. 

*)  Cod.  c  add:  ^ese  ist  hingegen  bekannter  für  unseren  Verstand". 

•)  Vgl.  Arist,  Psych.  431a  17:  ovSiTtoze  voeZ  arev  ^avzaafiazoq  ^  xpvxij 
nd  TlMmaa,  Som.  theol.  I  84,  7  c:  impossibile  est  intellectum  nostrum  secun- 
tai  |n«esentis  yitae  statxun  quo  passibiü  corperi  coniungitnr,  aliquid  intelligere 
ii  aetOy  nisi  convertendo  se  ad  phantasmata. 


Digitized  by 


Google 


166 

Definition,  die  wir  dnrcli  Vennittlung  des  Begriffes  der  Einheit 
von  der  Vielheit  aufstellen,  ist  eine  begrifflich -abstrakte,*)  und 
in  derselben  betrachten  wir  die  Einheit  als  durch  ihr  Wesen 
vorgestellt  2)  (in  sich  evident)  und  zu  den  ersten  Prinzipien  des 
Denkens  gehörig.  Unsere  Definition,  die  die  Einheit  durch  die 
Vielheit  definiert,  ist  dann  nur  ein  Hinweis  (auf  ihr  Wesen), 
auf  dem  Wege  der  in  Pliantasievorstellungen  gebräuchlich  ist. 
Wir  wollen  dadurch  hinweisen  auf  einen  Begriff,  der  in  uns 
irgendwie  (unter  der  Schwelle  des  Bewußtseins)  vorhanden  ist, 
ohne  das  wir  ihn  augenblicklich  bewußt  denken. 

Wenn  die  Philosophen  sagten:  die  Einheit  sei  dasjenige 
Ding,  das  keine  Vielheit  in  sich  enthält,  so  wollten  sie  sagen, 
daß  das  mit  diesem  Ausdrucke  bezeichnete  das  begrifflich  ge- 
faßte und  in  uns  praesente  Ding  sei,  das  wir  in  ursprünglicher 
Wese  denken  (die  Einlieit).  Es  steht  diesem  anderen  Begriffe 
(dem  der  Vielheit)  gegenüber  oder  ist  wenigstens  nicht  mit  ihm 
identisch.  Daher  weist  die  definitio  descriptiva  auf  die  Einheit 
hin  duich  die  Negation  der  Vielheit.-*)  Es  ist  zu  verwundern, 
wie  man  die  Zahl  zu  definieren  unternimmt,  indem  man  sagt: 
die  Zahl  sei  eine  Vielheit,  die  zusammengesetzt  sei  aus  Einheiten 
oder  Einem.  Nun  Lst  aber  die  Vielheit  nichts  anderes  als  die 
Zahl.  Sie  verhält  sich  durchaus  nicht  wie  ihr  Genus.  Das 
eigentliche  Wesen  der  Vielheit  besteht  darin,  daß  sie  aus  Ein- 
heiten zusammengesetzt  ist.  Daher  ist  also  die  Lehre  der 
Philosophen:  die  Vielheit  sei  zusammengesetzt  aus  Einheiten, 
dasselbe,  als  wenn  sie  sagten:  „die  Vielheit  ist  eine  Vielheit"*; 
denn  die  Vielheit  ist  nichts  anderes  als  eine  Bezeichnung  für 
dasjenige,  was  aus  Einheiten  zusammengesetzt  ist 

Dagegen  könnte  jemand  den  Einwand  erheben:  Die  Vielheit 
ist  manchmal  aus  Bestandteilen  zusammengesetzt,  die  nicht  ein- 
fachhin  „Einheiten"  sind,  wie  z.  B.  die  Menschen  und  die  Tiere. 
Man  könnte  dann  weiter  sagen :  Wie  diese  irdischen  Dinge  nicht 
einfachhin  „Einheiten"  sind,  sondern  Gegenstände,  die  für  die 


*)  Der  Begriff  der  Einheit  ist  also  in  dieser  Sphäre  etwas  Primäres, 
der  der  VieUieit  etwas  Abgeleitetes. 

*)  Ebensowenig  wie  der  Begriff  des  Seienden  kann  der  des  Einen  durch 
universeUere  Begriffe  klargesteUt  werden.    . 

•)  Wörtl.:  „Sie  weist  hin  auf  ihn,  durch  die  Negation  dieses  von  ihm". 
Das  Gleiche  besagt  die  scholastische  Lehre:  Der  Begriff  des  Einen  fügt  zu 
dem  des  Seins  nur  die  Negation  der  Teilung  oder  der  Vielheit  hinzu. 


Digitized  by 


Googk 


167 

Einheiten  Substrate  bilden,  ebenso  bilden  diese  Weltdinge  auch 
keine  „Vielheit",  sie  sind  vielmehr  nur  Gegenstände,  die  Sub- 
strate für  die  Vielheit  bilden.  In  gleicher  Weise,  wie  jene 
Dinge  einzelne  Gegenstände  sind  (una),  nicht  einf  achhin  (mathema- 
tische) Einheiten  (unitates),  ebenso  sind  diese  Dinge  eine  Vielheit 
(mnlta)  von  Gegenständen,  nicht  einf  achhin  eine  (mathematische) 
Vielheit  (multitudo). 

Manche  sind  der  Ansicht,  jene  Philosophen  vermieden  mit 
ihrer  Definition  diese  Schwierigkeit,  indem  sie  lehrten,  die  Zahl 
sei  eine  diskontinuierliche  Quantität,  die  eine  gewisse  Ordnung 
(ihrer  Teile  zu  einander)  aufweiset)  Jedoch  konnten  sie  der 
Schwierigkeit  auf  diese  Weise  nicht  ausweichen;  denn  die  Quantität 
muß,  wenn  sie  in  der  Seele  vorgestellt  werden  soll,  definiert 
werden  durch  den  Begriff  des  Teiles,  der  Einteilung  und  der 
Gleichheit  (oder  Ungleichheit).  Der  Begriff  des  Teiles  und  der 
Einteilung  kann  jedoch  seinerseits  wiederum  nur  durch  den  der 
QuantitILt  und  der  Vielheit  begrifflich  gedacht  werden.  Was 
aber  den  Begriff  der  Gleichheit  angeht,  so  ist  der  der  Quantität 
bekannter  als  dieser  für  den  richtig  denkenden  Verstand;  denn 
die  Gleichheit  gehört  zu  den  Akzidenzien  denen  die  Quantität 
als  proprium  zukommt.  In  der  Definition  dieser  Akzidenzien  muß 
der  Begriff  der  Quantität  enthalten  sein.  (Daher  darf  die  „Gleich- 
heit" nicht  in  der  Definition  der  Quantität  verwendet  werden.) 
Man  sagt  also:  die  Gleichheit  sei  eine  Übereinstimmung  (wörtlich: 
„Verbindung")  in  der  Quantität.  Der  Begriff  der  Ordnung  (von 
Einheiten)  femer,  der  in  der  Definition  der  Zahl  verwandt 
wurde,  gehört  ebenfalls  zu  denjenigen  Inhalten,  die  nur  begriff- 
lich gefaßt  werden  können,  wenn  der  Begriff  der  Zahl  bereits 
vorausgesetzt  ist.  Daher  muß  man  einsehen,  daß  alle  diese 
Definitionen  nur  Hinweise  sind,  ähnlich  den  „Hinweisen"  durch 
Beispiele  und  sinnverwandte*)  Termini,  die  sich  ergänzen  (in 
derselben  Idee);  femer  muß  man  wissen,  daß  diese  Begriffe 
entweder  alle  oder  nur  teilweise  begrifflich  faßbar  und  durch 
sich  selbst  evident  sind.  Man  bezeichnet  dieselben  durch  die 
hier  besprochenen  Gegenstände  (als  Verbaldefinitionen)  nur,  da- 
mit man  die  Aufmerksamkeit  auf  jene  richte  und  sie  (z.  B.  die 
Begriffe  Sein,  Einheit  und  Ding)  unterscheide. 


')  In  dieser  Definition  soll  die  Vielheit  nicht  enthalten  sein.    Auf  diese 
Weise  wird  der  61  akhjXüiv  bgiOfioq  vermieden. 

*)  Wörtl.:  „Die  nahe  aufeinander  folgenden  Worte'*. 


Digitized  by 


Google 


168 

Wir  lehren  daher  jetzt:  die  Einheit  wird  entweder  von 
den  Akzidenzien  ausgesagt  oder  von  den  Substanzen.  Wird  sie 
von  den  Akzidenzien  ausgesagt,  dann  bilden  diese  also  (in  ihrer 
Einheit  und  auf  Grund  derselben)  keine  Substanz,  was  un- 
zweifelhaft ist  Wird  sie  aber  von  den  Substanzen  ausgesagt 
dann  wird  sie  von  ihnen  nicht  prädiziert  wie  eine  Differenz 
oder  ein  Genus;  denn  die  Einheit  tritt  nicht  in  das  eigentliche 
Wesen  irgend  einer  Substanz  ein  (bildet  also  keinen  Bestandteil 
derselben),  sondern  ist  vielmehr  eine  Bestimmung,  die  der  Sub- 
stanz notwendig  anhaftet,  wie  bereits  (aus  Kap.  1  und  2)  bekannt 
ist.  Wird  die  Einheit  daher  von  der  Substanz  ausgesagt,  so 
wird  sie  nicht  wie  ein  Genus  oder  eine  Differenz  behandelt 
sondern  wie  ein  Akzidens.  Das  Eine  ist  demnach  eine  Substanz. 
Die  Einheit  ist  aber  der  Begriff,  der  sich  wie  das  Akzidens 
verhält  Denn  das  Akzidens,  welches  eins  der  fünf  Prädikabüien 
ist,  kann,  selbst  wenn  es  ein  Akzidens  ist,  nach  seinem  Inhalte 
eine  Substanz  werden.  Dies  kann  sie  aber  nur  dann,  wenn 
man  sie  als  etwas  (aus  Substanz  und  Akzidens)  Zusammen- 
gesetztes auffaßt,  wie  z.  B.  die  weiße  Farbe.  Die  einfache 
Natur  des  Begriffes,  der  in  dem  des  Weißen  enthalten  ist,  ist 
notwendigerweise  ein  Akzidens  in  der  anderen  Bedeutung  (als 
reale  Kategorie),  weil  er  in  einer  Substanz  (wie  in  einem  sub- 
jectum  inhaesionis)  existiert  und  sich  nicht  zu  ihm  verhält  wie 
ein  Teil  (vgl.  Arist.  Kateg.  la  24),  noch  auch  getrennt  von  der 
Substanz  bestehen  kann. 

Daher  wollen  wir  nun  diejenige  Einheit  betrachten,  die  in 
jeder  Substanz  enthalten  ist,  die  aber  keinen  Bestandteil  der- 
selben bildet,  imd  uns  fragen,  ob  sie  getrennt  von  der  Substanz 
bestehen  kann  (nach  Art  der  platonischen  Ideen).  In  diesem 
Sinne  lehren  wir:  das  Gesagte  ist  unmöglich;  denn  wenn  eine 
Einheit  in  unköi*perlicher  Weise  existierte,  dann  können  zwei 
Fälle  eintreten.  Entweder  existieren  dann  zwei  unkörperliche 
Substanzen,  die  unteilbar  sind,  ohne  daß  in  jener  idealen  Welt 
eine  bestimmte  Natur  existierte,  von  der  ausgesagt  werden 
könnte,  daß  sie  nicht  teilbar  sei.  Oder  es  mußte  dort  eine 
andere  Natur  existieren.  Das  erste  ist  unmöglich:  denn  not- 
wendigei'M'eise  muß  es  in  der  Ideenwelt  ein  Wirkliches»)  geben. 

M  Cod.  c  (t1.:  „d.h.  eine  Wesenheit",  wörtlich  eine  Seinsweise.  Da.'« 
esse  indivi^bile  setzt  ein  Substrat  vorauH,  von  dem  es  ausg^esagt  wird. 


Digitized  by 


Googl( 


169 

Dieses  Wirkliche  ist  dann  nicht  teilbar.  Wenn  daher  dieses 
Wirkliche  notwendigerweise  ein  Wesen*)  darstellt,  das  ver- 
schieden ist  von  der  Einheit,  und  hat  es  zugleich  die  Be- 
stimmung, daß  es  unteilbar  ist,  dann  ist  dieses  Wirkliche  ent- 
weder Substanz  oder  Akzidens.  Ist  es  nun  ein  Akzidens,  dann 
inhäriert  notwendigerweise  die  Einheit  zunächst  in  einem  Akzi- 
dens und  in  zweiter  Linie  erst  in  einer  Substanz.  Ist  es  aber 
eine  Substanz  und  trennt  sich  zugleich  die  Einheit  nicht  von 
dieser  Substanz,  dann  existiert  sie  in  derselben  nach  Art  dessen, 
was  in  einem  Substrate  existiert  (also  als  Akzidens).  Wenn 
nun  die  Einheit  von  der  Substanz  trennbai-  ist,  so  ergibt  sich, 
daß  sie,  wenn  sie  sich  von  dieser  Substanz  trennt,  einer  anderen 
anhaften  muß,  zu  der  sie  hinstrebt  und  mit  der  sie  sich  ver- 
bindet Denn  nach  der  Voraussetzung  ist  die  Existenz  der  Ein- 
heit mit  einer  substantiellen  Natur  verbunden.  Es  könnte  dann 
der  Fall  eintreten,  daß  jene  Substanz,  wenn  diese  Einheit  (die 
sich  von  der  ersten  Substanz  ablöst)  nicht  zu  ihr  hingelangt, 
keine  Einheit  besäße.  Dies  ist  aber  unmöglich.  Eine  andere 
Möglichkeit  wäre,  daß  die  Substanz  eine  Einheit  „ursprünglich" 
besitzt  und  eine  andere  als  Akzidens  aufnimmt.  Dann  kommen 
ihr  zwei  Einheiten  zu,  nicht  nur  eine,  und  infolgedessen  müssen 
es  ebenfalls  zwei  Substanzen  sein,  nicht  nur  eine;  denn  jene 
Substanz  ist  in  zweifacher  Weise  Eine.  Diese  aber  ist  unmög- 
lich. Femer,  wenn  jedes  „Eine"  in  einer  anderen  Substanz 
existiert  (so  daß  in  dem  genannten  Falle  zwei  Substanzen  be- 
ständen), dann  kann  also  auf  die  eine  der  beiden  Substanzen 
die  Eiiüieit  nicht  übertragen  werden.')  Die  Diskussion  betreffs 
des  Substrates,  auf  das  die  Einheit  übertragen  werden  kann, 
kehrt  damit  zum  Ausgangspunkte  zurück,  und  femer  wird  der 
Gegenstand  zu  zwei  Substanzen. 3)  Wenn  aber  jede  Einheit  in 
den  beiden  Substanzen  zugleich  existiert,  dann  würde  die  Ein- 
heit zu  einer  Zweiheit,  und  das  ist  ein  Widersprach. 

So  ist  es  also  aus  allen  diesen  Ausführungen  klar,  daß  die 
Einheit  ihrer  Natur  entsprechend,  sich  nicht  von  der  Substanz 
trennen  kann,  in  der  sie  (wie  ein  Akzidens)  existiert.    Wir  be- 

0  Wörtlich:  ^ratio*^. 

*)  Eine  Substanz  kann  ebensowenig  wie  ein  Akzidens,  auf  eine  andere 
übertragen  werden. 

•)  Wenn  die  Einheit  in  sich  Substanzialität  besitzt,  dann  erhält  durch 
sie  die  Substanz,  der  sie  anhaftet,  eine  zweite  Substanzialität. 


Digitized  by 


Google 


170 

ginnen  daher  die  Disknssion  und  lehren:  nehmen  wir  an,  die 
beiden  nnkörperlichen  Substanzen  (S.  132)  der  Einheit  seien 
nicht  einfachhin  dadurch  bestimmt,  daß  sie  nicht  teilbar  seien, 
sondern  die  Einheit  bilde  ein  Wirkliches,  das  nicht  teilbar  ist 
Der  Begiiff  des  Wirklichen  tritt  dann  in  den  der  Einheit  ein 
und  ist  nicht  (nur)  Substrat  derselben  (sondern  Teil  des  Wesens).— 
Nehmen  wir  femer  an,  daß  diese  Einheit  sich  bereits  von  der 
Substanz  getrennt  hat.  Wenn  es  nun  möglich  ist,  daß  sie  in 
sich  (per  se)  existiert,  so  stellt  sie  ein  Wirkliches  dar,  das  nicht 
teilbar  ist  und  unkörperliche  Natur  besitzt.  Zugleich  aber  ist 
(nach  den  Voraussetzungen)  die  Einheit  nicht  nur  ein  Wirkliches, 
das  nicht  teilbar  ist,  sondern  sie  ist  ein  substanzielles  Wirk- 
liche, das  nicht  teilbar  ist.  (Sie  muß  eine  Substanz  sein),  weil 
dieses  AMrkliche  (in  sicli)  nicht  in  einem  Substrate  Bestand  hat 
Dann  also  kann  den  Akzidenzien  in  keiner  Weise  der  Charakter 
der  Einheit  zukommen.  Wenn  ihnen  aber  dennoch  eine  gewisse 
Einheit  zukommt,  so  ist  ihre  Einheit  verschieden  von  der  der 
Substanzen.  Die  Einheit  wird  alsdann  in  aequivocer  (oder 
analoger  Weise,  nicht  univoce)  prädiziert  Daher  sind  auch  die 
Zahlen  teilweise  zusammengesetzt  aus  der  Einheit  der  Akzi- 
denzien, teilweise  aus  der  Einheit  der  Substanzen. 

Wir  wollen  nun  betrachten,  ob  beide  (unitas  per  accidens 
und  unitas  per  substantiam)  in  dem  Begriffe  „ein  Wirkliches  zu 
sein,  das  nicht  teilbar  ist"  (univoce  aut  aequivoce)  überein- 
stimmen oder  nicht.  Stimmen  sie  nicht  überein,  so  muß  die 
Einheit  in  einer  von  beiden  Arten  ein  Wirkliches  sein,  das  teil- 
bar ist  (weil  ihr  das  Unteilbarsein  nicht  zukommt),  in  der 
anderen  sich  anders  verhalten  (also  unteilbar  sein).  Mit  dem 
Ausdrucke  „Einheit  der  Akzidenzien  oder  Substanzen"  bezeichnen 
wir  nun  aber  jenes  nicht.  Wir  würden  dann  in  einer  der  beiden 
Arten  mit  „Einheit"  ein  Ding  bezeichnen,  das  nicht  ein  Wirk- 
liches darstellte,  das  nicht  teilbar  wäre.»)  Wenn  aber  beide 
(univoce  oder  analogice)  in  diesem  Begriffe  übereinstimmen,  so 
ist  derselbe  der  „ein  Wirkliches  zu  sein,  das  nicht  teilbar  ist" 
und  gerade  dieses  verstehen  wir  unt^r  dem  Wort^  „Einheit". 
Dieser  Begriff   ist  umfassender    als    derjenige,    den   wir  oben 


0  Ihm  käme  also  das  Wesen  der  Einheit  nicht  zu.  Vgl.  Thomas,  Sum. 
theol.  1, 11  ad  3:  annm  quod  convertitnr  com  ente,  non  addit  rem  aliqnam 
snpra  ens,  sed  significat  substantiam  entis,  prout  est  indivisa. 


Digitized  by 


Googl( 


171 

erwähnt  haben;  denn  jenem  oben  erwähnten  Begi'iffe  haftete 
abgesehen  von  der  Bestimmung  ein  ens  indivisum  zu  sein,  auch 
die  andere  Bestimmung  an:  ein  substantielles  Wirkliche  zu 
sein;  denn  es  war  (nach  der  früheren  Darlegung)  möglich,  dieses 
Sein  als  körperlose  Substanz  anzunehmen.  Der  Begriff  der 
Einheit  ist  nun  notwendigerweise,  wenn  er  eine  Substanz  be- 
zeichnet, nicht  etwas,  das  dem  Akzidens  per  modum  accidentis 
zukommen  kann.  Es  ergibt  sich  aber  nicht  umgekehrt,  daß  er, 
wenn  er  ein  Akzidens  ist,  der  Substanz  nicht  nach  Art  eines 
Akzidens  zukommen  könnte;  denn  der  Substanz  kommt  das 
Akzidens  zu  und  durch  die  Substanz  besteht  das  Akzidens. 
Umgekehrt  kommt  aber  dem  Akzidens  nicht  die  Substanz  per 
modum  accidentis  zu.  Dann  müßte  die  Substanz  in  dem  Akzi- 
dens wie  in  einem  subjectum  inhaesionis  bestehen.  Daher  ist 
der  Begriff  der  Einheit,  der  (Substanz  und  Akzidens)  zusammen- 
faßt, umfangreicher  als  jener  Begriff.*)  Unsere  Diskussion  aber 
beschäftigt  sich  mit  dieser  (universelleren)  Art  der  Einheit  und 
zwar  nur  insofern  sie  ein  „Wirkliches  ist,  das  nicht  geteilt 
wird"  ohne  daß  man  andere  Bestimmungen  (z.  B.  die  der 
Substantialität)  hinzufügte. 

Dieser  (universellere  Begriff  der  Einheit)  läßt  sich  nicht 
von  den  Substraten,  in  denen  er  ist,  trennen;  sonst  würde  er 
zu  jenem  anderen,  dem  weniger  universellen  Begriffe  werden.^) 
Wenn  daher  dies  unmöglich  ist,  d.  h.  daß  die  Einheit  ein  Wirk- 
liches sei,  das  nicht  teilbar  ist,  und  sowohl  in  den  Akzidenzien 
als  auch  der  Substanz  existiert,  und  daß  sie  trotzdem  (für  sich) 
getrennt  von  der  Materie  existieren  könnte  —  sie  müßte  dann 
eine  Substanz  sein,  die  einem  Akzidens  per  modum  accidentis 
inhärierte,  —  und  wenn  es  femer  unmöglich  ist,  daß  nach  einer 
anderen  Annahme  die  Einheit  in  der  Substanz  und  in  den 
Akzidenzien  (wesentlich)  verschieden »)  sei,  so  ist  das  klar,  daß 
die  Einheit  in  ihrem  realen  Wesen  ein  akzidenteller  Begriff 


')  Cod.  c  GL:  „d.h.  der  des  substÄntiellen  Wirklichen",  der  nur  eine 
einzelne  Art  der  Einheit  definiert. 

')  Ist  die  Einheit  ein  x^Q^^'^^^i  d.  h.  kann  sie  ohne  Materie  für  sich 
bestehen;  dann  mn6  sie  anch  Substanzialität  annehmen.  Die  akzidentelle 
Einheit  kann  sie  dann  nicht  mehr  in  ihren  Umfang  einschließen. 

')  Dann  könnte  die  Einheit  nnr  aeqnivoce  von  den  Akzidenzien  und 
den  Substanzen  ausgesagt  werden.  Dieser  Fall  wurde  aber  oben  aus- 
geschlossen. 


Digitized  by 


Google 


172 

ist  und  daß  sie  zu  den  den  Dingen  notwendig  inhalierenden 
Bestimmungen  gehört. 

Man  kann  dagegen  nicht  den  Einwand  erheben:  diese  Ein- 
heit ist  nur  in  dem  Sinne  nicht  trennbar  (d.  h.  keine  Substanz), 
wie  die  abstrakten  Begriffe  sich  (von  ihren  Substraten)  nicht 
trennen,  indem  sie  (dann,  wenn  die  Trennung  einträte)  ohne 
ihre  spezifischen  Differenzen*)  bestehen  würden.  Ebensowenig 
trennt  sich  z.  B.  der  Begriff  „homo"  von  dem  des  „animal^. 
Der  Umstand  also,  daß  diese  Art  der  Trennung  unmöglich  ist^ 
hat  nicht  zur  Konsequenz,  daß  es  (das  Nichttrennbare)  ein 
Akzidens  sei.  Diese  Konsequenz  ist  vielmehr  eine  Folge  nur 
jenes  Umstandes,  daß  eine  solche  Trennung  (von  Einheit  und 
Substrat)  unmöglich  ist,  wie  sie  einer  aktuell  existierenden  und 
individuellen  Wesenheit'-^)  zukommt.  Und  daher  lehren  wir:  die 
Sachlage  verhält  sich  nicht  so  (wie  die  Begriffe  homo  und 
animal);  denn  das,  was  wir  als  einen  universelleren  Begriff 
vorausgesetzt  hatten  (die  Einheit,  die  die  substanzielle  und  akzi- 
dentelle in  sich  einschließt)  verhält  sich  zu  dem  engeren  Be- 
griffe (der  Einheit  als  akzidentelles  oder  substanzieDes  Wirk- 
liche) nicht  wie  das  Teilbare  (das  Genus)  zu  dem  durch  eine, 
sein  (spezifisches)  Wesen  konstituierende  Differenz  Geteilten 
(z.B.  animal  rationale). 

Wir  haben  hiermit  dargetau,  daß  die  Einheit  nicht  in  die 
Definition  der  Substanz  oder  des  Akzidens  eintritt^)  Sie  be- 
deutet vielmehr  (im  Verhältnis  zum  Gegenstande)  die  Beziehung 
eines  notwendig  anhaftenden  Akzidens,  das  universeller  Natur 
ist.  Wenn  wir  also  auf  den  einfachen  und  (in  den  verschiedenen 
Arten  des  Einen)  sich  gleichbleibenden  Teil  des  Begriffes  der 
Einheit  (auf  ihr  Genus)  hinweisen,  so  ist  dieser  wesentlich 
unterschieden  von  der  determinierten  Natur  (den  Arten  der  Ein- 
heit oder  ihren  Differenzen),  die  sich  mit  der  allgemeinen  ver- 
bindet.    Sie  verbindet  sich  aber  nicht  mit  ihr  wie  das  Wesen 


^)  Demnach  könnte  die  Einheit  ebenso  gut  wie  der  Begriff  homo  eine 
Substanz  bezeichnen. 

*)  Wörtlich:  „ratio".  Die  Unmöglichkeit  einer  logischen  Trennung  ist 
also  noch  kein  hinreichender  Grund,  die  Einheit  als  etwas  AkzidenteUes  zu 
bezeichnen.  Es  mu6  vielmehr  die  Unmöglichkeit  einer  physischen  Trennung 
vorliegen.    Vgl.  Arist.  Kategor.  1  a  24. 

^)  d.  h.  die  Einheit  ist  weder  als  Substanz,  noch  als  Akzidens  zu 
bezeichnen. 


Digitized  by 


Googl( 


173 

der  Farbe  (Genus),  das  in  der  weißen  Farbe  (der  Spezies)  ent- 
halten ist')  Wenn  es  daher  richtig  ist,  daß  dieses  universelle, 
notwendige  Akzidens  (die  Einheit)  nicht  trennbar  (x^jqiötov) 
ist  (von  dem  Substrate),  dann  ist  es  auch  richtig,  daß  das  Prä- 
dikat, das  ein  notwendiges  und  universelles  Akzidens  bezeichnet, 
(das  Prädikat  der  „Einheit")  ein  Terminus  ist,  der  (wie  die 
Adjektiva)  abgeleitet  wird  von  einem  Worte,  das  einen  einfachen 
Begriff  bezeichnet^)  und  dieser  ist  der  Begriff  der  Einheit. 
Jener  einfache  Begriff  ist  ein  Akzidens.  Wenn  daher  die  Ein- 
heit ein  Akzidens  ist,  dann  ist  auch  die  Zahl,  die  aus  Einheiten 
zusammengesetzt  ist  (entgegen  der  Ansicht  des  Pythagoras)  ein 
Akzidens. 


Viertes  Kapitel. 

Die  Dimensionen  3)  sind  Alczidenzien. 

1.  Das  Wesen  der  Ausdehnung. 

Die  kontinuierlichen  (physischen)  Quantitäten  sind  die 
Dimensionen  der  kontinuierlichen  Körper.*)  Der  Körper,  der 
Quantität  ist  (der  mathematische  Körper),  „ist"  die  kontinuier- 
liche Dimension  selbst.  Er  ist  der  Körper  in  dem  Sinne  der 
Wesensform,*)  wie  du  es  bei  vielfachen  Gelegenheiten <^)  kennen 
gelernt  hast  Faßt  man  aber  den  Körper  nach  dem  anderen 
Begriffe,  zufolge  dessen  er  unter  die  Kategorie  der  Substanz 
gehört  (substantia  corpora),  so  haben  wir  inbezug  auf  ihn  das 


^)  Die  Einheit  verhält  sich  also  wie  die  Transcendentalia  ens,  verum, 
bonnm,  aliquid,  die  keine  Gattungen  im  strengen  Sinne  des  Wortes  sind. 

>)  Die  grammatische  Form,  durch  die  man  die  Einheit  von  einem 
Gegenstande  prädiziert,  darf  also  keine  substantivische  sein,  weil  die  Einheit 
nicht  die  Substanz,  sondern  nur  das  Akzidens  des  Gegenstandes  ist.  Die 
Akzidentia  werden  aber  in  adjektivischer  Weise  prä(Üziert.  Res  est  una 
Don  nnitas. 

»)  Unter  Dimensionen  versteht  Avicenna  die  kontinuierlichen  Quantitäten. 
In  dem  Nebeneinander  der  Dinge  ist  dies  der  Baum  und  die  Ausdehnung:  in 
dem  Nacheinander  ist  es  die  Zeit  (vgl.  Ende  dieses  Kapitels). 

*)  Sie  sind  also  Akzidenzien,  die  dem  Körper  anhaften. 

*)  Er  ist  reine  Form  des  Körpers,  Idealkörper. 

•)  Abb.  n,  2. 


Digitized  by 


Google 


174 

Problem  bereits  behandelte)  Diese  Dimension  besteht,  wie  ein- 
leuchtet, „in"  einer  Materie.  Sie  kann  zunehmen  und  abnehmen,^) 
während  die  Substanz  als  solche  immer  bestehen  bleibt  Infolge- 
dessen ist  sie  notwendigerweise  ein  Akzidenz.*)  Jedoch  gehört 
sie  zu  denjenigen  Akzidenzien,  die  von  der  Materie  abhängig 
sind,  und  auch  von  einem  Dinge,  das  in  der  Materie  existiert ') 
Denn  die  (individuelle)  Dimension  kann  sich  nicht  von  dem  Stoffe 
trennen,  es  sei  denn  höchstens  in  der  Vorstellung.  Ebensowenig 
kann  sie  sich  von  der  Wesensform  trennen,  die  der  Materie  zu- 
kommt Denn  die  Dimension  eines  Dinges,  das  Dimensionen 
annehmen  kann,  verhält  sich  in  dieser  Weise.  Diese  (bestimmte 
Dimension)  kann  nur  existieren  in  diesem  bestimmten  Dinge, 
wie  auch  ebenso  die  Zeit  nicht  durch  dasjenige  Kontinum  be- 
steht, das  man  mit  Ausdehnung  bezeichnet  (sondern  nur  durch 
dasjenige  Kontinum,  das  eine  Bewegung  darsteUt  Von  diesem 
Subjekte  läßt  sich  die  Zeit  nicht  trennen).  Diese  Dimension 
besteht  darin,  daß  das  Kontinum  sich  darstellt  als  etwas,  das 
mit  dieser  bestimmten  Einheit  so  und  so  oft  gemessen  wird,  sei 
es  nun,  daß  die  Messung  endigt  oder  nicht,  indem  man  sie  sich  in 
der  Einbildung*)  als  unendlich  vorstellt  Dieses  jedoch  wider- 
spricht dem  Umstände,  daß  das  Ding  die  erwähnten  Dimen- 
sionen^) annimmt  In  diesem  Umstände  ist  der  eine  Körper 
also  nicht  von  dem  anderen  unterschieden.  (Jeder  Körper  muß 
bestimmte  Dimensionen  besitzen.)  Daß  er  aber  mit  dieser  be- 
stimmten Einheit  so  und  so  oft  gemessen  wird  oder  daß  die 
Messung  mit  dieser  Einheit  nicht  aufhört,«)  darin  unterscheidet 
sich  der  eine  Körper  von  dem  anderen. 

Jener  Begriff  (habere  tres  dimensiones)  ist  die  Quantität 
des  Körpers;  dieser  (habere  tales  dimensiones,  das  „bestimmte'' 


>)  Naturw.  I,  Teil  I  und  ü. 

«)  VgL  Arist.,  Metaph.  1069  b  11 :  a^^Oi^  Sh  xal  tp^loiq  i}  xaxa  riv 
noaov  (jABxaßo).iq).  Dadurch,  dafi  die  Substanz  dieselbe  bleibt,  wfthrend  ihre 
Quantität  sich  verändert,  erkennt  man,  dafi  die  Quantität  und  Dimension 
Akzidenzien  sind. 

*)  Cod.  c:  „d.  h.  der  Wesensform". 

*)  In  der  Wirklichkeit  existiert  also  kein  solches  aktueUes  Unendliche. 
Vgl.  Arist.,  Phys.  206  a 7:  Sn  ^v  ovv  ivegysla  ovx  latt  aiSfjia  arai^or, 
tfaveQov  ix  xovkov. 

^)  Die  Dimensionen  können  zu-  oder  abnehmen.  Das  Unendliche  kann 
aber  weder  vermehrt  noch  vermindert  werden. 

«)  Cod.  c  2:  j.unendlich  ist". 


Digitized  by 


Googk 


175 

Maß  der  Dimensionen)  ist  seine  Wesensform.  Diese  bestimmte 
Quantität  ist  durchaus  nicht  trennbar  von  dieser  individuellen 
Wesensform  in  der  Einbildung;  jedoch  können  sich  beide  zu- 
sammen, diese  bestimmte  Quantität  und  die  Wesensform,  von 
der  Materie  in  der  Einbildung  trennen. 

Die  Linie  und  die  Fläche  besitzen  dementsprechend  beide 
zwei  logische  Bestimmungen,  die,  eine  Grenze,  und  die,  eine 
Dimension  zu  sein.  Die  Fläche  ^)  ist  femer  noch  dadurch  be- 
stimmt, 'daß  man  zwei  Dimensionen  nach  Art  der  oben  erwähnten 
in  ihr  annehmen  kann,  d.  L  nur  zwei  Dimensionen,  die  sich  in 
einem  rechten  Winkel  schneiden.  Femer  kann  sie  auch  ge- 
messen und  nach  einem  einheitlichen  Maße  bestimmt  werden 
und  größer  oder  kleiner  sein.  Sodann  können  in  ihr  auch 
Dimensionen  entsprechend  den  verschiedenen  (mathematischen) 
Figuren  angenommen  werden. 

Daher  wollen  wir  nun  diese  Zustände  in  der  Fläche  be- 
trachten und  wir  lehren:  Die  Bestimmung,  zwei  Dimensionen 
annehmen  zu  können,  kommt  der  Fläche  nur  aus  dem  Gmnde 
zu,  weil  sie  Grenze  des  Körpers  ist,  der  aufnahmefähig  ist  für 
die  drei  Dimensionen.  Der  Umstand,  daß  die  Fläche  (wörtlich: 
das  Ding)  Grenze  für  etwas  ist,  das  die  drei  Dimensionen 
annehmen  kann,  und  zwar  gerade  insofern  sie  Grenze  eines  so 
beschaffenen  Gegenstandes,  nicht  etwa  Grenze  irgend  eines 
beliebigen  Körpers^)  ist,  hat  zur  Folge,  das  die  Fläche  auf- 
nahmefähig ist  für  zwei  Dimensionen.  In  dieser  Hinsicht  (als 
Grenze  des  dreidimensionalen  Körpers)  ist  die  Fläche  nicht 
(primo  et  per  se)  Ausdehnung.  Auf  Grand  dieser  Hinsicht  ist 
sie  vielmehr  ein  Relatives.^)  Ist  sie  aber  ein  Relatives,  dann 
kann  sie  nur  eine  Ausdehnung  sein.  Den  Unterschied  zwischen 
dem  Relativen  im  allgemeinen  Sinne  und  dem  Relativen,  das  die 
Kategorie  ist,  die  nach  dem,  was  wir  früher*)  auseinandergesetzt 
haben,  keine  Dimension,  noch  auch  eine  Qualität  sein  kann, — diesen 
Unterschied  hast  du  bereits  kennen  gelemt.  Sie  ist  aber  „Dimen- 
sion",  auf  Grund  der  anderen  Hinsicht,   wodurch  sie  sich  von 


>)  Vgl.  Arist.,  MetÄph.  1016  b  27:  to  SixS  SiaiQSTov  Inlmöov  und  2G8  a  8: 
liiyt^oq  to  ijü  dvo  inlTKÖov, 

»)  Wörti.:  „Grenze  schlechthin". 

*)  Sie  steht  zu  dem  Körper  in  Relation.    Wörtl.:  ^ein  Hinzugefügtes". 

*)  Logik  n,  Teü  IV,  3. 


Digitized  by 


Google 


176 

anderen  Flächen  unterscheiden  0  kann  in  der  Quantität  und  der 
Ausdehnung.  In  dem  ersten  Begriffe  (Grenze  des  Körpers  zu  sdn) 
unterscheidet  sie  sich  in  keiner  Weise  von  anderen  Flächen. 
Auf  Grund  beider  Bestimmungen  zusammen  aber  ist  sie  ein 
Akzidens;  denn  (erstens)  insofern  sie  „Grenze"  ist,  ist  sie  ein 
Akzidens  des  Begrenzten.  Sie  befindet  sich  nämlich  in  dem- 
selben nicht  nach  Art  eines  Teiles,  noch  kann  sie  ohne  das 
Begrenzte  existieren.  (Arist.  Kateg.  1.  a  24.)  Unsere  Lehre  war 
jedoch  die:  es  ist  keine  Bedingung  des  einem  Dinge  Inhärierenden, 
daß  es  sich  vollständig  decket)  mit  seinem  Subjekte.  Der  Ort, 
wo  wir  diese  Dinge  auseinandergesetzt  haben,  sind  die  Natur- 
wissenschaften (I.  Teil,  ni).  Dort  untersuchen  wir  daher,  ob  in 
dieser  Hinsicht  der  Kongruenz  oder  Inkongruenz  des  Akzidens 
mit  seinem  Subjekte  sich  ein  Zweifel  ergibt. 

Zweitens  ist  die  Fläche,  auch  insofern  sie  eine  Ausdehnmig 
darstellt,  ein  Akzidens.  Der  Grund  ist  folgender:  Nehmen  wir 
an,  der  Umstand,  daß  die  Fläche  zwei  Dimensionen  besitzt,  sei 
ein  selbständiges  Ding  für  sich.  Dann  verhielte  sich  die  „Aus- 
dehnung" in  der  Fläche  zu  jenem  Dinge  (habere  duas  dimensiones) 
nicht  wie  die  Ausdehnung  zur  Wesensform  des  Körpers  (habere  tres 
dimensiones).*»)  Vielmehr  verhält  sich  diese  „ratio"  (habere  duas 
dimensiones)  zu  der  Ausdehnung  der  Fläche  wie  die  spezifisdie 
Differenz  zum  Genus.  Das  andere  Verhältnis  der  Ausdehnung 
zur  Form  des  Körpers  ist  aber  das  eines  Akzidens  zur  Wesais- 
form.  Du  erkennst  dies  durch  die  Betrachtung  der  Grund- 
prinzipien.*) 

Wisse,  daß  die  (planimetrische)  Fläche  auf  Grund  eines 
akzidentellen  Verhältnisses  im  Körper  entsteht  und  vergeht  durch 

^)  Das  unterscheidende  Moment,  Grenze  eines  dreidimensionalen  Körpers 
zu  sein,  hat  also  den  Wert  des  Spezies,  das  gemeinsame  Moment,  Grenze  zu 
sein,  den  des  Gtenus. 

*)  Das  Inhärens  kann  eventuell  kleiner  sein  als  sein  Subjekt 

^)  Wenn  aus  Ausdehnung  (a),  Zweidimensionalit&t  (Z)  der  Fläche  und 
Dreidimensionalität  (D)  des  Körpers  ein  einheitliches  Ding  entstehen  soll,  dann 
darf  keine  Verschiedenheit  in  den  Verh&ltnissen  dieser  Momente  eintreten, 
a  darf  sich  nicht  anders  verhtdten  zu  Z  wie  a :  D ;  denn  Z  ist  wesentlicher 
Bestandteil  von  D.  a:D  muß  also  identisch  sein  mit  a :  Z.  Wenn  sich 
also  a :  D  verhält  wie  Akzidens  zur  Form,  so  mufl  auch  a :  Z  sich  ebenso 
verhalten  und  sogar  numerisch  dasselbe  Verhältnis  darsteUen. 

*)  Naturw.  T.  Teil,  1, 1  ff. :  d.  h.  „du  erkennst  dies  durch  die  Betrachtung 
der  Bedingungen  für  die  Einheit  der  Körper". 


Digitized  by 


Googk 


177 

Verbindung  und  Trennung  und  durch  Veränderung  der  Gestalten 
und  der  Winkel,  unter  dem  die  Flächen  sich  schneiden.  Daher  ist 
die  Fläche  des  Körpers  eine  ebene  Fläche.  Sie  wird  vernichtet, 
insofern  sie  ein  ebenes  Gebilde  ist.  Dadurch  entsteht  eine 
spärische  Fläche.  Aus  den  früheren  Darlegungen  weißt  du,  daß 
eine  und  dieselbe  Fläche  in  Wahrheit  nicht  Substrat  für  die 
Kugelgestalt  und  zugleich  für  die  planimetrische  Fläche  in  der 
realen  Welt  sein  kann.  Ein  und  derselbe  Körper  ist  zwar  Substrat 
für  verschiedene  Dimensionen,  die  in  ihm  aktuell  bestehen  und 
aufeinanderfolgen.  So  verhält  sich  aber  aus  obigem  Grunde  nicht 
die  Fläche;  denn  die  Fläche  verliert  manchmal  ihre  Gestalt, 
so  daß  ihre  Dimensionen  aufhören.  Dies  aber  ist  nur  dadurch 
möglich,  daß  sie  durchschnitten  wird.  In  dieser  Teilung  der 
Fläche  ist  es  begründet,  daß  die  Wesensform  der  Fläche,  die 
aktuell  existierte,  aufhört  die  gleiche  zu  sein.  In  anderen  Aus- 
führungen hast  du  dieses  bereits  erkannt.  Ebenso  bist  du  da- 
von überzeugt,  daß  in  der  ersten  Materie  sich  nicht  das  Gleiche 
ergibt,  so  daß  al*  die  erste  Materie  der  Kontinuität  verschieden 
wäre  von  der  der  Diskontinuität.')  Femer  hast  du  bereits 
folgendes  eingesehen:  wenn  verschiedene  Flächen  zusammen- 
gesetzt werden  und  die  eine  sich  mit  der  anderen  in  der  Weise 
(zu  einem  Kontinuum)  verbindet,  daß  die  gemeinsamen^)  Grenzen 
wegfallen,  dann  ist  dasjenige,  was  entsteht,  eine  numerisch  ver- 
schiedene Fläche.  Ja  sogar  wenn  man  dieser  Fläche  die  erste 
Zusammensetzung  wiedergibt,  dann  wird  sie  nicht  wiederum 
numerisch  dieselbe  die  erst€  Fläche,  sondern  eine  andere,  die 
ihr  numerisch  ähnlich  ist.  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  das, 
was  einmal  vernichtet  wurde,  nicht  wieder  zum  Dasein  zurück- 
kehrt (vgl.  Abhandlung  I.  5). 

Wenn  du  nun  dieses  Verhältnis  in  der  Fläche  erkannt 
hast,  dann  kennst  du  (dasselbe)  ebenfalls  in  der  Linie.  Be- 
handle sie  gerade  so  wie  die  Fläche.  Es  leuchtet  dir  also 
ein,    daß    alle   diese   Zustände   Akzidenzien  sind,    die  sich   in 


*)  In  diesem  FaUe  müßte  ein  kontinnierUcher  Körper,  wenn  er  in  Teile 
zerlegt  wird,  eine  andere  Materie  annehmen,  also  numerisch  verschieden 
werden  von  dem  ersten,  d.  h.  von  sich  selbst. 

•)  Gemeinsame  Grenzen  hat  ein  System  von  Größen,  die  sich  berühren. 
FaUen  diese  Grenzen  zusammen,  so  entsteht  ein  continuum.  Der  Zwischen- 
raum zwischen  den  TeUen  eines  contiguum  ist  theoretisch  genommen  unendlich 
klein.    Das  continuum  hingegen  besitzt  keine  aktueUen  Teile  mehr. 

Horten,  Dm  Bach  d«r  Qenefong  der  Seele.  12 


Digitized  by 


Googl( 


178 

der  realen  Existenz  nicht  von  der  Materie  trennen.  Ebenso 
hast  dn  damit  erkannt,  daß  diese  Akzidenzien  sich  auch 
nicht  von  der  Wesensform  trennen,  die  in  ihrer  Natnr  materiell 
ist»)  Sie  lassen  sich  nicht  einmal  in  der  Einbildung  von  ihr 
trennen.  Nun  erübrigt  noch,  zu  wissen,  wie  unsere  Ausdrucks- 
weise zu  verstehen  ist:  die  Fläche  kann  sich  von  dem  Körper 
wenigstens  der  inneren  Vorstellung  nach,  trennen  und  femer 
der  andere:  die  Linie  kann  sich,  wenigstens  der  inneren  Vor- 
stellung nach,  von  der  Fläche  trennen. 

Wir  lehren  also:  diese  „Trennung"  wird  in  vorli^endem 
Zusammanhange  nach  zwei  verschiedenen  Eichtungen  verstanden. 
Die  eine  besagt:  in  der  inneren  VorsteDung  nimmt  man  eine 
Fläche  an,  ohne  einen  Körper,  und  eine  Linie,  ohne  eine  Fläche. 
Die  andere  Auffassungsweise  besagt:  man  richtet  die  Aufmerk- 
samkeit auf  die  Fläche,  ohne  sie  zugleich  irgendwie  auf  den 
Körper  zu  richten,  indem  man  dächte,  er  sei  mit  der  Fläche 
verbunden,  oder  nicht  Du  weißt,  daß  der  unterschied  zwischen 
beiden  Betrachtungsweisen  offenkundig  ist  Bieser  Unterschied 
besteht  darin,  daß  wir  das  eine  Mal  ein  Ding  allein  betrachten, 
selbst  dann,  wenn  es  zugestanden  ist,  daß  es  mit  anderen  ver- 
bunden besteht,  ohne  sich  von  ihm  zu  trennen  (wie  Form  und 
Materie),  und  daß  wir  das  andere  Mal  das  Ding  allein  betrachten 
unter  der  positiven  Bedingung,  daß  es  sich  von  demjenigen 
trenne,  mit  dem  es  verbunden  ist  Wir  urteilen  dann  über 
dasselbe,  daß  es  für  sich  allein  bestehe,  wie  man  es  auch  immer 
betrachte,  so  daß  dieses  Ding  in  deiner  VorsteDung  allein  für 
sich  besteht  Die  innere  Vorstellung  trennt  also  trotzdem  (das 
Ding  in  der  Wirklichkeit  nicht  nicht  von  dem  anderen  getrennt 
ist)  das  eine  von  dem  anderen,  indem  sie  urteilt,  das  jenes  Ding 
nicht  mit  dem  ersten  verbunden  ist  Wer  daher  glaubt,  die 
Fläche,  die  Linie  und  der  Punkt  könnten  der  inneren  Vorstellung 
nach  eine  Fläche,  eine  Linie  und  ein  Punkt  sein,  trotzdem  man 
positiv  annähme,  daß  mit  der  Fläche  (in  der  Außenwelt)  kein 
Körper  verbunden^ sei,  noch  auch  mit  der  Linie  oder  mit  dem 
Punkte,  der  stellt  sich  etwas  Unwirkliches  vor.  Der  Grand 
dafür  ist  folgender:  die  Fläche  kann  man  sich  in  der  Phantasie 


^)  MaterieU  wird  die  Wesensform  genannt,  weil  sie  in  ihrem  Wesen 
auf  eine  Materie  hingeordnet  ist,  ohne  die  sie  nicht  existieren  kann.  In  sich 
allein  betrachtet  ist  sie  onmaterielL 


Digitized  by 


Googk 


179 

nicht  vorstellen  als  für  sich  allein  bestehend,  d.  h.  ohne  daß  sie 
eine  Grenze  für  irgend  ein  Ding  sei,  wenn  man  sie  sich  nicht  zu 
gleicher  Zeit  vorstellt  mit  bestimmter  Lage  und  mit  zwei  Seiten. 
Diese  müssen  sich  so  verhalten,  daß  sie  sich  mit  dem,  was  an 
die  Fläche  stößt,  zu  einem  Kontinuum  verbinden,  das  zwei 
andere  Seiten  berührt,  wie  du  gesehen  hast.  Dann  ist  also  das- 
jenige, was  innerlich  wie  eine  (unkörperliche)  Fläche  vorgestellt 
wird,  keine  solche.  (Denn  diese  Fläche  enthält  nicht  die  not- 
wendigen Bedingungen  einer  solchen.)  Die  Fläche,  nämlich  die 
Grenze  selbst,  (muß  also  einen  Körper  begrenzen)  nicht  etwa  das, 
was  selbst  zwei  Grenzen  besitzt.  Wenn  man  sich  nun  vorstellt, 
die  Fläche  als  solche  sei  das  Ende  (eines  Körpers)  selbst,  das 
sich  an  eine  einzige  Seite  desselben  anschließt,  oder  sie  sei  die 
Seite  und  die  Grenze  selbst,  insofern  sie  von  einer  anderen  Seite 
(z.  B.  als  Teil  des  Körpers)  nicht  (von  ihrem  Substrate)  getrennt 
werden  kann,  dann  ist  dasjenige,  als  dessen  Grenze  sie  gedacht 
ist  (der  Körper),  mit  ihr  in  irgend  einer  Weise  zugleich  inner- 
lich vorgestellt  Ebenso  verhält  sich  die  Linie  und  der  Punkt. 
Man  behauptet,  der  Punkt  beschreibe  durch  seine  Bewegung 
die  Linie.  Dieses  sagt  man  jedoch  nur  in  dem  Sinne  der  Phantasie- 
vorstellung. In  der  realen  Wirklichkeit  kann  es  sich  nicht  so 
verhalten.  Der  Grund  dafür  ist  nun  aber  nicht  etwa  der,  daß 
der  Punkt  nicht  als  etwas  aufgefaßt  werden  kann,  das  (einen 
anderen  Gegenstand)  selbständig')  berühren  könne.  Denn  wir 
haben  schon  auseinandergelegt,  daß  diese  (punktförmige  Be- 
rührung) in  gewisser  Weise  möglich  ist.^)  Wenn  jedoch  die 
Berührung  keine  dauernde  3)  ist  und  wenn  das  Ding  nach  (dem 
Eintritte)  der  Berührung  sich  durchaus  nicht  anders  verhält  als 
vor  der  Berührung,  dann  existiert  in  diesem  Vorgange  kein 
Punkt,  der  auch  nach  der  Berührung  bestehen  bliebe*)  als 


>)  Eine  Berührung  kann  nur  stattfinden  bei  Gegenständen,  die  Teile 
haben.  Femer  kann  der  Punkt  einen  Gegenstand  nur  berühren,  insofern  er 
Endpunkt  der  Linie  ist,  also  nicht  in  „selbständiger"  Weise,  da  er  keine 
^.selbständige"  Existenz  hat. 

*)  Cod.  c  GL:  „Sie  tritt  ein  bei  der  Kugel,  die  rollt".  Der  Punkt  ist 
auch  hier  nicht  etwas  „Selbständiges",  sondern  Teil  der  Sphäre. 

•)  Cod-  c  Gl. :  „Die  Kugel  bewegt  sich  fort". 

*)  SoU  sie  durch  die  Bewegung  eines  Punktes  entstehen,  dann  muQ 
der  Punkt  während  der  Bewegung  selbständig  und  bestehen.  Dies  ist  aber 
nicht  der  FaU.    Vgl.  Arist.,  Psych.  409  a 4:  tri  61  inel  <faotv  xivtiMaaaa 

12* 


Digitized  by 


Google 


180 

Prinzip  der  Linie.  Dann  bleibt  also  auch  keine  Ausdelmung 
in  die  Länge  (also  keine  Linie)  bestehen  zwischen  diesem  Punkte 
und  den  Teilen  der  vorübergehenden  Berührung;  denn  dieser  Punkt 
wird  eben  nur  zu  einem  Punkte  und  einer  Grenze,  wie  du  aus 
den  Naturwissenschaften  (I.  Teil,  n  und  IV)  weißt,  durch  die 
Berührung,  nicht  in  anderer  Weise.  Wenn  daher  die  Berührung 
aufhört,  die  durch  die  Bewegung  gegeben  war,  wie  kann  der 
Berührungspunkt  dann  noch  ein  Punkt  bleiben?  Mit  dem 
gleichen  Rechte  gilt:  wie  kann  dasjenige,  für  das  der  sich  be- 
wegende Punkt  ein  Prinzip  ist,  als  eine  Linie  bestehen  bleiben? 
Dieses  (d.  h.  die  Lehre,  daß  die  Linie  aus  der  Bewegung  eines 
Punktes  entsteht),  ist  vielmehr  nur  für  die  Phantasie  gültig. 

Ein  anderer  Grund  ist  folgender:  die  Bewegung  des  Punktes 
ist  unzweifelhaft  wirklich.  Zugleich  aber  ist  in  derselben  ein 
reales  Ding,  auf  das  sich  die  Bewegung  hinrichtet,  oder  in  der  sie 
stattfindet  (das  Substrat  der  Bewegung),  Dieses  Ding  ist  femer 
aufnahmefähig  für  die  Bewegung,  die  sich  in  ihm  vollzieht  Dann 
also  ist  dieses  Substrat  die  Dimension  eines  Körpers  oder  einer 
Fläche,  oder  eine  Dimension  in  einem  Körper  oder  einer  Fläche 
oder  einer  Linie.  Diese  Dinge  existieren  daher  real  vor  der 
Bewegung  des  Punktes.  Die  Bewegung  des  Punktes  ist  also 
nicht  die  Ursache  dafür,  daß  dieselben  real  existieren.  Für 
die  Existenz  der  körperlichen  Ausdehnung  ist  dieses  klar.  Was 
nun  die  Existenz  der  Fläche  betrifft,  (so  muß  auch  diese  real 
existieren)  weil  die  körperliche  Ausdehnung  notwendigerweise 
Grenzen  hat.  Was  nun  drittens  die  reale  Existenz  der  Linie 
angeht,  so  ist  diese  darin  begründet,  daß  man  die  realen  Flächen 
schneiden  und  Grenzen  in  ihnen  annehmen  kann. 

Was  nun  den  Winkel  angeht,  so  ist  die  Meinung  aufgetreten, 
er  sei  ein  kontinuierliches  Quantum,  verschieden  von  der  Fläche 
und  dem  Körper.  Über  dieses  Problem  müssen  wir  nun  eine 
Untersuchung  anstellen.  Wir  lehren:  der  Ausdehnung,  sei  sie 
nun  ein  Körper  oder  eine  Fläche,  kommt  es  manchmal  akziden- 
teller Weise  zu,  daß  sie  umgeben  ist  von  Grenzen,  die  sich  be- 
gegnen in  einem  einzigen  Punkte.  Lisofem  also  die  Ausdehnung 
zwischen  diesen  Grenzen  liegt,  ist  sie  etwas,  das  einen  Winkel 

ygaft^v  inlnsSov  noteZv^  atiyfirjv  Sh  yga/ift^v,  xal  al  t&v  fiovaSwv  xiv^iKK; 
YQatAfial  iaovxai.  Thomas,  Com.  de  anim.  I  lec.  11  Auf. :  Secondom  qaod  dieunt 
Platonici,  motUB  pnncti  facit  lineam^  linea  antem  mota  fecit  snperfidem^ 
superficies  vero  corpus. 


Digitized  by 


Googl( 


181 

hat,  (weil  sie  endlich  ist.  Dies  ist  einleuchtend,  auch)  ohne  daß 
man  nach  einer  anderen  Hinsicht  ihre  Grenzen  betrachtet  ^) 
Das  Ding  verhält  sich  also  wie  eine  Ausdehnung  von  mehr  als 
zwei  Dimensionen  2)  (Richtungen)  die  in  einen  Punkt  auslaufen. 
Man  könnte  diese  Ausdehnung  selbst,  insofern  sie  sich  so  verhält 
(d.  h.  insofern  die  sie  begrenzenden  Linien  in  einem  Punkte 
zusammenlaufen)  einen  Winkel  nennen.  Man  könnte  ebensowohl 
die  Qualität,  die  der  Ausdehnung  eigen  ist,  insofern  sie  sich 
so  verhält,  einen  Winkel  nennen.  Das  erste  (die  Definition  des 
Winkels),  verhält  sich  wie  das  Quadrat  und  das  zweite  (die 
Bezeichnung  der  genannten  Qualität  der  Fläche  als  Winkel) 
wie  die  Eigenschaft,  quadratisch  zu  sein. 

Bezeichnet  man  nun  mit  dem  Namen  „Winkel"  die  erste 
„ratio"  (die  von  zwei  sich  schneidenden  Linien  gebildete  Fläche), 
dann  spricht  man  von  einem  Winkel,  der  gleich,  kleiner  oder 
größer  ist  auf  Grund  seines  Wesens;  denn  seine  Substanz  ist 
eine  Ausdehnung.  Bezeichnet  man  aber  mit  dem  Namen  „Winkel" 
die  zweite  Definition,  so  sagt  man  jenes,  (das  Größersein  und 
Kleinersein)  von  ihm  aus  auf  Gnind  der  Ausdehnung,  in  der 
der  Winkel  sich  befindet  (also  per  accidens).  Ebenso  verhält  es 
sich  mit  der  Eigenschaft,  des  esse  quadratum. 

Weil  man  nun  in  dem  Dinge,  das  nach  der  ersten  Definition 
ein  Winkel  ist,  entweder  drei  oder  zwei  Dimensionen  konstruieren 
kann,  so  ist  er  also  die  Ausdehnung  eines  Körpers  oder  einer 
Fläche  (also  ein  stereometrischer  oder  planimetrischer  Winkel). 

Eine  gegenstehende  Ansicht  behauptete:  eine  Ausdehnung 
werde  nur  dann  zu  einer  Fläche,  wenn  die  Linie,  die  die  Fläclie 
hei-stellt,  sich  bewegt,  (wenigstens)  in  der  Einbildung  mit  iliren 
beiden  Punkten,^)  so  daß  sie  die  Fläche  hervorbringt.  In  diesem 
Sinne  bewegt  sich  manchmal  im  eigentlichen  Sinne  die  Länge 

*)  Jede  endliche  Fläche  kann  Winkel  aufweisen  sowohl  innerhalb  ihrer 
selbst,  als  auch  mit  Rücksicht  auf  ihre  Grenzen. 

')  Das  Wort  Dimension  kann  Ausdehnungen  in  irgend  einer  Richtung 
bezeichnen,  auch  wenn  diese  nicht  aufeinander  senkrecht  stehen.  Eino  Pläoho 
kann  in  diesem  Sinne  beliebig  viele  „Dimensionen"  haben,  da  man  in  ihr  be- 
liebig viele  Linien  ziehen  kann,  die  sich  in  unbestimmt  grofsen  Winkeln 
schneiden.  Dimension  ist  in  diesem  Sinne  gleichbedeutend  mit  Richtung. 
Liegen  diese  „Richtungen"  nicht  in  derselben  Ebene,  so  entsteht  ein  stereo- 
metriflcher  Winkel. 

*)  Dieser  Ausdruck  besagt,  daß  die  Linie  sich  nicht  so  bewege,  daß 
der  eine  Endpunkt  unbeweglich  bleibe. 


Digitized  by 


Googl( 


182 

in  die  Breite.  Dann  entstellt  eine  Breite,  nachdem  vorher  nur 
eine  Länge  da  war.  Es  besteht  dann  eine  reale  [Länge  nnd 
Breite.  (Diese  Bewegung  beschreibt  aber  keinen  Winkel)  Die 
Linie,  die  den  A\  inkel  hervorbringt,  bewegt  sich  vielmehr  weder 
in  die  Länge  allein  so  ^vie  sie  ist  (d.  h.  in  der  Richtang  der 
Geraden),  noch  in  die  Breite,  so  daß  eine  Fläche  entstände. 
Sie  bewegt  sich  vielmehr  nur  mit  einem  ihrer  beiden  Endpunkte, 
und  dann  entsteht  der  Winkel 

Die  uns  entgegenstehende  (Ansicht)  bezeichnete  den  Winkel 
als  eine  vierte  Art  der  Ausdehnung.  Der  Grund  (für  die  Auf- 
stellung dieser  Ansicht)  ist  der,  daß  man  die  eigentliche  Be- 
deutung unseres  Ausdruckes  nicht  erkannte :  das  Ding  habe  drei 
oder  zwei  Dimensionen,  so  daß  es  entweder  einen  Körper  oder 
eine  Fläche  darstelle.  Weil  du  dieses  bereits  erkannt  hast,  weißt 
du,  daß  jene  entgegenstehende  Ansicht  sich  daraus  nicht  ableiten 
läßt.  *)  Der  Verständige  braucht  diesen  Philosophen  keiner  Auf- 
merksamkeit zu  würdigen.  Durch  seine  Objektion  mischt  er  sich 
nur  in  Dinge  hinein,  die  ihn  nichts  angehen.')  Dieser  ober- 
flächliche und  perplexe  Philosoph  behauptet  auch,  die  Fläche  im 
eigentlichen  Sinne  des  Wortes  sei  das  Quadrat  oder  das  Eecht- 
eck,3)  nichts  anderes!  Das  Niveau,  auf  dem  unsere  Diskussion 
steht,  verträgt  nicht  ein  längeres  Eingehen  auf  dieses  Grerede. 

Betreffs  der  Existenzweise  der  Ausdehnungen  <)  hast  du 
nunmehr  erkannt,  daß  sie  Akzidenzien^)  und  keine  ersten 
Prinzipien  der  Körper  sind;  denn  der  Fehler  in  diesen  Vor- 
stellungen trat  nur  ein  auf  Grund  der  Dinge,  die  du  eingesehen 

*)  Die  Deduktion  des  Objizienten  war  also:  die  drei  Dimensionen  sind 
Linie,  Fläche  und  Körper.  Der  Winkel  ist  nun  weder  eine  Linie  noch  eine 
Fläche.    Also  mnß  man  eine  vierte  Dimension  annehmen. 

-)  Avicenna  wiU  sagen,  jener  Philosoph  möge  sich  lieber  nicht  in 
wissenschaftliche  Diskussionen  mehr  einmischen. 

*)  Es  liegt  der  Gedanke  zu  Grunde,  die  zweite  Dimension  entstehe  nur 
dadurch,  dafi  zwei  Linien  aufeinander  senkrecht  errichtet  werden,  oder  daß 
Äich  eine.  Linie  in  senkrechtem  Winkel  zu  ihrer  Länge  bewege.  Da  die^se 
Bestimmungen  nicht  für  den  spitzen  oder  stumpfen  Winkel  zutreffen,  so  müsse 
man  für  letztere  eine  eigene  Dimension  annehmen. 

*)  Cod.  d  GL:  j.d.  h.  aller  Dimensionen". 

*)  Der  Naturwissenschaftler  nimmt  diese  Lehre  als  bewiesen  an.  8ie 
ist  ihm  Prinzip  und  .Vo  r  a  n  s  s  e  t  z  u  n  g.  Es  ist  also  Aufgabe  des  Metaphyäkers 
diese  Voraussetzung  für  sich  zum  Problem  zu  machen  (vgl.  Abh.  IT,  2)  und 
8ic  zu  beweisen. 


Digitized  by 


Googk 


183 

hast  (auf  Grund  mangelnden  Vei-ständnisses,  nicht  etwa  wegen 
des  objektiven  Tatbestandes). 

2.  Das  Wesen  der  Zeit. 
Was  nun  die  Zeit  angeht,  so  bist  du  überzeugt,  daß  sie 
die  Natur  des  Akzidens  hat  und  von  der  Bewegung  abhängt 
Dieses  wurde  früher  i)  auseinandergesetzt.  Es  erübrigt  also  nur 
noch  zu  erkennen,  daß  keine  Ausdehnung,  abgesehen  von  diesen 
(Ausdehnung  und  Zeit)  besteht,  und  daher  lehren  wir:  das  kon- 
tinuierliche Quantum  ist  entweder  etwas  dauernd  Bestehendes, 
das  durch  die  (simultane)  Summe  aller  seiner  Teile  sein  Dasein 
erlangt,  oder  nicht.  Ist  (die  kontinuierliche  Größe)  nicht  (be- 
ständig, d.  h.  tritt  der  zweite  Fall  ein)  und  erneuert  diese 
Quantität  ihr  Dasein  immerfort,  ein  Teil  nach  dem  anderen, 
dann  ergibt  sich  die  Zeit.  Ist  sie  aber  beständig  (d.  h.  gleich- 
zeitig nebeneinander  bestehend),  so  ist  sie  die  Ausdehnung. 
Diese  ist  nun  entweder  die  vollkommenste  Ausdehnung  —  sie 
ist  eine  solche,  in  der  man  drei  Dimensionen  annehmen  kann. 
(Nur  drei  können  in  Frage  kommen),  da  es  unmöglich  ist, 
mehr  als  diese  anzunehmen.  Sie  bilden  den  stereometrischen 
Körper  —  oder  man  nimmt  nur  zwei  Ausdehnungen  an;  oder 
schließlich  besitzt  der  Gegenstand  nur  eine  einzige.  Dies  ist 
das  geringste  Maß;  denn  jede  kontinuierliche  Quantität  muß 
irgend  eine  Dimension  besitzen,  entweder  aktuell  oder  potentiell. 
Wenn  nun  nicht  mehr  Dimensionen  entstehen  als  drei,  noch 
auch  weniger  als  eine,  so  gibt  es  also  drei  Ausdehnungen.  Die 
per  se  kontinuierlichen  Quantitäten  bilden  demzufolge  vier  ver- 
schiedene Arten  (weil  die  Zeit  als  die  kontinuierliche  Quantität 
des  Nacheinander  in  der  Bewegung  mit  hinzugerechnet  wird). 
Manchmal  sagt  man  zu  anderen  Dingen,  sie  seien  kontinuier- 
liche Größen,  jedoch  verhält  es  sich  nicht  so. 2) 

3.   Der  Baum,  das  Leichte  und  Schwere. 
Was  nun  den  Raum  anbetrifft,  so  ist  er  dasselbe  wie  die 
Fläche.    Was  femer  das  Schwere  und  Leichte  angeht,  so  bringen 
sie  durch  ihre  Bewegungen  Maßbestimmungen  in  Zeit  und  Raum 


»)  Natnrw.  I,  Teil  H,  9—12. 

*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  sie  sind  nicht  per  se  kontinuierlich"  sondern  durch 
die  Quantität,  der  sie  inhärieren,  also  per  ar.<idei»8. 


Digitized  by 


Googl( 


184 

hen'or.  lu  sich  selbst  könneu  sie  nicht  geteilt  werden  dni'ch 
einen  Teil,  der  ihre  Größe  mißt  (denn  das  Schwere  und  Leichte 
sind  nicht  quantitativ,  sondern  qualitativ  zu  bestimmen).  Die 
Quantitäten  treten  sodann  zueinander  in  Opposition  auf  Grund 
der  Gleichheit  und  Verschiedenheit  Dieses  trifft  dadurch  zil 
daß  man  in  ihr  (der  ersten)  einen  Grenzpunkt  annimmt,  der 
auf  die  Grenze  einer  der  ersten  ähnlichen  Quantität  gelegt 
wird.  Der  sich  an  den  Grenzpunkt  anschließende  Teil  der  ersten 
Fläche  deckt  sich  dann  mit  dem  korrespondierenden  Teile  der 
ähnlichen  (zweiten),  und  dann  deckt  sich  mit  ihm  (dem  ersten 
Endpunkte)  die  andere  Grenze  (der  zweiten  Fläche).  Dann  ist 
die  eine  entweder  gleich  oder  verschieden  und  ungleich  der 
anderen,  und  übertrifft  sie  an  Größe.  Unter  gleicher  und  ver- 
schiedener Größe  verstehen  wir  die  zwei  Bestimmungen,  die  der 
Ausdehnung  in  diesem  Sinne  zukommen.  Die  Teilbarkeit  aber, 
die  man  annimmt  für  das  Schwere  und  Leichte,*)  indem  ein  Ge- 
wicht z.  B.  die  Hälfte  eines  anderen  ist,  entsteht  dadurch,  daß  das 
Schwere  in  derselben  Zeit  die  Hälfte  des  A\'eges  zurückl^, 
oder  den  ganzen  Weg  in  der  doppelten  Zeit ;  oder  das  Größere 
bewegt  sich  nach  unten  an  einem  Wagebalken  (wörtlich:  Or- 
gane) in  einer  Bewegung,  mit  der  sich  notwendigerweise  gleich- 
zeitig das  Kleinere  in  die  Höhe  bewegt,  oder  ein  ähnliches 
Ding  (d.  h.  das  Maß  des  Leichten  und  Schweren  wird  auch  noch 
durch  andere,  ähnliche  Methoden  bestimmt).  Es  verhält  sich 
dieses  wie  die  Hitze, 2)  die  z.  B.  das  Doppelte  einer  anderen 
Temperatur  deshalb  ist,  weil  sie  auf  den  doppelt  großen  Körper 
wirkt  oder  weil  sie  sich  in  einem  Körper  befindet,  der  doppelt 
so  groß  ist  als  derjenige,  der  dieselbe  Temperatur  besitzt. 

Ebenso-^)  verhält  sich  das  Kleine  und  Große,  das  Viele  und 
Wenige;  denn  diese  sind  ^Wirklichkeiten  und  Akzidenzien,  die 
den  Quantitäten  anhaften,  und  zwar  insofern  sie  zur  Kategorie 
der  Relation  gehören  (die  genannten  vier  Begriffe  sind  relative. 

»)  Vgl.  Thomas,  d.  coelolü,  lect.  3  Ende:  Omnis  gravitas  maior  alia 
gravitate  excedit  minorem  gravi tatem  per  aliqnam  gravitatem,  quia  per  ad- 
ditionem  similium  fit  aliquod  malus,  et  ex  hoc  sequitur  secondam  positionem 
praedictam  quod  quodllbet  Indlvislbile  habeat  gravitatem. 

*)  Gewicht  und  Hitze  sind  Qualitäten  und  daher  nur  per  acddeus 
meßbar,  wie  die  angeführten  Beispiele  ze^^cn.  Per  se  ist  nur  das  meßbar, 
was  Teile  besitzt. 

*)  Sie  sind  wie  das  Leichte  und  Schwere  nicht  per  se,  sondern  per  ac- 
ridt^ns  Qnantitiitftn  und  meßbar. 


Digitized  by 


Googk 


185 

niclit  absolute  Bestimmungen  der  Quantität),  i)  Über  alle  diese 
Begriffe  hast  du  die  Auseinandersetzungen  bereits  an  einem 
anderen  Orte')  erfahren. 

Die  Quantität  wird  also  kurz  dadurch  definiert,  daß  sie 
ein  Wirkliches  ist,  in  dem  etwas  als  Teil  existieren  kann,  das 
eine  Einheit  bildet  und  das  Maß  (des  Ganzen)  bestimmt  (wört- 
lich: „zählt").  Diese  Bestimmung  kommt  dem  Teile  per  se  zu, 
sei  es  nun,  daß  der  Teil  in  der  Quantität  real  existiert  oder 
nur  supponiert  ist. 


Fünftes  Kapitel. 

Definition  des  Wesens  der  Zahl,  Bestimmung  ihrer  Arten 
und  Darlegung  ihrer  ersten  Prinzipien. 

Es  liegt  uns  nunmehr  ob,  die  Natur  der  Zahlen  und  ihre 
Eigentümlichkeiten  zu  bestimmen  und  die  Art  und  Weise,  wie 
wir  uns  ihre  Zustände  und  ihre  reale  Existenz  vorstellen  müssen. 
Von  diesen  Problemen  sind  wir  bereits  zu  den  kontinuierlichen 
Quantitäten  übergegangen,**)  indem  wir  eilig  voranschritten,  weil 


")  Vgl.  Arist.,  Kateg.  5  b  27:  ro  dh  fxtya  ^  (jllxqov  ov  at^fialvei  noaov 
älXa  ß&XXov  TiQoq  ri.  nQoq  yag  trsgov  d^ewQSlTai  to  fdya  xal  %d  fiiXQOV, 
äaze  tpavtQov  Sri  xaika  rdiv  UQoq  tl  ioriv.  Thomas,  Sent,  I  d  19,  1  al  ad  2: 
Si  magnum  et  paryom  non  dicatur  secundum  relationem,  seu  absolute,  prout 
ronsideratar  qaantitas  determinata  ad  aliqnam  speciem,  sie  qnamvis  qnodlibet 
minus  sit  malus,  non  tarnen  quodlibet  minus  est  parvum  nee  quodlibct  malus 
est  magnum.  Magnum  und  parvum  werden  also  als  absolute  Bestimmungen 
genommen.  Davon  weicht  in  etwa  ab  de  coelo  HI,  lec.  2  Ende:  Magnum 
commoniter  acceptum  dicitur  ad  aliquid  (also  relative)  ut  patet  in  Praedica- 
mentis  (Arist.  1.  cit).  Sed  oppositum  rei  alicui  dicitur  absolute  magnum  quud 
X>ertingit  ad  quantitatem  debitam  illi  rei:  sicut  homo  dicitur  magnus  absolute, 
qui  attingit  ad  perfectam  hominis  quantitatem;  et  ita  patet  quod  magnum 
dicitur  absolute  et  ad  aliquid.  £t  inde  est  quod  omne  magnum  absolute 
dicitur  magnum  ad  aliquid,  quod  est  esse  malus;  non  autem  omne  malus  est 
magnum  absolute.  Multa  enim  sunt  quae  absolute  considerata  sunt  parva, 
qnae  tarnen  aliis  sunt  maiora.  Si  igitur  omne  grave  est  gravius  quodam  alio, 
necesse  est  quod  omne  grave  sit  malus  alio  quodam  in  gi-avitate;  et  ita 
seqnitnr  quod  sit  divisibile:  nam  omne  malus  dividitur  in  aequale  et  plus. 

»)  Natnrw.  I,  Teil  m. 

■)  In  Kap.  3  und  4  streifte  Avicenna  bereits  das  Problem  der  Zahl. 
Jedoch  ließ  er  dasselbe  damals  noch  beiseite,  um  die  Probleme  der  continua, 
Ausdehnung,  Baum  und  Zeit,  zu  besprechen. 


Digitized  by  VjOOQK 


J 


18G 

unsere  Absicht  (die  Dimeiisiouen  vorerst  zu  bestimmen)  dieses 
erforderte.  Wir  lehren  also:  die  Zahl  existiert  real  in  dai 
Dingen  und  ebenso  real  in  der  Seele.  Die  Behauptung  des- 
jenigen, der  sagte,  die  Zahl  hätte  keine  absolute  (abstrakte) 
Existenz,  als  nur  im  Geiste  (Konzeptualismus  oder  Nominalis- 
mus) verdient  keine  Beachtung,  i)  Wenn  er  jedoch  sagt,  die 
Zahl  hat  keine  von  den  gezählten  Objekten,  die  in  der  Welt 
der  Individuen  vorhanden  sind,  getrennte  Existenz;  sie  existiere 
nur  in  der  Seele  ^)  (gemäßigter  Eealismus),  so  ist  dieses  richtig; 
denn  wir  haben  bereits  (Kap.  2  und  3)  auseinandergesetzt,  daß 
die  Eins  nicht  trennbar  ist  von  den  Individuen,  so  daß  sie  in 
sich  (ohne  ein  Substrat)  selbst  existierte.  Sie  existiert  nur  im 
Geiste.  Ebenso  verhält  sich  dasjenige,  dessen  Dasein  die  Existenz 
der  Einheit  voraussetzt  (also  die  Zahl  und  die  Maßbestimmungen). 
W^as  nun  die  Lehre  anbetrifft,  daß  in  den  realen  Dingen 
Zahlen  vorhanden  sind,  so  ist  das  etwas,  das  nicht  bezweifelt 
wird,  da  ja  in  den  realen  Dingen  Einheiten  neben  (wörtlich: 
„über")  Einheiten  existieren.»)  Jede  einzelne  Zahl  ist  für  sich 
eine  Spezies.*)  Die  Zahl  ist  in  sich  selbst  eine  Einheit,  insofern 
sie  diese  bestimmte  Spezies  darstellt.  Ihr  kommen  also,  insofern 
sie  diese  bestimmte  Art  ist,  bestimmte  Eigentümlichkeiten  zu. 
Nun  aber  kann  das  Ding,  das  überhaupt  kein  reales  Wesen  hat 
unmöglich  eine  Eigentümlichkeit  besitzen,  die  ihm  in  erster  Linie 
(primo  et  per  se,  ohne  Vermittlung)  zukäme,  oder  eine  Ord- 
nung (in  einem  System  von  Zahlen),  die  Vollendung,  das  Zuviel 
oder  Zuwenig,  die  zweite  oder  dritte  Potenz,  die  Addition  und 

*)  Der  Ausdruck  absolut,  abstrakt  ist  vieldeutig,  daher  unphilosopbisch. 
In  der  Außenwelt  beistehen  absolute  Einheiten,  die  Individua,  deshalb  auch 
die  Zahl, 

')  Vgl.  Arist.,  Psych,  223  a  25:  d  Ss  fifjdtv  a)J.o  lUipvxev  agid^fuiv  $ 
tpv/j)  xal  ywx^g  votg  (d  vo(;$  ist  Teil  der  Seele),  aövvavov  elvai  XQOVov  tpvx^ 
fitl  ovatjg. 

»)  Cod.  c  GL:  So  verhält  sich  die  Drei  in  Beziehung  zu  Vier.  Vgl. 
Thomas,  Sum.  theol.  I  30, 1  ad  4:  numerus  est  duplex,  scilicet  numerus 
Simplex  vel  absolutus,  ut  duo  et  tria  et  quatuor  (die  mathematische  Zahl)  et 
est  numerus,  qui  est  in  rebus  numeratis,  ut  duo  homines  et  duo  equL  Arist., 
Metaph.  1083  b  16:  dXXa  fxriv  S  y  aQi^fJLtixixoq  OQi&^dg  ftoraÖixog  iartv. 
ixtivoi  St  to  aQiS-fjiov  xa  ovxa  (die  Weltdinge)  Uyovoiv,  xa  yo€v  ^tatQrifjLaxa 
TiQOoanxovot  xolq  ocifiaoi  cjg  t|  tx^ivwv  ovxwv  x(5v  agi^ii&v. 

*)  Das  Gleiche  setzt  der  scholastische  Grundsatz  voraus:  species  se 
tenent  sicut  numeri.  Jede  Art  verändert  ihr  Wesen,  wenn  etwas  zu  ihm 
nach  Art  der  Differenz  hinzugefügt  wird.    Darin  sind  sie  den  Zahlen  gleich. 


Digitized  by 


Googk 


187 

die  abrigen  Funktionen  (wörtlich:  Gestalten,  Figuren),  die  der 
Zahl  eigen  sind.  Daher  muß  also  jede  Zahl  ein  reales  Wesen 
besitzen,  das  ihr  in  eigentümlicher  Weise  zukommt,  und  auch 
eine  Wesensform,  durch  die  sie  in  der  Seele  vorgestellt  wird. 
Dieses  Wesen  stellt  die  Einheit  der  Zahl  dar.  Durch  dasselbe 
ist  die  Zahl  das,  was  sie  ist  Die  Zahl  stellt  keine  Vielheit  dar, 
die  nicht  zu  einer  Einheit  vereinigt  würde,  so  daß  man  sagt, 
die  Zahl  ist  eine  Summe  von  Einheiten.  Denn  insofern  sie 
„Summe**  ist,  ist  sie  eine  Einheit,  die  bestimmte  Eigentümlich- 
keiten besitzen  kann,  die  anderen  nicht  zukommen.  Es  ist 
nicht  auffällig,  daß  das  Ding  einheitlich  ist,  insofern  es  eine 
Wesensform  ^)  hat,  wie  z.  B.  die  Zehnheit  oder  die  Dreiheit.  Zu- 
gleich besitzt  dasselbe  eine  Vielheit.  Infolge  der  Zehnheit  be- 
sitzt das  Ding  die  Eigentümlichkeiten,  die  durch  die  propria 
gegeben  sind,  2)  die  der  „Zehn"  zukommen.  Was  nun  seine 
Vielheit  angeht,  so  besitzt  das  Ding  innerhalb  dieser  nur  die- 
jenigen Eigentümlichkeiten,  die  der  Vielheit  zukommen,  die  zur 
Einheit  im  G^egensatze  steht.  ^) 

In  diesem  Sinne  ist  die  Zehn  in  ihrer  Eigentümlichkeit 
als  Zehnheit  nicht  teilbar  in  zwei  „Zehnheiten",  von  denen  jede 
die  Eigentümlichkeiten  der  Zehn  besäße.  (Die  Zahl  ist  also 
wie  jede  Form  nicht  teilbar  in  Teile  ejusdem  speciei.)  Man 
darf  femer  nicht  sagen,  die  Zehn  sei  nur  neun  und  eins,  oder 
fünf  und  fünf,  oder  eins  und  eins  u.  s.  w.,  bis  man  zur  Zehn 
gelangt;  denn  wenn  du  sagst,  die  Zehn  sei  neun  und  eins,  so 
ist  dies  eine  Prädikation,  in  der  du  die  Neun  von  der  Zehn 
aussagst  und  dazu  die  Eins  addierst.  Dies  aber  verhält  sich 
ebenso,  als  wenn  du  sagst,  die  Zehn  sei  schwarz  und  süß. 
Daher  müssen  beide  Eigenschaften,  von  denen  die  eine  eng  mit 
der  anderen  verbunden*)  ist,  von  der  Zehn  ausgesagt  werden 


*)  Die  Wesensform  gibt  die  spezifische  Einheit,  die  Individuatious- 
prinzipien  die  numerische. 

*)  Die  propria  ergeben  sich  hauptsächlich  aus  der  Form.  Vgl.  Arist., 
Anal.  I,  43  b  27 :  sau  ycc(}  caxa  T<p  etÖei  löia  nagä  x6  ytvog,  hvayxi]  yap  rof^ 
fx^QOig  eTSeaiv  idia  arric  vndQ/eiv, 

^  Es  besitzt  also  nicht  andere  propria,  die  zur  Zehnheit  in  Opposition 
stehen.  Dann  könnte  die  Form  der  „Zehn"  nicht  die  Einheit  der  Summe 
hersteUen. 

*)  Verhalten  sich  die  Eigenschaften  konträr,  dann  können  sie  nicht 
gleichzeitig  in  einem  Subjekte  sein. 


Digitized  by 


Googk 


188 

(ebenso  wie  zwei  sich  nicht  ausscliließende  Qualitäten  von  einem 
Subjekte).  Die  Zehn  ist  dann  also  eine  Neun  und  eine  Eins. 
Setzen  wir  nun  den  Fall,  du  fügtest  keine  neue  Bestimmung 
mehr  hinzu,  sondeni  wolltest  dasselbe  ausdrücken,  was  man  be- 
zeichnet, indem  man  sagt:  der  Mensch  ist  animal  und  rationalis, 
d.  h.  er  ist  ein  animal,  und  dieses  animal  ist  zugleich  dasselbe, 
das  ein  rationale  ist.  In  diesem  Sinne  sagst  du  (mit  obiger 
Aussage):  die  Zehn  sei  eine  Neun,  und  diese  Neun  sei  zugleich 
dieselbe,  die  eine  Eins  ist.  Dies  aber  (die  Begriffsbestimmung 
der  Zahl  durch  ihi-e  Teile,  wenn  sie  in  der  Weise  des  Grenos 
und  der  Differenz  verstanden  werden)  ist  unmögliclL  Setzen 
wir  nun  den  Fall,  du  wolltest  sagen,  die  Zehn  sei  die  Neun, 
verbunden  mit  der  Eins  und  dies  sollte  bezeichnen,  daS  die 
Zehn  eine  Neun  sei,  mit  der  eine  Eins  verbunden  ist,  so  daß, 
wenn  die  Neun  für  sich  allein  besteht,  die  Zehn  nicht  zustande 
kommt.  Wenn  sie  also  mit  der  Eins  verbunden  wird,  dann  wird 
diese  Neun  zur  Zehn.  Auch  in  diesem  Sinne  begehst  du  einen 
Fehler;  denn  wenn  die  Neun  für  sich  allein  besteht,  oder  in 
Verbindung  mit  irgend  einem  beliebigen  Dinge,  das  sich  an  die 
Neun  anschließt,  dann  ist  sie  (immer  noch)  eine  Neun  und  wird 
durchaus  keine  Zelin.  Setzen  wir  den  weiteren  Fall,  (in  der 
Definition:  die  Zehn  sei  neun  und  eins)  werde  die  Neun  nicht 
verstanden  als  ausgestattet  mit  einer  Eigenschaft')  (der  Eins). 
Die  Eigenschaft  komme  vielmehr  ihrem  Substrate  zu.^)  Dann 
bedeutet  deine  Definition:  die  Zehn  sei  eine  Neun,  und  trotz- 
dem sie  eine  Neun  sei,  stelle  sie  auch  eine  Eins  dar.  Dieses 
aber  ist  ebenfalls  unrichtig.  Alle  diese  Ausdrücke  sind  aus  der 
gewöhnlichen  Sprache  übernommen  und  haben  übertragene  Be- 
deutung. Sie  sind  daher  undeutlich.  Die  Zehn  ist  vielmehr  die 
Summe  aus  der  Neun  und  der  Eins.  Wenn  beide  zusammen- 
gefaßt werden,  dann  entsteht  aus  ihnen  ein  Ding,  das  ver- 
schieden ist  von  der  Neun  und  der  Eins.  (Die  Zehn  so  wie  jede 
andere  Zahl  ist  also  zunächst  als  „Summe"  zu  definieren  und 
damit  ist  der  generische  Begriff  festgestellt.) 

')  Versteht  man  neun  und  eins  als  Genus  und  Differenz,  wie  in  der 
letzten  Annahme,  dann  ist  „eins""  eine  Eigenschaft"  der  Neun,  indem  man 
„Eigenschaft"  im  weiteren  Sinne  als  Wesensbestimmung,  nicht  im  engere» 
Sinne  als  Akzidens  auffaßt. 

*)  Cod.  d.  Gl.,  d.  h,  dem  Subjekte  des  Urt^^ils,  „und  dieses  ist 
die  Zehn'^ 


Digitized  by 


Googl( 


189 

Die  Definition  jeder  einzelnen  Zahl,  wenn  du  ihr  wirkliches 
Wesen  angeben  willst,  besteht  also  darin,  daß  man  sagt,  sie  sei 
eine  Menge  (wörtlich:  Zahl),  die  entsteht  aus  der  „Zusammen- 
fassung" von  einer  Einheit  und  einer  weiteren  Einheit  und  noch 
einer  Einheit  u.s.  w.  Du  zählst  so  alle  Einheiten  auf  (die  die 
Zahl  ausmachen).  Der  Grund  für  diese  Art  der  Definition  ist 
folgender:  zwei  Fälle  sind  zu  erwägen.  Entweder  wird  die  Zahl 
definiert  ohne  daß  man  auf  ihre  Zusammensetzung  aus  ihren  Kom- 
ponenten hinweist.  Man  definiert  sie  vielmehr  mit  irgend  einer 
ihrer  Eigentümlichkeiten.  Dieses  ist  daher  eine  Beschreibung  der 
betreffenden  Zahl,  nicht  ihre  eigentliche  Definition,  die  aus  ihrer 
Substanz  hergenommen  wäre.  Oder  —  dies  ist  der  andere  Fall  — 
(sie  wird  definiert),  indem  man  die  Teile  hervorhebt,  aus  denen  sie 
zusammengesetzt  ist.  Wenn  man  nun  angibt,  sie  sei  nur  aus 
zwei  Zahlen  zusammengesetzt  —  so  läßt  man  z.  B.  die  Zehn  ent- 
stehen aus  der  Zusammensetzung  von  Fünf  und  Fünf  — ,  so  ist 
diese  Auffassungsweise  ebensogut,  als  die  Zusammensetzung  aus 
sechs  und  vier.  Die  eigentümliche  Natur  der  Zehn  hängt  nicht  von 
einer  dieser  beiden  Weisen  mehr  ab  als  von  der  anderen.  Insofern 
sie  aber  eine  Zehn  ist,  bildet  sie  ein  einziges  ^  Wesen.  Es  ist 
nun  aber  unmöglich,  daß  ihre  Wesenheit  eine  einzige  sei  (da  es 
viele,  gleichrichtige  Definition  derselben  gibt).  Ihre  Wesenheit, 
insofern  sie  eine  einzige  ist,  können  nicht  viele  verschiedene 
Definitionen  bezeichnen.  Wenn  sich  daher  die  Sache  so  verhält, 
dann  wird  die  Definition  der  Zehn  weder  durch  diese,  noch 
durch  jene  Bestimmung  gegeben,  sondern  durch  das,  was  wir 
früher  gesagt  haben  (indem  wir  sie  als  „Summe"  definierten). 
Wenn  dieses  nun  zutrifft,  dann  ist  ihr  die  Zusammensetzung  aus 
fünf  und  fünf,  sechs  und  vier  und  drei  und  sieben  eigen  nach 
Art  eines  notwendigen  Akzidens  und  einer  Konsequenz  (aus 
dem  Wesen,  also  wie  propria).  Daher  sind  diese  Bestimmungen 
nur  deskriptive  Definitionen,  indem  deine  Begriffsbestimmung: 
die  Zehn  sei  zusammengesetzt  aus  einer  Fünf  als  notwendige 
Ergänzung  die  Definition  der  Fünf  verlangt  Alle  diese  Be- 
stimmungen lösen  sich  daher  in  die  Einheiten  auf.  Deiner  Aus- 
drucksweise:, die  Zehn  bestehe  aus  fünf  und  fünf  bezeichnet  dann 
also  dasselbe  wie:  sie  sei  drei  und  sieben,  oder  acht  und  zwei, 


^)  Es  kann  also  auch  nur  eine  einzige,   vollständig  adaequate  De- 
finition dieses  Wesens  geben. 


Digitized  by 


Google 


190 

indem  man  nämlich  (unter  diesen  Zahlen)  die  Einheiten  ver- 
steht (nicht  die  Wesensformen,  die  die  einzelnen  Zahlen  von 
einander  unterscheiden). 

Betrachtest  du  aber  die  Wesensform  von  5  und  5,  und 
3  und  7,  dann  ist  dies  eine  andere  Betrachtungsweise  als  die 
erste.  Nun  aber  besitzt  ein  und  dasselbe  Wesen  nicht  reale 
Wesenheiten,  die  als  Begriffe  verschieden  sind.  Das,  was  eine 
Vielheit  enthält,  sind  nur  seine  notwendigen  und  zufälligen 
Akzidenzien.  Daher  sagte  der  genannte  Philosoph:  Glaubt 
nicht,  die  Sechs  sei  drei  und  drei.  Die  Sechs  ist  vielmehr  eine 
Sechs  nur  ein  einziges  Mal  (d.  h.  sie  hat  als  Sechs  nur  ein 
einziges  Wesen).  Die  Betrachtung  der  Zahl,  insofern  sie  aus 
Einheiten  zusammengesetzt  ist,  gehört  jedoch  zu  dem,  was  für 
die  Einbildung  und  die  Erklärung  Schwierigkeiten  bereitet  und 
aus  diesem  Grunde  nimmt  man  seine  Zuflucht  zu  den  Be- 
schreibungen. >) 

Betreffs  der  Verhältnisse  der  Zahl  muß  weiterhin  die  Zwei- 
heit^)  untersucht  werden.  Einige  sagen,  die  Zweiheit  gehöre 
nicht  zu  den  Zahlen  und  zwar  deshalb,  weil  die  Zweiheit  das 
erste  Paar  ist  und  die  Einheit  das  erste  Einzige.  Wie  nun 
die  Einheit,  die  das  erste  Individuum  ist,  keine  Zahl  darstellt, 
so  bildet  auch  die  Zwei,  die  das  erste  Paar  ist,  keine  ZahL') 
Femer,  so  führte  man  als  Beweis  an,  ist  die  Zahl  eine  Vielheit, 
die  aus  Einheiten  zusammengesetzt  ist.  Die  gringste  Mehrheit 
von  Einheiten  ist  aber  die  Drei.  (Daher  können  also  die  Eins 
und  die  Zwei  keine  Zahl  sein.)  Femer:  die  Zweiheit  muß,  wenn 
sie  eine  Zahl  ist,  entweder  zusammengesetzt  sein,  oder  nicht. 
Ist  sie  nun  zusammengesetzt,  dann  muß  sie  gemessen  (wörtlich: 


*)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1021a  13:  to  *sv  ro€  a^tO^/ioC  oQxi  ^«fi  fiit^ov; 
mid  1081b  14:  av  re  yag  äaiv  aöidtpOQai  aX  (lovaSeq  av  ts  Sia^^ovoai 
Ixdatrj  kxaaxtjg^  avdyxrj  ccQi^fjisicd^ai  tov  OQi^fiov  xaxd  Tigood^saiv,  olov  r^y 
dvdöa  Ti^og  T<p  ivl  ak?,ov  hvog  Ti^oared^ivToq'y  mid  1044a 3:  xal  tov  a^i^fior 
Sei  Hval  XL  q>  elg  (die  Wesensfonn),  8  vvv  ovx  Iexovoi  Xlyeiv  xivi  elg^  e^p 
iaxlv  eiq. 

*)  Vgl.  Arifit,,  Phys.  220a27:  ikaxiaxog  ^  OQi^fiog  6  f4kv  anXSg  ictir 
^  Svdq  und  Sad'^  o/noiwg  xal  6  XQ^^^*  ikdxi<Jxog  yoQ  xaxa  fisv  oQiO^fiov 
iaxiv  6  elg  ^  ol  ovo,  xaxd  fiiye^og  f  ovx  iaxtv;  mid  Metaph.  d87a26:  ov 
xavxov  }!awg  ioxl  x6  elvai  ÖiTiXaaiip  xal  Svdöi, 

*)  Die  Prinzipien  der  Zahlen  lassen  die  Zahlen  enstehen,  ohne  selbst 
Zahlen  zu  sein.   Die  Zusammensetzungen  dieser  «(»/ai  ergeben  erst  die  Zahlen. 


Digitized  by 


Googl( 


191 

gezählt)!)  werden  durch  etwas  anderes  als  die  Einlieit.  Wenn 
sie  aber  eine  erste  Zahl  ist  (die  nicht  aus  anderen  Zahlen 
zusammengesetzt  wird),  dann  hat  sie  keine  Hälfte  (sonst  wäre 
die  Hälfte  die  erste  Zahl).  Die  Anhänger  der  richtigen  Lehre 
beschäftigen  sich  nicht  mit  diesen  und  ähnlichen  Auseinander- 
setzungen; denn  die  Einheit  ist  nicht  etwa  deshalb  keine  Zahl, 
weil  sie  ein  Individuum  oder  ein  Paar  darstellt,  sondern  viel- 
mehr deshalb,  weil  sie  keine  Teilung  in  Einheiten  zuläßt  (also 
nicht  aus  Einheiten  zusammengesetzt  ist).  Wenn  man  daher 
behauptet,  sie  (die  Zweiheit)  sei  aus  Einheiten  zusammengesetzt, 
so  bezeichnet  man  mit  diesem  Ausdrucke  nicht  dasjenige,  was 
die  Grammatiker  mit  dem  Worte  „Plural"  meinen;  denn  das 
Kleinste  (das  den  Begriff  des  Plurals  verwirklicht)  ist  die  Drei. 
Sie  kamen  zu  dieser  Ansicht  nach  vielen  Meinungsverschieden- 
heiten. Die  Philosophen  (Cod.  c:  Mathematiker)  verstehen  viel- 
mehr unter  obigem  Ausdrucke  das,  was  mehr  oder  weniger  ist 
als  eins.  So  hat  es  die  Gewohnheit  bestimmt,  und  es  will  ihnen 
nicht  in  den  Sinn  kommen,  daß  kein  Paar  (von  Dingen)  existiert, 
das  nicht  eine  Zahl  sei,  selbst  wenn  eine  Einheit  existiert,  die 
keine  Zahl  ist.  Man  verlangt  aber  nicht  von  ihnen,  daß  sie 
sich  eifrig  bemühen,  ein  Paar  zu  finden,  das  keine  Zahl  wäre, 
selbst  wenn  sie  eine  Einheit  gefunden  haben,  die  keine  Zahl  ist. 
Betreffe  der  ersten  Zahl  stellen  sie  aber  nicht  die  Bedingung, 
daß  sie  überhaupt  keine  Hälfte  habe,-)  sondern  keine  Hälfte, 
die  selbst  Zahl  ist.  Dies  ist  die  Bedingung  der  ersten  Zahl  als 
solcher.  Mit  dem  Begriffe  der  „ersten  Zahl"  bezeichnen  sie  nur, 
daß  sie  nicht  aus  „Zahlen"  zusammengesetzt  sei. 

Unter  Zahl  versteht  man  die  Vielheit,  in  der  ebenso  wie 
eine  Trennung  auch  eine  Einheit  enthalten  ist.  Ds^her  ist  die 
Zweiheit  die  erste  Zahl  und  sie  stellt  die  geringste  Größe  dar 
innerhalb  der  Zahlen.  Was  aber  nun  die  (größte)  Menge  der 
Zahlen  angeht  (über  die  hinaus  keine  Zahl  mehr  möglich  wäre) 
so  gibt  es  keine  Grenze  in  dieser  Hinsicht.  Die  Geringheit  der 
Zwei  wird  von  ihr  nicht  per  se  ausgesagt,  sondern  in  Hinsicht ») 

>)  Der  Gedanke  ist  wohl:  ein  eigentliches  Zählen  kann  nur  dann  statt- 
finden, wenn  eine  Mehrzahl  Ton  Einheiten  Torliegt.  Die  geringste  „Mehr- 
zahl^ ist  aber  die  Drei. 

')  Dann  wären  eins  nnd  zwei  keine  ersten  Zahlen. 

*)  Viel  und  Wenig  sind  relative  Begriffe,  selbst  für  die  Zweiheit,  die 
kein  multnm  sein  kein  hinsichtlich  einer  geringeren  Zahl.  Die  relative  Natur 
des  Wenigseins  bleibt  trotzdem  bestehen. 


Digitized  by 


Google 


192 

auf  die  Zahl.  Wenn  nun  die  Zweiheit  nicht  größer  ist  als  ein 
beliebiges  Ding,  so  folgt  daraus  nicht,  daß  ihre  geringe  Größe 
nicht  etwa  in  Beziehung  zu  einem  anderen  zu  verstehen  sei 
Dasjenige,  dem  als  Akzidens  eine  Relation  zu  einem  Dinge  zu- 
kommt, besitzt  damit  noch  nicht  notwendigerweise  eine  andere 
Relation  zu  einem  anderen  Dinge,  —  eine  Relation  die  verschieden 
wäre  von  der  erstenJ)  Wenn  nun  irgend  ein  Gegenstand  zwei 
Relationen  zugleich  besitzt,  die  des  Wenigseins  und  die  des 
Vielseins,  sodaß  er  ebenso  wie  er  eine  geringe  Größe  ist  in  Be- 
ziehung auf  ein  bestimmtes  Ding,  zu  gleicher  Zeit  ein  multum 
darstellt  inbezug  auf  ein  anderes,  so  ergibt  sich  daraus  noch 
nicht,  daß  mit  jedem  esse  paulum  das  einem  Dinge  zukommt, 
zugleich  auch  ein  esse  multum  verbunden  sei.^)  Ebenso  verhält 
es  sich  bei  folgendem.  Wenn  jemand  Herrscher  oder  Be- 
herrschter ist  (nach  zwei  verschiedenen  Hinsichten),  so  folgt 
daraus  durchaus  nicht  notwendig,  daß  keiner  ausschließlich 
Herrscher  sei  (ohne  auch  Beherrschter  zu  sein),  oder:  wenn 
etwas  Genus  und  Art  ist  (hinsichtlich  der  untergeordneten  Art 
und  des  Genus),  so  folgt  daraus  noch  nicht,  daß  das  Ding  nicht 
auch  ausschließlich  Genus  sein  kann.  Die  geringe  Quantität 
wird  daher  nicht  deshalb  zu  einer  solchen,  weil  mit  ihr  (zu 
gleicher  Zeit)  auch  ein  Ding  in  Beziehung  steht,  im  Vergleich 
mit  dem  die  geringe  Quantität  eine  Vielheit  bedeutet  Vielmehr 
ist  das  Wenige  ein  solches,  auf  Grund  des  Dinges,  welches  in 
Beziehung  zu  dem  Wenigen  eine  Vielheit  darstellt 

Daher  ist  die  Zweiheit  die  geringste  Größe.  Ihr  esse 
paulum  ist  zu  verstehen  in  Beziehung  auf  jede  beliebige  Zahl; 
denn  sie  ist  kleiner  als  jede  beliebige  Zahl.  Ihr  esse  minimum 
besteht  darin,  daß  sie  im  Vergleiche  mit  keiner  Zahl  eine 
Vielheit  ist  Wenn  also  die  Zweiheit  nicht  an  einem  anderen 
Dinge  (gemessen  wird),  dann  hat  sie  nicht  den  Charakter  des 
esse  paulum. 

Die  Vielheit  enthält  zwei  Begriffe.  Der  eine  (der  des 
Vielseins)  besagt,  daß  der  Gegenstand,  der  als  multum  be- 
zeichnet wird,  aus  mehr  als  einer  Einheit  besteht  Dieser  Be- 
griff besteht  in  keiner  Weise  aus  einer  Beziehung  zu  einem 


*)  Ck)d.  a  GL:  „im  Bereiche  der  Zahlen''. 

*)  Das  esse  paulum  bedingt  also  nicht  notwendig,  dafi  dieselbe  Zahl 
auch  ein  multum  sei.    Beide  Relationen  sind  nicht  notwendig  korrelativ. 


Digitized  by 


Googl( 


193 

anderen.  Der  zweite  Begriff  (der  des  Größerseins)  besagt,  daß 
in  der  Vielheit  aller  das  vorlianden  ist,  was  ein  anderes  Ding 
besitzt  und  dazu  noch  mehr.  Dieser  Begriff  besteht  in  einer 
Relation.  Ebenso  verhält  sich  die  Größe,  die  Länge  und  die 
Breite.  Faßt  man  daher  die  Vielheit  allgemein,  so  steht  sie  der 
Einheit  gegenüber  in  der  Weise,  wie  ein  Ding  dem  ersten 
Prinzipe  gegenübersteht,  das  das  Maß  des  Dinges  bestimmt. 
Die  andere  Vielheit  steht  der  geringen  Menge  gegenüber  nach 
der  Weise  des  Eelativen.  Es  besteht  aber  nun  kein  (konträrer) 
Gegensatz  zwischen  der  Einheit  und  der  Vielheit  in  irgend 
welcher  Weise.  Wie  sollte  dies  auch  der  Fall  sein!  Die  Einheit 
verleiht  ja  der  Vielheit  ihren  Bestand!  Betreffs  dieses  Probleme» 
müssen  wir  die  Darlegungen  (nunmehr)  ausführen. 


Sechstes  Kapitel 
Die  Opposition  zwischen  dem  Einen  und  Vielen. 

Es  ist  nun  unsere  Aufgabe,  zu  betrachten,  wie  das  Viele 
und  das  Eine  in  Opposition  stehen.  Die  Opposition  zweier  Dinge 
ist  nach  unserer  Auffassung  eine  vierfache.«)  Wir  haben  dieses 
bereits  auseinandergesetzt 2)  und  werden  es  auch  fernerhin») 
erklären.  Die  Opposition  hat  ihrem  Wesen  <)  nach  zur  Folge, . 
daß  ihre  Arten  diese  Anzahl  (vier)  bilden.  Zu  ihnen  gehört 
die  Kontrarietät.  Die  Opposition  des  Einen  und  Vielen  kann 
aber  nicht  zu  dieser  Gruppe  gehören;  denn  die  Einheit  verleiht 
der  Vielheit  das  Bestehen.  Von  den  konträren  Gegensätzen 
verleiht  aber  das  Eine  dem  Entgegengesetzten  nicht  das  Be- 
stehen-   Es  zerstört  und  vernichtet  dasselbe  vielmehr. 

Man  könnte  dagegen  einwenden:  die  Einheit  und  Vielheit 
haben  dieses  Verhältnis  zueinander  (das  der  Kontrarietät);  denn 
man  ist  nicht  genötigt  zu  behaupten,  das  eine  Kontrarium  ver- 
nichte das  andere  in  irgendwelcher  Weise  (d.  h.  in  jedem  Falle). 

*)  Vgl.  Arifit.,  Kat.  IIb  17:  Hystai  Ss  "tegov  hx^gm  avtixeZad'ai  terga' 
'/j&q,  ^  «Ä$  T«  Tii^iq  xiy  ^  (ig  xa  ivavxia,  ^  wg  axkgtjaig  xal  Tfi?,  $  dg  xaxi' 
ipaaig  xal  an6<paaig. 

»)  Vgl.  Logik  n.  Teil,  VE,  bes.  Kap.  1  und  3. 

«)  Vgl  Metaph.  VH,  1. 

*)  Wörtl.:  „der  Wesensform  nach"  Cod.  c  GL:  d.  h.  „der  realen  Wesen- 
heit der  Opposition  nach". 

Horten,  Du  Bocb  der  Oene«Dng  der  Seele.  X3 


Digitized  by 


Google 


194 

Man  muß  vielnielir  sagen:  das  eine  Kontrarium  hebt  das  andere 
nur  dadurch  auf,  daß  es  sich  „niederläßt"  in  dem  Substrate  des 
zweiten  (das  erste  wird  also  verdrängt,  während  das  Substrat,  die 
Materie,  dieselbe  bleibt).  Die  Natur  der  Einheit  ist  aber  eben- 
falls so  beschaffen.  Sie  hebt  die  Vielheit  dadurch  auf,  daß  sie  in 
das  Substrat  eintritt,  das  der  Vielheit  zukam.  In  diesem  Sinne 
wurde  bereits  die  Möglichkeit  zugegeben,  daß  dem  Substrate 
sowohl  die  Vielheit  als  auch  die  Einheit  nach  Art  der  Akzidens 
zukommen  kann. 

Wir  antworten  also  (auf  die  Schwierigkeit)  dieses  Objizienten: 
Ebenso  wie  die  Vielheit  nur  durch  die  Einheit  zustande  kommt, 
so  wird  sie  auch  nur  durch  das  Aufhören  ihrer  Einheiten  ver- 
nichtet. Durch  sie  selbst  (und  in  sich  selbst  allein)  wird  die 
Vielheit  nicht  in  ursprünglicher  Weise  (primo  et  per  se)  ver- 
nichtet. Den  Einheiten,  aus  denen  die  Vielheit  besteht,  stoßt 
es  vielmehr  in  erster  Linie  zu,  daß  sie  aufgehoben  werden.  Dann 
trifft  es  in  zweiter  Linie  die  Vielheit,  daß  sie  zugleich  vernichtet 
wird  auf  Grund  dessen,  daß  die  Einheiten  der  Vielheit  ihre 
Existenz  verlieren.  Vernichtet  also  die  Einheit  die  Vielheit^  so 
vernichtet  sie  dieselbe  nicht  in  erster  Linie  (primo  et  per  se), 
sondern  zuerst  vernichtet  sie  vielmehr  die  einzelnen  Individua, 
die  die  Vielheit  besitzen,  so  daß  sie  ihre  Existenz  als  aktuelle 
Vielheit  verliert  und  zu  einer  potentiellen  Vielheit  wird  (die 
zu  gleicher  Zeit  aktuell  eine  Einheit  ist).  Dann  existiert  folglich 
die  Vielheit  nicht  mehr.  Die  Einheit  vernichtet  also  in  erster 
Linie  (direkt)  nur  die  andere  Einheit  Dies  vollzieht  sich  aber 
in  der  Weise,  daß  sie  die  Einheit  nicht  in  der  Weise  vernichtet 
wie  z.  B.  die  Hitze  die  Kälte;  denn  die  Einheit  steht  der  Einheit 
nicht  als  Kontrarium  gegenüber,  (wie  es  der  Fall  ist  bei  der  Hitze 
gegenüber  der  Kälte).  (Die  Einheit  vernichtet  vielmehr  eine  andere 
Einheit),  indem  auf  diese  Einheiten  eine  vernichtende  Ursache 
wirkt,  so  daß  aus  ihr  diese  Einheit  (der  Summe,  in  der  also  die 
vielen  Einheiten  als  selbständige  vernichtet  und  zu  einem  Ganzen 
zusammengefaßt  werden)  entsteht 

Ebenso  verhält  es  sich,  wenn  Flächen  ihre  Existenz  ver- 
lieren.»)  Wenn  daher  auf  Grund*)  dieser  Aufeinanderfolge,  die  in 

>)  Eine  Fläche  vernichtet  nicht  etwa  eine  andere;  sondern  eine  gemein- 
same Ursache  fOgt  viele  Flächen  zusammen,  sodaß  eine  große  Fläche  entsteht. 

*)  Dieser  Grund  ist  für  sich  aUein  nicht  ausreichend.  Nach  ihm 
müßten  auch  zwei  Einheiten  im  Verhältnisse  der  Kontrarietät  stehen. 


Digitized  by 


Googk 


195 

(ein  uud)  demselben  Substrate  stattfindet,  sich  ergibt,  daß  die 
Einheit  das  Kontrarium  der  Vielheit  sei,  dann  ist  es  noch  eher 
richtig,  daß  die  Einheit  das  Kontrarium  der  Einheit  sei  (denn 
eine  Einheit  folgt  auf  die  andere  in  demselben  Substrate  und 
zwar  in  nach  höherem  Maße  als  die  Vielheit).  Femer  (die  Einheit 
vernichtet  eine  andere),  ind^m  die  Einheit  nicht  die  andere  Einhielt 
vernichtet  in  der  Weise,  wie  die  Hitze  die  Kälte;  denn  die  hinzu- 
kommende Einheit,  (die  aus  der  Vielheit  eine  Einheit  herstellt) 
vernichtet  die  ursprüngliche  Einheit  (der  Teile).  Dann  entfernt 
sie  die  ursprüngliche  Einheit  von  dem  Substrate,  das  nicht 
numerisch  dasselbe  Substrat  für  die  andere  Einheit  (die  die 
Summe  herstellt)  ist.^)  Vielmehr  verhält  sich  die  andere  Einheit 
so,  daß  man  denkt,  das  Substrat  der  ersten  sei  ein  Teil  ihres 
Substrates.  Die  Vielheit  wird  also  von  dieser  Einheit  nicht 
(primo  et  per  se)  in  erster  Linie  vernichtet.  (Die  Vielheit  ist 
daher  kein  Kontrarium  der  Einheit,  wenn  auch  beide  in  dem- 
selben Substrate  aufeinander  folgen.)  Vielmehr  genügt  es  nicht, 
damit  zwei  Dinge  in  dem  Verhältnisse  der  Kontrarietät  seien, 
daß  das  Substrat  ein  und  dasselbe  sei,  in  welchem  die  Kon- 
traria sich  abwechseln.  Es  ist  vielmehr  erforderlich,  daß 
gleichzeitig  mit  dieser  Aufeinanderfolge  die  Naturen  sich  gegen- 
seitig aufheben  und  abstoßen  (wie  die  beiden  extremsten 
Spezies  eines  Genus).  In  der  Natur  eines  der  beiden  Kontraria 
kann  es  nicht  liegen,  daß  es  durch  das  andere  sein  Bestehen 
erlangt  Dies  ist  ausgeschlossen,  weil  es  seinem  innersten  Wesen 
nach  von  dem  anderen  verschieden  ist.  Femer  ist  es  für  Kon- 
traria erforderlich,  daß  das  eine  das  andere  primo  und  per  se 
ausschließe. 

Dagegen  (daß  Einheit  und  Vielheit  Kontraria  sind)  könnte 
jemand  vorbringen:  das  Substrat  des  Einen  und  des  Vielen  ist 
nicht  ein  und  dasselbe.  (Dies  ist  eine  Objektion  gegen  die  auf- 
aulfeestellte  Ansicht);  denn  es  ist  conditio  sine  qua  non)  für 
zwei  Kontraria,  daß  beide  ^)  numerisch  ein  und  dasselbe  Substrat 
haben.  Nun  aber  besitzt  eine  individuelle  Einheit  und  eine  be- 
stimmte Vielheit  nicht  numerisch  sondern  nur  spezifisch  ein  und 


*)  Das  Substrat  der  ersten  Einheit  sind  die  Teile  des  Substrates  der 
zweiten,  der  Summe.  Dieses  zweite  Substrat  enthielt  noch  keine  Einheit, 
weil  noch  keine  Summe  bestand.  . 

*)  Wörtl.:  „zwei  von  ihnen". 

13* 


Digitized  by 


Google 


196 

dasselbe  Substrat.    Wie  könnte  auch  das  Substrat  der  Vielheit 
und  der  Einheit  numerisch  eins  sein! 

Aus  dem,  was  früher  erklärt  wurde,  mußt  du  das  eigent- 
liche Wesen  dieser  Verhältnisse,  ihr  innerstes  Sein,  ihre  Zustände 
und  Akzidenzien  erkennen.  Dann  ist  es  dir  evident  und  ein- 
leuchtend, daß  die  Opposition,  die  zwischen  dem  Einen  und  dem 
Vielen  ist,  keine  Opposition  des  Konträren  sein  kann.  Daher 
wollen  wir  nun  erwägen,  ob  der  zwischen  ihnen  stattfindende 
Gegensatz,  der  der  Wesensform  und  der  Privation')  seL  In 
diesem  Sinne  behaupten  wir:  zuallererst  ist  es  erforderlich,  daß 
die  Privation,  das  eine  der  beiden  Opposita^  die  Privation  eines 
solchen  Dinges  sei,  das  dem  Substrate  (des  Gregenstandes)  oder 
seiner  Art,  oder  seinem  Genus  zukommt  (Sie  ist  also  nicht  ein 
absolutes  Nichts,  sondern  nur  ein  relatives),  wie  du  es  früher^) 
betreffs  der  Privation  kennen  gelernt  hast  Du  must  also  einen 
modus  denken,  nach  dem  die  Einheit  die  Privation  der  Vielheit 
wird.  Sie  muß  in  einem  Substrate  stattfinden,  das  seiner  Art 
nach  eine  Vielheit  bilden  sollte.  Femer  liegt  es  dir  ob,  einen 
anderen  modus  zu  finden,  nach  dem  die  Vielheit  die  Privation 
der  Einheit  wird  und  zwar  in  solchen  Dingen,  die  sich  natur- 
gemäß als  Einheit  darstellen. 5)  Die  Wahrheit  ist  jedoch:  es  ist 
nicht  möglich,  daß  zwei  Dinge  sich  so  verhalten,  daß  jedes  von 
beiden,  Privation  und  zugleich  Position  (habitus)  in  Beziehung 
zum  anderen  sei  Die  Position  {^n^)  beider  (die  ein  Glied  der 
beiden  Opposita  bildet)  ist  vielmehr  das  in  sich  begrifflich 
Faßbare  und  das  durch  sich  selbst  Bestehende.  Die  Privation 
besteht  sodann  darin,  daß  jenes  Ding,  das  durch  sich  selbst  be- 
grifflich faßbar  ist  und  durch  sich  besteht,  nicht  real  ist  Das- 
jenige also,  das  seiner  Natur  zufolge  da  sein  muß,  kann  nur 
gedacht  und  definiert  werden  durch  das  „Positive",  (wörtlich  das 
habere).  Viele  von  den  früheren  Philosophen  bezeichneten  diese 
Art   der  Opposition   als   die  der  Privation  und  Position   und 


>)  Aristoteles  bezeichnet  diese  Art  als  ävTucBTa^i  <i^  ad^rfiiq  xfd 
h^iq^  und  daher  wird  sie  von  den  mnslimschen  Philosophen  gewöhnlich  als 
die  Opposition  des  habitus  und  der  privatio  bezeichnet.  Avicenna  wShlt 
hier  den  Ausdruck  „Form",  weil  es  sich  um  die  Einheit  handelt,  die  die 
Form  der  Summe  ist. 

«)  Logik  IL  Teil  Vn,! f.;  m.TeüI,10;  11,1;  LV.  Teil  1,5;  Metaph.1,5. 

')  Wenn  nicht  dasjenige  in  WegÄiU  kommt,  das  naturgemäß  dasein 
müßte,  dann  findet  keine  eigentliche  Privation  statt. 


Digitized  by 


Googl( 


197 

bestimmten  diese  als  die  erste  Opposition  (die  das  Fundament  der 
übrigen  bildet).  Unter  den  Begriff  der  Position  0  rechneten  sie 
die  Wesensfonn,  das  Gute,  das  Individuum,  das  Eine,  die  Grenze, 
die  rechte  Seite,  das  Feuer,  das  Ruhende,  das  Gerade,  das 
Quadrat,  das  Wissen  und  das  Männliche.  In  den  Bereich  der 
Privation  setzten  sie  die  Opposita  aller  dieser  Begriffe  wie  das 
Schlechte,  das  Paar,  die  Vielheit,  das  Unendliche,  die  linke  Seite, 
die  Finsternis,  das  sich  Bewegende,  das  Ungerade,  das  Rechteck, 
(das  in  die  Länge  Ausgedehnte),  die  wahrscheinliche  Meinung 
und  das  Weibliche. 

Wir  unsererseits  finden  eine  gi-oße  Schwierigkeit  darin,  das 
Positive  (das  habere)  als  Einheit  zu  fassen  und  die  Vielheit 
als  Privation  (der  Einheit.)  Der  erste  Grund  dafür  ist,  daß  wir 
die  Einheit  definieren  als  die  Unteilbarkeit  oder  die  Privation 
des  aktuellen  Teiles')  (indem  sie  potentielle  Teile  zuläßt).  Die 
Teilbarkeit  und  das  Besitzen  von  Teilen  verwenden  wir  dann 
in  dem  Begriffe  der  Vielheit.  Wir  haben  bereits  (in.  Kap.  2.  u.  3) 
erwähnt,  wie  es  sich  damit  verhält  (Es  handelt  sich  nicht  um 
eine  eigentliche  Definition,  sondern  um  eine  Beschreibung).  Der 
zweite  Grund  dafür  ist,  daß  die  Einheit  in  der  Vielheit  existiert 
und  ihr  das  Bestehen  verleiht  Wie  kann  aber  das  Wesen  des 
Positiven  (der  Einheit)  im  Privativen  (der  Vielheit)  vorhanden 
sein,  so  daß  die  Privation  aus  positiven  Bestandteilen  (auch 
Positionen),  die  sich  zu  einem  Ganzen  vereinigen,  zusammen- 
gesetzt wäre. 

Ebenso  liegen  die  Verhältnisse,  wenn  das  Positive  die 
Vielheit  ist.^)  Wie  kann  in  diesem  Falle  die  Zusammensetzung 
des  Positiven  (der  Vielheit)  aus  den  Privationen  der  positiven 
Bestandteile  vor  sich  gehen.  Daher  kann  also  die  Opposition, 
die  zwischen  beiden  (dem  Vielen  und  dem  Einen)  stattfindet, 
nicht  die  der  Privation  und  Position  sein.  Weil  nun  dieses  nicht 
möglich  ist,  so  darf  man  ebensowenig  sagen:  die  Opposition  beider 
sei  die  der  Kontradiktion.^)   Denn  die  Kontradiktion,  die  in  den 

")  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1022b 4:  t^ig  dh  Uytzai  tva  [xkv  tqotcov  olov 
Ivh^y^ia  tig  tof>  tyovxoq  xal  ixo/itvov,  äoTUQ  TiQ&^lq  xiq  Ti  xlvijaiq. 

*)  Die  Einheit  wird  also  als  eine  Art  der  Privation  definiert.  Dann 
kann  sie  ihrem  Wesen  nach  keine  Position  sein,  noch  die  Vielheit  eine 
Privation  der  Einheit. 

«)  Cod.  c  Gl.:  „und  die  Einheit  die  Privation". 

*)  Cod.  c  GL:  ^d.  h.  die  Verneinung:  nnd  Bejahung''  at^rixeTgi^ai  wq 
xaidipaaiq  xal  anotpaoiq. 


Digitized  by 


Google 


198 

Worten')  liegt  (die  logische),  stimmt  nicht  überein  mit  diesem 
Begriffe  des  Einen  und  des  Vielen.  Die  Kontradiktion  aber,  die 
in  den  realen  Dingen  existiert,  gehört  zu  der  Gruppe  (wörtlich: 
dem  Genus)  der  Opposition  der  Privation  und  Position.  Ja  die 
Kontradiktion  in  den  Dingen  der  Außenwelt  ist  sogar  eben 
diese  Opposition  selbst.  Denn  an  Stelle  der  Affirmation  (im 
kontradiktorischen  Gegensatze)  tritt  die  Position  und  an  Stelle 
der  Negation  die  Privation.  In  allen  diesen  befindet  sich  der- 
selbe Widerspruch,  der  in  dem  vorhanden  ist,  was  wir  bereits 
verhandelt  haben.  *^) 

Daher  wollen  wir  nun  betrachten,  ob  die  Opposition  beider 
(des  Einen  und  Vielen)  die  des  Relativen  sei.  In  diesem  Sinne 
lehren  wir:  man  kann  nicht  behaupten,  daß  zwischen  der  Ein- 
heit und  Vielheit  auf  Grund  ihres  Wesens  die  Opposition  der 
Relation  statthabe.  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  die  Vielheit 
nach  ihrem  Wesen  nicht  ausschließlich  in  Beziehung  zur  Ein- 
heit gedacht  werde,  so  daß  sie  nur  deshalb  eine  Vielheit  wäre, 
weil  zugleich  bei  ihr  3)  eine  Einheit  vorhanden  ist  Dies  ist 
richtig  selbst  wenn  sie  nur  zu  einer  Vielheit  wird  auf  Grund 
der  Einheit'»)  In  den  Büchern  der  Logik*)  hast  du  den  Unter- 
schied bereits  kennen  gelernt,  der  besteht  zwischen  dem,  was 
nur  durch  ein  Ding  vorhanden  ist,  und  dem,  dessen  Wesenheit 
nur  in  Beziehung  zu  einem  anderen  Dinge  ausgesagt  wird  (d.  h. 
zwischen  dem  wesentlichen  Bestandteile,  z.  B.  der  causa  formalis 
oder  materialis  des  Dinges  und  dem  Terminus  der  Relation). 
Die  Vielheit  erfordert  es  vielmehr,  daß  man  sie  nur  denkt  und 
versteht  als  aus  der  Einheit  entstanden;  denn  sie  ist  in  sich 
betrachtet  die  Wirkung  der  Einheit  Der  Begriff  des  esse 
causatum  ist  aber  verschieden  von  dem  des  esse  multum.  Nun 
kommt  es  der  Relation  zu,  daß  sie  ausschließlich  und  insofern 
sie    Relation    ist,    verursacht   wird.«)      Dieser   Umstand    aber. 

*)  Cod.  c  GL:  d.  h.  den  Urteilen. 

*)  Vielheit  und  Einheit  können  nicht  als  kontradiktorische  Gegensätze 
bezeichnet  werden;  denn  diese  sind  in  ordine  ontologico  identisch  mit  dem 
Gegensatze:  ^habitns  und  privatio'*. 

')  Cod.  c  GL:  ^wie  auch  in  der  Relation". 

*)  Die  Vielheit  ist  die  Wiederholung  der  Einheit. 

«)  Logik  n.  Teü  IV,  5. 

•)  Das  esse  causatum  ist  für  die  Relation  wesentlich,  filr  die  Vielheit 
akzidentell.  Die  Relation  wird  durch  das  fundamentum  relationi«  und  die 
Tennini  hervorgebracht. 


Digitized  by 


Googk 


199 

verursacht  zu  sein,  haftet  der  Vielheit  (nur)  nach  Art  des 
notwendigen  Akzidens  an.  Er  bildet  nicht  ihr  Wesen  selbst 
(wie  in  der  Relation).  Ein  weiterer  Grund  ist  der:  gehörte  die 
Opposition  des  Einen  und  Vielen  in  den  Begriff  der  Relation, 
dann  wäre,  wie  man  sich  ausdrückt,')  die  Wesenheit  des  Vielen 
nur  real  durch  die  Beziehung  zur  Einheit.  Die  Wesenheit  der 
Einheit  als  solcher  würde  dann  ausschließlich  ausgesagt  in  der 
Beziehung  zur  Vielheit  (wie  die  Vaterschaft  nur  prädiziert  wird 
in  Beziehung  zum  Sohne),  nach  dem  Grundsatze,  daß  die  Ter- 
mini der  Relation  konvertiert  werden  können.^)  Dann  wären 
ferner  keide  korrelativ  in  der  realen  Existenz,  insofern  diese 
eine  Einheit  und  jene  eine  Vielheit  ist.  Die  Tatsache  verhält 
sich  aber  anders. 

Da  diese  Verhältnisse  dir  nun  klar  geworden  sind,  so  ist 
es  angebracht,  festzustellen,  daß  im  Wesen  3)  der  Einheit  und 
Vielheit  keine  Art  der  Opposition  besteht.  Jedoch  haftet  ihnen 
eine  Opposition  (als  Akzidens)  an,  die  darin  liegt,  daß  die 
Einheit,  insofern  sie  ein  Maß  ist,  der  Vielheit  gegenübersteht, 
insofern  diese  das  Gemessene  ist.  Nun  aber  ist  der  Umstand, 
daß  ein  Ding  eine  Einheit  ist,  und  der  Umstand,  daß  es  ein 
Maß  ist,  durchaus  nicht  ein  und  dasselbe.  Es  besteht  vielmehr 
zwischen  ihnen  ein  Unterschied.  Der  Einheit  kommt  es  wie 
ein  Akzidens  zu,  daß  sie  ein  Maß  ist,  wie  es  ihr  ebenfalls 
akzidentell  zukommt,  daß  sie  Ursache  ist.  Den  (übrigen)  Dingen 
ist  es  sodann  in  zweiter  Linie  auf  Grund  der  Einheit,  die  sich 
in  ihnen  befindet,  akzidentell  eigen,  daß  sie  Maße  sind.  Jedoch 
ist  das  Eine  jedes  Dinges  und  sein  Maß  von  demselben  Genus.^) 
Daher  ist  also  das  Eine  (die  Einheit  als  Maß)  für  die  Längen- 

')  Vgl.  Arist.,  Kat.  6  a  36:  Ilgog  u  Sh  xa  toiaCta  Ikyexai^  Saa  avta 
ana(3  iaxlv,  hviQwv  elvai  l^yetai,  ^  onwaotv  a?.kojg  :x()6g  bteQOV,  Vgl. 
Thomas,  Sum.  theol.  I  13,7  c:  Qnaedam  vero  relationes  snnt  qiiantura  ad  ut- 
rumque  extremnm  res  naturae,  quando  scilicet  est  habitudo  inter  aliqua  duo 
secnnduin  aliquid  realiter  conveniens  wtrique,  sicut  patet  de  omnibus  rela- 
tionibus,  quae  consequuntur  quantitatem,  ut  magnum  et  parvum  und  die 
scholastische  Definition  ((loudin)  relatio  est  ipsa  rei  absolntae  entitas  ex  sua 
essentia  ad  aliud  destinata. 

*)  Vgl.  Arist.,  Top.  149b  12:  ofioicog  (Se  xal  tnl  t<5v  ukXwVj  iiieiS^ 
avTiaxQdipti  ndvxa  rc)  iiQoq  u.  Der  Begriff  des  einen  Relativums  ist  zu  der 
Erklärung  des  anderen  notwendig. 

*)  Cod.  c  GL:  „Sie  besteht  vielmehr  per  accidens*. 

*)  Maß  und  Gemessenes  müssen  zu  derselben  Art  gehören. 


Digitized  by 


Googk 


200 

dimensiouen  eine  Längß,  für  die  Breitendimensionen  eine  Breite, 
für  die  stereometrischen  Gebilde  eine  stereometrische  Einheit, 
für  die  Zeiten  (Takte)  eine  Zeit,  für  die  Bewegungen  eine  Be- 
wegung, für  die  Gewichte  ein  Gewicht,  für  die  der  Rede  die 
Einheit  des  Gesprochenen  (Konsonant  oder  kurzer  Vokal),  für 
die  Buchstaben  ein  Buchstabe. 

Man  ist  bestrebt,  als  die  Einlieit  in  der  Kategorie  eines 
jeden  Dinges  das  Kleinste  zu  nehmen,  damit  die  überschussige 
Größe  (das  Inkommensurabele,  der  Rest)  in  dieser  Kategorie 
möglichst  klein  werde.  Daher  sind  einige  Dinge  von  Natur 
als  Einheiten  gekennzeichnet «)  z.  B.  eine  Nuß  und  eine  Melone. 
In  anderen  wird  eine  Einheit  nach  Übereinkunft  (^^ton)  an- 
genommen. Alles,  was  giößer  ist  als  diese  Einheit,  vnrd  als 
„größer  als  das  Eine"  bezeichnet;  alles,  was  geringer  ist  als 
diese,  gilt  nicht  als  Einlieit.  Das  Eine  ist  vielmehr  dieses  an- 
genommene Maß  in  seiner  Vollkommenheit.-)  Diese  Einheit  wird 
aus  den  am  meisten  sinnfälligen  dieser  Art  genommen,  (weil 
die  Einheit  des  Maßes  per  se  bekannt  sein  muß).  In  diesem 
Sinne  ist  die  Einheit  der  Länge  die  Spanne,  die  der  Breite 
die  Spanne  im  Quadrat,  die  der  Körper  die  Spanne  zur  dritten 
Potenz,  die  der  Bewegungen  eine  festgesetzte  und  bekannte 
Bewegung.  Es  existiert  nun  keine  andere  Bewegung,  die  allen 
Dingen  gemeinsam  wäre  und  diese  Eigenschaft  besäße,  als  die 
durch  die  Natur  festgesetzten  Bewegungen  und  vor  allem  die- 
jenigen, die  keine  Unregelmäßigkeiten  aufweisen,  sondern  sich 
immer  gleichförmig  „ausdehnen"  und  ein  und  dieselben  bleiben 
in  jeder  bestimmten  Lage.  Es  ist  besonders  diejenige  Bewegung, 
die  die  kleinste  Ausdehnung  hat.  Die  kleinste  „Ausdehnung"  in 
der  Bewegung  hat  diejenige,  die  die  kürzeste  Zeit  dauert.  Diese 
aber  ist  die  außerordentlich  schnelle  Bewegung  des  Himmek 
deren  Maß  festbestimmt  ist;  denn  die  kreisförmige  Bewegung 
kann  keinen  Zuwachs  erhalten,  noch  auch  von  dem  Maße,  dessen 
Kleinheit  bekannt  ist,  verlieren,  weil  sie  mit  Schnelligkeit  immer 
wieder  zurückkehrt.  Ihr  Wiederentstehen  wird  nicht  für  eine 
gewisse  (femliegende)  Zeit  erwartet;  sondeni  an  jedem  Tage 
und  jeder  Nacht  vollendet  sich  ein  Umlauf,  der  dem  (sinnlich 


*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  angenommen''. 

^)  £8  ist  dsus  Maß  nach  beiden  Seiten  hin,  nach  dem  Zuviel  nnd  Zu- 
wenig.   Nach  ihm  werden  die  Dinge  als  grofi  und  klein  bezeichnet 


Digitized  by 


Googl( 


201 

walirnehmbaren)  Wirklichen  nahesteht,  leicht  umgrenzt  und 
experimentell  festgestellt  werden  kann  durch  die  Bewegungen 
der  Stunden.  Daher  ist  die  Bewegung  einer  einzigen  Stunde 
(15  Grad,  ein  halbes  Sternbild),  z.  B.  das  Maß  für  (alle)  Be- 
wegungen. Ebenso  ist  ihre  Zeit  (60  Minuten)  das  Maß  aller 
Zeiten. 

Betreffe  der  Bewegungen  setzt  man  vielfach  eine  bestimmte 
Bewegung  nach  Maßgabe  des  zurückgelegten  Raumes  fest  (z.B. 
eine  Strecke  Weges);  jedoch  ist  diese  Festsetzung  nicht  ge- 
bräuchlich, noch  auch  real  existierend,  so  wie  man  sie  zuerst 
annahm.  (Sie  bietet  die  Möglichkeit  willkürlicher  VeränderungeiL) 
Betreffs  der  Gewichte  setzt  man  ebenfalls  eine  Einheit  fest,  näm- 
lich eine  Drachme  und  einen  Denar,  für  die  Intervalle  der 
Musik  die  Takte,  die  einviertel  Klang  ausmachen,  oder  andere, 
kleine  Intervalle,  für  den  Laut  (das  gesprochene  Wort)  den 
Konsonant  mit  kurzem  Vokale,  oder  den  vokallosen,  Konsonant, 
oder  den  Konsonant,  der  eine  kurze  Silbe  schließt,  z.  B.  „jasil". 
Jedes  einzelne  dieser  festgesetzten  Maße  muß  nicht  notwendig 
in  der  Wirklichkeit  vorkommen,  sondern  manchmal  existiert  es 
(nur)  in  der  Annahme.  Die  Einheit  kann  aus  jeder  Kategorie 
von  Dingen  genommen  werden,  die  bald  geringer,  bald  größer 
sind  als  das  Angenommene.  Wenn  nun  in  diesen  Dingen  eine 
festgesetzte  Einheit  besteht,  so  ist  es  also  trotzdem  nicht  erforder- 
lich, daß  mit  dieser  alles  gemessen  werde,  was  zu  jener  Kate- 
gorie gehört;  denn  das  andere  (der  andere  Teil  der  zumessenden 
Gegenstände)  ist  möglicherweise  verschieden  von  allem,  was  mit 
ihm  (dem  Maße)  zuerst  *)  gemessen  wurde.  So  kaim  also  eine 
Linie  verschieden  2)  sein  von  der  anderen,  eine  Fläche  von  der 
anderen  und  ein  Körper  ebenso  von  dem  anderen.  Wenn  nun 
die  Linie,  die  Fläche  und  der  Körper  vei*schieden  sind  von 
ihresgleichen,  so  ist  ebenfalls  manchmal  die  Bewegung  ver- 
schieden von  ihresgleichen.  Dann  aber  ist  auch  die  Zeit  und 
das  Gewicht  vei-schieden  von  anderen  Zeiten  und  Gewichten, 
und  femer  kann  von  diesem  ersten,  das  von  jenem  verschieden 
ist,  wiederum  ein  anderes  (ein  drittes)  verschieden  sein. 


*)  Das  einheitliche  Maß  mißt  dann  in  erster  Linie  (per  se)  den  ihm 
homogenen  Teil  des  zn  Messenden,  in  zweiter  Linie  d.  h.  in  indirekter  Weise, 
per  accidens,  den  nicht  homogenen. 

*)  Cod.  c  Gl. :  „wie  z.  B.  die  gerade  und  krumme  (wohl = sphärische) Linie. 


Digitized  by 


Google 


202 

Alle  diese  Verhältnisse  hast  du  bereits  in  der  Mathematik  *) 
kennen  gelernt.  Wenn  dieses  sich  nun  so  verhält,  dann  sind 
also  die  Einheiten,  die  für  jede  Kategorie  dieser  Vielheit  (der 
Weltdinge)  festgesetzt  werden,  reale.  Sie  sind  nahezu  unend- 
lich viele.  Wenn  aber  hier  (in  den  zumessenden  Dingen)  eine 
Einheit  besteht,  die  für  die  Maßbestimmung  jedes  Dinges  paßt, 
dann  existieren  also  Dinge,  die  nahezu  unendlich  sind,  und  diese 
sollen  durch  jenes  Maß  gemessen  werden.  Da  nun  durch  das 
Maß  das  Gemessene  bekannt  wird,  gelten  die  Wissenschaft  und 
die  sinnliche  Wahrnehmung  wie  Maße  für  die  Dinge;  denn 
letztere  werden  durch  die  Wissenschaft  und  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung erkannt. 

Einige 2)  behaupten,  der  Mensch  ist  das  Maß  aller  Dinge; 
denn  er  besitzt  sinnliche  Wahrnehmung  und  Wissenschaft.  Durch 
beide  erkennt  er  alle  Dinge.  Nun  aber  trifft  es  eher  zu,  daß 
die  Wissenschaft  und  die  sinnliche  Wahrnehmung  durch  das 
Gewußte  und  das  wahrgenommene  Objekt  gemessen  werden, 
und  daß  also  jenes  (das  Objekt)  das  Prinzip  ist  für  dieses  (die 
Erkenntnis).  Es  trifft  sich  jedoch  vielfach,  daß  das  Maß  selbst 
wiederum  durch  das  Gemessene  gemessen  wird') 

In  dieser  Weise  müssen  wir  uns  also  die  Art  des  Verhält- 
nisses zwischen  Einheit  und  Vielheit  vorstellen.  Manchmal  tritt 
betreffs  des  Größeren  und  Kleineren  die  Schwierigkeit  auf,  in 
welcher  Weise  sie  sich  einander  und  dem  Gleichmaße  (der  Mitte) 
gegenüberstellen;  denn  das  Gleiche  steht  mit  jeden  einzelnen 
von  beiden  in  Opposition.  Das  Gleiche  und  das  Größere  können 
beide  nur  verschieden*)  sein.  Ebenso  verhält  sich  auch  das 
Gleiche  und  das  Kleinere.  Das  Größere  und  das  Kleinere  aber 
stehen  sich,  wenn  sie  in  Opposition  treten,  korrelativ  gegenüber, 
und  daher  ist  dieses  größer  inbezug  auf  das  andere,  das  kleiner 
ist.  Das  Gleiche  aber  tritt  nicht  in  reziproker  Beziehung  zu 
einem  von  beiden,  sondern  nur  zu  dem,  das  ihm  gleich  steht 
(gleich  groß  ist).    Unsere  Ansicht  ist:  es  ist  nicht  erforderlich, 

>)  Mathem.  IX.  Teil. 

^)  Der  Ausspruch   des  Protagoras   lautete:    ndvtwv  /(Jt^uarafi*  ßtxgov 

>)  Dann  also  kann  das  Wissen  „Maß"  der  Dinge  sein,  obwohl  es 
manchmal  und  in  anderer  Hinsicht  von  den  Dingen  gemessen  wird. 

*)  Die  Verschiedenheit  ist  aber  gleichbedeutend  mit  der  Opposition. 
Cod.  d  GL:  „d.  h,  sie  stehen  in  Opposition •". 


Digitized  by 


Googl( 


203 

daß  uberaD  wo  ein  Größeres  und  Kleineres  existiert,  zwischen 
beiden  ein  Gleiches  real  vorhanden  sein  müsse.  An  einem 
anderen  Orte*)  hast  du  dieses  bereits  kennen  gelernt. 

Wenn  die  Sachlage  sich  nun  so  verhält,  so  ist  es  natür- 
lich, daß  die  Opposition  des  Gleichen  primo  et  per  se  nicht  dem 
Größeren  und  dem  Kleineren,  sondern  dem  Nichtgleichen  gilt, 
nämlich  der  Privation  der  Gleichheit'^)  in  einem  solchen  Substrate, 
dem  seiner  Natur  nach  die  Gleichheit  zukommen  müßte.  Es  ist 
nicht  die  Privation  der  Gleichheit  gemeint  in  dem  Punkte,  der 
Einheit,  der  Farbe,  dem  Verstände  und  beliebig  anderen  Dingen, 
die  keine  Maßbestimmung  zulassen,  sondern  nur  in  solchen 
Dingen,  die  eine  Maßbestimmung  und  eine  Quantität  besitzen. 

Daher  steht  das  Gleiche  nur  der  Privation  seiner  selbst, 
i  h.  dem  Ungleichen  gegenüber.  Diese  kommt  jedoch  jenen 
beiden  Dingen,  dem  Größeren  und  Kleineren  nach  Art  eines 
Genus  zu  (unter  dem  sie  zwei  Arten  bilden).  Ich  bin  nicht  der 
Ansicht,  daß  sie  ein  (eigentliches)  Genus  sei.  Die  Ungleichheit 
ist  vielmehr  Genus  in  dem  Sinne,  daß  sie  jedem  einzelnen  von 
beiden  notwendig  (als  proprium)  zukommt.  Denn  das  eine  von 
ihnen  ist  „groß".  Die  Größe  aber  ist  ein  reales  Wesen  (ratio), 
dem  diese  Privation  anhaftet  (nicht  den  Charakter  der  Gleich- 
heit zu  haben).  Das  andere  ist  „klein".  Die  Kleinheit  verhält 
sich  in  dieser  Hinsicht  ebenso. 


Siebentes  Kapitel. 
Die  Qualitäten  sind  Akzidenzien. 

So  wollen  wir  nun  von  den  Qualitäten  sprechen  (nachdem 
die  Quantitäten  behandelt  sind).  Die  sinnlich  wahrnehmbaren 
und  körperlichen  Qualitäten  existieren  wirklich ;  darüber  heiTscht 
kein  Zweifel.  Über  ihre  Existez  haben  wir  bereits  an  anderen 
Orten  gesprochen^)  und  die  entgegenstehenden  Ansichten  des- 
jenigen  widerlegt,   der   über   dieses  Problem  disputierte.     Ein 

')  Logik  n.  Teil,  Vü,  1  und  3. 

*)  Die  Art  der  Opposition  ist  dadurch  als  die  von  habitus  und  privatio 
gekennzeichnet. 

»)  Logik  IL  Teü  V  und  VL 


Digitized  by 


Google 


204 

Zweifel  besteht  betreffs  der  Qualitäten  nur  in  der  Frage,  ob  sie 
Akzidenzien  sind  oder  nicht. 

Manche  Menschen  glauben,  die  Qualitäten  seien  Substanzen,^ 
die  sich  mit  den  Körpern  vermischen  und  in  sie  eindringen. 
Demzufolge  wäre  also  die  Farbe  in  sich  eine  Substanz,  und  die 
Hitze  ebenso  und  weiter  jede  einzelne  dieser  Qualitäten.  Nach 
der  Ansicht  dieses  (Gelehrten)  verhalten  sie  sich  so  (d.  h.  wie 
Substanzen).  Es  genügt  nicht  (als  Widerlegung  seiner  Ansicht 
von  Seiten  der  Philosophen)  zu  zeigen,  daß  diese  Dinge  (die 
Qualitäten)  manchmal  existieren  und  manchmal  nicht  existieren, 
wälirend  das  individuelle  Ding  (die  Substanz)  in  sich  selbst  besteht 
und  real  existiert.  Daher  führen  jene-)  als  Beweis  ihrer  An- 
sicht an :  dieses  (d.  h.  die  Qualität)  wird  nicht  vernichtet,  sondern 
(wenn  sie  aus  dem  Körper  vei-schwindet  z.  B.  die  Feuchtigkeit, 
wenn  der  Körper  trocken  wird)  beginnt  sie  sich  allmählich  mehr 
und  mehr  zu  trennen  (von  dem  Substrate)  wie  z.  B.  das  Wasser, 
durch  welches  ein  Kleid  benetzt  wird.  (Das  Kleid  besitzt  also 
die  Qualität,  feucht  zu  sein,  und  verliert  dieselbe,  die  zugleich 
eine  Substanz  ist,  allmählich);  denn  nach  einer  Stunde  befindet 
sich  in  dem  Kleide  kein  Wasser  m^hr.  Das  Kleid  aber  befindet 
sich  in  dem  ihm  zukommenden  Zustande.^)  Auf  Grund  dieses 
Vorganges  wird  aber  das  Wasser  nicht  zu  einem  Akzidens. 
Vielmehr  ist  das  Wasser  eine  Substanz,  und  dieser  kommt  es  zu, 
sich  von  einer  anderen  Substanz  zu  trennen,  mit  der  sie  ver- 
bunden war.  Manchmal  trennt  sie  sich  nun  in  der  Weise,  daß 
während  der  (unbemerkt  vor  sich  gehenden)  Trennung  die 
einzelnen  Teile  sinnlich  nicht  wahrgenommen  werden,  die  sich 
von  der  Substanz  trennen;  denn  sie  trennen  sich  in  Form  von 
Teilchen,  die  kleiner  sind,  als  daß  der  Sinn  sie  wahrnehmen 
könnte,  und  zwar  in  (bestimmten)  Intervallen.*)  Andere  sagen, 
der  Sinn  könne  sie  wahrnehmen.  Es  ist  nun  unsere  Aufgabe, 
darzulegen,  daß  diese  Anschauungen  unrichtig  sind. 

Daher  lehren  wir:  wenn  die  Qualitäten  „Substanzen**  sind, 
dann  müssen  sie  entweder  solche  Substanzen   sein,   die   selbst 

>)  Dies  war  die  Ansicht  einiger  Mu  taziliten,  z.  B.  Nazzams. 

')  Avicenna  verwendet  manchmal  den  Singular,  manchmal  den  Plural, 
je  nachdem  er  Nazzäm  selbst,  oder  seine  Schnle  im  Auge  hat. 

')  Es  scheint  kein  Akzidens  verloren  zu  haben.  Eine  Substanz,  das 
Wasser,  die  mit  ihm  verbunden  war,  hat  sich  von  ihm  getrennt. 

*)  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  in  nicht  kontinuierlicher  Weise". 


Digitized  by 


Googk 


205 

Körper  sind,  oder  Substanzen,  die  keine  Körper  sind.  Sind 
die  Qualitäten  unkörperliche  Substanzen,  so  muß  aus  ilmen  sich 
entweder  ein  Körper  zusammensetzen  lassen  —  dies  aber  ist 
unmöglich,  da  dasjenige,  was  keine  Teile  hat  nach  Art  körper- 
licher Dimensionen,  keinen  Körper  durch  Zusammensetzung  ent- 
stehen lassen  kann  —  oder  es  läßt  sich  aus  ihnen  kein  Körper 
zusammensetzen.  Jedoch  die  Substanz  (d.  h.  die  Qualität)  existiert 
nur  durch  die  Verbindung  mit  den  Körpern  und  dadurch,  daß 
sie  in  dieselben  eindringt.  Daher  ist  das  erste  Erfordernis,  daß 
diese  Substanzen  (die  Qualitäten)  räumliche  Lage  besitzen.  Nun 
aber  ist  jede  Substanz,  die  räumliche  Lage  besitzt,  teilbar.*) 
Dies  wurde  bereits  auseinandergesetzt  Zweitens:  jede  einzelne 
dieser  Substanzen  muß  entweder  so  beschaffen  sein,  daß  sie  ge- 
trennt von  dem  Körper  existiert,  in  dem  sie  sich  befindet,  oder 
nicht  Existiert  sie  nun  nicht  getrennt  von  ihm,  dann  ist  ihre 
Existenz  in  den  Körpern  so  geartet,  daß  sie  in  ihnen  wie  in 
Substraten  existiert;  denn  die  Qualitäten  bestehen  in  ihnen 
nicht  wie  Teile  des  Ganzen,  noch  sind  sie  trennbar  von  ihnen.^) 
Zugleich  ist  der  Körper,  der  ihr  Substrat  ist,  als  Substanz 
in  sich  vollendet  Folglich  sind  die  Qualitäten  Akzidenzien. 
Sie  haben  nur  den  Namen  von  Substanzen  (nicht  das  Wesen 
solcher),  selbst  dann,  wenn  sie  sich  von  ihrem  Körper  (den 
Substraten)  trennen  können.  Der  zweite  Fall  besagte,  die 
Qualitäten  seien  trennbar  und  von  einem  Körper  zum  anderen 
übertragbar,  ohne  daß  sie  eine  eigene  unkörperliche  Existenz 
hätten,  oder  sie  sind  trennbar  und  besitzen  zugleich  eine  un- 
körperliche Existenz  (als  Substanzen).  Nehmen  wir  nun  den 
Fall  an,  daß  die  Qualitäten  nur  dadurch  in  einen  Körper  ein- 
treten, daß  sie  zu  einem  anderen  Körper  fibergehen.  Dann 
muß  jeder  Körper,  dessen  weiße  Farbe  vernichtet  wird,  diese 
weiße  Farbe  auf  einen  anderen  Körper  übertragen,  der  mit  ihm 
in  Berührung  steht;  oder  diese  Farbe  muß  ohne  Körper  existieren, 
bis  daß  sie  zu  einem  entfernten  Körper  gelangt.  Die  Farbe  ist 
dann  nicht  verbunden  mit  irgend  einem  Körper  in  der  Zeit,  in 


0  Dann  sind  sie  also  K^^rper,  was  die  erste  der  aufgezählten  Möglich- 
keiten besagte.  Zudem  ergibt  sich,  daß  als  nnkörperlich  angenommene  Dinge 
teilbar  sind. 

*)  Sie  haben  also  die  bekannte  Natur  der  Akzidenzien,  sind  also  keine 
Substanzen.    Aristot.  Kateg.  1  a  24. 


Digitized  by 


Googl( 


206 

der  sie  den  Zwischenraum  (bis  zu  dem  anderen  Körper)  durcheilt 
Was  aber  nun  die  Lehre  anbetrifft,  die  Qualitäten  seien  ver- 
borgen (in  jedem  Körper  und  brauchten  nur  durch  einen  äußeren, 
homogenen  Reiz  geweckt  zu  werden,  um  in  dem  anderen  Körper 
in  die  Erscheinung  zu  treten, ')  so  haben  wir  dieses  Problem 
schon  abschließend  behandelt  2)  und  dargetan,  daß  diese  Ansicht 
unmöglich  sei.  Die  Sachlage  verhält  sich  nun  nicht  so  (wie  die 
Alchemisten  behaupten),  und  daher  muß  jeder  Körper,  der  einen 
anderen  Körper  erhitzt,  auf  den  zweiten  von  seiner  eigenen 
Hitze  etwas  übertragen.  Der  erste  Körper  also,  der  einen 
anderen  erhitzt,  wird  selbst  kalt.  Diese  Art  von  Übertragung 
einer  Qualität  macht  es  nicht  unmöglich,  daß  die  Qualität  ein 
Akzidens  sei;  denn  viele  geben  betreffe  der  Akzidenzien  selbst 
(nicht  nur  der  Substanzen)  zu,  daß  diese  Art  der  Übertragung 
möglich  sei,  d.  h.  die  Art  der  Übertragung  die  in  den  Tefloi 
des  Substrates  stattfindet,  und  die  andere,  die  von  einem  Sub- 
strate auf  ein  anderes  übergeht.  Ein  reales  Ding  ist  aber  nur 
dann  kein  Akzidens,  wenn  es  zutrifft,  daß  es  nicht  in  einem 
Substrate  besteht.  Dasjenige  aber,  das  in  einem  Substrate 
existiert,  kann  man  in  der  Hinsicht  betrachten,  ob  es  auf  em 
anderes  Substrat  übertragen  werden  kann,  ohne  daß  es  sich 
(bei  diesem  Vorgange)  von  beiden  Substraten  trenne.  Dieses 
Übertragen 3)  ist  daher  nur  dann  möglich,  wenn  es  vorher  in 
einem  Substrate  existierte  (also  Akzidens  war).  Ein  solches 
„Übertragen"  aber  ist  überhaupt  nicht  zutreffend;  denn  dasjenige, 
was  in  irgend  einem  Substrate  existiert,  hängt  entweder  mit 
seiner  Individualität  von  diesem  individuellen  Substrate  ab,  oder 
nicht.  Hängt  es  nun  in  seiner  individuellen  Natur  von  diesem 
individuellen  Substrate  ab,  dann  kann  bekanntlich  seine  In- 
dividualität nur  in  diesem  individuellen  Substrate  existieren, 
selbst  dann,  wenn  irgend  eine  nur  äußere*)  Ursache  dasselbe  in 
diesem  Substrate  hervorgebracht  hat  Diese  äußere  Ursache 
stellt  keinen  inneren  Bestandteil  des  Dinges  dar,  insofern  es 
dieses  bestimmte  Individuum  ist  (und  daher  verhält  sie  sich  zum 
Dinge  akzidentell).     Daher  kann  diese  Ursache  sich  von  ihm 


>)  Dies  ist  ans  leichterkl&rlichen  Gründen  die  Lehre  der  Alchemisten. 
*)  Natnrw.  IV.  Teil. 
")  Wörtl.:  Diese  Betrachtungsweise. 

*)  Noch  mehr  trifft  dieses  zu,  wenn  die  innere  Ursache,   die  causa 
formalis,  das  Akzidens  mit  einem  individuellen  Substrate  veihindet. 


Digitized  by 


Googl( 


207 

trennen  und  ebenso  die  übrigen  Ui^sachen,  so  daß  es,  um  zu  be- 
stehen, nicht  dieses  Substrates  bedarf.  J)  Jene  Ursaclie  hört  nun 
auf  zu  wirken,  nicht  etwa  weil  das  Ding  (das  Akzidens)  eines 
anderen  Substrates  bedürftig  wäre;')  denn  diejenige  Ursache, 
die  bewirkt,  daß  ein  Ding  keines  Substrates  bedarf  (d.  h.  ein 
Substrat  verläßt),  ist  die  Privation  der  Ursache,  die  bewirkte, 
daß  das  Ding  (eines  Substrates)  bedurfte.  In  sich  selbst  also 
erfordert  dasselbe  (das  Akzidens  der  Qualität)  kein  Substrat 
und  daher  bedeutet  das  Aufhören  jener  Ursache  nicht  dasselbe 
als  die  Existenz  einer  anderen  Ursache, 3)  es  sei  denn  daß  das 
Aufhören  jener  Ursache  nur  dann  möglich  ist,  wenn  diese  andere 
Ursache  eingetreten  ist.  Wenn  daher  diese  Ursache  eingetreten 
ist^  hört  jene  (erste)  Ursache  auf.  Dadurch  also  wird  das  Ding 
(die  Qualität)  frei  von  der  notwendigen  Hinordnung  zum  ersten 
Substrate  und  verlangt  das  andere  Substrat  (um  diesem  zu  in- 
haerieren)  und  zwar  aus  zwei  Gründen.  Der  erste  ist  das  Auf- 
hören der  ersten  Ursache  (die  die  Qualität  mit  dem  ersten  Sub- 
strate verband) ;  der  zweite  besteht  in  der  Existenz  der  zweiten 
Ursache.  Die  Summe  aller  dieser  Ursachen  sind  jedoch  Dinge, 
die  außerhalb  der  Natur  des  betreffenden  Gegenstandes  (der 
Qualität)  liegen  und  deren  er  nicht  bedarf,  damit  sein  „Wesen" 
zur  realen  Existenz  gelange,  wie  z.  B.  jene  (individuelle)  Farbe. 
Er  bedarf  vielmehr  dieser  Ursachen  nur,  damit  er  als  „Individuum" 
in  einem  Substrate  wirklich  werde.  Daher  macht  der  Umstand, 
daß  das  Akzidens  eine  Farbe  ist,  und  daß  es  diese  individuelle 
Farbe  ist,  dasselbe  (nach  der  Annahme)  frei  von  der  Hinordnung 
auf  ein  Substrat.*)  Dann  aber  bewirkt  kein  Ding  (keine  äußere 
Ursache),  daß  das  Akzidens  eines  Substrates  bedürfe.  Der  Um- 
stand, der  das  Akzidens  befähigte,  auf  Grund  seines  inneren 


')  Die  Ursache  wirkt  auf  dieses  individuelle  Substrat  nur  per  accidens 
ein.  Wendet  sich  ihre  Wirkung  daher  einem  anderen  Substrate  zu,  dann 
gelangt  das  Akzidens  in  diesem  anderen  zur  Existenz. 

*)  Dann  läge  es  in  der  Natur  der  Qualität  begründet,  daß  sie  dieses 
Substrat  verlassen  muß,  und  femer  würde  ein  Akzidens,  die  Qualität,  auf 
seine  causa  effidens  bestimmend  einwirken.  Zum  Verlassen  des  Substrates 
ist  zudem  keine  positive  Ursache,  sondern  nur  die  Privation  einer  solchen  er- 
forderlich. 

*)  Diese  andere  Ursache  soUte  die  QuaUtät  einem  anderen  Substrate 
zufahren. 

*)  Die  Annahme  besagte,  die  QuaUtäten  seien  Substanzen  und  nicht 
auf  Grund  ihres  innersten  Wesens  auf  ein  Substrat  hingeordnet. 


Digitized  by 


Googk 


208 

Reichtums  (als  Substanz)  eines  Substrates  nicht  zu  bedürfen, 
verleiht  ihm  nicht  zugleich  dasjenige,  das  es  hinordnet  auf  das 
Substrat,')  es  sei  denn,  daß  der  Zustand  seines  innneren  Reich- 
tums und  seiner  Selbständigkeit  (d.  h.  nach  der  das  Akzidens  des 
Substrates  entbehren  kann)  sich  in  sein  Gregenteil  verwandelte. 
(Dann  würde  die  Qualität  eigentliches  Akzidens.)  Nehmen  wir 
nun  den  anderen  Fall  an,  daß  das  esse  colorem  und  esse  hnnc 
colorem  nicht  bewirkt,  daß  die  Qualität  des  Substrates  entbehren 
kann,  und  daß  es  vielmehr  bewirkt,  daß  die  Qualität  von  einem 
solchen  abhängig  wird.^)  Dann  ist  also  dieses  Substrat  für  das 
Akzidens  bestimmt;  denn  es  ist  die  Wirkung  einer  Ursache, 
oder  in  sich  selbst  bestimmt^)  Das  Individualisierte  (Bestimmte)*) 
bewirkt  nicht  irgend  ein  beliebiges  Ding,  das  der  Potenz  nach 
keine  Grenzen  hätte  und  in  dem  ein  Teil  sich  nicht  von  dem 
anderen  in  seiner  Eigenart  unterschiede  (wie  in  der  materia 
prima). 

Man  könnte  einwenden:  wie  kann  das  Eine  ein  bestimmt 
individualisiertes  Ding*)  zur  Folge  haben.  Darauf  erwidol; 
man:  das  Eine  bewirkt  zunächst  dasjenige,  von  dem*)  es  ab- 
hängig ist  in  seiner  Existenz.  Dadurch  bestimmt  es  auch  seine 
Individualität.'^)  Daher  ist  diese  individuelle  Farbe,  insofern 
sie  „diese"  Farbe  ist,  entweder  selbständig  und  bedarf  keines 
Substrates,  oder  sie  bedarf  eines  einzigen  Substrates. 

Was  aber  nun  die  Lehre  anbetrifft,  daß  das  Individuum 
sich  in  sein  Gegenteil  (oder  ein  anderes,  mutatio  substantialis) 

*)  Die  Ursache  würde  das  Gegenteil  von  dem  bewirken,  was  ihr 
Wesen  besagt. 

')  Dann  ist  die  Qualität  keine  Substanz  mehr. 

»)  Die  Natur  des  Accidens  erfordert  ein  Substrat  aus  innerer  Not- 
wendigkeit oder  wegen  einer  determinierenden  Ursache. 

*)  Eine  bestimmte  Ursache  (Qualität  und  äußere  Wirkursache)  habea 
eine  bestimmte  Wirkung  ztu*  Folge.  Daraus  ergibt  sich,  daß  das  Akzidens 
in  einem  bestimmten  Substrate  sein  muß.  Die  Lehre  Nazz&ms  ist  abo 
hinfällig. 

*)  Individuum  bezeichnet  das  Einzelding  einer  spezifisch  gleiche  Viel* 
heit.  Das  „Eine'^  verhält  sich  indifferent  zu  dieser  Vielheit,  indem  es  ebes 
so  gut  das  eine  wie  das  andere  Individuum  bewirken  kann.  In  der  Ursache 
liegt  also  noch  nicht  die  Determination  auf  dieses  Individuum. 

•)  Cod.  c  GL:  „dies  bezeichnet  das  Substrat". 

^)  Die  Individualität  ist  also  nur  indirekt  eine  Wirkung  der  „einai' 
Ursache.  Sie  entsteht  aus  dem  Zusammentreten  von  formeUem  und  auf- 
nehmendem Prinzipe. 


Digitized  by 


Googl( 


209 

verwandeln  könne,  so  ergibt  sich,  daraus,  daß  wir  sie  erwähnt 
haben,  die  Pflicht,  dieselbe  zu  besprechen.  Dieser  Pflicht  müssen 
wir  uns  nun  entledigen.  Die  „Veränderung  des  Individuums" 
bezeichnet  nach  unserer  Terminologie  nicht,  daß  dieses  Eine 
zunichte  werde  und  das  Andere  zur  Existenz  gelange,  ohne  daß 
von  dem  Ersten  irgend  etwas  (die  Materie)  in  das  Zweite  ein- 
dränge. Wenn  nun  dieses  sich  so  verhält  durch  Vermittlung 
der  räumlichen  Übertragung,  dann  ist  also  der  erste  Gegenstand 
zunichte  und  der  zweite  wirklich  geworden,  ohne  daß  aber  der 
erste  zum  zweiten  geworden  wäre.^)  Unter  „Veränderung  (des 
Individuums)"  verstehen  wir  vielmehr  nur,  daß  das  Subjekt, 
das  mit  der  ersten  Eigenschaft  behaftet  war,  mit  der  zweiten 
behaftet  wird  Dieser  Vorgang  verläuft  also  so,  daß  von  dem 
ersten  Gegenstande  etwas  Reales  in  dem  zweiten  bestehen  bleibt, 
und  daher  ist  der  zweite  zusammengesetzt  aus  einer  Materie 
und  einem  Etwas  (der  Form),  das  in  dieser  Materie  sich  be- 
findet Wenn  dieses  nun  betreffs  unseres  Problemes  z.  B.  die 
Eigenschaft  der  Farbe  ist,  so  existiert  also  in  der  Farbe  eine 
Kealität,  die  vernichtet  wird,  und  eine  andere,  die  bestehen 
bleibt,  und  daher  ist  dasjenige,  was  zugrunde  geht  (wenn  die 
Farbe  entfernt  wird),  dasselbe,  durch  welches  das  Ding  eine 
Farbe  wurde.  Dieses  ist  sogar  die  Wesenheit  der  Farbe  (also 
ein  in  sich  unkörperliches  Ding)  und  ist  zugleich  die  Wesens- 
form, die  in  der  Materie  existiert,  oder  das  Akzidens.  Unsere 
Diskussion  befaßt  sich  aber  mit  dieser  Form  (der  Qualität). 

Wir  wollen  nun  zu  unserem  Probleme  zurückkehren  und 
lehren:  wenn  das  Akzidens  sich  von  diesen  individuellen  Substanzen 
trennen  kann  2)  und  z.  B.  als  weiße  Farbe  oder  als  ein  anderes 
Ding  in  sich  (per  se)  existiert,  dann  muß  es  Gegenstand  einer 
Determination  3)  (4  h.  ein  materielles  Individuum)  werden.  Sie 
muß  also  die  weiße  Farbe  werden,  die  man  erkennen  kann,*) 
es  sei  denn,  daß  das  Erkennen  unmöglich  wird  wegen  der 
außerordentlichen  Unscheinbarkeit  (der  Farbe).     Sie  muß  alle 


0  Cod.  c  GL:    „Dies  ist  einleuchtend''.     Der  erste  müfite  dann  im 
zweiten  existieren. 

>)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  von  dem  Substrate",  sodaß  es  selbst  Substanz  wird. 

')  In  dem  Begiiäe  der  weifien  Farbe  liegt  die  Individualität  noch  nicht 
ausgedruckt.    Sie  muß  also  von  außen  noch  hinzukommen. 

^)  Nur  ein  materieUes  Individuum  kann  man  durch  sinnliche  Wahr- 
ndimung  erkennen. 

Horten,  DM  Booh  der  OenefoiiK  der  Seele.  X4 


Digitized  by 


Googk 


210 

diejenigen  Bestimmungen  enthalten,  die  als  weiße  Farbe  be- 
zeichnet werden.  Wenn  dieses  sich  so  verhält,  dann  muß  das 
Leere  ^)  wirklich  sein,  so  daß  das  Akzidens  im  Bereiche  des 
Leeren,  nicht  im  Bereiche  der  Körperwelt  Gegenstand  eines 
Hinweises  wird.')  Dann  muß  aber  das  Akzidens  bestimmte 
Lage  und  Meßbarkeit  besitzen.  Es  hat  also  in  seinem  eignen 
Wesen  eine  Ausdehnung,  von  der  nur  ein  geringer  Teil  sinnlich 
wahrnehmbar  ist.  Denn  wir  können  uns  keine  weiße  Farbe 
vorstellen,  die  keine  räumliche  Lage  noch  eine  Ausdehnung  be- 
säße, geschweige  denn,  daß  wir  sie  sehen  könnten.  Wenn  sie 
nun  eine  bestimmte  Ausdehnung,  eine  gewisse  Lage  und  dazu 
noch  die  Gestalt  s)  der  weißen  Farbe  besitzt,  dann  ist  sie  ein 
weißer  Körper,  nicht  die  weiße  Farbe  in  abstrakter  Form. 
Unter  weißer  Farbe  verstehen  wir  nämlich  diese  Form  (wört- 
lich: Gestalt),  die  der  Ausdehnung  und  dem  Volumen  des  Körpers 
hinzugefügt  wird  (die  Qualität  des  Gefärbtseins),  auch  wenn 
sie  nicht  aus  allen  den  Teilen  dauernd  besteht,  von  denen  die 
weiße  Farbe  (wie  eine  Definition)  ausgesagt  wird.*)  Vielmehr 
verläßt  sie  diese  bestimte  Wesensform  und  wird  zu  einem  körper- 
losen (wörtlich:  einem  geistigen)  Dinge.  Dann  also  besitzt  die 
weiße  Farbe  ein  Substrat,  in  dem  das  Wesen  der  weißen  Farbe 
wie  ein  Akzidens  existiert.  Diese  verhält  sich  wie  bekannt  (wie 
ein  formelles  Prinzip).  Es  ereignet  sich  nun,  daß  diese  Farbe 
ein  anderes  Mal  in  einer  anderen  Wesensform,  einer  unkörper- 
lichen, existiert.  Dasjenige  also,  was  man  als  weiße  Farbe  ^)  de- 
finierte, hört  zuerst  auf,  zu  sein  und  verliert  seine  Wesensform. 
Betreffs  der  köi-perlosen,  begrifflich  faßbaren  Substanz  haben  wir 
bereits  im  Früheren  gezeigt,  daß  sie  nicht  wie  dieses  Ding  (das 
individuelle  Akzidens)  ein  anderes  Mal  ihre  Seinsart  verändern,*) 
räumliche  Lage  annehmen  und  mit  Körpern  verbunden  sein  kann. 


»)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  der  leere  Baum". 

')  Die  Qualität  kann  als  Körper  kein  selbständiges  Individuum  sein. 
Avicenna  sagt  deshalb  scherzweise,  dieses  müfite  also  in  einem  erträumten 
leeren  Baume  statthaben. 

•)  „Gestalt"  bezeichnet  hier  die  akzidenteUe  Form. 

*)  Die  „Form"  der  weißen  Farbe  verwirklicht  nicht  aUe  Bestimmungen^ 
die  zur  Definition  der  konkreten  weifien  Farbe  erforderlich  sind. 

^)  d.  h.  die  weiße  Farbe  als  Substanz  aufgefaßt,  die  per  se  existieren  müßte. 

•)  Wörtlich:  „übertragen  werden".  Das  „erste  Mal"  bezeichnet  ihre 
ideale,  körperlose  Existenz,  als  ein  „reiner  Geist ^^,  der  nicht  in  einem 
materieUen  Substrate  existieren  kann. 


Digitized  by 


Googl( 


all 

Andere  könnten  behaupten,  die  weiße  Farbe  sei  ein  in 
sich  existierendes  Ding,  das  Ausdehnung  besitzt.  Dann  aber 
muß  es  zwei  verschiedene  Existenzarten  besitzen:  die  eine,  daß 
es  eine  weiße  Farbe  ist  (essentia)  und  eine  andere,  daß  es  Aus- 
dehnung besitzt.  Wenn  nun  seine  Ausdehnung  numerisch  ver- 
schieden ist  von  der  Ausdehnung  des  Körpers,  in  dem  die  weiße 
Farbe  sich  befindet,  und  wenn  sie  in  Körpern  existiert,  in  die 
sie  eindringt,  dann  muß  dadurch  eine  Dimension  in  die  andere 
eingedrungen  sein.  Wenn  nun  die  weiße  Farbe  ein  wirklicher 
Körper  ist,  der  für  sich  existiert, ^)  dann  kommen  wir  zum  ersten 
Falle  zurück,  daß  nämlich  dasjenige  Wirkliche,  das  die  weiße 
Farbe  darstellt,  ein  Körper  ist,  und  dieser  besitzt  die  „Eigen- 
schaft" der  weißen  Farbe.  Dann  also  existiert  die  weiße  Farbe 
in  jenem  Körper  (wie  in  einem  Subjekte).  Jedoch  kann  sie  sich 
nicht  von  ihm  trennen,^)  noch  besteht  das  Weiße  aus  der  Summe 
jenes  Körpers  und  der  Qualität.  Es  ist  vielmehr  ein  reales 
Ding,  das  jenem  Körper  inhäriert.  Denn  die  Definition  der 
weißen  Farbe  und  ihre  Wesenheit  ist  nicht  das  Wesen  des 
langen,  breiten  und  tiefen  (d.  h.  des  dreidimensionalen)  Körpers.') 
Das  Wesen  des  Langen,  Breiten  und  Tiefen  verhält  sich  viel- 
mehr zur  Qualität  des  süßen  Geschmackes,  wie  es  diese  Ansicht 
besagt  (d.  h.  ebenso).^)  Dann  also  ist  die  weiße  Farbe  ver- 
banden mit  diesem  Dinge  und  verhält  sich  zu  ihm  wie  seine 
„Eigenschaft"  (ist  also  Akzidens). 

Dieses  ist  die  Bedeutung  unseres  Ausspruches:  die  Eigen- 
schaft ist  in  dem  Subjekte  der  Eigenschaft  und  trotzdem  (sie 
inhäriert),  kann  sie  sich  nicht  von  diesem  Subjekte  (als  selbst- 
ständige Substanz)  trennen.  Auch  ist  sie  kein  Teil*)  jenes 
Dinges,  das  lang  und  breit  und  tief  ist  (also  des  Körpers). 
Daher  ist  also  die  weiße  Farbe  und  die  Hitze  ein  Akzidens; 
jedoch  sind  sie  notwendig  anhaftende«)  Akzidenzien.  Daher  ist 
weiterhin  die  Diskussion  noch  über  die  Lehre  zu  führen,  daß  es 


•)  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  der  sich  unterscheidet  von  anderen". 
*)  In  diesem  Körper  ist  sie  nicht  Akzidens,  sondern  Wesenheit. 
*)  Das  Wesen  der  Farhe  besagt  nichts  Körperliches. 
*)  Beide,  Geschmack  und  Farbe,  wie  auch  die  übrigen  Quaütäten,  sind 
Inhärenzien,  also  keine  Substanzen. 

^)  Auf  sie  paßt  also  die  Definition  des  Akzidens ;  s.  Arist.,  Kat.  1  a  24. 
•)  Cod.  c  GL:  „d.h.  sie  sind  von  dem  Substrate  nicht  trennbar". 

14* 


Digitized  by 


Google 


2iä 

zu  der  Natur  des  Akzidens  0  gehöre,  vön  dem  Subjekte  trenn- 
bar zu  sein. 

Dadurch  ist  also  klar,  daß  die  Qualitäten,  die  sinnlich 
wahrnehmbar  sind,  Akzidenzien  darstellen.  Dieses  ist  für  die 
Naturwissenschaften  ein  vorausgesetztes  Prinzip.*)  Was  nun 
die  Dispositionen  (des  aufnehmenden  Subjektes  inbezug  auf  die 
Eigenschaft)  5)  anbetrifft,  so  ist  ihre  Natur  einleuchtender  (als 
die  der  Qualitäten.  Sie  sind  in  noch  höherem  Maße  als  diese 
Akzidenzien).  Diejenigen  Akzidenzien,  die  der  Seele  und  den 
Lebewesen  anhaften,  sind  in  den  Naturwissenschaften*)  als 
wirkliche  Akzidenzien  nachgewiesen  worden,  die  in  den 
Körpern  (wie  in  dem  subjectum  inhaesionis)  existieren.  Wir 
setzten  dieses  auseinander,  als  wir  von  den  Zuständen  der 
Seele  sprachen. 


Achtes  Kapitel 

Die  Wissenschaft  und  ihre  Natur  als  Akzidens. 

Betreffs  der  Wissenschaft  bleibt  ein  Zweifel  bestehen. 
Dieser  liegt  in  folgendem:  jemand  könnte  behaupten,  die  Wissen- 
schaften sind  die  Wesensformen  der  realen  Dinge,  die  man  in 


>)  Das  Akzidens  kann  sich  nicht  als  Substanz  von  seinem  Subjekte 
trennen.  Dies  wurde  von  den  Qualitäten  bewiesen.  Es  fragt  sich  nun  nodi, 
ob  es  sich  als  Akzidens  trennen  lasse,  um  in  einem  anderen  Subjekte 
Akzidens  zu  werden.  Die  christliche  Theologie  des  Mittelalters  war  durch 
das  Dogma  der  Transsubstantiation  gezwungen  ähnliche  Lehren  über  die 
Natur  der  Akzidenzien  aufzusteUen :  Thomas  Sum.  theol.  m  77, 1  ad  2.  Non 
est  definitio  substantiae:  „ens  per  se  sine  subiecto";  nee  definitio  accidentis: 
„ens  in  subiecto",  sed  quidditati  seu  essentiae  substantiae  competit  habere 
esse  non  in'subiecto;  quidditati  autem  sive  essentiae  accidentis  competit 
habere  esse  in  subiecto.  In  hoc  autem  sacramento  (eucharistiae)  non  datur 
accidentibus,  quod  ex  vi  suae  essentiae  non  sint  in  subiecto,  sed  ex  divina 
yirtute  substante;  et  ideo  non  desinunt  esse  acddentia,  quia  nee  separatnr  ab 
eis  definitio  accidentis,  nee  competit  eis  definitio  substantiae  und  ib.  c 

*)  Für  den  Metaphysiker  wird  dasselbe  also  zum  Probleme.  Er  muß 
es  für  den  Naturwissenschaftler  beweisen.  Letzterer  nimmt  es  Ton  dem 
Metaphysiker  als  bewiesen  an. 

»)  Logik  n.  Teil,  V  8—5. 

*)  Naturw.  VI.  Teil,  1 4  und  5. 


Digitized  by 


Googl( 


218 

den  Oeist  aufnimmt,  so  daß  sie  frei  sind  von  der  zugehörigen 
Materie.  Diese  psychischen  Inhalte  sind  die  Wesensformen  von 
Substanzen  und  Akzidenzien.  Wenn  nun  die  Erkenntnisformen 
der  Akzidenzien  „Akzidenzien"  sind,  wie  können  da  die  Er- 
kenntnisformen der  Substanzen  auch  Akzidenzien  sein?  Die 
Substanz  ist  doch  für  sich  selbst  Substanz!  Die  Wesenheit 
eines  Dinges,  die  eine  Substanz  ist,  kann  überhaupt  in  keinem 
Substrate  existieren,  indem  zugleich  ihre  Wesenheit  erhalten 
bliebe.')  Dies  gilt  von  ihr,  sei  es  nun,  daß  sie  in  Beziehung 
tritt  zu  dem  Erkennen  des  Geistes,  oder  zu  der  Existenz  in  der 
Außenwelt.  Darauf  erwidern  wir:  Die  Wesenheit  der  Substanz 
ist  eine  Substanz  in  dem  Sinne,  daß  sie  das  Wirkliche  ist,  das 
in  den  realen  Individuen  existiert,  ohne  in  einem  Substrate 
zu  sein.  Diese  Eigenschaft  kommt  auch  der  Wesenheit  der  be- 
grifflich gefaßten  Substanzen  zu;  denn  diese  sind  eine  Wesenheit^ 
die  ihrer  Natur  entsprechend  in  den  Individuen  existieren  muß, 
ohne  in  einem  Substrate  zu  sein;  d.  L  diese  Wesenheit  ist  ein 
Begriff,  der  hergenommen  ist  von  einem  Dinge,  das  in  den  In- 
dividuen der  Außenwelt  existiert,  ohne  in  einem  Substrate  zu 
sein.  Das  nun  dieses  Ding  (als  Begriff)  im  Verstände  in  der- 
selben Weise  (als  Substanz)  existiere,  liegt  nicht  in  seiner  De- 
finition, insofern  es  Substanz  ist,  d.  h.  die  Definition  der  Substanz 
b^agt  nicht,  daß  sie  auch  im  Geiste  „nicht  in  einem  Sub- 
strate" existiert  Die  Definition  der  Substanz  besagt  vielmehr, 
daß  sie,  sei  es  nun  als  begrifflich  gefaßte  oder  nicht  als  solche, 
eine  Existenz  in  den  Individuen  der  Außenwelt  hat,  ohne  in 
einem  Substrate  zu  sein.  Wenn  man  nun  dagegen  erwidert: 
„auch  der  Geist  selbst  gehört  zu  den  Individuen  der  Außen- 
welt",*) so  antwortet  man:  mit  dem  Begriffe  „Individuum"  be- 
zeichnet man  ein  Ding,  von  dem,  wenn  in  ihm  Substanzialität 
wirklich  (aktuell)  geworden  ist,  die  entsprechenden  Handlungen 
und  Verhältnisse  hervorgehen.^)  Die  Bewegung  verhält  sich 
ebenso.  Ihr  Wesen  besagt,  daß  sie  eine  Vollendung  (eine  Aktuali- 
tät) dessen  ist,  was  in  der  Möglichkeit  (zur  Bewegung)  besteht 


^)  Sie  mü£te  die  Natur  des  Akzidens  annehmen,  sobald  sie  in  einem 
Substrate  inbäriert. 

')  Daher  müßte  auch  in  dem  Geiste  die  Substanz  so  existieren,  wie  in 
den  Indiyidaen  der  Außenwelt,  d.  h.  als  Substanz  —  eine  contradictio  in  adiecto. 

*)  Die  Substanz  ist  also  hier  als  erstes  Prinzip  des  Handelns  und 
Wirkens  auffaßt.    Die  Scholastik  bezeichnete  dieses  als  suppositum. 


Digitized  by 


Google 


214 

Im  Geiste  (der  das  Wesen  der  Bewegung  erkennt)  befindet  sich 
aber  keine  Bewegung,  auf  die  man  diese  Bestimmung  anwenden 
könnte.  Dann  entstände  im  Verstände  die  Vollendung  dessen,  was 
in  der  Möglichkeit  ist »)  in  bestimmter  Hinsicht,  und  die  Wesenheit 
der  Bewegung  würde  den  Verstand  in  Bewegung*)  setzen;  (das 
Erkennen  der  Bewegung  erfordert  aber  nicht,  daß  die  reale 
Bewegung  im  Verstände  aktuell  werde);  denn  der  Begriff,  daß 
ihre  W^esenheit  mit  dieser  Form  ausgestattet  sei,  besagt,  daß 
sie  eine  Wesenheit  ist,  die  in  den  realen  Individuen  (also 
nicht  in  ordine  logico)  eine  Vollendung  dessen  bedeutet,  was  in 
der  Möglichkeit  ist.  Wenn  du  nun  geistig  tätig  bist,  dann  wird 
diese  Wesenheit  (die  der  Bewegung)  mit  dieser  Eigenschaft  (des 
esse  spirituale)  ausgestattet.  Dann  ist  also  die  Bewegung  im 
Verstände  eine  reale  Wesenheit,  die  in  den  realen  Individuen 
als  Aktualität  dessen  existiert,  was  in  der  Möglichkeit  ist.  Der 
Umstand  also,  daß  sie  in  den  realen  Individuen  existiert,  und 
der  Umstand,  daß  sie  im  Geiste  inhäriert,  ist  ein  und  dasselbe 
(inbezug  auf  den  Inhalt,  das  Wesen);  denn  in  beiden  Lagen 
verhält  sie  sich  in  gleicher  Weise.  In  beiden  Seinsweisen  ist 
sie  nämlich  eine  Wesenheit^  die  in  den  realen  Individuen  als 
Aktualität  dessen  vorhanden  ist,  was  in  der  Möglichkeit  war. 
Hätten  wir  gesagt:  die  Bewegung  ist  eine  Wesenheit,  die  die 
Vollendung  dessen  darstellt,  was  in  der  Möglichkeit  war  — 
z.  B.  inbezug  auf  das  „ubi"  gilt  dies  (Aktuellsein)  von  jedem 
Dinge,  das  sich  in  dem  ubi  befindet  Darauf  aber  wird  dieser 
Inhalt  in  der  Seele  nicht  in  derselben  Weise  wirklich,  —  dann 
wäre  die  Wesenheit  (in  der  Außenwelt)  verschieden  (von  der 
im  Geiste). 

Dieses  verhält  sich  ebenso  wie  der  Einwand :  das  eigentliche 
Wesen  des  Magneten  bestehe  darin,  daß  er  ein  Stein  ist,  der 
das  Eisen  anzieht.  Es  tritt  nun  der  Fall  ein,  daß  er  verbunden 
ist  mit  der  körperlichen  Natur  der  menschlichen  Hand,  ohne 
daß  er  diese  anzieht  und  femer:  daß  er  verbunden  ist  mit  der 
körperlichen  Natur  des  Eisens  und  dann  dieses  anzieht  Auf 
Grund  davon  kann  man  aber  nicht  behaupten,  der  Magnet 
besitze  ein  verschiedenes  Wesen,  wenn  er  mit  der  Hand  des 


*)  Vgl.  Arist,  Phys.  201  all:  7  xov  SvvofJLSi  ovrog  ivttJJx^ia,  y  tot- 
o€tov,  xivrioiq  iotiv. 

*)  Ck)d.  c  Gl. :  „d.  h.  die  Bewegung  würde  (wenn  sie  erkannt  wird)  den 
Verstand  mit  dieser  Eigenschaft  ausstatten ''. 


Digitized  by 


Googl( 


215 

Menschen,  nnd  wenn  er  mit  dem  Eisen  verbunden  ist  In  beiden 
Lagen  ist  er  vielmehr  mit  einer  und  derselben  Eigenschaft  aus- 
gestattet, nämlich  der,  daß  er  ein  Stein  ist,  der  seiner  Natur 
entsprechend,  das  Eisen  anzieht.  Befindet  er  sich  nun  in  der 
Hand,  so  ist  er  mit  dieser  Eigenschaft  ausgestattet.  Tritt  er 
in  Verbindung  mit  dem  Eisen,  so  besitzt  er  dieselbe  Eigenschaft. 
Ebenso  verhalten  sich  die  Wesenheiten  der  Dinge  im  Verstände. 
Die  Bewegung,  die  im  Verstände  (als  erkannte)  wirklich  ist, 
hat  dieselbe  Eigenschaft  (und  Wesensbestimmung  die  ihr  auch 
in  der  Außenwelt  zukommt  d.  h.  daß  sie  die  Aktualität  dessen 
ist^  was  in  potentia  war).  Sind  die  Wesenheiten  (der  Substanzen) 
im  Verstände,  dann  sind  sie  also  nicht  in  einem  Substrate  (in 
dem  Sinne,  daß  sie  inhaltlich  nicht  mehr  Substanzen  wären. 
Psychisch  sind  sind  immerhin  Akzidenzien). 

Es  ist  als  unrichtig  enviesen,  daß  die  Wesenheit  dessen, 
was  in  den  Individuen  nicht  in  einem  Substrate  existiert  (also 
der  Substanz),  nicht  im  Verstände  praesent  sei.  Man  könnte 
einwenden:  eure  Lehre  ist,  die  Substanz  sei  dasjenige,  dessen 
Wesenheit  überhaupt  nicht  in  einem  Substrate  sei.  Das  Wesen 
der  wissenschaftlichen  Begriffe  habt  ihr  hingegen  als  in  einem 
Substrate  bestehend  bezeichnet.  (Dies  kann  also  nicht  „Sub- 
stanz" sein).  Darauf  antworten  wir:  wir  lelirten  früher,  die 
Erkenntnisse  befänden  sich  in  der  Welt  der  Individuen 
nicht  in  einem  Substrate.  Wenn  man  nun  einwendet:  dadurch 
(daß  ihr  die  Erkenntnisse  als  Akzidenzien  bezeichnet)  be- 
hauptet ihr  zugleich,  das  Wesen  der  Substanz  sei  manchmal 
Akzidens  und  manchmal  Substanz,  wälirend  ihr  zugleich  lehrt, 
daß  dieses  auszuschließen  sei.  Darauf  antworten  wir:  unsere 
Lehre  war,  das  Wesen  eines  und  desselben  Dinges  könne  nicht 
in  den  realen  Individuen  manchmal  Akzidens  und  manchmal 
Substanz  sein,  so  daß  es  „in  den  Individuen"  manchmal  (als 
Akzidens)  eines  Substrates  bedürfte  und  manchmal  nicht.  Wir 
leugneten  aber  nicht,  daß  der  Begriff  dieser  Wesenheit  ein 
Akzidens  werde,  d.  h.  daß  diese  Wesenheit  in  der  Seele  vor- 
handen sei,  und  zwar  nicht  als  Teil  (der  Seele,  d.  h.  als  Akzidens). 

Dagegen  könnte  man  einwenden:  folglich  ist  das  Wesen 
des  aktiven  Intellektes  und  der  getrennten  (nnkörperlichen) 
Substanzen  in  denselben  Verhältnissen,  so  daß  dasjenige,  was 
in  ihnen  von  den  Weltdingen  begrifflich  gefaßt  wird,  ein  Akzidens 
ist;  jedoch  ist  das  in  ihnen  begrifflich  Gefaßte  nicht  von  ihrem 


Digitized  by 


Googk 


216 

Wesen  verschieden.  Denn  sie  sind  per  se  begrifflich  gedacht 
(und  das,  was  sie  denken,  wird  identisch  mit  ihrer  Substanz). 
Darauf  erwidern  wir:  die  Sache  verhält  sich  nicht  so;  denn  die 
Bedeutung  des  Ausdruckes:  die  reinen  Geister  seien  per  se  be- 
grifflich gedacht,  bedeutet,  daß  sie  sich  selbst  erkennen,  auch 
dann,  wenn  kein  anderer  sie  erkennt^  Femer  bedeutet  er, 
daß  sie  von  der  Materie  und  von  den  Begleiterscheinungen  der- 
selben auf  Grund  ihres  Wesens  frei  süid,  nicht  etwa  nach 
Art  derjenigen  Abstraktion,  die  der  Verstand  ausfuhren  muß 
(um  ein  materielles  Objekt  zu  erkennen).  Wir  sagen  nun: 
„dieser  Begriff,  den  die  reinen  Geister  von  den  Weltdingen 
bilden,  ist  in  jeder  Beziehung  ihnen  identisch  oder  ähnlidi", 
oder  wir  sagen:  „damit  der  Begriff  von  den  Weltdingen  real 
existiere,^)  ist  nur  erforderlich,  daß  das  Wesen  der  Dinge  in  der 
Seele  (der  himmlischen  Substanzen)  wirklich  seL^)"  Damit  aber 
sind  wir  in  der  Diskussion  zurückgeblieben.  Der  Grund  dafür 
ist  der,  daß  ihr  Wesen  (das  der  Geister)  von  der  Materie  getrennt 
ist  Sie  selbst  werden  nicht  zu  einer  Form  (Begriff,  Erkenntnis- 
form) für  die  Seele  des  Menschen.^)  Wäre  dies  der  Fall,  dann 
müßte  in  jener  Seele  die  Wesensform  des  (ganzen)  Weltalls*) 
aktuell  sein,  und  damit  hätte  sie  jedes  Ding  aktuell  erkannt 
Dann  wäre  sie  femer  in  nur  einer  einzigen  Seele  in  dieser 
Weise  präsent  Die  übrigen  Seelen  besäßen  also  nicht  aktuell 
das  Ding  (als  Erkenntnisform)  das  sie  denken;*)  also  eine  be- 
stimmte Seele  beschäftigte  sich  allein  mit  diesen  Erkenntnissen. 


>)  Ist  das  Objekt  dem  Creiste  präsent,  so  wird  es  notwendig  erkannt. 
Das  eigene  Wesen  ist  aber  den  Geistern  immer  präsent  Folglich  erkennen 
sie  sich  immer. 

*)  Nach  Ck>dd.  b,  c:  „es  ist  nicht  erforderiich,  dafi  der  Begriff  der  Welt- 
dinge als  Substanz  real  existiere.  Es  ist  nur  notwendig,  dafi  das  Wesen  der 
Dinge  in  der  Seele  vorhanden  seL 

*)  Da  das  Denken  nnd  die  Fähigkeit  des  Denkens  in  den  reinen  Oeistem 
nicht  Akzidens,  sondern  Substanz  ist,  so  hat  der  Begriff  in  ihnen  dieselbe 
Realität  wie  die  Substanz  selbst. 

*)  Ihr  Erkennen  ist  wesentlich  verschieden  von  dem  der  Mensdien. 
Über  das  letztere  aber  woUte  Avicenna  nur  handeln.  Daher  bildet  das 
Vorausgehende  eine  Abschweifung. 

^)  Jeder  himmlische  Geist  denkt  das  ganze  WeltaU.  Erkennt  also  der 
Mensch  einen  Geist,  dann  erschaut  er  in  ihm  aUe  Dinge. 

')  Der  aktive  Intellekt  könnte  sich  mit  nur  einer  einzigen  mensch- 
lichen Seele  in  der  Weise  vereinigen,  dafi  er  zur  Erkenntnisform  dieser  Seele 
würde.    Nur  diese  einzige  Seele  könnt«  dann  Erkenntnisse  besitzen.    Anders 


Digitized  by 


Googl( 


217 

Wenn  man  sagt,  ein  numerisch  einziges  Ding  wird  in  ver- 
schiedenen Materien  „Wesensform"  und  zwar  nicht  dadurch,  daß 
es  auf  diese  Materien  wirkt,  sondern  so,  daß  es,  wie  es  ist,  so- 
wohl in  diese  Materien  als  auch  in  jene  und  noch  anderen  ein- 
geprägt wird.  9  Dies  jedoch  ist  unmöglich  2)  und  wird  durch 
die  oberflächlichste  Betrachtung  erkannt.  Wir  haben  bereits 
diese  Beziehung  besprochen  bei  unserer  Diskussion  über  die 
Seele  (Naturw.  VL  Teil,  V  5 — 7)  und  auch  später  ist  es  erforder- 
lich, daß  wir  in  die  Darlegung  dieses  Problemes  eindringen  (Vn  2). 

Jene  Dinge  3)  machen  also  in  den  denkenden  Geistern  der 
Menschen  nur  die  Begriffe  ihrer  Wesenheiten,  nicht  ihr  reales 
Wesen  selbst  aktuell  (und  bewirken  dadurch  die  Denktätigkeit 
des  Menschen).  Sie  verhalten  sich  wie  die  übrigen  Begriffe  von 
den  Substanzen,  abgesehen  von  einem  Momente.  Dies  besteht 
darin,  daß  jene  Begriffe  einer  vielfachen  Abstraktionstätigkeit 
bedürfen,  (wörtlich:  losgeschält  werden  müssen),  so  daß  ein 
Inhalt  (ratio)  von  ihnen  losgelöst  wird,  der  begrifflich  faßbar 
ist  Dieser  jedoch  (das  Erkennen  eines  unkörperlichen  Inhaltes) 
erfordert  nur,  daß  der  Begriff,  so  wie  er  ist,  existiere.^)  Dann 
wird  derselbe  in  die  Seele  eingeprägt  Dies  ist  dasjenige,  von 
dem  wir  sagten,  es  enthalte  die  Widerlegung  des  Beweises  des 
Gegners.  Eine  Begründung  dessen,  was  er  behauptet,  ist  nicht 
darin*)  enthalten. 

Wir  behaupten  also:  diese  Begriffe,  so  werden  wir  später 
noch  auseinanderseteen,  sowohl  die  naturwissenschaftlichen  als 
anch  die  mathematischen  können  nicht  als  abstrakte  durch  sich 
selbst  existieren.  Sie  müssen  vielmehr  in  einer  Seele  oder  einem 
Verstände  inhärieren.   Die  Begriffe  aber,  die  von  unkörperlichen 


verhält  es  sich,  wemi  die  Erkenntnisformen  ans  dem  aktiven  InteUekte 
emanieren. 

^)  Dann  kdnnte  ein  nnd  derselbe  Qeist  sich  gleichzeitig  mit  vielen 
menschlichen  Seelen  vereinigen.  Es  könnten  also  viele  Seelen  zugleich  Er- 
kenntnisse besitzen. 

*)  Das  numerisch  Eine  kann  anm($glich  in  verschiedenen  aufnehmenden 
Substraten  zugleich  vorhanden  sein.  Nur  das  spezifisch  Eine  läfit  dazu  die 
Möglichkeit  offen. 

•)  Cod.  d  GL:  d.  h.  die  getrennten  Substanzen. 

*)  Er  muß  also  als  körperlose  Substanz  real  existieren. 

^  Es  sollte  bewiesen  werden,  dafi  die  Erkenntnisinhalte  der  Geister 
Substanzen  seien. 


Digitized  by 


Google 


218 

Dingen  herstammen,*)  sind  durch  folgendes  bestimmt.  Die  Seins- 
weise jener  unkörperlichen  Substanzen,  die  getrennt  ist  von  der 
menschlichen  Seele,  5)  ist  nicht  identisch  mit  unserem  Wissen 
von  ihnen  (und  von  den  Weltdingen,  deren  Archetypen  jene 
Geister  sind).  Vielmehr  ist  es  erforderlich,  daß  wir  von  ihnen 
eine  Einwirkung  erleiden.  Der  Inhalt  dieser  Einwirkung  ist 
unser  Wissen  von  ihnen.  Ebenso  verhielte  es  sich,  wenn  un- 
körperliche Wesensformen  (der  Natui'dinge)  und  unkörperliche 
mathematische  Substanzen,  existierten.  Unser  Wissen  von  ihnen 
bestände  nur  in  dem,  was  wir  von  ihnen  als  Einwirkung  emp- 
fingen. Sie  selbst  (in  ihrem  eigenen  Sein)  würden  nicht  in  uns 
real  und  in  unsere  Welt  hineinversetzt  werden.  Die  Unrichtig- 
keit einer  solchen  Behauptung  haben  wir  bereits  an  anderen 
Orten  ^)  dargetan.  Dasjenige  vielmehr,  das  von  jener  Welt 
kommend  in  uns  existiert,  sind  konsequenterweise  nur  die  Ein- 
wirkungen, die  jenen  Objekten  gleichen,  imd  (nur)  diese  sind  unser 
Wissen  (von  ihnen).  Dieses  (unser  Wissen)  entstände  nun  dadurch, 
daß  es  in  unserem  Körper  (als  äußerer  Reiz)  oder  in  unseren 
Seelen  wirklich  wird.  Daß  aber  die  Begriffe  nicht  in  unseren 
Körpern  wirklich  werden  können,  haben  wir  bereits  dargetan. 
Dann  bleibt  also  noch  übrig,  daß  sie  in  unseren  Seelen  aktuell 
werden.  (Ein  weiterer  Beweis  dafür  liegt  darin),  daß  die  Be- 
griffe Einwirkungen  (der  Geister  des  Himmels)  auf  unsere  Seele 
sind.  Die  Erkenntnisse  sind  nicht  die  individuellen  Wesenheiten 
jener  Dinge  (der  Geister)  selbst,  noch  auch  nur  Abbilder  jener 
Dinge,  die  selbständig  für  sich  beständen,  nicht  in  einem  körper- 
lichen oder  seelischen  Substrate  (nach  Art  der  platonischen 
Ideen).  Daher  wird  also  dasjenige,  das  nicht  in  einem  Substi*ate 
existiert  (die  geistigen  Substanzen),  in  seiner  Spezies  zu  einer 
Vielheit  (in  den  erkennenden  Seelen)  nicht  auf  Grund  einer  mit 
ihm  verbundenen  Ursache  (d.  h.  nicht  dadurch,  daß  es  in  einem 
materiellen  Prinzipe  aufgenommen  wird  wie  in  den  Weltdingen). 
Daher  sind  also  die  Begriffe  Akzidenzien  der  Seele. 

>)  Damit  sind  alle  metaphysischen  Begriffe  bezeichnet. 
»)  Cod.  d,  c,  b:  „von  uns". 
3)  Logik  V.  Teil,  I. 


Digitized  by 


Google 


219 


Neuntes  Kapitel 

Die  Qualitäten,  die  in  der  Quantität  inhärieren.    Der  Beweie 
für  ihre  Existenz. 

Dieses  Kapitel  gehOrt  in  die  naturwissenschaftlichen  Untersuchungen. 

Noch  eine  einzige  Art  der  Qualitäten  ist  zur  Diskussion 
übriggeblieben,  deren  Existenz  dargetan  und  die  als  Qualität 
erwiesen  werden  muß.  Diese  (im  Titel  genannten)  Qualitäten 
sind  die  in  den  Quantitäten  vorhandenen.  Die  in  der  (diskreten 
Quantität)  der  Zahl  vorhandenen  verhalten  sich  wie  das  Gerade 
und  Ungerade  u.  s.  w.  Die  Existenz  einiger  von  ihnen  ist  bereits 
bekannt.  Die  Existenz  der  übrigen  wurde  in  der  Arithmetik 
(IIL  Summe,  IQ.  Teil  I)  bewiesen. 

Daß  diese  Qualitäten  aber  Akzidenzien  sind,  beruht  darauf, 
daß  sie  abhängig  sind  von  der  Zahl  und  Eigenttimliclikeiten 
derselben  bilden.  Die  Zahl  ist  nun  aber  zur  Quantität  zu 
rechnen.^)  Die  Existenz  derjenigen  Qualitäten  aber,  die  den  Di- 
mensionen 2)  anhaften,  ist  durchaus  nicht  evident.  So  ist  z.  B.  die 
Existenz  des  Kreises  und  der  krummen  Linie,  der  Kugel,  des 
Zylinders  und  des  Kegels  —  kurz  die  keines  einzigen  von  diesen 
einleuchtend.  Der  Mathematiker  kann  nun  aber  nicht  ihre 
Existenz  erweisen; 3)  denn  die  übrigen  Dinge  (d.h.  die  übrigen 
mathematischen  Begriffe)  sind  ihm  nur  dadurch  (in  ihrer  Realität) 
evident,  daß  er  die  Existenz  des  Kreises  voraussetzt;  denn  die 
Existenz  des  Dreiecks  ist  nur  dann  zutreffend,  wenn  der  Kreis 
existiert.  Ebenso  verhält  sich  das  Quadrat  und  die  übrigen 
(planimetrischen)  Figuren.  Die  Kugel  aber  wird  nur  dadurch 
nach  mathematischer  Methode  in  ihrer  Existenz  dargetan,  daß 
man  einen  Kreis  um  seine  Axe  bewegt,  wie  du  es  früher  ge- 
lernt hast. 

Der  Zylinder  kommt  dadurch  zustande,  daß  man  einen 
Kreis  in  einer  solchen  Bewegung  fortbewegt,  daß  sein  Mittel- 

0  Daher  sind  auch  die  Qualitäten  der  Zahl  Akzidenzien,  weil  die  Zahl 
seihst  ein  Akzidens  ist. 

*)  Auf  die  Erwähnung  der  diskontinuierlichen  Quantität  läßt  Avicenna 
die  der  kontinuierlichen  folgen,  weil  betreffs  letzterer  die  in  diesem  Kapitel 
ZQ  lösenden  Schwierigkeiten  bestehen. 

')  Er  nimmt  diese  Inhalte  als  reale  an,  setzt  sie  voraus.  Für  den 
Metaphjsiker  werden  dieselben  zu  Problemen. 


Digitized  by 


Googk 


220 

punkt  eine  gerade  Linie  ergibt,  auf  der  er  fortschreitet,  seine 
ursprüngliche  Eichtung  einhaltend  ^  und  sich  geradlinig  be- 
wegend. Der  Kegel  entsteht,  wenn  man  ein  rechtwinkliges 
Dreieck  auf  einem  der  beiden  Schenkel  des  rechten  Winkels 
bewegt,  indem  man  den  Endpunkt  dieser  Seite  (des  rechten 
AVinkels)  den  Mittelpunkt  des  Kreises  innehalten  und  den  (End- 
punkt des)  zweiten  Schenkels  die  Peripherie  des  Kreises  be- 
schreiben läßt. 

Man  leugnet  sodann,  daß  der  Kreis  real  existiere.*)  Dies 
ist  die  Lehre  aller,  die  der  Ansicht  sind,  daß  die  Körper  ans 
unteilbaren  Teilen  (den  Atomen)  zusammengesetzt  seien  (dann 
kann  in  den  Körpern  kein  Kreis  bestehen,  weil  der  Kreis  eine 
kontinuierliche  Größe  ist,  die  Körper  aber,  die  aus  Atomen  be- 
stehen, diskontinuierlich  sind).  Die  Existenz  des  Kreises  müssen 
wir  demnach  beweisen.  Daß  er  aber  ein  Akzidens  bildet,  ist 
einleuchtend,  weil  der  Kreis  notwendig  abhängig  ist  von  den 
Dimensionen;  und  diese  sind  Akzidenzien. 

Indem  wir  uns  also  auf  den  Standpunkt  derjenigen  steDen, 
die  lehren :  die  Dimensionen  beständen  aus  kleinsten,  unteilbaren 
Teilchen,  behaupten  wir:  es  ist  möglich,  auch  gegen  den  Ver- 
teidiger dieser  Ansicht  die  Existenz  des  Kreises  nachzuweisen 
und  zwar  aus  seinen  eigenen,  ersten  Prinzipien.  Dann  wider- 
legen wir  durch  die  Existenz  des  Kreises,  die  des  Atoms,  das 
jener  annimmt,  und  zwar  auf  folgendem  Wega  Nimmt  man 
einen  Kreis  an,  der  in  sinnlich  wahrnehmbaren  Körpern  be- 
steht, dann  bildet  er,  wie  jene  annehmen,  in  Wirklichkeit  keinen 
Kreis.  Seine  Peripherie  ist  vielmehr  uneben.  Ebenso  verhält 
es  sich,  wenn  man  in  ihm  einen  Teil  annimmt,  der  der  Mittel- 
punkt sein  soll,  selbst  dann,  wenn  dieser  Teil  in  Wirklichkeit 
nicht  das  Zentrum  ist.  Nach  der  Annahme  jener  ist  er  aber 
das  sinnlich  wahrnehmbare  Zentrum,  und  das  als  solches  an- 
genommene Zentrum  ist  das  Ende  einer  geraden  Linie,  die  ans 
kleinsten,  unteilbaren  Teilchen  zusammengesetzt  ist  (der  Radius). 
Dieses  also  existiert  wirklich,  trotzdem  man  Atome  annahm,^) 


>)  Die  aufeinanderfolgenden  „Lagen"  müssen  der  ersten  parallel  sein. 

')  Damit  fällt  auch  die  Bealität  aUer  übrigen  Figuren. 

*)  Nach  den  Annahmen  des  Gegners  ist  also  ein  realer  Kreis  mdg^ch. 
Um  wie  viel  mehr  ist  derselbe  möglich  nach  der  Annahme  der  Philosophen 
von  kontinuierlichen  EOipem. 


Digitized  by 


Googk 


221 

Man  legt  dann  das  andere  Ende  der  Linie  anf  ein  Atom  in  der 
Nähe  der  Peripherie.  Seine  räumliche  Lage  verändert  man 
dann  und  wählt  das  Atom,  welches  in  der  Nähe  des  ersten  auf 
der  Peripherie  liegt,  die  wir  erwähnt  0  haben.  Dann  legen  wir 
ihn  (den  Endpunkt  des  Radius,  der  vordem  auf  dem  'ersten 
Teilchen  gelegen  hatte),  auf  die  Linie,  und  dadurch  kommt  er 
auf  den  Endpunkt  der  geraden  Linie  zu  liegen,  indem  er  die- 
selbe berührt  und  dem  Mittelpunkte  des  Kreises  gegenüber 
steht')  Fällt  nun  (das  andere  Ende  der  Linie)  auf  den  Mittel- 
punkt des  Kreises,  so  ist  damit  das  zu  Beweisende  bewiesen. 
(Die  reale  Linie  ist  der  Radius).  Ist  aber  die  Linie  zu  groß 
oder  zu  klein,  dann  kann  man  sie  um  die  (nötige  Anzahl) 
Atome  verlängern  und  vervollständigen,  so  daß  schließlich  kein 
Atom  mehr  vorhanden  ist,  das  über  die  Linie  hinausgeht;  denn 
sobald  die  Linie  zu  groß  M,  macht  man  sie  kleiner;  sobald  sie 
zu  klein  ist,  macht  man  sie  größer.  Ist  sie  aber  wieder  zu 
klein  geworden  durch  das  Wegnehmen,  und  zu  groß  geworden 
durch  das  Hinzufügen,  dann  ist  die  Linie  notwendigerweise 
teilbar.  Jedoch  hatte  man  angenommen,  sie  sei  unteilbar.^) 
Nimmt  man  nun  an,  man  vollzöge  die  Konstruktion  des  Kreises 
in  dieser  Weise  von  einem  Atome  (der  Peripherie)  zu  dem 
anderen,  so  wird  der  Kreis  vollständig.  Besteht  dann  in  seiner 
Fläche  noch  eine  Unebenheit  infolge  der  Atome  (dann  verfährt 
man  wie  folgt):  können  die  Atome  in  eine  Öffnung  hineingelegt 
werden  (d.  h.  sind  sie  nicht  größer  als  die  Öffnung),  so  drängt 
man  dieselben  in  die  Öffnung  hinein,  damit  alle  zu  tiefen  Stellen 
der  Fläche  durch  dieselben  ausgefüllt  werden.  Trifft  es  sich 
aber,  daß  die  Atome  nicht  in  die  Öffnung  (der  Fläche)  hinein- 
passen, dann  ist  die  Öffnung  kleiner  an  Volumen  als  die  Atome. 
Die  Atome  sind  also  teilbar,  da  dasjenige,  was  die  Öffnung 
ausfüllt,  an  Volumen  kleiner  ist  als  das  Atom.  Was  sich  aber 
so  verhält,  ist  in  sich  selbst  teilbar.  Lassen  aber  (die  über- 
flüssigen Ato^e)  sich  nicht  in  die  Öffnungen  (der  Fläche)  hinein- 
legen, dann  entferne  man  sie  von  der  Oberfläche  der  Ebene, 
da  man  ihrer  nicht  bedarf  (um  die  Fläche  des  Kreises  herzu- 
stellen). 

')  oder:  „die  wir  nns  denken'^.    Sie  ist  noch  nicht  als  real  erwiesen. 
«)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  über  ihm". 

*)  Die  Annahme  besagte,  ein  Kreis  könne  deshalb  nicht  real  sein,  weil 
die  Unebenheiten  sich  nicht  durch  Teilung  beseitigen  ließen. 


Digitized  by 


Googl( 


222 

Dagegen  könnte  jemand  erwidern:  legt  man  einmal  das  Atom 
des  Zentrums  auf  das  der  Peripherie,  dann  kann  keine  Verbin- 
dung weder  durch  Aneinanderliegen,  noch  Gegenüberstehen  mit 
dem  Mittelpunkte  und  benachbarten  Atomen  der  Peripherie  statt- 
finden." Dagegen  erwidern  wir:  willst  du  sagen,  du  habest  alle 
diese  Atome  vernichtet  und  das  Atom  des  Mittelpunktes  und 
das  der  Peripherie  beständen  noch  und  stellst  du  dann  die  Frage, 
ob  zwischen  beiden  eine  gerade  Linie  möglich  sei,  die  mit  dieser 
Linie  (dem  Radius  des  Kreises)  kongruent  wäre?  Geben  sie 
dieses  nicht  zu,  dann  verlassen  sie  etwas  in  sich  Evidentes  und 
stürzen  sich  in  andere  Schwierigkeiten,  nämlich  die,  daß  man 
bestimmte  Punkte  annehmen  kann  (die  sich  zwischen  dem  Mitttel- 
punkte und  dem  Endpunkte  des  Radius  befinden),  durch  die  die 
gerade  Linie  in  dem  leeren  Räume  vollendet  (kontinuierlich) 
wird.  Den  leeren  Raum  nahmen  sie  aber  (zwischen  den  Atomen 
des  Körpers)  an.  Dann  also  besteht  zwischen  zwei  Atomen  im 
leeren  Räume  eine  gerade  Linie.  Zwischen  zwei  anderen  Atomen 
soll  sie  hingegen  nicht  bestehen.  Dieses  aber  ist  eine  Unrichtig- 
keit, mit  der  man  sich  nicht  weiter  abgibt 

Man  könnte  schließlich  in  dieser  Weise  reden,  ohne  daß 
damit  unsere  Thesis  von  der  Realität  des  Kreises  erschüttert 
würde;  denn  wir  „verkaufen  seinen  Verstand  um  einen  geringen 
Preis".  (Wir  achten  ihn  nicht  als  ebenbürtig.)  Es  ist  nämlich 
offenbar  und  denknotwendig,  daß  (wie  wir  sehen)  zwischen  je 
zwei  Atomen  eine  Gegenüberstellung  stattfinden  muß,  die  durch 
den  kleinsten  Körper  (wörtlich:  das  „Volle")  oder  die  kleinste 
Ausdehnung  in  dem  („Vollen")  Körper  ausgefüllt  wird.  Wenn 
jene  Philosophen  nun  die  Lehre  aufstellten,  daß  dieses  (die 
Gegenüberstellung)  zwar  stattfindet,  jedoch  nur  solange,  als  jene 
Atome  des  Körpers  real  existieren,  dann  besteht  also  zwischen 
jenen  Punkten  tatsächlich  nicht  diese  Gegenüberstellung,  noch 
können  (die  Atome)  den  beiden  Endpunkten  (der  Peripherie  und 
dem  Mittelpunkte  des  Kreises)  als  Endpunkte  einer  geraden 
Linie  gegenüberstehen.  Dieses  aber  ist  ebenfalls  zur  Kategorie 
jenes  (des  oben  genannten  Undenkbaren)  zu  rechnen. 

Jene  Atome  würden,  wenn  sie  real  existieren,  den  Begriff 
des  Gegenübertretens  von  zwei  Punkten  anders  gestalten,  als 
wenn  sie  nicht  existieren.  Alle  diese  Behauptungen  sind  un- 
zweifelhaft widerspruchsvoll.  Auch  die  Phantasie,  die  das  Gesetz- 
mäßige angibt  in  den  sinnlich  wahrnehmbaren  Dingen  und  was 


Digitized  by 


Googk 


223 

mit  ihnen  notwendig  in  Verbindung  steht,  wie  du  weißt,  kann 
sich  dieses  nicht  vorstellen.  Denn  die  Atome,  die  selbst  nicht 
wiederum  teilbar  sind,  können  in  Wirklichkeit  keinen  realen  KreLs 
noch  auch  eine  andere  Figur  als  einen  Kreis  herstellen.  Diese 
Voraussetzung  entspricht  vollständig  auch  den  Ansichten  der 
Philosophen,  die  die  Existenz  von  Atomen  annehmen.^  Existiert 
nun,  wie  wir  bewiesen  haben,  der  Kreis  wirklich,  dann  sind 
ebenso  wirklich  die  geometrischen  Figuren.  Dann  ist  femer  die 
Theorie  widerlegt,  daß  die  Körper  aus  Atomen  zusammengesetzt 
seien.  Ein  weiterer  Beweis,  der  dieses  zeigt,  ist  folgender:  jede 
gerade  Linie  kann  in  zwei  gleiche 2)  Teile  geteilt  werden,  und 
ein  Durchmesser  ist  nicht  gleich  der  Seite  eines  Dreiecks  3)  und 
ähnlichen  Linien.  Denn  die  Linie,  die  aus  atomartigen  Teilen 
von  ungerader  Zahl<)  besteht,  ist  nicht  in  zwei  gleiche  Teile 
teilbar.  Jede  Linie  aber,  die  aus  Atomen  zusammengesetzt  ist, 
stimmt  überein  mit  jeder  beliebigen  anderen  Linie.*)  Dieses 
Resultat  ist  aber  entgegengesetzt  dem,  das  unter  der  Voraus- 
setzung der  Existenz  des  Kreises  auseinandergesetzt  wurde.c) 
Ebenso  sind  die  übrigen  Figuren  (ein  Beweis  gegen  die  Lehre 
der  Atome). 

Um  nun  die  Existenz  des  Kreises  nach  der  richtigen  Lehre 
(i  h.  nach  der  Lehre  derjenigen,  die  die  Existenz  der  Atome 
leugnen  und  die  Körper  aus  Materie  und  Form  zusammen- 
setzen) zu  beweisen,  müssen  wir  jetzt  darüber  verhandeln.  Die 
gerade  Linie  und  die  Gegenüberstellung  zweier  Endpunkte  einer 
Linie  entfernen  sich  nicht  zur  Seite  (d.  h.  ergeben  keine  un- 
regelmäßige Figur),  wenn  dieser')  in  (regelmäßige)  Bewegung 
kommt    Trennt  sich  aber  der  Körper  mit  eigener  Bewegung 


')  Um  wie  viel  mehr  entspricht  sie  der  Ansicht  der  aristotelischen 
Schule,  die  kontinuierliche  Körper  voraussetzt. 

«)  Eine  eventueU  ungerade  Zahl  von  Atomen  würde  dies  unmöglich 
machen. 

•)  Dies  wäre  der  FaU,  wenn  die  Linie  aus  Atomen  zusammengesetzt 
wfire ;  s.  unten. 

*)  Cod.  d  GL:  „d.  h.  ihre  Teile  bilden  keine  Paarzahl". 

*)  Der  Atome  müssen  unendlich  viele  angenommen  werden.  Jede  Linie 
kann  also  eine  beliebige,  auch  eine  unendliche  Ausdehnung  annehmen. 

*)  Nimmt  man  die  Existenz  des  Kreises  an,  dann  mnfi  man  auch  die 
der  übrigen  mathematischen  Figuren  zugeben  (s.  Anfang  dieses  Kapitels). 

*)  Es  muß  der  Punkt  gemeint  sein,  der  sich  geradlinig  auf  den  anderen 
Punkt  zubewegt. 


Digitized  by 


Google 


224 

von  dem  Punkte,  dann  wird  sie  unregelmäßig*)  und  ungerade^) 
(wenn  zugleich  eine  unregelmäßige  Bewegung  eintritt).  Diese 
Erkenntnis  kann  keiner  abweisen. 

In  den  Naturwissenschaften  (IL  Teil,  1 1 — 4)  wurde  in  ge- 
wisser Weise  die  Existenz  des  Kreises  bewiesen.  Dieser  Beweis 
bestand  in  folgendem:  es  wurde  klar  gelegt,  daß  in  der  Welt 
der  Himmel  ein  einfacher  Körper  existiere.  Femer  wurde  ge- 
zeigt, daß  jeder  einfache  Körper  eine  ihm  von  Natur  zukommende 
Gestalt  habe.  Sodann  wurde  bewiesen,  daß  seine  natürliche 
Gestalt  diejenige  ist,  die  sich  niemals  in  ihren  Teilen  verändert 
Nun  aber  verhält  sich  keine  der  nicht  kreisförmigen  Figuren 
in  dieser  (immer  konstanten)  Weise.  Dadurch  ist  also  die 
Existenz  der  Kugel  bewiesen.  3)  Der  Ausschnitt  aus  dieser 
Kugel,  der  durch  eine  gerade  Linie  hergestellt  wird,  ist  der 
Kreis.  Dadurch  ist  also  ebenfalls  die  Existenz  des  Kreises  dar- 
getan. Einen  weiteren  Beweis  für  die  gleiche  Thesis  können 
wir  erbringen,  indem  wir  ausführen:  es  ist  einleuchtend,  wenn 
eine  Linie  oder  eine  Fläche  sich  in  einer  gewissen  Lage  be- 
finden, so  ist  es  nicht  unmöglich,  daß  eine  andere  Fläche  oder 
Linie  eine  solche  Lage  annimmt,  daß  sie  die  Linie  an  einem 
der  beiden  Endpunkte  unter  einem  bestimmten  Winkel  trifft 
Femer  ist  es  klar,  daß  wir  diesen  Körper  oder  diese  Linie  aus 
ihrer  Lage  beliebig  entfemen  können,  so  daß  sie  jene  andere 
Linie  berührt  oder  ihre  Lage  einnimmt  Dann  ist  sie  der  anderen 
gegenüber  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung,  indem  sie  die  erste 
Linie  entweder  berührt,  oder  deren  Lage  einnimmt,  oder  ihr 
parallell  ist.«)  Ein  und  derselbe  Körper  kann  in  eine  bestimmte 
Lage  gerückt  werden.  Dann  kann  man  ihn  in  eine  andere  Lage 
bringen,  die  die  erste  unter  einem  rechten  Winkel  schneidet 
Nun  verhalten  sich  diese  beiden  Körper  und  der  erste  in  gleicher 
Weisa^)   Ist  nun  eine  gerade  Linie  eine  Realität,  ohne  daß  eine 


*)  Cod.  c  GL :  „sie  neigt  sich  zur  Seite". 

>)  Ck)d.  c  GL:  „sie  verliert  ihr  Ebenmaß". 

*)  Die  Himmel  müssen  die- Gestalt  der  Engel  haben,  weil  sie  unTer- 
änderlich  sind.  Nor  die  Engelgestalt  ist  nämlich  unveränderlich.  Die  Be- 
wegung der  Himmel  ist  eine  kreisförmige,  weil  nnr  diese  konstant  bleibt  und 
regelmäßig  wiederkehrt. 

*)  Cod.  c  GL:  „Avicenna  disputiert  hier  in  Wahrscheinlichkeitsbeweiflen" 
(topisch). 

*)  Cod.d2:  „die  beiden  Flächen  und  die  eine".  Wörtüch:  „die  Dis- 
kussion über  sie  ist  die  gleiche". 


Digitized  by 


Googk 


225 

kreisförmige  Linie  real  wäre,  so  wäre  das  genannte  Experiment 
unmöglich  aus  folgendem  Grunde:  nehmen  wir  an,  die  Be- 
wegung führe  dazu,  daß  beide  Körper  sich  vollständig  decken, 
und  sie  verlaufe  in  einer  geraden  Linie,  die  sich  a)  in  die 
Länge  fortbewegt,  dann  aber  wiederum  in  ihre  frühere  Lage 
zurückkehrt  in  irgend  einer  Weise,  oder  b)  die  sich  in  die 
Höhe  fortbewegt  und  in  irgend  einer  Weise  zur  ersten  Lage 
zurückkehrt,  oder  c)  die  sich  in  die  Breite  bewegt  von  den 
beiden  Seiten  aus  (d.  h.  nach  rechts  oder  links)  oder  nach  irgend 
einer  anderen  Richtung,  die  man  annimmt,  dann  muß  folgendes 
eintreten:  hält  der  Punkt,  den  man  auf  der  Mitte  der  Fläche 
oder  der  Linie  annahm,  in  seiner  Bewegung  eine  gerade  Linie 
inne,  so  tangiert  er  in  keiner  Weise  jenen  Körper,  sondern  er 
schneidet  ihn  unter  irgend  einem  Winkel.  Jeden  einzelnen 
dieser  möglichen  Fälle  kannst  du  in  Wirklichkeit  ausführen  und 
betrachten.  Dann  muß  zuletzt  eine  Bewegung  sich  so  ereignen, 
wie  wir  erwähnt  haben.  Entweder  muß  der  eine  der  beiden 
Endpunkte  der  Linie,  der  Fläche  oder  des  Körpers  während  der 
Bewegung  seine  ursprüngliche  Lage  behalten,  während  der  andere 
Endpunkt  sich  fortbewegt.  Dann  muß  eine  Kreisbewegung  ent- 
stehen —  oder  beide  Punkte  bewegen  sich  fort,  jedoch  in  der 
Weise,  daß  ein  Punkt  langsamer  und  der  andere  sich  schneller 
bewegt  Dann  beschreiben  beide  Punkte  oder  wenigstens  der 
sich  allein  bewegende  in  jeder  Lage  einen  Kreisbogen.  Hat 
man  nun  den  Kreisbogen  in  der  realen  Existenz  nachgewiesen, 
dann  kann  man  diesen  durch  Vervielfältigung  vervollständigen 
und  zwar  nach  den  richtigen  Grundsätzen.  0 

Wenn  jemand  gegen  dieses  die  Schwierigkeit  betreffs  der 
Trennung 2)  erheben  würde,  so  widerlegt  ihn  die  an  erster  Stelle 
erwähnte  Methode  des  Beweises.  3)  Wir  nehmen  femer  einen 
schweren  Körper  an  und  machen  einen  seiner  beiden  Endpunkte 
schwerer  als  den  anderen;  sodann  stellen  wir  ihn  auf  einer 
ebenen  Fläche  auf,  so  daß  er  diese  mit  dem  leichteren  Ende 
berührt  und  auf  ihr  durch  irgend  welchen  Kunstgriff  senkrecht 
steht    Diese  senkrechte  Lage  ist  etwas  Beständiges  (das  labile 


")  Auf  diese  Weise  wird  also  durch  Konstruktion  die  reale  Existenz  des 
Kreises  bewiesen. 

*)  DerObjizient  könnte  behaupten,  es  entstände  keine  kontinuierliche  Linie. 

*)  Die  Diskontinuität  kann  durch  Einfllgung  von  Atomen  beseitigt 
werden. 

Horten,  Das  Baoh  (]«r  Otneanng  d«r  Seele.  15 


Digitized  by 


Google 


226 

Gleichgewicht),  wenn  man  sie  gleichmäßig  nach  den  Seiten  auf- 
stellt. Neigt  man  ihn  nun  zu  einer  bestimmten  Seite  hin  und 
fällt  die  Stütze  1)  weg,  so  daß  der  Körper  hinfällt,  so  entsteht 
notwendigerweise  eine  kreisförmige  Bewegung  oder  eine  un- 
gerade Linie.  Die  Art  und  Weise,  wie  diese  entsteht,  ist 
folgende:  wir  nehmen  am  Ende,  das  die  Fläche  berührt,  einen 
Punkt  an.  Dieser  berührt  ebenfalls  einen  Punkt  auf  der 
Fläche.  Dann  muß  entweder  dieser  Punkt  an  seiner  Stelle  (ak 
Zentrum  des  zu  beschreibenden  Kreises)  verbleiben,  und  jeder 
andere  Punkt,  den  wir  an  dem  anderen  Ende  dieses  Körpers 
annehmen  (beim  Umfallen  desselben)  einen  Kreis  beschreiben. 
Oder  im  anderen  Falle  bewegt  sich  zugleich  mit  der  Bewegung 
dieses  Endpunktes  nach  unten  der  andere  Punkt  nach  oben. 
Dann  muß  jeder  einzelne  dieser  beiden  Endpunkte  einen  Kreis 
beschreiben.  Der  Mittelpunkt  dieses  Kreises  ist  der  fest  be- 
stimmte Punkt  zwischen  dem  aufsteigenden  und  dem  nieder- 
fallenden Teile  des  Körpers.  Ein  dritter  Fall  ist  der,  daß  der 
Punkt  sich  in  einer  geraden  Linie  in  der  Richtung  der  Länge 
der  Fläche  bewegt.  Zu  gleicher  Zeit  beschreibt  dann  der  andere 
Punkt  Kreisausschnitte  oder  eine  ungerade  Linie;  denn  neigt 
sich  ein  Punkt  zu  den  Mittelpunkten  von  den  Kreisen  in  seiner 
Bewegung  hin,  so  findet  dieses  statt,  indem  er  dem  Mittel- 
punkte gegenübertritt. 2)  Dann  aber  ist  es  unmöglich,  daß  sich 
der  Punkt  auf  der  Fläche  geradlinig  fortbewege:  denn  diese 
Bewegung  entsteht  entweder  durch  äußeren  Zwang  oder  durch 
inneren  Naturdrang.  Sie  entsteht  in  diesem  Falle  nun  nicht 
durch  inneren  Naturdrang,  noch  auch  durch  äußeren  Zwang; 
denn  dieser  äußere  Zwang  könnte  nur  erklärt  werden  als 
ausgehend  von  den  Teilen,  die  ein  größeres  Gewicht  haben. 
Diese  Teile  aber  bewegen  den  Punkt  nicht  zu  jener  bestimmten 
Richtung  hin.  Sie  verdrängen  ihn  vielmehr,  wenn  sie  ihn  über- 
haupt verdrängen,  so  daß  das  Kontinum  erhalten  bleibt,  in 
einer  entgegengesetzten  Bewegung  als  die  der  verdrängenden 
Teile  und  ihrer  Schwere.  Es  ist  möglich,  daß  Teile  verdrängt 
werden.    Dies  tritt  z.  B.  dadurch  ein,  daß  der  höhere  Teil,  wenn 


*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  die  Säule,  die  das  Hinneigen  zu  den  Seiten  ver- 
hinderte". 

')  Der  Punkt  bleibt  immer  um  die  Lftnge  des  Radius  von  dem  Zentrum 
entfernt.   Dem  Philosophen  schwebt  also  ein  Punkt  der  Peripherie  vor  Augen. 


Digitized  by 


Googl( 


227 

er  zugleich  schwerer  ist,  eine  Bewegung  erstrebt,  die  sich 
schneller  vollzieht,  und  der  in  der  Mitte  sich  befindende  Teil 
eine  Bewegung,  die  langsamer  vor  sich  geht.  Es  besteht  ein 
Kontinum  (der  Körper,  an  dem  die  Punkte  angenommen  werden), 
das  nicht  zusammengelegt  werden  kann.  Der  obere  Teil  muß 
sodann  den  niedrigeren  mit  sich  fortreißen,  9  indem  er  (der 
Schwerere)  herabstürzt.  Der  Körper  wird  dadurch  in  zwei  Teile 
zerlegt,  indem  ein  Teil  sich  auf  Grund  äußeren  Zwanges  nach 
oben  bewegt  und  der  andere  aus  Naturdrang  nach  unten. 
Zwischen  beiden  entsteht  eine  Grenze,  und  diese  ist  der  Mittel- 
punkt des  Kreises  für  die  beiden  Bewegungen.  An  dem 
Körper  hebt  sich  dann  eine  gerade  Linie  ab,*)  die  einen  Kreis 
beschreibt. 

Dadurch  ist  klar:  wenn  ein  Körper  sich  von  oben  nach 
unten  bewegt  und  deshalb  zur  notwendigen  Folge  hat,  daß  ein 
anderer  seinen  Ort  verläßt,  so  bewegt  dieser  sich  nach  oben. 
Verläßt  er  (der  untere  Teil  des  umstürzenden  Körpers)  aber 
nicht  seinen  Ort,  so  ist  die  Existenz  eines  Kreises  noch  deut- 
licher. Wenn  nun  die  Existenz  des  Kreises  nachgewiesen  wurde, 
so  steht  ebensosehr  die  einer  ungeraden  Linie  fest;  denn  wenn 
man  die  Existenz  eines  Kreises  nachgewiesen  hat,  dann  ist 
damit  zugleich  die  der  Dreiecke  und  auch  das  rechtwinklige 
Dreieck  dargetan.  Dann  aber  steht  es  zugleich  fest,  daß  eine 
der  beiden  Seiten  des  rechtwinkligen  Dreiecks  einen  Kreis  be- 
schreiben kann  auf  der  Basis  des  Winkels.  3)  Dadurch  ist  der 
Kegel  gegeben.  Durchschneidet  man  sodann  einen  Kegel  durch 
eine  zur  Grundfläche  schräge  Fläche,  so  entstehen  Kegelschnitte, 
und  damit  zugleich  eine  reale,  ungerade  Linie. 


*)  Dessen  in  entgegengesetzter  Richtung  erfolgende  Bewegung  ist  also 
eine  „erzwungene". 

*)  Durch  das  Hervortreten  des  Mittelpunktes  ist  auch  der  Durchmesser 
des  Kreises  gegeben. 

•)  Die  Spitze  des  rechten  Winkels  bildet  das  Zentrum  des  Kreises. 
Die  Bealität  aUer  mathematischen  Figuren  ist  damit  dargetan.  Dieser  Be- 
weis ist  eine  Aufgabe  des  Metaphysikers,  weil  sein  Objekt  das  Sein  als 
solches  ist.  Das  Dasein  hat  er  also  von  den  Objekten  der  Einzel  Wissen- 
schaften nachzuweisen. 


15* 


Digitized  by 


Google 


228 


Zehntes  Kapitel. 

Die  Relation. 

Die  Diskussion  und  die  Erläuterung  über  die  Relation  hat 
klarzulegen,  wie  man  das  Wesen  und  die  Definition  des  Re- 
lativums  und  der  Relation  als  in  Wirklichkeit  existierend  be- 
weisen muß-O  Die  Auseinandersetzung,  die  wir  in  der  Logik 
(11.  Teil,  IV  3 — 5)  vorausgeschickt  haben,  ist  hinreichend  für 
denjenigen,  der  sie  verstanden  hat  Nimmt  man  aber  für  die 
Relation  eine  reale  Existenz  an,  so  ist  sie  ein  Akzidens.  Darüber 
kann  kein  Zweifel  herrschen;  denn  die  Relation  ist  ein  Ding, 
das  in  sich  selbst  und  durch  sich  selbst  (wie  eine  Substanz) 
nicht  begrifflich  gefaßt  werden  kann.  Es  kann  immer  nur  ge- 
dacht werden  als  einem  bestimmten  Dinge  inhärierend  und  auf 
ein  anderes  hinweisend  (ad  aliquid,  jtgog  zi).  Denn  es  kann 
keine  Relation  existieren,  es  sei  denn,  daß  sie  ein  Akzidenz 
darstelle.  In  erster  Linie  haftet  sie  der  Substanz  an,  wie  z.  B. 
dem  Vater  und  dem  Sohne,  oder  der  Quantität  Eine  Art  der 
Relation  ist  in  den  beiden  Termini  verschieden,  eine  andere 
stimmt  in  ihnen  überein.  Verschieden  ist  z.  B.  das  Doppelte  und 
die  Hälfte;  übereinstimmend  ist  z.B.  das  Gleichgroße  zum  Gleich- 
großen, das  Parallele  zum  Parallelen,  das  Kongruente  zum  Kon- 
gruenten, das  Anliegende  zum  Anliegenden. 

Die  Relation  mit  verschiedenen  Termini  ist  entweder  eine 
solche,  deren  Verschiedenheit  bestimmt  definiert  und  real  ist^ 
wie  z.B.  die  Hälfte  und  das  Doppelte;  oder  sie  ist  nicht  als 


*)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1056  b  35:  Siygrixai  f^fiTv  iv  aXXotg  Sti  6ix^ 
}J:yexai,  ta  ngoq  ti,  t«  fxhv  (ig  ivavtla  ta  d"  wg  hiiavfifiri  itQog  iTnatJ^tov,  np 
?Jysad^ai  xi  aXXo  ngbg  avzo,  Thomas  entscheidet  folgendermafien  die  Frage 
nach  der  Realität  der  Relationen.  Sum.  theol.  I  28, 1  c:  Solum  in  his  quae 
dicnntnr  ad  aliquid,  inveniuntur  aliqna  secundom  rationem  tantnm,  et  non 
secundum  rem,  non  antem  in  aliis  generibns,  qoia  aUa  genera  nt  qaantitas 
et  qnalitas,  secundum  propriam  rationem  significant  aliquid  aUcui  inhaerens. 
Ea  vero,  quae  dicuntur  ad  aliquid,  significant  secundum  propriam  rationem 
solum  respectum  ad  aliud.  Qui  quidem  respectus  aliquando  est  in  ipsa  natura 
rerum,  utpote  quando  aliqua  res  secundum  suam  naturam  ad  invicem  ordinata 
sunt  et  invicem  inclinationem  habent;  et  huiusmodi  relationes  oportet  esse 
reales  . . .  Aliquando  vero  respectus  significatus  per  ea  quae  dicuntur  ad  ali- 
quid, est  tan  tum  in  ipsa  apprehensione  rationis  conferentis  unum  alteri;  et 
tunc  est  relatio  rationis  tantum;  sicut  cum  comparat  ratio  hominem  animali 
ut  speciem  ad  genus. 


Digitized  by 


Googl( 


229 

reales  Wesen  bestimmbar  (sondem  unbestimmt),  jedoch  dient  ihr 
als  Fundament  eine  bestimmbare  Verschiedenheit,  wie  z.  B.  das 
Viele  und  die  Arten  des  Doppelten,  das  Ganze  und  der  Teil, 
oder  die  Relation  Ist  in  keiner  Weise  real  bestimmbar,  wie  z.  B. 
das  Zugroße  und  Zukleine,  der  Teil  und  die  Summe.  Ebenso 
verhält  es  sich,  wenn  eine  Relation  sich  in  einer  anderen  be- 
findet (so  daß  eine  doppelte  Relation  entsteht),  wie  z.  B.  das 
Mehr  und  das  Weniger;  denn  das  Mehr  ist  nur  ein  solches  in 
Beziehung  zu  dem  Zuvielen,  und  dieses  ist  nun  seinerseits  in 
Relation  zum  Zuwenig. 

Zu  den  Relationen  gehören  solche,  die  in  den  Bereich  der 
Qualität  fallen.  Diese  sind  das  Übereinstimmende,  wie  z.  B. 
,das  Ähnliche  (Homogene)  und  das  Verschiedene,  z.  B.  das  Schnelle 
und  Langsame  inbezug  auf  die  Bewegung,  das  Schwere  und 
Leichte  inbezug  auf  das  Gewicht,  das  Schrille  und  Dumpfe 
inbezug  auf  die  Töne.  In  dieser  Weise  findet  sich  in  ihnen 
allen  (in  allen  Qualitäten)  vielfach  eine  Relation  vor,  die  in 
einer  anderen  Relation  sich  befindet  (eine  doppele  Relation). 
Eine  Relation  besteht  femer  in  der  Kategorie  des  „Wo",  z.B. 
das  Hohe  und  Niedrige,  in  der  des  quando,  z.  B.  das  Frühere 
und  Spätere  u.  s.  w. 

Die  Relativa  können  fast  restlos  zusammengefaßt  werden 
in  die  Arten  des  Gleichgewichts,*)  das  Zuviel,  das  agere  und 
pati  —  sie  entstehen  aus  der  Potenz  —  und  des  Ähnlichseins. 
Die  Relation  des  Zuviel  tritt  auf  in  der  Quantität,  wie  bekannt, 
oder  in  der  Potenz,  z.  B.  das  Obsiegende,  das  Mächtige,  das 
Hindernde  und  ähnliches.  Die  Relation  des  agere  und  pati  ver- 
hält sich  z.B.  wie  Vater  und  Sohn,  das  Einschneidende  und  das 
Durchschnittene  u.  s.  w.  Die  Relation  der  Ähnlichkeit  zeigt  sich 
z.  B.  wie  die  Wissenschaft  und  das  Gewußte,  die  sinnliclie  Wahr- 
nehmung und  das  sinnlich  Wahrgenommene ;  denn  zwischen  beiden 
besteht  eine  Ähnlichkeit.  Der  Wissensinhalt  gleicht  der  Wesens- 
form  des  Erkannten  und  der  Inhalt  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
gleicht  der  Form  des  sinnlich  Walirgenommenen,  jedoch  in  der 
Weise,  daß  dieser  (der  Sinn)  die  Maßbestimmung  und  die  De- 
finition  des  Objektes   nicht   aufnimmt   und   erfaßt.-)     Die  Re- 

*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  des  Gegenüberstehens"  (Gleichseins). 

*)  Oder:  „Ädoch  enthält  dieses  (diese  Aufzählung  der  Arten)  nicht 
ihre  Bestimmung  und  Definition".  Cod.  d  Gl.:  .,d.  h.  betr.  der  Einteilung  die 
Ayiceuna  vorhin  erwähnte". 


Digitized  by 


Google 


230 

lationen  sind  manchmal  nach  gewisser  Hinsicht  systematisch 
eingeteilt.  Die  beiden  Termini  der  Relation  sind  manchmal  zwei 
Dinge,  die  keines  anderen  Dinges  bedürfen,  das  in  dem  Ter- 
minus der  Relation  enthalten  wäre,^)  so  daß  auf  Grund  dieses 
Dinges  beiden  Termini  die  Relation  zukommt.  So  verhält  sich 
das  Rechte  und  Linke.  In  dem  Rechten  ist  keine  Qualität  ent- 
halten, noch  irgend  ein  Ding,  durch  welches  das  Rechte  als 
rechts  in  Beziehung  träte  zum  Linken.  Dieses  fundamentum 
relationis  ist  vielmehr  nur  das  Rechte  selbst.  Manchmal  jedoch 
ist  noch  ein  anderes  Ding  in  jedem  einzelnen  Terminus  der  Re- 
lation erforderlich,  so  daß  der  eine  durch  dasselbe  auf  den 
anderen  bezogen  wird.  So  verhält  sich  der  Liebende  und  das 
Geliebte.  Im  Liebenden  befindet  sich  eine  Form,  die  auf  Er- 
kenntnis beruht  und  das  Prinzip  der  Relation  darstellt.  Im 
Geliebten  befindet  sich  die  Form  des  Erkannten  und  diese  ist 
der  formelle  Grund,  der  das  Objekt  für  den  Liebenden  zu  einem 
Geliebten  macht. 

In  anderen  (unilateralen)  Relationen  (im  Gegensatz  zu  den 
oben  genannten  bilateralen)  befindet  sich  dieses  Ding  (das  fun- 
damentum relationis)  nur  in  einer  der  beiden  Seiten,  ohne  zu- 
gleich in  dem  anderen  Terminus  zu  sein.  So  verhält  sich  der 
Wissende  und  das  Gewußte.  In  dem  Wissenden  selbst  wird 
eine  Qualität  wirklich,  nämlich  die  Wissenschaft  Durch  diese 
tritt  derselbe  zu  dem  anderen  Terminus  der  Relation  in  Be- 
ziehung. In  dem  Gewußten  aber  wird  kein  anderes  Ding  wirk- 
lich (keine  Qualität  oder  ein  Akzidens),  sondern  dasselbe  wrd 
nur  dadurch  Terminus  der  Relation,  daß  in  dem  anderen  (dem 
Wissenden)  etwas  wirklich  wurde,  nämlich  das  Wissen. 

Es  erübrigt  hier  noch,  inbezug  auf  die  Relation  zu  be- 
stimmen, ob  die  Relation  numerisch  oder  dem  Substrate  nach 
ein  einheitlicher  Begriff  sei,  der  zwischen  zwei  Dingen  existiert 
Diesen  einheitlichen  Wesen  kämen  dann  zwei  verschiedene  Be- 
ziehungen zu,  wie  es  einige,  ja,  sogar  die  meisten  annehmen  — 
oder  ob  jedem  einzelnen  der  beiden  Termini  der  Relationen  eine 
bestimmte  Eigentümlichkeit  in  der  Funktion  seiner  Relation  zu- 
komme. Diesbezüglich  lehren  wir  also:  jeder  einzelne  der  beiden 
Termini   repräsentiert  in  sich  selbst  einen  bestimmten  Begriff 


>)  Es  ist  das  fundamentum  relationis  gemeint,  das  in  der  Relation  z.  6. 
des  Vaters  und  Sohnes  die  generatio  ist. 


Digitized  by 


Googk 


231 

inbezug  auf  den  anderen  Terminus  —  ein  Begriff,  der  ver- 
schieden ist  von  demjenigen,  der  dem  anderen  Terminus  inbezug 
auf  den  ersten  zukommt.  Dieses  Verhältnis  ist  einleuchtend  in 
den  Dingen,  in  denen  die  Termini  der  Relation  verschieden 
sind,  wie  z.  B.  im  Vater.  Seine  Relation  findet  durch  die  Vater- 
schaft (ratio  formalis)  statt.  Diese  ist  eine  Eigenschaft,  die  im 
Vater  allein  existiert  (nicht  im  Sohne).  Jedoch  befindet  sie  sich 
im  Vater  nur  in  Beziehung  zu  einem  anderen.  Diese  Eigen- 
schaft befindet  sich  also  im  Vater.  Der  Umstand,  daß  sie  sich 
auf  einen  anderen  bezieht,  ist  nicht  gleichbedeutend  mit  der 
Bestimmung,  in  dem  anderen  Terminus  zu  inhärieren;  denn  die 
Vaterschaft  ist  nicht  im  Sohne,  sonst  müßte  sie  eine  Eigenschaft 
des  Sohnes  sein,  von  der  der  Name  abzuleiten  wäre  (der  Sohn 
müßte  „Vater"  genannt  werden).  Die  Vaterschaft  ist  vielmehr 
im  Vater.  Ebenso  verhält  sich  der  Sohn  in  Beziehung  zum 
Vater.  Es  befindet  sich  also  hier  durchaus  kein  einheitliches 
Wirkliche,  das  in  beiden  Termini  der  Relation  vorhanden  wäre. 
Es  besteht  also  als  fundamentum  nur  eine  Vaterschaft  oder  eine 
Sohnschaft.  Was  jedoch  das  Wirkliche  anbetrifft,  das  Sub- 
strat ist  für  die  Vaterschaft  und  die  Sohnschaft,*)  so  kennen 
wir  dasselbe  nicht,  noch  hat  es  einen  Namen.  2) 

Wenn  nun  dieses  Wirkliche  (die  gemeinsame  ratio  der 
Relation)  darin  besteht,  daß  jeder  einzelne  Terminus  der  Re- 
lation durch  einen  Zustand  in  Beziehung  zum  anderen  tritt,  so 
verhält  sich  dieses  wie  jeder  einzelne  Kuknusvogel  3)  und  jedes 
Volumen  Schnee,  die  weiß  sind.  Denn  es  ist  nicht  erforderlich, 
daß  dieses  (Gemeinsame  der  Termini)  ein  einheitliches  Ding  sei. 
(Es  kann  auch  ein  Modus  oder  eine  Eigenschaft  sein.)  Der 
Umstand,  daß  es  sich  auf  ein  anderes  bezieht,  bewirkt  nicht, 
daß  es  ein  einheitliches  Ding  sei;  denn  dasjenige,  was  jedem 
einzelnen  in  Beziehung  zum  anderen  anhaftet,  kommt  also  jenem 
einen  Terminus  der  Relation  zu,  nicht  dem  anderen.  Jedoch 
bezieht  er  sich  auf  den  anderen. 


*)  Cod.  d  Gl. :  „d.  h.  für  die  Summe  beider,  wie  die  Philosophen  es  sich 
vorstellten". 

")  Es  gibt  also  Relationen,  die  so  geartet  sind,  daß  sie  keine  gemein- 
same „ratio"  besitzen. 

■)  Cod.  c  GL:  „Ein  bekannter  Vogel",  wohl  die  Möve;  nach  d.  Lex.  ein 
„sagenhafter  Vogel". 


Digitized  by 


Google 


232 

Wenn  du  dieses  in  den  angeführten  Beispielen  verstanden 
hast,  so  begreife  ebenfalls  das  gleiche  Verhältnis  in  den  übrigen 
Relationen,  deren  Termini  nicht  verschieden  sind.  Die  meisten 
Figuren  gehören  nur  zu  dieser  Kategorie  der  Relationen.  Wenn 
einer  von  zwei  Brüdern  eine  gewisse  Stellung  annimmt  in  Be- 
ziehung zu  einem  andern,  dann  befindet  sich  ebenso  der  andere 
in  einer  gewissen  Stellung  zum  ersten.  Wenn  nun  die  beiden 
Zustände  sich  verhalten  wie  eine  Art,  dann  würden  wir  denken 
es  wäre  die  gleiche  Person.  Es  verhält  sich  aber  nicht  so;  denn 
dem  ersten  Bruder  kommt  die  Bruderschaft  des  zweiten  zu 
d.  h;  er  besitzt  die  Eigenschaft,  Bruder  des  zweiten  zu  sein. 
Diese  Eigenschaft  besitzt  er  jedoch  durch  die  Beziehung  auf 
den  zweiten.  Dieses  aber  ist  keine  Eigenschaft  des  zweiten 
als  numerisch  ein  und  dieselbe.  Nur  spezifisch  sind  sie  gleich. 
Dies  ist  der  Fall,  wenn  z.  B.  der  zweite  weiß  ist,  und  der  erste 
ebenfalls.^  Es  ist  vielmehr  auch  eine  Bestimmung  des  zweiten, 
daß  er  der  Bruder  des  ersten  ist;  denn  er  besitzt  in  sich  einen 
Modus,  der  von  ihm  in  Beziehung  zum  ei-sten  ausgesagt  wird. 
Ebenso  verhält  sich  das  Sichberühren  zwis(*hen  zwei  Körpern; 
denn  jeder  der  beiden  berührt  den  anderen  und  befindet  sich  in 
Kontakt  mit  ihm.  Dieser  ist  aber  nur  in  Beziehung  auf  den 
anderen  möglich,  wenn  auch  der  andere  die  gleiche  Beziehung 
zu  dem  ersten  hat  (die  Berührung  ist  also  eine  bilaterale  Relation). 
Nun  aber  glaube  nicht,  daß  numerisch  ein  und  dasselbe  Akzidens 
in  zwei  Substraten  existiere.  Dann  müßtest  du  auf  das  Ver- 
ständnis und  die  Erklärung  dieses  Verhältnisses  verzichten,  in- 
dem du  das  Akzidens  als  einen  unbestimmten  Terminus  (der 
aequivoce  von  vielen  Dingen  ausgesagt  werde)  bezeichnest 
So  führten  es  in  der  Tat  diejenigen  durch,  die  eine  schwache 
Unterscheidungsgabe  besitzen.  Das  jedoch,  worauf  die  Aufmerk- 
samkeit in  erster  Linie  und  mehr  als  auf  das  eben  Erwähnte 
zu  lenken  ist,  ist  unser  Problem:  ob  die  Relation  in  sich  selbst 
real  in  den  Individuen  existiere,  oder  nur  etwas  sei,  das  aus- 
schließlich im  Verstände  gedacht  werde  ,^)  und  ob  sie  sich  ver- 

*)  Also  auf  Grund  der  Art  der  Farbe,  nicht  auf  Qrond  der  nnmerisdien 
Einheit  derselben  findet  die  Relation  statt.  In  der  Farbe  als  numerischer 
Einheit  sind  beide  verschieden,  in  der  Farbe  als  spezifischer  Einheit  stimmen 
sie  überein. 

*)  Über  die  Realität  der  Relationen  Tgl.  Arist,  Metaph.  1068  a  23:  ro 
öl  n^oi  XI  nccvxwv  ^ixiara  ipvoiq  xi^  5  ovala  t<5v  xaxriyoifOQi^iv  iozi,  xai 


Digitized  by 


Googk 


233 

halte  wie  viele  Zustände,  die  den  Dingen  notwendig  anhaften, 
wenn  sie  begrifflich  gefaßt  werden  und  nachdem  sie  in  dem  Geiste 
wirklich  geworden  sind;  denn  wenn  die  Dinge  gedacht  werden, 
erhalten  sie  im  Geiste  Verhältnisse  (die  fünf  logischen  Kate- 
gorien), die  ihnen  von  der  Außenw^elt  her  nicht  zukommen.  Sie 
werden  dann  teils  allgemein  teils  individuell,  ^)  und  teils  Wesen, 
teils  Akzidens.  Dann  entsteht  ein  Genus  und  eine  Differenz, 
ein  Subjekt  der  Prädikation  und  ein  Prädikat  und  ähnliche 
Dinge. 

Manche  stellten  die  Lehre  auf,  das  eigentliche  Wesen  der 
Belationen  trete  in  der  Seele  nur  auf,  wenn  sie  die  Dinge  denkt. 
Andere  lehrten,  so  verhielte  sich  die  Sache  nicht.  Die  Relation 
sei  vielmehr  ein  in  den  Individuen  wirkliches  Ding.  Sie  ver- 
suchten dies  zu  beweisen,  indem  sie  lehrten:  wir  wissen  daß 
dieser  Mensch  in  der  realen  Existenz  der  Vater  jenes  anderen 
und  jener  in  der  realen  Existenz  der  Sohn  dieses  ist,  sei  es  nun, 
daß  er  begrifOich  gedacht  werde  oder  nicht.  Wir  wissen  femer, 
daß  die  Pflanzen  Nahrungsstoffe  aufzunehmen  streben  und  daß  das 
Streben  mit  einer  gewissen  Relation  verbunden  ist.  Die  Pflanzen 
haben  aber  in  keiner  Weise  einen  Verstand  oder  ein  Erkennen 
(mit  dem  sie  eine  logische  Relation  erfassen  könnten).  Wir 
wissen  femer,  daß  der  Himmel  so,  wie  er  real  ist,  über  der 
Erde  stehe,  und  daß  die  Erde  sich  unter  dem  Himmel  befindet, 
^eichgftltig  ob  sie  erkannt  werde  oder  nicht.  Die  Relation  ist 
nun  aber  nichts  anderes  als  solche  und  ähnliche  reale  Dinge, 
wie  wir  sie  aufgezählt  haben.  Daher  ist  die  Relation  (als  reale) 
den  Dingen  eigen,  auch  wenn  sie  nicht  erkannt  werden. 

Die  zweite  Gmppe  der  Philosophen  lehrte:  Wenn  die  Re- 
lation in  den  Dingen  real  existierte,  dann  ergäbe  sich  daraus 
notwendig,  daß  die  Relationen  in  unendlich  großer  Zahl  vorhanden 
«in  müßten.    Es  wäre  dann   zwischen  Vater  und  Sohn  eine 


rWpcf  toi;  Tioiot  xal  nocof.  ib.  30:  aijfietov  (J*  8t i  ^xiata  ovala  xiq  xal  ov 
u  xi  Ti^oq  XI  x6  fiovov  fi^  eivai  ytvsaiv  avxo^  fiTjSh  (pB^ogav  firjSh  xivr^aiv 
■  ..  T^  d€  Ti^oi;  XI  ovxt  dvvajuBi  ovola  oixe  ivegyela.  Ethik.  1096a 20:  xo  öl 
k9^  ehxo  xal  ^  ovcia  tiqoxeqov  xy  tpvaet  xoi)  iiQoq  xi  naQa<pva6s  yag  xotx 
f^txf  xal  avfißeßfjxoxi  xoü  Svxoq,  Sex  ovx  5v  el^rj  xoini  xig  inl  xovxwv  iSia, 
Pky«.  246  b  10:  insl  ow  xa  tiqoq  xl  ovxs  avxi  icxiv  aXXoiiiosigf  ovxe  avxdtv 
*^T  aXXoifoaig  ovöh  yivBOtg  ovd^  SIopq  ^xaßoXrj  ovösfila,  (pavegov  Sxi  u.  s.  w. 
W&Kat.  8al3  bis  8b 24. 

')  Durch     das     Denken    wird    die    Unterscheidung    der    UniverseU- 
Log^chen  and  Singular -Bealen  dorchgeftthrt. 


Digitized  by 


Google 


234 

Kelatiou  vorhanden  und  diese  Relation  existieile  in  beiden  zu- 
sammen real  oder  käme  nur  einem  einzigen  oder  jedem  ein- 
zelnen von  beiden  zu.  Weil  also  die  Vaterschaft  dem  •  Vater 
zukommt  und  sein  Akzidens  ist,  während  der  Vater  ihr  Subjekt 
darstellt,  so  ist  sie  ein  Terminus  der  Relation.  Ebenso  verhält 
es  sich  mit  der  Sohnschaft  Es  besteht  also  eine  Verbindung 
einerseits  zwischen  der  Vaterschaft  und  dem  Vater  und  anderer- 
seits der  Sohnschaft  mit  dem  Sohne  —  eine  Verbindung,  die 
außerhalb  der  Verbindung  zwischen  Vater  und  Sohn  besteht 
Jene  Verbindung  ist  nicht  identisch  mit  der  zwischen  Vater 
und  Sohn.  Der  Relation  muß  also  eine  andere  Relation  anhaften, 
und  so  ergibt  sich  notwendig  eine  series  infinita.  Femer  ist 
die  Verbindung  zwischen  einem  real  Existierenden  und  einem 
Nichtexistierenden  zu  den  Relationen  zu  rechnen.  In  diesem 
Sinne  sind  wir  „früher""  in  Beziehung  zu  den  Jahrhunderten, 
die  vergangen  sini  und  „wissend"  inbezug  auf  die  Auferstehung.*) 
Die  Schwierigkeit,  die  aus  diesen  beiden  Art€n  der  Relation 
zugleich  sich  ergibt,  wird  dadurch  gehoben,  daß  wir  zu  der 
Definition  des  Relativum  im  allgemeinen  Sinne  zurückkehren. 

Daher  lehren  wir:  die  Wesenheit  des  Terminus  der  Re- 
lation besteht  nur  darin,  daß  sie  nur  in  Beziehung  zu  einem 
anderen  prädizieit  wird.  Folglich  gilt:  jedes  individuelle  Ding, 
dessen  Wesenheit  so  beschaffen  ist,  daß  sie  nur  in  Beziehung 
zu  einem  anderen  prädiziert  wird,  ist  ein  Terminus  der  Relation. 
In  den  wirklichen  Dingen  jedoch  gibt  es  viele,  die  diese  Eigen- 
schaft haben.  Daher  existiert  das  Relativum  real  in  den  In- 
dividuen. Besitzt  aber  der  Terminus  der  Relation  eine  andere 
Wesenheit,  dann  muß  von  ihm  dasjenige  abstrahiert  werden, 
was  er  von  dieser  „ratio"  besitzt,  die  in  Beziehung  auf  einen 
anderen  gedacht  wird.^)  Daher  ist  dieser  Begriff  in  Wirklichkeit 
der  Begriff,  der  in  Beziehung  auf  einen  anderen  gedacht  wird. 
(Nur  dieser  gibt  das  eigentliche  Wesen  der  Relation  wieder.)  Der 
andere  Begriff  (der  der  Wesenheit  des  Dinges)  wird  in  Beziehung 
zu  einem  anderen  (nicht  per  se)  gedacht  (sondern)  nur  auf 
Grund  dieser  „ratio"  (die  per  se  Relation  ist).  Diese  ratio 
selbst  aber  ist  ihrerseits  in  Beziehung  zu  einem  anderen  gedacht 
und  zwar  nicht  auf  Grund  eines  anderen  Begriffes  als  sie  selbst 

*)  Der  eine  Terminus  dieser  Kelationen  ist  unreal. 
*)  In  ihm  unterscheidet  sich  also  Relation  und  Wesenheit  des  Dinges, 
das  in  Belation  steht. 


Digitized  by 


Googk 


235 

Sie  ist  yielmehr  Terminus  der  Relation  durch  sich  selbst  (primo 
et  per  se),  entsprechend  dem,  was  du  erkannt  hast.  In  diesem 
Verhältnisse  besteht  also  keine  Trennung  zwischen  einem  Wesen 
und  einem  (anderen)  Dinge,  das  die  Relation  darstellte;  sondern 
hier  liegt  ein  Relativum  vor,  das  durch  sein  Wesen  selbst  Terminus 
der  Relation  ist,  nicht  durch  eine  andere  Relation.  Daher  bilden 
die  Relationen  in  dieser  Weise  keine  unendlich  große  Zahl. 

Der  Umstand  aber,  daß  dieser  Begriff,  der  per  se  Terminus 
der  Relation  ist,  in  diesem  Substrate  vorhanden  ist,  liegt  darin  be- 
gründet, daß  in  diesem  Substrate  eine  Wesenheit  besteht,  die  ge- 
dacht wird  in  Beziehung  auf  dieses  Substrat.  Daneben  besitzt  das 
Substrat  z.  B.  noch  eine  andere  Existenz,  die  Existenz  der  Vater- 
schaft Dieses  Wirkliche  ist  ebenfalls  ein  Relativum ;  jedoch  ist 
jenes  nicht  dieses.  (Die  Relation  selbst  ist  nicht  dasselbe  wie  der 
formelle  Terminus  der  Relation.)  Daher  sei  dieses  (die  Vater- 
schaft) ein  Akzidens  des  Relativum, ^  das  dem  Relativum  (d.  h. 
der  Wesenheit  des  esse  relativum)  anhaftet.  Jeder  der  beiden 
(der  Begriff  des  esse  relativum  und  der  Vaterschaft)  wird  auf 
Grund  seines  eigenen  Wesens  (per  se)  auf  den  anderen  Terminus 
bezogen,  ohne  daß  eine  neue  Relation  hinzuträte.  Das  esse 
relativum  (wörtlich:  praedicatum,  der  generische  Begriff  der 
Relation)  ist  also  ein  relativum  per  se  (non  per  aliud),  und  das 
esse  patrem  (wörtlich:  paternitatem,  der  spezifische  Begriff  der 
Relation)  ist  ebenfalls  ein  relativum  per  se.  Der  Umstand,  daß 
dieses  Ding  (die  beiden  genannten  Begriffe)  durch  sich  selbst 
in  Relation  tritt,  schließt  es  aus,  daß  der  Gegenstand  einer 
anderen  Relation  bedürfe,  durch  die  er  zum  Terminus  der  Re- 
lation würde.  Er  ist  vielmehr  durch  sich  selbst  eine  Wesen- 
heit die  begrifflich  gedacht  wird  in  Beziehung  zu  dem  Subjekte  2) 
(i  h.  dem  anderen  terminus  relationis).  D.  h.  das  relatum  per 
se  ist  eine  Wesenheit,  die  begrifflich  gefaßt,  darauf  hingeordnet 
ist  und  es  erfordert,  daß  im  Verstände  ein  anderes  Ding  (der 
andere  Terminus  der  Relation)  präsent  wird.    Das  ei-ste  wird 


*)  Relativom  ist  hier  im  prägnanten  Sinne  genommen  d.  h.  der  Ter- 
minus, insofern  er  relativ  ist,  abgesehen  von  der  Wesenheit,  die  ihm  als 
Substanz  zukommt.  Avicenna  unterscheidet  also  den  Begriff  der  Eelation  als 
Genus  und  Spezies  wie  Substrat  und  Akzidens. 

*)  Avicenna  bezeichnet  die  beiden  termini  relationis  als  Subjekt  und 
Prädikat,  weil  er  die  Aussage  als  eine  Eelation  im  vorzüglichen  Sinne 
aoffafit. 


Digitized  by 


Googk 


236 

dann  in  Beziehung  zu  diesem  gedacht.  Ja  noch  mehr!  Faßt  man 
dieses  erste  als  reales  Individuum,  dann  muß  es  mit  einem 
anderen  Dinge  zugleich  existieren,  >)  und  zwar  auf  Grund  sem^ 
Wesens,  nicht  infolge  eines  anderen  „esse  cum  alio"  (einer 
anderen  Relation),  das  dem  Wesen  erst  folgt.  Sein  Wesen  ist 
vielmehr  per  se  das  „cum  alio"  und  „esse  cum  alio",  das  durch 
diese  bestimmte  Art  der  Relation  gekennzeichnet  ist  Wird  das 
Ding  nun  begrifflich  gefaßt,  dann  muß  es  gedacht  werden  zu- 
gleich mit  der  Präsenz  eines  anderen  Dinges  (des  anderen 
Terminus  der  Relation).  So  verhält  sich  die  Wesenheit  der 
Vaterschaft  als  solche.  Sie  ist  durch  ihr  eigenes  Wesen,  nicht 
infolge  einer  anderen  Relation,  die  sie  in  jene  bestimmte  Be- 
ziehung brächte,  ein  Terminus  der  Relation.  Dem  Verstände 
fällt  es  nun  zu,  zwischen  beiden  (z.  B.  dem  Vater  und  dem 
Sohne)  ein  Wirkliches  zu  denken,  das  sich  verhält  wie  das  „esse 
cum  alio",*)  daß  zu  beiden  Termini  (dem  Vater  und  dem  Sohne) 
von  außen  hinzukommt.  Zu  diesem  Begriffe  führt  nicht  not- 
wendig die  Auffassung  der  Spezies  (der  vorliegenden  Relation), 
sondern  irgend  eine  andere  (rein  logische)  Auffassungsweise,  die 
dem  Dinge  von  außen  anhaftet  und  die  der  Verstand  hervor- 
ruft; denn  der  Verstand  verbindet  manchmal  das  eine  Ding 
mit  dem  anderen  auf  Grund  rein  logischer  Betrachtungsweisen, 
nicht  irgend  einer  zwingenden  Notwendigkeit,  (die  im  reden 
Wesen  der  Dinge  läge). 

Die  oben  genannte  Beziehung  ist  in  sich  selbst  (per  se) 
also  eine  Relation,  ohne  einer  anderen  Relation  zu  bedürfen; 
denn  sie  ist  durch  sich  selbst  eine  solche  Wesenheit,  die  in  Be- 
ziehung zu  einem  anderen  Dinge  gedacht  wird.  Es  existieren 
also  im  genannten  Falle  verschiedenartige  Relationen,  die  einigen 
Wesenheiten  aus  sich  heraus  anhaften,  nicht  etwa  auf  Grund 
einer  anderen  Relation,  die  ihnen  in  Form  eines  Akzidais 
gleichzeitig  zukäme.  Sie  verhalten  sich  vielmehr  so,  wie  die- 
jenigen Dinge,  denen  das  „referri"  innerlich  anhaftet,  wie  z.  B. 
auf  Grund  der  Relation  der  Vatei-schaft.  Dies  verhält  sich 
femer  auch  wie  die  Inhärenz  der  Relation,  die  (dem  Geiste  und 

')  Das  eine  bedingt  das  andere  nicht  nur  in  ordine  ideali,  sondern  aueb 
in  ordine  reali. 

*)  Es  ist  der  genereUe  Begriff  des  esse  relativnm  der  hier  als  ens 
logicnm  bezeichnet  werden  soll.  Ihm  gegenüber  ist  die  Spezi  es  der  Relation 
etwas  Eeales.    Damit  ist  das  Problem  dieses  Kap.  gelöst. 


Digitized  by 


Googl( 


n 


237 

Dinge)  anhaftet  auf  Grund  der  Form  des  Wissens.  Diese  Rela- 
tion haftet  dem  Terminus  nicht  auf  Grund  einer  anderen  Rela- 
tion an,  die  in  den  Dingen  selbst  läge,  sondern  nur  auf  Grund 
ihrer  selbst  (der  Erkenntnisform  im  Erkennenden),  auch  wenn 
der  Verstand  vielfach  in  dieser  Relation  eine  andere  herstellt 
(die  dann  rein  logisch  ist). 

Wenn  du  dies  erkannt  hast,  dann  weißt  du  zugleich,  daß 
die  Relation  real  in  dem  Wirklichen  existiert.  Sie  ist  real,  in- 
sofern ihr  diese  Definition  (die  besondere  Spezies  der  Relation, 
nicht  der  generische  Begriff)  zukommt.  Diese  Definition 
besagt  nicht,  daß  das  Relative  in  der  Wirklichkeit  nur  ein 
(logisches)  Akzidenz  sei,  das  diese  erwähnte  Eigenschaft  besitzt, 
wenn  es  begrifQich  gefaßt  wird.  Ebensowenig  besagt  sie,  daß 
die  Relation  ein  Ding  sei,  daß  in  sich  (wie  eine  Substanz) 
Bestand  habe,  ein  uiid  dieselbe  sei')  (für  beide  Termini)  und 
zwischen  zwei  Dingen  bestehe.  Daß  aber  nun  die  Relation 
inbezug  auf  ein  anderes  prädiziert  wird,  besteht  nur  im  Ver- 
stände (ist  rein  logischer  Ordnung),  und  dieses  ist  die  begriffliche 
Relation.  Die  ontologische-reale  Relation  ist  das,  was  wir  oben 
erklärt  haben.  Sie  besteht  nämlich  darin,  daß  das  Relativum, 
das  in  seiner  begrifflichen  Fassung  eine  Wesenheit  bezeichnet, 
die  in  der  Hinordnung  auf  ein  anderes  gedacht  wird.  Die 
Jogisch-subjektive  Seite  des  Relativen  besteht  hingegen  darin, 
daß  der  Terminus  der  Relation  in  Beziehung  zu  einem  anderen 
gedacht  wird  (das  esse  relatum  ad  aliquid,  der  generische 
Begriff  der  Relation).  Daher  kommt  dem  Relativum  in  der 
realen  Existenz  eine  besondere  Beurteilungsweise  zu  und  eine 
andere,  insofern  es  im  Verstände  ist,  und  zwar  insofern  es  be- 
grifflich gedacht  wird  (als  ens  logicum),  nicht  insofern  es  eine 
Relation  darstellt.  Im  Verstände  sind  also  viele  Relationen 
möglich,  die  man  beliebig  und  willkürlich  erfindet.  Der  Verstand 
allein  stellt  sie  her  auf  Grund  der  bestimmten  Eigentümlichkeit, 
die  in  ihm  aus  den  realen  Relationen  entsteht. 

Daher  ist  also  die  Relation  in  den  Individuen  wirklich 
und  es  ist  klar,  daß  ihre  reale  Existenz  nicht  besagt:  in  der 
Außenwelt  existiere  eine  Relation  zweiter  Ordnung  (die  Relation, 
die  zwischen  zwei  Relationen  gedacht  wird)  und  so  ohne  Ende 
fort  (indem  diese  Relation  wiederum  in  Relation  träte).    Aus 

>>  Vgi.  S.  231. 


Digitized  by 


Google 


238 

dem  Angenommenen  ergibt  sich  also  nicht,  das  allem,  was  als 
ein  Terminus  der  Relation  aufgefaßt  wird,  eine  reale  Belation 
in  der  Außenwelt  entspreche. 

Was  aber  das  Früher  und  Später  in  der  Zeit  anbetrifft» 
und  (andere)  solche  Relationen,  in  denen  ein  Terminus  nicht 
existiert,  und  ähnliche  Relationen,  so  sind  das  Früher  und 
Später  zwei  korrelative  Dinge  zwischen  dem  Wirklichen,  wenn 
es  gedacht  wird,  und  dem  Gedachten,  das  nicht  aus  einem 
individuellen  Wirklichen  hergenommen  (d.  h.  abstrahiert)  ist 
Suche  dies  zn  vei'stehen.  Denn  in  sich  selbst  ist  das  Ding 
nicht  früher,  es  ist  ein  Früher  nur  für  ein  anderes  Wirkliche, 
das  mit*)  ihm  existiert.  Diese  Art  des  Früher  oder  Später  hat 
die  Beschaffenheit,  daß  ihre  beiden  Termini  zugleich  im  Ver- 
stände existieren;  denn  wenn  im  Verstände  die  Wesensform  des 
Früheren  und  die  des  Späteren  wirklich  wird,  dann  denkt  die 
Seele  diese  Beziehung  als  eine,  die  real  stattfindet,  zwischen  im 
Verstände  vorhandenen  zwei  Dingen.  Denn  diese  Beziehung 
und  Vergleichung  findet  statt  zwischen  zwei  Dingen,  die  im 
Verstände  vorhanden  sind.  Vor  dem  (d.  h.  vor  dem  es  gedacht 
wird)  ist  das  Ding  in  sich  selbst  nicht  „früher";  wie  könnte  es 
auch  früher  sein  als  ein  Ding,  das  kein  wirkliches  ist  (wörtlich: 
ein  non-ens).  Alles,  was  aus  der  Kategorie  der  Relation  sich 
in  dieser  Weise  verhält,  hat  ein  esse  relativum  nur  im  Verstände. 
In  der  realen  Existenz  entspricht  ihm  keine  („ratio")  d.  h.  kein 
Wesen  das  bestände  auf  Grund  dieses  Früher  und  Später.  Viel- 
mehr ist  dieses  Früher  und  Später  in  Wirklichkeit  ein  logischer 
Begriff  und  eine  Beziehung,  die  der  Verstand  supponiert,  und 
eine  Betrachtungsweise,  die  den  Dingen  zukommt,  wenn  der 
Verstand  sie  miteinander  vergleicht  und  auf  sie  hinweist,  indem 
das  eine  auf  das  andere  hingeordnet  ist. 


*)  Das  Vergangene  kann  mi^  dem  Gegenwärtigen  aber  nur  dann 
eristieren,  wenn  der  Verstand  es  präsent  macht.  Der  eine  Teil  der  Relation 
ist  also  für  die  Gegenwart  unreal. 


Digitized  by 


Google 


Vierte  Abhandlung. 


Erstes  Kapitel. 
Das  Früher  und  Später  und  das  Entstehend) 

Nachdem  wir  über  die  Dinge  gesprochen  haben,  die  sich 
aus  dem  Sein  und  der  Einheit  in  Form  von  Arten  ergeben 
(d.  h.  von  den  Kategorien),  so  müssen  wir  nun  von  den  Dingen 
reden,  die  in  Beziehung  zum  Sein  und  der  Einheit  als  Eigen- 
tümlichkeiten und  notwendige  Akzidenzien  sich  darstellen.  Wir 
beginnen  daher  mit  denjenigen,  die  dem  Sein  anhaften.  Sie 
stehen  in  Beziehung  zum  Sein  und  der  Einheit  nach  dem  Früher 
und  Später. 2)  Wir  lehren  also:  das  Früher  und  Später  wird 
zwar  in  verschiedenen  Arten  ausgesagt.  Diese  Arten  vereinigen 
sich  aber  in  der  Weise  einer  unbestimmten  Prädikation  in  einem 
Dinge  (d.h.  Begriffe).  Diese  besteht  darin,  daß  das  Frühere  als 
solches  eine  Bestimmung  besitzt,  die  dem  Späteren  nicht  zu- 
kommt. Dabei  aber  ist  dem  Späteren  durchaus  nichts  zu  eigen, 
das  nicht  auch  dem  Früheren  real  zukomme.  Das  allen  Be- 
kannte ist  das  Frühere  in  der  Zeit  und  im  Räume.  3)  Das 
Früher  und  das  Vorher  befindet  sich  in  solchen  Dingen,  die 
eine  Ordnung  haben.  Ebenso  verhält  es  sich  im  Räume.  Das 
Frühere  dem  Räume  nach  ist  dasjenige,  was  einem  bestimmten 
Anfange  näher  steht.    Dieses  schließt  sich  an  den  Anfang  (das 

»)  Vgl.  F&r&bi,  Ringsteme  Nr.  54. 

*)  Sie  werden  analogice  von  den  Kategorieen  ausgesagt.  Sie  gelten 
wie  das  Sein  selbst,  zunächst  von  der  Substanz,  in  zweiter  Linie  („später") 
von  den  Akzidenzien. 

■)  Vgl.  Arist.,  Phys.  219  a  15:  to  Sh  rfij  Ti^otegov  xal  iaxsQOv  iv  xonc^ 
ngChov  iatu  Über  die  yerschiedenen  Arten  des  Früher  (Adyy,  xat  ovaiav, 
tpvoei,  Xfi^'^V  tompf  yevioeif  xata  divapiiv,  xa'i  ivteUx^iav  xad^  flf^aQ  und 
xa^'  airo)  s.  bes.  Metaph.  Kap.  11  und  Kat.  12. 


Digitized  by 


Google 


240 

erste  Glied  einer  Kette)  an,  während  es  sich  nicht  an  das  an- 
schließt, was  auf  den  Anfang  (oder  dieses  zweite)  folgt.  Das- 
jenige aber,  das  auf  dieses  zweite  folgt,  schließt  sich  an  das 
erste  Glied  an,  jedoch  so,  daß  das  zweite  Glied  (direkt)  mit 
dem  Anfange  verbunden  war  (das  Dritte  ist  also  durch  Ver- 
mittlung des  Zweiten  mit  dem  Ersten  verbunden  und  in  diesem 
Sinne  dem  Räume  nach  „später"  als  das  Zweite). 

In  der  Zeit  verhält  sich  das  Früher  und  Später  ebenso 
inbezug  auf  das  Jetzt, *)  die  Gegenwart  und  einen  Anfang,  den 
man  supponiert,  selbst  wenn  derselbe  verschieden  ist  in  der  Ver- 
gangenheit oder  Zukunft,  wie  es  bekannt  ist. 

Der  Terminus  des  Früher  und  Später  wird  sodann  von 
diesem  Verhältnisse  übertragen  auf  alles,  was  einem  bestimmt 
definierten,  ei-sten  Gliede  näher  steht  Dieses  Früher  ist  dann 
manchmal  der  Natur  nach  verschieden  in  verschiedenen  Dingen, 
wie  z.  B.  (in  der  arbor  porphyriana)  der  Begriff  corpus  früher 
als  der  des  animal  (d.  h.  des  corpus  animatum  anima  sensitiva) 
ist  in  Rücksicht  auf  den  Begriff  der  Substanz.  Diese  wird  als 
das  erste  Glied  der  Reihe  aufgestellt  Ist  jedoch  das  Individuum 
das  erste  Glied,  dann  ist  die  Aufeinanderfolge  verschieden  (d.h. 
umgekehrt).  2) 

Ebenso  verhält  sich  dasjenige,  was  dem  ersten  Beweger 
am  nächsten  steht  In  dieser  Weise  ist  z.  B.  der  Jüngling 
früher  als  der  Mann  (insofern  er  zeitlich  dem  Erzeuger  näher 
steht  als  der  Mann). 

Manchmal  findet  sich  das  Früher  in  Dingen,  nicht  von  Natur, 
sondern  in  anderer  Weise.  Es  ist  dann  entweder  ein  Früher 
der  Kunst  nach,  wie  z.  B.  der  Ton  der  Musik.  Wenn  du  (die 
Töne  nach  dem  Prinzip  des  Lauten  ordnest)  und  beim  lautesten 
Tone  beginnst,  dann  ist  das  Frühere  ein  anderes  als  wenn  du 
mit  dem  schweren  Tone  anfängst  Oder  es  ist  ein  Früher  durch 
Glück  oder  irgend  welchen  Zufall. 

Der  Ausdruck  des  Früher  und  Später  wurde  femer  ge- 
braucht von  anderen  Dingen.  Man  nahm  das  überfließende  Maß, 
das  Vorausgehende  (in  einer  Ordnung,  nicht  im  Räume  oder  der 


')  Vgl.  Arist.,  Phys.  223  a  5:  tiqoxbqov  yog  xal  ^otbqov  UyofjiBv  xarct 
Tiyv  TiQog  TO  vCv  anoütaaiv^  to  6h  vCv  8qoq  to€  Tiagiixovtog  xal  xo^  ixiXXovxoq, 

')  In  dem  zweiten  Beispiele  würde  die  arbor  porphyriana  in  der  um« 
gekehrten  Eeihenfolge  genommen:  Individuum,  homo,  animal,  planta,  oorpos^ 
substantia.    Dann  ist  das,  was  in  der  ersten  Auffassung  früher  war,  später. 


Digitized  by 


Googk 


241 

Zeit)  und  das  Tugendhafte,  selbst  wenn  es  in  Dingen  statt- 
findet, die  nicht  im  eigentlichen  Sinne  Tugenden  0  sind,  als  das 
Frühere.  Der  Begriff  selbst  gilt  dann  als  (ideales)  festumgrenztes, 
erstes  Glied  (von  dem  aus  man  das  Früher  oder  Später  be- 
stimmt, je  nachdem  ein  Individuum  sich  dem  Zustande  des 
Ideales,  z.  B.  in  der  Tugend  nähert).  Kommt  nun  dem  Ersten  von 
diesem  Begriffe  (d.  h.  der  Tugend)  etwas  zu,  das  der  Zweite 
nicht  besitzt  und  kommt  ferner  dem  Zweiten  nichts  zu,  was 
nicht  auch  der  Erste  besäße,  dann  gilt  dieser  (der  an  Tugend 
reichere)  als  der  Frühere. 

Der  Begiiff  des  Vorausgehenden  besagt  2)  etwas,  das  dem 
ersten  eigentümlich  ist,  dem  zweiten  aber  nicht  zukommt.  Was 
der  zweite  aber  von  diesem  Begriffe  besitzt,  eignet  auch  dem 
ersten  und  noch  mehr  als  dieses.  (Es  kommt  dem  Ersten  im 
eminenten  Sinne  zu.)  Unter  die  Kategorie  des  „Vorhergehenden" 
rechnet  man  den  Herrn  und  den  Fürsten.  Dieser  geht  dem 
Diener  und  dem  Beherrschten  voraus.  Die  freie  Wahl  gehört 
dem  Herrscher,  nicht  dem  Beherrschten.  Dem  letzteren  kommt 
sie  nur  dann  zu,  wenn  sie  auch  der  Herrscher  selbst  besitzt. 
(Der  Beherrschte  hat  keine  andere  Wahl  zu  treffen,  als  die  des 
Herrschers,  die  er  ausführt.)  Daher  führt  der  Beherrschte  Be- 
wegungen aus  auf  Grund  der  freien  Wahl  des  Herrschers. 

Femer  überträgt  man  den  Begriff  des  Früher  und  Später 
auf  dasjenige,  was  diesen  Begriff  in  sich  trägt  in  Rücksicht  auf 
die  Existenz. •'»)  Dasjenige  Ding,  das  die  Existenz  besitzt,  gilt 
dann  als  erstes  Glied  der  Kette,  auch  wenn  dem  Zweiten  die 
Existenz  (noch)  nicht  zukommt.  Dem  Zweiten  kommt  sie  dann 
zu,  indem  das  Erste  die  Existenz  schon  früher  als  das  Zweite 
besaß.    So  verhält  sich  das  Eine  (zur  Existenz).    Es  ist  keine 


*)  Das  Schulbeispiel  ist:  ein  tüchtiger  Dieb. 

')  Wörtlich:  „gehört  in  das  Kapitel  des  ..." 

*)  Vgl.  Arist.,  Kat.  15  a  34:  jiqoteqov  Sl  Soxel  to  xoiofnov  elvaij  dtp* 
ov  fi^  itvrioxQkfpEi  ri  toU  üvai  dnolov^ai^  (prius  secundum  esse);  und  Phys. 
260  b  18:  Xayerai  Sh  tcqoxbqov  ov  xe  fxrj  ovxoq  ovx  ¥axai  raAAa,  ixetvo  (J*  Svev 
%wv  i}Xtov^  xal  xo  x<p  X90V(p  xal  xo  xax  ovalav  (identisch  mit  natur& 
posterius);  eb.  837  b  11;  1392  a  20.  Metaph.  1019  a  2  und  916  a  23:  xd  Sh  iy- 
yvT^QOf  xfjg  dgxfJQ  Jt^oxega;  und  Thomas,  Sum.  theol.  I — n  68,  8  ad  2:  aliquid 
est  prius  altero  dupliciter:  uno  modo  ordine  perfectionis  et  dignitatis.  Alio 
modo  ordine  generationis  seu  dispositionis  und  c.  (Gentes  n,  58:  inteUectivurn 
sensitiyo  et  sensitivum  nutritivo  (=  vegetativo)  posterius  secundum  gene- 
rationem  est;  prius  enim  generatione  fit  animal  quam  homo. 

Horten,  Das  Buch  der  Qeneeong  der  Seele.  10 


Digitized  by 


Googk 


242 

conditio  für  die  Existenz  des  Einen,  daß  die  Vielheit  real  existiere. 
Es  ist  aber  eine  conditio  für  die  Existenz  der  Vielheit,  daß  das 
Eine  existiere.  Dieses  aber  bedeutet  noch  nicht,  daß  die  Ein- 
heit der  Vielheit  die  Existenz  verleihe  oder  nicht  Das  Ver- 
hältnis liegt  vielmehr  so,  daß  man  der  Einheit  bedarf  (als 
Prinzip  der  Vielheit),  damit  der  Vielheit  die  Existenz  verliehen 
werde  und  zwar  in  der  Ordnung,  die  ausgeht  von  dem  ESnen 
(als  erstem  Gliede  dieser  Ordnung). 

Sodann  übertrug  man  den  Begriff  des  Früher  und  Später 
auf  das  Wirklichwerden  der  Existenz  in  einer  anderen  Be- 
ziehung (der  der  Ursache  und  Wirkung).  Wenn  z.  B.  zwei 
Dinge  existieren,  ohne  daß  die  Existenz  des  einen  von  dem 
anderen  abstammt,  und  sie  verhalten  sich  vielmehr  so,  daß  das 
Eine  die  Existenz  aus  sich  selbst  hat,  oder  von  einem  Dritten, 
indem  jedoch  die  Existenz  des  Zweiten  von  diesem  Ersten  stammt, 
dann  besitzt  dieses  Zweite  von  dem  Ersten  die  notwendige 
Existenz,  die  es  aus  sich  selbst  nicht  besitzt.  Aus  seinem 
eigenen  Wesen  besitzt  es  vielmehr  die  Möglichkeit.  0  Dieses  ist 
aus  folgendem  Grunde  möglich.  Der  Existenz  jenes  Ersten,  wie 
es  auch  immer  existiere,  2)  kommt  notwendigerweise  die  Be- 
stimmung zu,  Ursache  zu  sein  für  die  notwendige  Ehdstenz 
dieses  Zweiten.  Denn  das  Erste  geht  der  Existenz  nach  diesem 
Zweiten  voraus.  Deshalb  kann  der  Verstand  es  durchaus  nicht 
abweisen,  daß  wir  z.  B.  sagen:  wenn  Zaid  seine  Hand  bewegt, 
bewegt  sich  auch  der  Schlüssel,  oder:  Zaid  bewegte  seine  Hand 
und  darauf  folgte  die  Bewegung  des  Schlüssels.  Jedoch  ist  es 
unrichtig  zu  sagen:  nachdem  der  Schlüssel  in  Bewegung  geriet, 
bewegte  Zaid  seine  Hand,  selbst  wenn  man  sagen  kann:  nach- 
dem der  Schlüssel  sich  bewegte,  erkannten  wir,  daß  Zeid 
seine  Hand  bewegt  hatte.  Der  Verstand  setzt  also,  trotzdem 
beide  Bewegungen  in  der  Zeit  zugleich  existieren,  für  das  eine 
von  beiden  (die  Ursache)  ein  Früher  an,  und  für  das  andere 
ein  Später.  Bedingung  ist,  daß  die  erste  Bewegung  nicht  durch 
die  zweite  hervorgebracht  sei,  daß  aber  dabei  die  zweite  Be- 
wegung durch  die  erste  ins  Dasein  trete.     Es  ist  nun   aber 


^)  Die  Scholastik  drückte  einen  verwandten  Gedanken  mit  den  Worten 
ans:  id  quod  est  per  se  primum  in  aliquo  ordine  est  causa  eomm,  qnae  sunt 
in  illo  ordine.    Dieser  Grandsatz  ist  hier  auf  die  Existenz  aufwandt 

*)  Es  ist  gleichgültig  oh  dasselbe  das  notwendig  Seiende  seihst  oder 
seinerseits  auch  wiederum  verursacht  ist. 


Digitized  by 


Googl( 


243 

nicht  unmöglich,  daß  ein  Ding,  wie  es  auch  immer  existieren 
möge  (ob  als  ens  a  se  oder  ens  ab  alio),  mit  Notwendigkeit  zur 
Folge  hat,  Ursache  für  das  (andere)  Ding  zu  werden.  Zugleich 
aber  ist  es  in  der  Tat  nicht  möglich,  daß  ein  Ding  so  be- 
schaffen sei,  daß  es  Ursache  für  das  andere  werde,  wenn  nicht 
dieses  zweit«  gleichzeitig  mit  ihm  das  Dasein  besitzt.*)  Wenn 
nun  die  Bedingung  dafür,  daß  es  Ursache  ist,  dasselbe  ist,  wie 
sein  Wesen,  dann  ergibt  sich,  daß  es,  so  lange  sein  Wesen 
existiert,  Ursache  und  Grund  für  die  Existenz  des  anderen  ist. 
(Ist  also  das  Wesen  anfangslos,  wie  z.  B.  das  Wesen  Gottes, 
dann  ist  auch  die  Wirkung  anfangslos,  obwohl  geschaffen.)  Wenn 
aber  die  Bedingung  dafür,  daß  das  Ding  Ursache  sei,  nicht  sein 
Wesen  selbst  ist,  dann  ist  sein  Wesen  in  sich  selbst  nur  mög- 
licherweise Ursache  für  ein  anderes,  das  sich  aus  ihr  ergibt 
Ebenso  möglich  bleibt  es,  daß  das  andere  nicht  aus  ihm  ent- 
stehe. Die  eine  der  beiden  Möglichkeiten  ist  nicht  mehr  be- 
rechtigt (nicht  wahrscheinlicher)  als  die  andere  (denn  beide 
sind  nur  möglich,  keine  ist  notwendig).  Das  aus  verschiedenen 
Teilen  Entstehende  verhält  sich  daher  2)  in  dieser  Weise.  Es 
ist  in  diesem  Sinne  in  der  Möglichkeit  zum  Sein  und  auch  zum 
Nichtsein.  Insofern  es  in  der  Möglichkeit  ist,  aus  Bestandteilen 
gebildet  zu  werden,  ist  es  noch  nicht  ein  Existierendes.  (Die 
Bestimmung  seines  Möglichseins  ist  nicht  dieselbe  wie  die  seiner 
Existenz.)  Ebensowenig  ist  jenes  (die  Ursache),  insofern  es  in  der 
Möglichkeit  ist,  dieses  aus  Bestandteilen  zu  bilden,  eine  solche 
Ursache,  die  aktuell  die  Existenz  verleiht  Der  Grund  dafür  liegt 
in  folgendem.  Der  Umstand,  daß  das  Ding  (aktuell)  von  einer 
Ursache  stammt,  die  sich  nur  in  der  Möglichkeit  dazu  befindet, 
das  andere  Ding  hervorzubringen,  ist  nicht  darin  begründet, 
daß  die  Ursache  sich  in  der  Möglichkeit  dazu  befindet,  das 
andere  (die  Wirkung)  herzustellen.  Daher  ist  diese  letzte  Be- 
stimmung, daß  die  Ursache  nur  möglicherweise  die  Wirkung 
hervorbringt,  nicht  ausreichend  dafür,  daß  das  andere  Ding  aus 
ihr  entstehe,  sonst  müßte  es  so  lange  ununterbrochen  aus  der 


*)  Ist  etwas  „notwendigerweise"  Ursache,  dann  ist  es  immer  Ursache, 
von  dem  ersten  Augenblicke  seiner  Existenz  an.  Darin  ist  zugleich  der 
Ornnd  angegeben,  weshalb  die  Idee  eines  anfangslos  Geschaffenen  keinen 
Widersprach  enthält. 

*)  Die  Teile  in  sich  betrachtet  sind  keine  notwendig  wirkende  Ursache. 
Sie  sind  nur  Materialursache  filr  eine  andere,  äußere  Wirknrsache. 

16* 


Digitized  by 


Googk 


244 

Ursache  entstehen,  als  ihr  Wesen  wirklich  ist.*)  Dann  aber  ist 
die  Ursache  „notwendig"  (in  sich)  bestimmt^  die  Wirkung  hervor- 
zubringen, sie  ist  nicht  nur  in  der  Möglichkeit  dazu.  Ist  sie 
aber  in  sich  nicht  ausreichend  (die  Wirkung  hervorzubringen), 
dann  ergibt  sich,  daß  die  Wirkung  gleichzeitig  mit  der  Ursache 
manchmal  existiert  und  manchmal  nicht  Das  Verhältnis  der 
(indifferenten)  Ursache  zu  dem,  was  existiert  und  nicht  existiert 
(also  dem  Sein  und  Nichtsein  der  Wirkung),  ist  ein  und  dasselbe 
ftir  beide  Zustände.^)  Femer,^)  in  dem  Zustande  (der  zu  einer 
der  beiden  Möglichkeiten  aktuell  determinierten  Ursache),  in 
dem  sich  das  Sein  und  Nichtsein  der  Wirkung  (voneinander) 
unterscheiden,  ist  auch  keine  solche  (innere)  Determination  ge- 
geben, durch  die  die  Wirkung  existiert  (und  existieren  muß), 
indem  sie  sich  nur  in  der  Möglichkeit  dazu  befindet,  von 
der  Ursache  bewirkt  zu  werden.*)  Diese  Determination  müßte 
80  beschaffen  sein,  daß  sich  durch  sie  (die  tatsächliche  Wirkung) 
unterscheidet*)  von  dem  Zustande,  in  dem  die  Wirkung  nicht 
aus  der  Ursache  stammt,  trotzdem  sie  aus  der  Ursache  ent- 
stehen kann.  Daher  verhält  sich  die  Möglichkeit,  daß  das  Ding 
durch  die  Ursache  zur  Existenz  gebracht  werde,  zu  dem  tat- 
sächlichen Bewirktwerden  oder  Nichtbewirktwerden  des  Dinges 
durch  die  Ursache  in  gleicher  Weise.  •)  Nehmen  wir  an,  etwas 
(eine  indifferente  Ursache)  verhielte  sich  in  gleicher  Weise  zum 
Verursachen  und  zum  Nichtverursachen  seiner  Wirkung.  Dann 
kommt  ihm  die  Bestimmung,  Wirkursache  zu  sein,  nicht  in  vor- 


1)  Diese  Ursache,  die  nnr  in  potentia  znr  Wirkung  ist,  würde  sich 
dann  wie  die  adaequate,  per  se  und  notwendig  wirkende  Ursache  verhalten. 

*)  Das  Verhältnis  wfire  nicht  dasselbe,  wenn  die  Ursache  determiniert 
wäre,  die  Wirkung  hervorzubringen.  Cod.  c  GL:  „d.  h.  für  das  Sein  und  das 
Nichtsein". 

*)  Bisher  wurde  die  indifferente  Ursache  als  in  potentia  zur  Wirkung 
angenommen.  Die  weitere  Ausführung  betrachtet  sie  als  aktueU  wirkend. 
Da  sie  nicht  aus  sich  und  in  sich  determiniert  ist,  so  mufi  sie  durch  ein 
äußeres  agens  zum  Wirken  determiniert  werden. 

*)  In  dem  tatsächlichen  Wirken  einer  indifferenten  Ursache  ist  kein 
hinreichender,  adaequater  Grund  für  die  Existenz  der  Wirkung  gegeben.  Es 
mufi  ein  äußeres  agens  hinzutreten. 

')  Die  Ursache  müfite  in  sich  bestimmt  determiniert  sein  zu  einer  der 
beiden  Möglichkeiten. 

*)  Die  Beziehung  dieser  Möglichkeit  zu  den  beiden  kontradiktoriscben 
FäUen  ist  ein  und  dieselbe,  weil  die  Ursache  als  eine  indifferente  an- 
genommen wurde. 


Digitized  by 


Googl( 


245 

züglicherem  Sinne  zu,  als  die  andere,  nicht  AVirkursache  zu 
sein.  (Für  beide  ist  sie  indifferent.)  Der  richtig  denkende  Ver- 
stand stellt  vielmehr  die  Forderung  auf,  daß  der  Zustand  ein- 
trete, in  dem  sich  das  Bewirktwerden  der  Wirkung  unterscheide 
von  ihrem  Nichtbewirktwerden. *)  Wenn  daher  jener  Zustand*) 
seinerseits  in  notwendiger  Weise  diese  Unterscheidung  (des  Seins 
von  dem  Nichtsein  der  Wirkung)  hervorbringt,  dann  ergibt  sich 
folgendes.  Tritt  dieser  Zustand  zur  (indifferenten)  Ursache 
hinzu  und  existiert  er  real,  dann  ist  die  Summe  des  Wesens 
(der  indifferenten  Ursache)  und  dasjenige,  was  sich  mit  der 
Ursache  verbindet,  im  eigentlichen  Sinne  die  (adäquate)  Ur- 
sache. Vor  diesem  (dem  Zusammentreten  des  „Zustandes"  und 
der  indifferenten  Ursache)  war  das  Wesen  (der  indifferenten 
Ursache)  Substrat  für  das  esse  causam  (adaequatam).  Dieses 
Wesen  verhielt  sich  wie  dasjenige,  das  Ui'sache  wird  (das  noch 
keine  Ursache  ist). 3)  Jene  Existenz^)  war  (vordem  sie  aktuell 
wirkt)  nicht  die  Existenz  der  Ursache.  Sie  verhielt  sich  (in 
ihrer  Indifferenz)  vielmehi*  so,  daß,  wenn  ein  anderes  Wirkliche 
(der  genannte  „Zustand",  der  die  Determination  der  indifferenten 
Ursache  herbeiführt)  zu  ihm  hinzugefügt  wird  und  wenn  es  den 
Charakter  des  Notwendigeü  besitzt,*)  die  Summe  beider  (der 
indifferenten  Ursache  und  des  Zustandes)  zur  eigentlichen  Ur- 
sache wird.  Dann  ergibt  sich  aus  dieser  Sunune  notwendiger- 
weise«) die  Wirkung,  sei  es  nun,  daß  dieses  Ding  (der  Zu- 
stand) ein  freier  Wille,  eine  Begierde,  ein  Zwang  oder  Naturdrang 
ist,  der  zeitlich  entsteht  oder  nicht,  oder  auf  eine  andere  Weise 
wird.   Sodann  kann  jenes  Ding  ein  Ding  der  Außenwelt  sein,  das 


0  Wenn  die  Ursache  nicht  zu  einer  der  beiden  Möglichkeiten  deter- 
miniert wird,  kann  keine  determinierte  Wirkung  eintreten. 

^  Dieser  „Zustand"  kann  als  passiv  oder  aktiv  angefaßt  werden. 
Letzteres  führt  Avicenna  im  folgenden  aus  und  so  gelangt  er  zu  dem  Begrifife 
einer  adaequaten  Ursache. 

•)  Es  war  also  nur  in  potentia,  Ursache  zu  werden.  Zur  Existenz  der 
Wirkung  genügte  dieses  noch  nicht. 

*)  Die  indififerente  Ursache  seihst  wird  hier  als  Existenz  oder  Existenz- 
art bezeichnet.   Es  ist  die  Seinsart  des  esse  in  potentia  ut  fiat  causa  gemeint. 

»)  Fehlt  in  CJod.  a,  b,  c.  Der  „Zustand"  muß  den  Ausschlag  gehen, 
also  seihst  notwendig  determiniert  sein  per  se. 

*)  Die  Ursache  muß  den  Charakter  des  Notwendigen  haben,  weil  sie 
der  Wirkung  diesen  selben  Charakter  verleihen  soll.  Denn  jede  Ursache  ist 
in^bezug  auf  die  Wirkung  notwendig. 


Digitized  by 


Googl( 


246 

die  Existenz  erwartet  durch  die  Existenz  der  Ursache  (d.  h.  dessen 
Existenz  selbst  abhängt  von  der  der  Ursache);  denn,  tritt  die 
(indifferente)  Ursache  in  eine  solche  Verfassung,  daß  die  Wirkung 
aus  ihr  hervorgehen  kann,  ohne  daß  eine  weitere  Bedingung 
vorerst  erfüllt  werden  müßte  (ist  sie  also:  in  dispositione 
proxima),  dann  ergibt  sich  die  Existenz  der  Wirkung  als  eine 
notwendige. 

Die  Existenz  jeder  Wirkung  ist  daher  notwendig,  sobald 
die  Ursache  existiert  (und  gleichzeitig  mit  ihr),  und  die  Existenz 
der  Ursache  hat  die  Existenz  der  Wirkung  notwendig  zur 
Folge.  In  der  Zeit  oder  dem  aevum  oder  in  anderen  Arten  der 
Zeit  existieren  sie  zugleich;  in  Rücksicht  auf  das  Wirklich- 
werden der  Existenz  jedoch  sind  sie  nicht  zugleich.  Die  Ur- 
sache davon  ist  die,  daß  die  Existenz  jenes  Dinges  (die  der 
Ursache)  nicht  von  der  Existenz  dieses  (der  Wirkung)  sich  ab- 
leiten läßt.  Die  Existenz  erhält  also  jenes  (die  Ursache)  nicht 
von  der  Existenz,  die  dieses  (die  Wirkung)  erlangt  und  besitzt. 
Vielmehr  hat  die  Wirkung  ihr  Dasein  infolge  davon,  daß  die 
Ursache  zur  Existenz  gelangte.  Daher  ist  also  jene  inbezug 
auf  das  Wirklichwerden  der  Existenz  „früher"  (als  die  .Wirkung). 

Dagegen  könnte  man  einwenden:  jedes  einzelne  dieser  beiden 
(der  Ursache  und  Wirkung)  verhält  sich  so,  daß  wenn  es  existiert, 
die  Existenz  des  anderen  ebenfalls  gegeben  ist.  Wird  ihm  die 
Existenz  aber  genommen,  dann  verliert  auch  das  andere  seine 
Existenz.  (Beide  verhalten  sich  also  in  diesem  Sinne  korrelativ), 
ohne  daß  das  eine  von  beiden  die  Ursache  sei  und  das  andere 
die  Wirkung;  denn  das  eine  von  beiden  besitzt  nicht  in  vor- 
züglicherem Sinne  den  Charakter  der  Ursache  im  Bereiche  der 
realen  Existenz  als')  das  andere.  Dagegen  erwidern  wii':  nach- 
dem wir  den  eigentlichen  Inhalt  dieses  Einwandes  (wörtlich: 
Urteiles)  betrachtet  haben:  es  trifft  nicht  zu,  daß,  „wenn"  eines 
von  diesen  beiden  (die  Ursache  oder  die  Wirkung)  die  Existenz 
besitzt,  das  andere  bereits  existieren  müßte,  ohne  daß  man  eine 
Unterscheidung  und  Verschiedenheit  (zwischen  beiden)  aufstellte.*) 
Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  das  Wort  „wenn**  eine  vielfache 
Bedeutung  haben  kann.     Es  bedeutet   entweder  erstens:   daß 

*)  Wörtlich:  „ohne  das  andere". 

*)  Die  Ursache  ist  nicht  in  demselben  Sinne  simultan  mit  der  Wirkung 
wie  die  Wirkung  mit  der  Ursache.  In  diesem  Unterschiede  besteht  das 
Wesen  beider. 


Digitized  by 


Googk 


247 

die  Existenz  jedes  einzelnen  der  beiden  (der  Ursache  und  der 
Wirkung)  sich  so  verhält,  daß,  „wenn"  das  eine  wirklich  auf- 
tritt, notwendig  auch  das  andere  (die  Wirkung)  aus  ihm  zur 
realen  Existenz  gelangt.  Oder  es  bedeutet  zweitens:  die 
Existenz  jedes  dieser  beiden  verhält  sich  so,  daß,  „wenn"  das 
eine  wirklich  ist,  notwendig  aus  ihm  für  den  Bereich  der 
Wirklichkeit  folgt,  daß  die  Existenz  des  anderen  bereits  früher 
Tatsache  war.  Oder  drittens:  „wenn"  die  Existenz  jedes  ein- 
zelnen dieser  beiden  Prinzipien  im  Verstände  wirklich  ist,  so 
ergibt  sich  daraus  notwendig,  daß  auch  das  andere  (die  Wirkung) 
im  Verstände  wirklich  wird.  Oder  viertens:  „wenn"  die 
Existenz  jedes  einzelnen  dieser  beiden  im  Verstände  wirklich 
ist,  so  ergibt  sich  daraus  für  das  Gebiet  des  Verstandes  (den 
ordo  logicus)  notwendig,  daß  auch  das  andere  (die  Ursache)  ent- 
weder in  der  realen  Existenz  oder  im  Verstände  bereits  früher 
wirklich  wurde. 

Das  Wort  „wenn"  hat  also  einen  allgemeinen  (analogice 
gebrauchten)  Sinn  und  kann  in  Irrtum  führen  in  Fällen  wie 
die  oben  genannten.  Daher  lehren  wir,  was  das  erste  anbetrifft, 
so  ist  dies  unrichtig  und  wird  nicht  zugegeben;  denn  das  eine  von 
beiden  (die  Ursache  und  die  Wirkung)  ist  so  beschaffen,  daß 
wenn  es  wirklich  ist,  aus  ihm  das  Wirklichsein  des  anderen 
sich  notwendig  ergibt,  nachdem  dasselbe  im  Zustande  der 
Möglichkeit  war.  Dies  ist  die  Ursache.  Was  aber  nun  das 
Verursachte  anbetrifft,  so  ergibt  sich  aus  seinem  Wirklichsein 
nicht  das  Wirklichsein  der  Ursache,  sondern  die  Ursache  war 
bereits  wirklich,  als  das  Verursachte  erst  eintrat.  Was  nun 
aber  den  zweiten  Fall  angeht,  so  wird  er  in  Beziehung  auf  die 
Ursache  nicht  zugegeben;  denn  wenn  die  Ursache  existiert,  so 
ist  es  betreffs  der  realen  Existenz  nicht  notwendig,  daß  das 
Verursachte  bereits  früher  aus  sich  oder  ohne  die  Ursache 
existierte.  Der  Grund  dafür  ist:  wenn  die  Wirkung  bereits 
früher  existierte,  dann  ergibt  sie  sich  in  der  realen  Existenz') 
nicht  notwendig  aus  dem  Wirklichsein  der  Ursache.  Denn  die 
Ursache    existierte    und    war    bereits    früher   selbständig  2)    im 


*)  Ayicenna  unterscheidet  mit  Nachdruck  den  ordo  logicus  und  realis, 
weil  die  Beihenfolge  im  Erkennen  vielfach  die  umgekehrte  ist,  wie  die  im 
Sein.    Wir  erkennen  meistens  zuerst  die  Wirkung. 

»)  Die  Ursache  ist  selbständig,  d.  h.  sie  ist  im  Sein  nicht  abhängig  von 
der  Wirkung  oder  einer  anderen  Ursache.    Von  der  Wirkung  gilt  das  Gegen- 


Digitized  by 


Googk 


248 

Sein.  Es  sei  denn,  daß  man  unter:  „die  Wirkung  existierte" 
nicht  versteht:  die  Wirkung  war  in  der  Vergangenheit  exi- 
stierend.') Jedoch  die  simultane  Verbindung  beider  ist  zu- 
treffend. Dann  aber  trifft  das  Simultansein  von  selten  des 
Verursachten  nicht  zu  in  zwei  Hinsichten.  Erstens:  Wenn  die 
Ursache  aktuell  existiert,  so  ergibt  sich  ihre  Existenz  nicht 
folgerichtig  aus  der  Existenz  der  Wirkung;  zweitens:*)  wenn 
das  Verursachte  bereits  >\irklich  geworden  ist,  kann  in  keiner 
Weise  seine  Existenz  notwendig  werden  durch  das  Wirklich- 
werden eines  Dinges,  daß  man  als  ein  wirklich  „werdendes** 
annimmt,  es  sei  denn,  daß  man  mit  den  TerminiLS  „wirklich 
geworden  ist*^  nicht  seine  eigentliche  Bedeutung  verbindet 
(sondern  ihn  versteht  als  „wirklich  wird*"). 

Was  nun  die  beiden  anderen  (logischen)  Teile  anbetrifft 
so  ist  der  erste  von  ihnen  zutreffend,  denn  man  kann  sagen« 
wenn  die  Ursache  im  Vei-stande  wirklich  ist,  dann  ist  auch  für 
das  Denken  notwendig,  daß  die  Wirkung  eintritt,  deren  Ui-sache 
jene  notwendig  per  se  ist  in  ordine  logico;  femer:  wenn  die 
Wirkung  im  Veretande  existiert,  dann  muß  ebenso  im  Verstände 
die  Existenz  der  Ursache  wirklich  sein.  Was  nun  den  zweiten 
dieser  genannten  Teile  angeht,  nämlich  den  vierten  Fall  (dieser 
ganzen  Auseinandersetzung),  so  ergibt  sich  aus  ihm  die  Richtig- 
keit deiner  Behauptung,  daß  der  Verstand,  wenn  die  Wirkung 
wirklich  eintritt,  erkennt,  daß  die  Ursache  bereits  eine  Existenz 
notwendigerweise  besaß.  Diese  Existenz  ist  fertig  und  abge- 
schlossen, wenn  die  Wirkung  auftritt.  Manchmal  existiert  die 
Ursache  jedoch  in  der  logischen  Ordnung  später  als  die  Wirkung, 
freilich  nicht  der  Zeit  allein  nach.  Der  zweite  Fall  dieser 
beiden,  die  beide  zum  vierten^)  gehören,  muß  nicht  zugegeben 
werden. 

teil.  Daher  muß  sie  ihr  Sein  von  der  Ursache  empfangen.  Wörtlich:  -so 
daß  sie  in  Bezng  auf  ihr  Sein  entbehren  konnte"  (nämlich  eine  Ursache). 

*)  Dann  bedeutet  der  arab.  Ausdruck:  die  Wirkung  bestand  oder  war 
gegeben  „gleichzeitig'*  mit  der  Existenz  der  Ursache.  Das  Perfektum  und 
Imperfektum  haben  ursprünglich  keine  temporale  Bedeutung,  sondern  be- 
zeichnen die  Aktionsarten  der  fertigen  oder  werdenden  Handlung. 

*)  In  diesen  zwei  Punkten  sind  also  Wirkung  und  Ursache  nicht  toU- 
ständig  korrelativ.    Die  Wirkung  steht  vielmehr  der  Ursache  nach. 

*)  Die  vier  Annahmen  bezeichnen  Ursache  und  Wirkung  I.  als  real,  so 
daß  beide  a)  simultan  sind  oder  b)  nicht;  ü.  als  logisch,  so  daß  beide  a)  zu 
gleich  oder  b)  nacheinander  erkannt  werden.    Zum  letzten  wird  noch  der  aus 


Digitized  by 


Googl( 


249 

Ebenso  verhält  sich  die  Sache  bei  der  Verneinung.  Ver- 
neinen wir  die  Ursache,  so  verneinen  wir  auch  in  Wahrheit  die 
Wirkung.  Wenn  wir  jedoch  die  Wirkung  verneinen,  dann  ver- 
neinen wir  damit  noch  nicht  die  Ursache,  sondern  wir  sind  uns 
bewußt,  daß  die  Ursache  bereits  früher  ihre  Existenz  in  sich 
selbst  verloren  haben  muß,  damit  die  Nichtexistenz  der  Wirkung 
möglich  werde.  Setzten  wir  jedoch  die  Wirkung  als  nicht- 
existierend  voraus,  dann  nehmen  wir  zugleich  das  an,  was  not- 
wendig mit  dieser  Voraussetzung  potentiell  verbunden  ist  (d.  h. 
was  in  dieser  Voraussetzung  einbegriffen  ist),  nämlicli  daß  die 
Nichtexistenz  der  Wirkung  möglich  war.  Wenn  diese  aber 
möglich  war,  so  ist  sie  nur  dadurch  möglich,  daß  zuerst  die 
Nichtexistenz  der  Ursache  eintraf.  Die  Nichtexistenz  und  Exi- 
stenz der  Ursache  sind  also  l^rsachen  für  die  Nichtexistenz  der 
Wirkung  resp.  ihre  Existenz.  Die  Nichtexistenz  der  Ursache 
ist  ein  Hinweis  auf  (ein  Anzeichen  für)  die  Nichtexistenz  der 
Ursache  und  ebenso  ist  die  Existenz  der  Wirkung  ein  Hinweis 
auf  die  Existenz  der  Ursaclie. 

Wir  wollen  nun  zurückkehren  zu  unserem  Ausgangspunkte 
an  dem  wii*  die  Diskussion  verließen  und  lehren  daher  betreffs 
der  Losung  des  angeregten  Zweifels:  das  Zugleichsein  (der  Ur- 
sache mit  der  Wirkung  und  ebenso  des  Bedingten  mit  der  Be- 
dingung) ist  nicht  dasjenige,  was  dem  einen  von  beiden  Teilen 
den  Charakter  der  Ursache  verleiht.  Dann  müßte  das  eine  von 
beiden  nicht  in  vorzüglicherem  Sinne  diesen  Charakter  besitzen 
als  das  andere,  weil  beiden  die  Simultaneität  (natürlich)  in 
gleicher  Weise  zukommt.  Beide  sind  vielmehr  nur  darin  ver- 
schieden, daß  das  eine,  so  haben  wir  angenommen,  so  beschaffen 
ist,  daß  seine  Existenz  nicht  durch  das  andere  notwendig 
herbeigeführt  wii'd,  sondern  vielmehr  zugleich  mit  dem  anderen 
existiert.  Wir  hatten  f enier  bezüglich  des  zweiten  angenommen : 
ebenso  wie  seine  Existenz  gleichzeitig  mit  der  Existenz  des 
anderen  besteht,  ebenso  solle  es  auch  (als  Wirkung)  dui'ch  den 
anderen  bestehen.  Auf  diese  Weise  wird  die  angeregte  Frage 
dargetan. 

Ein  weiteres  Problem,  das  hier »)  noch  gestellt  wird,  betrifft 
die  Potenz  und  den  Akt.     Es  fragt  sich,  welches  von  beiden 

Bealem  und  Logischem  gemischte  Fall  hinzugefügt,  daß  das  eine  der  beiden 
der  realen  Existenz  nach  früher  sei,  während  es  in  der  logischen  später  ist. 
')  Cod.  c  GL:  „d.  h.  betreffs  des  Früher  und  Später". 


Digitized  by 


Googk 


250 

früher  und  welches  später  sei  als  das  andere.  Die  Kenntnis 
dieser  Verhältnisse  gehört  zu  den  überaus  wichtigen  Erkennt- 
nissen betreffs  des  Begriffes  des  Früher  und  Später.  Femer 
stellt  sich  das  Problem,  ob  die  Potenz  und  der  Akt  selbst  zu 
den  (zufälligen)  Akzidenzien  des  Seienden  gehören  und  zu  seinen 
Inhärenzien  (den  Proprietäten)  und  zu  den  Dingen,  die  not- 
wendigerweise erkannt  werden  müssen,  wenn  man  die  Verhält- 
nisse des  Seins  im  absoluten  Sinne  versteht 


Zweites  Kapitel 

Die  Potenz  und  der  Akt,  das  Vermögen  und  das  Unvermögen  und  der 
Beweis  für  die  Existenz  der  Materie  in  jedem  Dinge,  das  entsteht 

Der  Terminus  „Potenz"  und  dasjenige,  was  man  mit  ihm 
bezeichnen  will,  wurde  zunächst  angestellt  zur  Bezeichnung  des 
Wirklichen,  das  im  Lebewesen  vorhanden  ist,  und  durch  das 
mannigfache  Handlungen,  die  Bewegungen  sind,  aus  dem  Lebe- 
wesen hervorgehen  können.  Aus  anderen  Wesen  entstehen 
keine  solchen  Handlungen,  weder  in  der  Quantität  noch  in  der 
Qualität.*)  (Daher  muß  in  den  ersteren  notwendig  eine  besondere 
Fähigkeit  angenommen  werden,  die  diesen  Unterschied  erklärt.) 
Da.s  Gegenteil  davon  nannte  man  impotentia.  Die  Fähigkeit 
verhält  sich  wie  ein  Zuwachs  und  eine  Intensität,  die  unter  die 
Kategorie  der  Potenz  (der  Macht)  fällt  Sie  besteht  darin,  daß 
das  Tier  in  einem  solchen  Zustande  sich  befindet,  daß  von  ihm 
die  Handlung  ausgeht,  wenn  es  will,  und  daß  die  Handlung 
nicht  vom  ihm  ausgeht,  wenn  es  nicht  wilL  Das  Gegenteil 
dieses  Zustandes  wird  Schwäche  genannt. 

Der  Begriff  der  Potenz  wurde  dann  von  dieser  Fähigkeit 
übertragen  um  die  „ratio"  (das  Ding)  zu  bezeichnen,  infolge- 
deren  ein  Ding  sich  nicht  leicht  passiv  verhält;  denn  es  trifft 
zu,  daß  derjenige,  der  verschiedene  Handlungen  und  Bewegungen 
vollzieht,  von  denselben  zugleich  in  passiver  Weise  eine  Ein- 


*)  Cod.  c:  „Diese  Handlangen  entstehen  nicht  sicut  in  plmibns  ans 
den  Menschen  (sondern  konunen  ebensogut  den  Tieren  als  vegetative  und 
sensitive  Tätigkeiten)  zu.  "* 


Digitized  by 


Googl( 


251 

Wirkung  empfängt.  Sein  Leiden  und  der  Schmerz,  der  ihm  dui-cli 
die  Handlung  zustößt,  hält  ihn  zurück,  die  Handlung  zu  vollenden. 
(Die  Potenz  muß  also  dieses  Hemmnis  überwinden.)  Befindet  er 
sich  dann  in  dem  Zustande  des  sinnlich  wahrnehmbaren  Leidens, 
so  kommt  ihm  der  Zustand  der  „Schwäche"  zu.  Er  besitzt 
dann  nicht  die  „Potenz".  Befindet  er  sich  aber  nicht  in  einem 
passiven  Zustande,  so  sagt  man  von  ihm  die  Potenz  (Macht)  aus. 
Der  Umstand,  daß  er  sich  nicht  im  passiven  Zustande  befindet, 
ist  daher  ein  Hinweis  darauf,  daß  er  eine  aktive  Potenz  besaß.^) 

Sodann  übertrug  man  den  Terminus  dieser  „ratio"  (der 
Potenz)  auf  einen  weiteren  Begriff,  so  daß  der  Umstand,  daß  der 
Handelnde  nur  leicht  passiv  afflziert  wird,  als  Potenz  gilt, 
selbst  wenn  er  in  keiner  Weise  tätig  ist.  Sodann  bezeichnet 
man  dasjenige  Ding,  das  überhaupt  keine  Einwirkung  erleidet, 
im  vorzüglichem  Sinne  mit  diesem  Namen,  und  daher  nannte  man 
seine  Rangstufe,  insofern  es  keine  Einwirkung  erleidet,  eine 
Potenz.  Femer  bezeichnet  man  die  Macht  selbst  als  Potenz, 
weil  sie  das  erste  Prinzip  der  Handlung  ist.  Sie  ist  der  „Zu- 
stand" (das  voluntarium)  der  dem  Tiere  zukommt.  Durch  den- 
selben kommt  es  dem  Tiere  zu,  tätig  zu  sein  oder  nicht  nach 
Maßgabe  des  Wollens  oder  Nichtwollens  und  der  Beseitigung 
der  Hindemisse.  Man  nannte  sie  Potenz,  weil  sie  erstes  Prinzip 
der  Handlung  ist. 

Die  Philosophen  übertmgen  sodann  den  Terminus  der  Po- 
tenz auf  andere  Gegenstände  und  wandten  ihn  im  allgemeinen 
Sinne  an  auf  jeden  Zustand,  der  sich  in  einem  Dinge  befindet. 
Er  ist  erstes  Prinzip  für  eine  Verändemng  die  von  ihm  auf  ein 
anderes  Ding,  insofern  es  ein  anderes  ist,^)  ausgeht,  selbst  wenn 
in  der  Ursache  kein  voluntarium  vorhanden  ist.^)  In  diesem 
Sinne  nannte  man  die  Hitze  eine  Potenz;  denn  sie  ist  Ursache 
der  Verändemng,  die  von  einem  Dinge  auf  ein  anderes  übergeht, 
insofern  dieses  ein  anderes  ist.  Ein  Subjekt,  das  sich  selbst  in 
Bewegung  setzt,  oder  ein  Arzt,  der  sich  selbst  kuriert,  verhält 
sich  so,  daß  die  Ursache  der  Verändemng,  die  von  ihm  ausgeht, 
in  ihm  vorhanden  ist.    Aber  diese  Veränderung  geht  nicht  aus 

*)  Wörtlick:  „auf  die  ratio,  die  wir  Potenz  genannt  haben". 

^  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1046  a  10:  cIqxv  fiBxaßoXIiq  iv  aXXip  y  «AAo.  i) 
fjilv  yoQ  zoC  TUtB'BZv  ioxl  övva^iq^  »/  h  avx(p  t(p  niaxovxi  dpxv  ftsraßoX^g 
na^xixfiq  in   aXXov  y  aXXo. 

')  Sie  gilt  also  auch  von  der  leblosen  Natur. 


Digitized  by 


Google 


252 

von  ihm  und  befindet  sich  nicht  in  ihm,  insofern  er  aufnahme- 
fähig ist  für  die  ärztliche  Behandlung  oder  für  die  Hitze;  son- 
dern insofern  er  ein  anderer  ist.  Der  Gegenstand  verhält  sich 
wie  zwei  verschiedene  Dinge,  ein  Ding,  daß  die  Fähigkeit  hat 
zu  wirken,  und  ein  anderes,  das  die  Fähigkeit  hat,  Wirkungen 
aufzunehmen.  Es  ist  möglich,  daß  die  beiden  Dinge  in  ihm 
real  getrennt  existieren  in  zwei  Teilen.  Daher  ist  er  z.  B.  der 
Bewegende  in  seiner  Seele,  der  Bewegte  in  seinem  Körper.  Er 
ist  der  Bewegende  durch  seine  Wesenform,  der  Bewegte  durch 
seine  Materie.  Insofern  der  kranke  Arzt  die  ärztliche  Behand- 
lung empfängt  ist  er  verschieden  <)  von  sich  selbst,  insofern  er 
die  ärztliche  Behandlung  erteilt. 

Man  fand  nun,  daß  das  Ding,  dem  eine  Potenz  in  dem  be- 
kannten Sinne  zukonmit  —  sei  es  nun,  daß  sie  eine  Macht  oder 
die  Intensität  einer  Potenz  darstellt  —  sich  nicht  so  verhält, 
daß  es  Bedingung  dieser  Potenz  ist,  daß  das  Ding  durch  die- 
selbe aktuell  wirkend  werde.  Insofern  das  Ding  eine  Potenz 
in  sich  enthält,  kommt  ihm  vielmehr  sowohl  die  Möglichkeit,  zu 
wirken,  und  ebensogut  die  Möglichkeit,  nicht  zu  wirken  zu.  Als 
man  dieses  konstatiert  hatte,  übertrug  man  die  Bezeichnung 
„Potenz"  auf  die  Möglichkeit  (zu  wirken  oder  nicht  zu  wirken). 
Daher  nannte  man  das  Ding,  dessen  Dasein  in  den  Bereich  des 
Möglichen  fällt,  ein  der  Potenz  nach  existierendes,  und  man 
nannte  die  Möglichkeit,  etwas  zu  empfangen  und  zu  erleiden, 
eine  passive  Potenz.  Sodann  bezeichnete  man  die  Vollendung 
dieser  Fähigkeit  als  Akt  (actus),  selbst  wenn  dieselbe  keine 
Tätigkeit  war,  sondern  ein  Leiden,  wie  z.  B.  das  Bewegtwerden 
actu  oder  das  Annehmen  einer  Gestalt  actu  und  ähnliche  Dinge.-) 
Unter  actus  versteht  man  das  tatsächliche  Eintreten  der  Exi- 
stenz ,3)  selbst  wenn  dieser  Vorgang  ein  Leiden  ist  oder  ein 
Ding,  das  weder  Akt  ist  noch  auch  ein  Leiden.    Manchmal  be- 

*)  Ein  und  dasselbe  kann  nicht  secundnm  idem  handelnd  und  leidend. 
Potenz  und  Akt  sein. 

»)  Cod.  d  c  b  add.:  „In  diesem  Vorgange  ist  das  Prinzip  vorhanden,  das 
Potenz  genannt  wird.  Femer  ist  das  Fundament  in  dem,  was  mit  diesem 
Namen  bezeichnet  wird,  nichts  anderes  als  das,  was  im  eigentUchen  Sinne  als 
Akt  gilt.  Dasjenige,  das  sich  zu  dem  hier  als  Potenz  bezeichneten  verhält  wie 
der  actus  zu  dem  früher  als  Potenz  benannten,  nannte  man  deshalb  actus." 
Das  Wirken  ist  actus  potentiae  activae  und  zugleich  auch  als  Leiden  actus 
potentiae  passivae. 

'•*)  Potenz Jstdanu^die  Mögüchkeit,  die  Existenz  zu  empfangen. 


Digitized  by 


Googk 


253 

zeichnete  man  mit  Potenz  die  höchste  Entwicklung  und  Intensität 
dieser  Verhältnisse.  Die  Mathematiker  benennen  das  Quadrat») 
die  Potenz  einer  Linie ,^)  die  Seite  dieses  Quadrates  ist,  und 
diese  Benennung  besagt,  daß  das  Quadrat  ein  Ding  ist,  das  in 
der  „Fähigkeit"  der  Linie  liegt,  besonders  wenn  man  sich  phan- 
tasiemäßig vorstellte,  daß  das  Quadrat  entsteht  aus  der  Be- 
wegung seiner  Seite.  Wenn  du  den  Begriff  der  Potenz  ver- 
standen hast,  dann  begreifst  du  auch,  was  Fähigkeiten  sind,  und 
femer  daß  die  impotentiae  sind:  das  Schwache,  das  Unvermögende 
oder  das,  was  leicht^)  eine  Einwirkung  in  sich  aufnimmt,  oder 
das  Denknotwendige,  oder  der  Umstand,  daß  die  Dimension  der 
Linie  nicht  (durch  Quadratur)  Seite  werde  für  die  Dimension 
der  Fläche,  die  man  annahm.*) 

Manchmal  entsteht  infolge  aller  dieser  Verhältnisse  und 
Bezeichnungen  eine  Schwierigkeit  betreffs  der  Potenz,  die  die 
Bedeutung  der  Fähigkeit  (Macht)  hat.  Man  kann  der  Meinung 
sein,  daß  sie  nur  demjenigen  inhäriert,  das  aktuell  wirkend  wird 
oder  nichts)  Ist  das  Ding  aber  so  beschaffen,  daß  es  nur  wirkend 
ist,  dann  ist  man  nicht  der  Ansicht,  daß  diesem  eine  Fähigkeit 
(zu  dieser  Wirkung)  zukomme.  Dieses  jedoch  ist  unrichtig; 
denn  nehmen  wir  an,  das  Ding,  das  nur  wirkend  ist,  wirke  ohne 
Yoluntarium  zu  besitzen  (also  durch  Naturnotwendigkeit).  Das- 
selbe besitzt  keine  Fähigkeit  (Macht)  zum  Handeln  noch  eine 
Potenz  in  diesem  Sinne.  Handelt  es  aber  durch  ein  voluntarium, 
abgesehen  von  dem  Falle  daß  es  durch  ein  beständig  determiniertes 
voluntarium  handelt,  ohne  daß  dieses  sich  ändert  auf  Grund 
zufälliger  Verhältnisse  oder  notwendiger,«)  dann  wirkt  dasselbe 

')  Cod.  cb  add.:  „Man  fand,  daß  einige  Linien  so  beschaffen  sind,  daß 
sie  ZOT  Seite  eines  Quadrates  werden  können,  daß  andere  aber  nicht  die  Seite 
^jenes"  Quadrates  bilden  können.  Deshalb  bezeichnete  man  jenes  Quadrat  als 
die  Potenz  jener  Linie. 

')  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1046:  tovrwv  6*Sacci  fihv  6fiO)vv(iw(;  Uyovxai 
övvofieiQ  dtpsia&oHfav,  fvtai  yctg  ofioioxrixl  tivi  Xiyovxai  xa^mtBQ  iv  yewptS' 
tQia,  xal  öwttta  xal  aSvvaxa  kiyofisv  t<j>  slval  luoq  ^  fiij  elvai, 

•)  Was  schwer  eine  Einwirkung  aufnimmt,  nennt  man  Potenz. 

*)  AUe  kontradiktorischen  Gegensätze  der  Potenzen  werden  Impotentiae 
genannt. 

*)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1016  b  4:  nSaat  al  xi/vai  xal  al  noiTjtixal  xal 
intaniftat  öwdfjteig  iiaiv,  oqx^^  Y^q  fjtetaßXijtixal  iioiv  hv  aXX<p  y  aXko. 
xal  al  fihv  (uxä  Xoyov  n&aai  xiäv  ivavxlmv  al  avxal  a^  f  aXoyoi  fiia  hvoq, 
olov  xo  ^BQfiov  xoi}  &€Qfiatveiv  fiovov,  ^  6h  laxQtx^  voaov  xal  vyislaq, 

•)  Cod.  b  d:  „oder  ist  seine  Veränderung  per  se  innerlich  unmöglich". 


Digitized  by 


Googk 


254 

durch  Vermittlung  einer  Fähigkeit;  denn  die  Definition  der 
Fähigkeit  durch  die  man  diese  Potenz  definiert^  ist  dort  (in  diesem 
Wirken)  real  existierend.  Es  ist  nämlich  betreffe  dieses  Han- 
delnden richtig,  daß  er  wirkt,  wenn  er  will,  und  daß  er  nicht 
wirkt,  wenn  er  nicht  will.  Beide  Zustände  sind  von  einer  Be- 
dingung abhängig  d.  h.  „wenn"  er  will,  wirkt  er,  und  „wenn^ 
er  nicht  will,  läßt  er  von  der  Wirkung  ab.  Ebenso  verhalten 
sich  die  beiden  Möglichkeiten  in  der  Definition  der  Fähigkeit 
Sie  haben  dort  den  Charakter  von  zwei  Bedingungen.  Zu  dem 
Begriffe  der  Bedingung  gehört  aber  nicht,  daß  in  ihm  in  irgend 
einer  Weise  eine  Ausnahme  vorhanden  sei,  oder  eine  „prädikative^ 
Wahrheit  (die  nicht  von  einer  Bedingungung  abhängt,  sondern 
einfachhin  als  Aussage  formuliert  wird);  denn  wenn  unsere  Aus- 
sage richtig  ist :  der  Handelnde  wirkt  nicht,  wenn  er  nicht  will, 
so  ist  dieses  kondizionale  Verhältnis  immer  wahr;  jedoch  will  er 
manchmal  nicht  Wenn  es  jedoch  unrichtig  ist,  daß  er  überhaupt 
nicht  will,  so  ergibt  sich  ebenfalls,  daß  der  Satz  unrichtig  ist: 
wenn  (d.  h.  wann)  er  nicht  will,  wirkt  er  nicht;  denn  dieser 
Satz  hat  zur  Konsequenz:  wenn  er  nicht  wollte,  würde  er  nicht 
wirken,  ebenso  wie  die  andere:  wenn  er  will,  wirkt  er.  Wenn 
daher  richtig  ist:  wenn  er  will,  handelt  er,  dann  ist  ebenso 
umgekehrt  richtig:  wenn  er  wirkt,  so  wollte  er  bereits  früher, 
d.  h.  wenn  er  wirkt,  so  tat  er  dieses,  weil  er  vermögend  ist,  zu 
handeln,  und  darum  ist  ebenfalls  richtig:  wenn  er  nicht  wollte, 
handelte  er  nicht,  und  umgekehrt:  wenn  er  nicht  handelte, 
dann  wollte  er  auch  nichts)  Dieses  kondizionale  Verhältnis 
besagt  aber  nicht,  daß  der  Mensch  notwendigerweise  in  einer 
bestimmten  Zeit  nicht  wolle.  Dieses  ist  für  denjenigen  klar, 
der  die  Logik  begriffen  hat 

Diese  Kräfte,  die  die  ersten  Prinzipien  der  Bewegungen 
und  Handlungen  sind,  sind  zum  Teil  solche,  die  mit  der  Vernunft 
und  der  Phantasie  verbunden  bestehen,  zum  Teil  solche,  die 
nicht  mit  ihnen  verbunden  sind.  Diejenige  Fähigkeit  nun,  die 
mit   der  Vernunft  und   der  Phantasie  verbunden    ist,    gleicht 


')  Diese  Ansfühningen  woUen  die  Existenz  Ton  Fähigkeiten  nachweisen 
und  besagen,  dafi  die  Handlung  des  Wirkenden  sich  nicht  notwendig  aus 
seinem  Wesen  ergibt.  In  letzterem  FaUe  müfite  sie  mit  Notwendigkeit  so 
lange  erfolgen,  wie  das  Wesen  besteht.  Erfolgt  sie  aber  nur  zeitweilig,  nicht 
notwendig,  dann  muß  sie  durch  Vermittlung  einer  besonderen  Fähigkeit  ans 
dem  Subjekte  hervorgehen. 


Digitized  by 


Googk 


255 

diesen  beiden  ;^)  denn  durch  eine  einzige  Fähigkeit  kann  der 
Begriff  homo  und  non-homo  erkannt  werden,  und  durch  eine 
einzige  Kraft  stellt  man  sich  die  Lust  und  den  Schmerz  inner- 
lich vor;  kurz,  man  denkt  sich  das  Ding  und  sein  Gegenteil. 2) 
Daher  sind  also  die  Fähigkeiten  alle^)  oder  nur  einzelne  von  ihnen 
so  beschaffen,  daß  sie  sich  sowohl  auf  einen  Gegenstand,  wie 
auch  auf  dessen  Gegenteil  erstreckten.  In  Wahrheit  aber  bilden 
sie  keine  vollkommene  Potenz  d  h.  ein  erstes  Prinzip  der  Ver- 
änderung ab  alio  in  aliiun  inquantum  est  alius  und  zwar  insofern 
er  in  vollkommener  Weise  und  aktuell  ein  anderer  ist.*)  Die 
Fähigkeit  muß  vielmehr  mit  dem  W^illen  verbunden  sein,  indem 
der  Willensentschluß  ausgeht  entweder  von  einer  Überzeugung 
der  inneren  Vorstellung,  die  folgt  auf  eine  Phantasievorstellung 
konkupiszibeler  oder  iraszibeler  Natur  oder  von  einer  rein 
geistigen  Überzeugung,  die  folgt  auf  einen  geistigen  Inhalt  der 
cogitativa  oder  auf  die  Erfassung  einer  Wesensform.  Nehmen  wir 
an,  es  verbinde  sich  mit  dieser  Kraft  die  Willenskraft  und  sie  sei 
zugleich  nicht  etwa  noch  indeterminiert*)  sondern  determiniert. 
Dies  ist  nun  jene  Vereinigung  von  Kräften  (des  Verstandes  und 
des  Willens),  die  die  Bewegung  der  Glieder  hervorbringt.  Bildet 
sich  diese  Vereinigung,  dann  wird  die  Potenz  notwendigerweise 
erstes  und  aktuelles  Prinzip  für  die  Handlung,  das  notwendig 
wirkt;  denn  —  so  haben  wir  auseinandergesetzt  —  so  lange  die 
Ursache  nicht  aktuell  und  notwendig  Ursache  ist,  sodaß  sich 
aus  ihr  die  Wirkung  notwendig  ergibt,  kann  sie  die  Wirkung 
nicht  notwendig  zur  Folge  haben.«)    Vor  dem  dieser  Zustand 


»)  Cod.  c  d:  „der  Vernunft  und  der  Phantasie". 

«)  Vgl.  Thomas,  Sum.  theol.  I— U  8,  1  ad  1:  Eadem  potentia  est  op- 
positonun,  sed  non  eodem  modo  se  habet  ad  ntrumque.  Voluntas  igitur  se 
habet  ad  bonum  et  ad  malum,  sed  ad  bonum  appetendo  ipsum,  ad  malum 
vero  fogiende  Ulud;  und  ib.  I  62,  8  ad  2:  Virtutes  rationales  se  habent  ad 
opposita  in  iUis  ad  quae  non  ordinantur  naturaliter  (durch  Naturnotwendigkeit) 
sed  quantum  ad  iUa  ad  quae  naturaliter  ordinantur,  non  se  habent  ad  opposita. 
InteUectus  enim  non  potest  non  assentiri  principiis  naturaliter  notis  et  simi- 
liter  voluntas  non  potest  non  adhaerere  bono,  inquantum  est  bonum. 

«)  Wörtlich:  „als  sie  selbst". 

*)  Da  sie  auf  zwei  kontradiktorische  Gegensätze  gerichtet  sind,  sind 
sie  nicht  in  sich  für  einen  spezieU  determiniert,  müssen  also  von  aufien  eine 
solche  Determination  noch  erhalten,  bevor  sie  aktuell  wirken. 

*)  Cod.  c:  „hinneigend". 

•)  Vgl.  dazu  die  Ausführungen  Fär&bis,  Ringsteine  Nr.  2. 


Digitized  by 


Google 


256 

(des  Aktuell-  und  Notwendigwirkens)  eintritt,  ist  der  Wille  nur 
schwach,  ohne  daß  er  eine  Konzentration  von  Kräften  in  sich 
darstellt  (die  für  die  Determination  zur  Handlung  notwendig 
vorausgesetzt  werden).  Diesen  Kräften,  die  sich  mit  der  Vernunft 
einzeln  vereinigen,  ist  die  passive  (dienende  und  ausfuhrende) 
Kraft  präsent^)  und  tritt  zu  ihnen  in  Beziehung,  und  zwar  in  eine 
solche  Beziehung,  die,  wenn  sie  in  diesen  Kräften  hergestellt 
wird,  in  ihnen  das  hervorruft,  daß  sie  ihrerseits  auch  in  unter- 
gebenen Kräften  (oder:  „durch  diese  Beziehung")  wirkend  werden. 
Diese  befinden  sich  also  noch  im  Zustande  einer  Potenz  (wenn 
auch  die  passiven  Kräfte  präsent  sind).  Kurz,  es  ergibt  sich 
nicht  notwendig  aus  dem  Umstände,  daß  den  aktiven  Kräften  die 
passive  Potenz  gegenübersteht,  daß  erstere  die  Wirkung  ausüben; 
denn  wenn  sich  aus  jenen  aktiven  Kräften  allein  ergäbe,  daß 
sie  tätig  werden,  dann  wäre  die  notwendige  Konsequenz,  daß 
von  ihnen  die  beiden  konträren  Handlungen  und  ebenso  die 
zwischen  beiden  in  der  Mitte  liegenden  hervorgingen.^)  Dies 
jedoch  ist  unmöglich.  Wenn  aber  die  Verhältnisse  so  eintreflfen, 
wie  wir  auseinandergesetzt  haben,  (so  daß  sich  mit  dem  Willen 
noch  andere  Bedingungen  der  Handlung  verbinden,  die  ihn  zur 
bestimmten  Handlung  determinieren)  dann  wirkt  er  notwendig. 
Was  nun  die  Kräfte  angeht,  die  in  solchen  Wesen  vor- 
handen sind,  die  nicht  mit  Vernunft  noch  mit  Phantasie  (d.  h. 
mit  den  Erkenntniskräften  der  inneren  Sinne)  begabt  sind,  so 
ergibt  sich  notwendigerweise  die  äußere  Handlung,  wenn  das 
aktive  Prinzip  mit  der  passiven^)  Potenz  zusammentrifft;  denn 
in  diesem  Wesen  ist  kein  voluntarium  vorhanden  noch  eine 
freie  Wahl,  die  den  Aufschub  der  Handlung  bedingt^)    Tritt 


1)  Avicenna  steUt  hier  die  Lehre  auf,  dafi  die  WiUenshandlong  durch 
die  Fähigkeiten  des  Körpers  und  ihr  Objekt  nicht  notwendig  bestimmt  wird. 
Die  einzehien  Fähigkeiten  sind  auf  zwei  Eontradiktoria  gerichtet,  also  in- 
determiniert. Nur  das  Hinzutreten  der  „Überzeugung"  oder  der  inneren  Vor- 
steUung  von  der  Handlung,  also  ein  intellektuelles  Moment,  gibt  den 
Ausschlag  und  führt  die  Determination  herbei. 

')  Die  aktiven  Kräfte,  in  sich  betrachtet,  sind  nicht  auf  ein  Objekt 
mehr  determiniert  wie  auf  ein  anderes. 

>)  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  I  25, 1  c:  potentia  acüva  est  principinm 
agendi  in  aliud,  potentia  vero  passiva  est  principinm  patiendi  ab  alio  und 
ib.  77,  3  c:  omnis  actio  Tel  est  potentiae  actiyae  Tel  passivae;  obiectum  aotem 
comparatur  ad  actum  potentiae  passivae  sicut  principinm  et  causa  movens. 
Color  enim,   inquantum  movet  visnm,   est  principinm  visionis.     Ad   actum 


Digitized  by 


Googk 


ä5? 

aber  auch  in  diesen  Wesen  ein  Anfschnb  der  Handlung  ein,  so 
ist  es  eine  Naturanlage  selbst,  die  den  Aufschub  bedingt.*)  (Der- 
selbe findet  also  auf  Grund  des  Instinktes  statt)  Ist  nun  diese 
Verzögerung  eingetreten,  so  bedarf  2)  es  einer  besonderen  Natur- 
anlage. Diese  Naturanlage  ist  nun  entweder  erstes  Prinzip  der 
Handlung  oder  Teil  eines  solchen  Prinzipes.  Das  erste  Prinzip 
besteht  aus  einer  Summe  von  dem  was  bereits  vorhanden  war 
(der  ersten  Potenz)  und  entstand  (den  determinierenden  Momenten). 
Dann  aber  wird  dieses  Prinzip  ähnlich  dem  Willen,  der  eine  Hand- 
lung verzögern  kann.»)  Jedoch  besteht  der  Unterschied,  daß 
der  freie  Wille  mit  Erkenntnis  ausgestattet  ist,  die  Naturanlage 
aber  nicht*) 

Die  passive  Potenz  muß  vollkommen  sein,  sodaß,  wenn  sie 
mit  der  aktiven  Potenz  zusammentrifft,  das  Leiden  (die  passive 
Einwirkung)  sich  notwendig  ergibt  Unter  den  passiven  Potenzen 
gibt  es  auch  solche,  die  unvollkommen  sind;^)  denn  einige  von 
ihnen  sind  nahe  (potentiae  proximae),  andere  femer  (potentiae 
remotae)  wie  z.  B.  das  Sperma  und  der  Mann.  Das  Sperma  ist  in 
der  Potenz  ein  Mann,«)  jedoch  nur  in  der  entfernten  Potenz 
(potentia  remotä),  denn  derselbe  bedarf  bewegender  Kräfte,  die 


autem  potentiae  actdvae  comparatur  obiectom  ut  tenninns  et  finis,  sicnt 
angmentativae  virtutis  obiectnm  est  qnantum  perfectum,  qiiod  est  finis  ang- 
mentL  Ayicenna  versteht  unter  potentia  passiva  ein  Prinzip,  das  mit  der 
potentia  activa  verbanden,  die  Handlang  folgerichtig  ergibt.  Es  sind  also 
die  Yorbedingongen  der  Handlang  von  Seiten  des  Instramentes  and  des  Ob- 
jektes and  das  Entfernen  der  Hindemisse  gemeint. 

')  Wörtlich:  „Die  erwartet  wird". 

')  Um  die  Hemmang  zn  überwinden,  maß  ein  äußeres  agens  auftreten, 
oder  eine  andere,  innere  Naturanlage. 

")  Die  determinierenden  Momente  können  mangeln.  Dann  ist  die 
Handlang  angeschoben,  ähnlich  der  WiUenshandlung. 

*)  Ck>d.  c,  d:  haben  einen  im  Sinne  vollkommen  übereinstimmenden,  dem 
Wortlaute  nach  aber  verschiedenen  Text.  Man  wäre  versucht  an  eine  zweite 
Anagabe  zu  denken,  wenn  nicht  eine  andere  Erklärung  näher  läge.  Avicenna 
bemühte  sich  nicht  sehr  um  den  Wortlaut.  Er  diktierte  schnell  und  überließ 
dann  den  Text  seinen  Freunden,  ohne  sich  weiter  um  ihn  zu  bekümmern. 
Diese  mögen  Undeutlichkeiten  der  Schnellschrift  verschieden  ausgeglichen  haben. 

*}  Aus  diesen  ergibt  sich  das  Wirken  nicht  unmittelbar  und  notwendig, 
wenn  sie.  mit  dem  aktiven  Prinzipe  sich  verbinden. 

^  Ck>d.  c,  b:  „Das  Sperma  besitzt  die  Kraft  ein  Mann  zu  werden.  Der 
Knabe  besitzt  ebenfalls  die  Kraft  (potentia  proxima),  ein  Mann  zu  werden". 
Die  protentia  proxima  ist  dadurch  bestimmt,  daß  sie  keiner  vermittelnden 
Kräfte  mehr  bedarf,  um  zur  Wesensform  zu  gelangen. 

Horten,  Dm  Buch  der  Oenesnng  der  Seele.  17 


Digitized  by 


Google 


258 

sich  mit  ihm  eng  verbinden,  bevor  die  bewegende  Kraft  eintritt, 
die  ihn  (direkt)  zn  der  Natur  des  Mannes  hinbewegt  Zuerst 
muß  die  Potenz  (oder  der  Beweger)  manche  Dinge,  die  nicht 
Mann  sind,  hervorbringen  (wörtlich:  von  der  Potenz  in  den  Akt 
überftihrenJ)  Nach  diesen  wird  die  Fähigkeit  mit  den  Dis- 
positionen ausgestattet,  sodaß  sie  einen  Mann  zur  aktuellen  Exi- 
stenz bringt  Die  passive  Potenz  in  ihrer  eigentlichen  Bedeutung 
ist  diese.  2)  Das  Sperma  ist  also  in  der  (passiven)  Potenz  ein 
Mann;  denn  in  seiner  Potenz  ist  es  begründet,  daß  es  zunächst 
ein  bestimmtes  Ding  (menschlicher  Embryo)  werde,  sodann  ein 
anderes  (Kind),  bis  daß  es  zu  einem  Manne  (in  der  stufenweisen 
Entwicklung)  wird.')  (Die  Potenz  wird  also  von  einer  potentia 
remotä  zu  einer  potentia  proxima  und  erhält  dann  die  Wesens- 
form des  Dinges,  zu  der  sie  werden  soll) 

Ähnlich  verhält  sich  die  erste  Materie;  denn  in  der  Potenz 
ist  sie  jedes  Ding,  jedoch  ( —  dadurch  unterscheidet  sie  sich  von 
dem  Sperma  — )  ist  manches,  was  in  ihr  entsteht,  ein  Hinderms 
für  anderes,  und  dasjenige,  von  dem  die  Entwicklung  ferne  ge- 
halten wird,  (so  daß  sie  es  nicht  erreichen  kann),  verlangt  also 
die  Entfernung  jenes  Hindernisses.  Anderes  wiederum,  was  in 
der  Materie  entsteht,  hindert  ein  drittes  nicht  (in  ihr  zu  ent- 
stehen); jedoch  bedarf  es  (nur)  einer  neuen  Kraft,*)  die  (mit  der 


^)  Damit  sind  die  Zwischenstufen  gemeint  Kind,  Knabe,  Jfingling. 

')  Die  passive  Potenz  ist  also  das  materieUe  Prinzip  z.  B.  der  Same 
oder  der  Marmor  für  die  Bildsäule.  Dasselbe  wird  durch  eine  bewegende 
Kraft,  die  Lebenskraft  im  Sperma  oder  die  Tätigkeit  der  Kunst,  aUmShlich 
zur  Form  umgebildet. 

')  Cod.  c,  b:  Im  Sperma  ist  im  eigentlichen  Sinne  keine  weitere  pasnve 
Potenz.  (Das  Sperma  kann  nicht  jedes  beliebige  Ding  werden  wie  die  eiste 
Materie.  Femer  besitzt  es  nur  eine  einzige  Kraft,  wenn  auch  yerschiedene 
Dinge  aus  ihm  nacheinander  entstehen.  Denn  aUe  diese  Dinge  sind 
„eins''  in  formeller  Hinsicht,  d.  h.  in  der  Hinordnung  auf  die  Endphase,  die 
Wesensheit  des  Mannes).  Denn  es  ist  unmöglich,  dafi  der  Same,  indem  er 
Same  bleibt,  einen  Mann  bilde.  (Er  verliert  vielmehr  seine  Natur,  ist  also 
rein  passiv  und  wird  umgebildet.)  Jedoch  liegt  es  in  seiner  potentia,  eiii 
Ding  zu  werden,  das  nicht  Same  ist.  Dann  geht  die  Entwicklung  weiter  n 
einem  anderen  (zweiten)  Dinge,  welches  der  Potenz  nach  seinerseits  jenes 
(dritte)  ist.  Im  G^egensatz  dazu  steht  die  erste  Materie.  Sie  ist  der  Potenx 
nach  jedes  beliebige  Ding  (während  das  Sperma  nur  die  Formen  annehmen 
kann,  die  zur  Wesensform  des  Mannes  hinführen).  Einige  von  diesen  Dingen, 
die  in  der  Materie  entstehen,  hindern  andere  (im  Gtegensatse  lum  gen.  Bei^iele). 

«)  WörtHch:  „einer  Ctefährtin". 


Digitized  by 


Googl( 


25d 

Materie  verbunden  wird),  so  daß  die  Disposition  (für  die  Aufnahme 
der  anderen  Wesensform)  vollkommen  werde.  Diese  also  (die 
sich  mit  der  passiven  Potenz  verbindende)  ist  die  aktive  Potenz,*) 
von  der  die  Einwirkungen  ausgehen.  Das  Ding,  was  nur  in  der 
(„entferntsten")  Potenz  besteht,  erfordert,  daß  sich  mit  ihm  zu- 
nächst eine  aktive  Potenz  verbinde  und  zwar  vor  derjenigen 
aktiven  Potenz,  die  die  Gestalt  des  Schlüssels  herstellt.  Dieses  ist 
die  Potenz,  die  das  Holz  zerschneidet,  zersägt  und  hobelt.  Darauf 
tritt  eine  weitere  Disponierung  der  Materie  ein,  damit  sie  Ein- 
wirkungen von  der  aktiven  Kraft,  die  die  Form  des  Schlüssels 
herstellt  und  die  sich  mit  der  Materie  verbindet,  aufnimmt. 

Einige  Potenzen  treten  auf  auf  Grund  von  Naturanlagen, 
andere  auf  Grund  der  Gewohnheit,  wieder  andere  durch  Kunst- 
tätigkeit, noch  andere  durch  ZufalL  Der  Unterschied  zwischen 
der  Potenz,  die  durch  Gewohnheit  entsteht  und  derer,  die  durch 
Kunst  hervorgebracht  wird,  liegt  darin,  daß  diejenige,  die  durch 
Kunst  hervorgebracht  wird,  abzielt  auf  die  Anwendung  von  In- 
strumenten, verschiedenen  Materien  und  Bewegungen.  Durch 
diese  erwirbt  die  Seele  eine  Gewohnheit,  die  sich  so  verhält,  als 
ob  sie  die  Wesensform  dieser  Kunsttätigkeit  wäre.  Manchmal 
jedoch  stehen  der  Gewohnheit  keine  bestimmten  Instrumente  und 
verschiedene  Materien  zu  Gebote. 2)  Die  Gewohnheit  (einer  Hand- 
lung) entsteht  vielmehr  aus  einer  Begierde,  oder  dem  Zorne  (d.  h. 
der  vis  concupiscibilis  oder  irascibiüs),  oder  aus  einer  ethischen 
Ansicht,  oder  sie  verhält  sich  (im  Gegensatz  zur  Kunstfertigkeit) 
so,  daß  in  der  Gewohnheit  die  bewußte  Absicht  ein  Ziel  erstrebt, 
das  verschieden  ist  von  dem  letzten  Ziele  (der  gewohnheits- 
mäßigen Handlung).')    Diesem  folgt  manchmal  ein  anderes  Ziel, 


*)  CJod.  c,  b:  „Diese  passive  Potenz  ist  die  entferntere  (wenn  in  der 
Materie  eine  andere  Form  vorhanden  ist).  Die  potentia  proxima  ist  diejenige, 
die  es  nicht  erfordert,  mit  einer  aktiven  Potenz  verbunden  zu  werden  vor 
(dem  Eintritt)  „der"  aktiven  Potenz,  von  der  die  Wirkung  (direkt)  ausgeht. 
So  ist  der  Baum  nicht  in  potentia  (proxima)  ein  Schlüssel;  denn  der  Baum 
muß  sich  zunächst  mit  einer  aktiven  Potenz  verbinden,  die  verschieden  ist 
von  derjenigen,  die  den  Schlüssel  (direkt)  hersteUt." 

^  Die  Gewohnheit  bet&tigt  sich  unbewußt,  fast  instinktiv.  Ihre  In- 
strumente wendet  sie  nicht  mit  Überlegung  an.  Cod.  c,  b:  „Die  durch  G^ 
wohnheit  wirkende  Potenz  entsteht  aus  Tätigkeiten,  in  denen  jenes  (die 
Anwendung  von  Instrumenten)  nicht  bewußt  beabsichtigt  ist." 

>)  Die  bewußte  Zwecksetzung  bedient  sich  des  natürlichen  Zieles  der 
gewohiiheitsmäßigen  Handlung  als  Mittel  für  wdtere  Ziele. 

17* 


Digitized  by 


Googk 


260 

das  das  der  Gewohnheit  ist,^)  ohne  daß  dieses  jedoch  bewußter- 
weise erstrebt  würde. 

Die  Gewohnheit  ist  nun  nicht  dasselbe,  als  das  Vorhanden- 
sein der  Wesensformen  jener  verschiedenen  Handlungen  in  der 
Seele;  denn  es  ist  nicht  gleich,  ob  der  Mensch  sich  an  das  Gehen 
oder  die  Kunst  des  Schreiners  gewöhnt.  Der  Unterschied  liegt 
in  dem,  was  wir  erwähnt  haben.^)  Zwischen  beiden,  der  bewußt 
arbeitenden  Kunst  und  der  mechanisch-tätigen  Gewohnheit  (der 
Erkenntnisform  der  Tätigkeit  im  Geiste  und  der  Gewohnheit 
dieser  Tätigkeit),  ist  ein  grofser  Unterschied.  Trotz  desselben 
trifft  es  sich,  daß,  wenn  man  die  Aufmerksamkeit  abgewandt 
hat  bei  der  Arbeit,  die  Arbeit  nur  aus  Gewohnheit  und  mechanischer 
Fertigkeit  erfolgt  und  beide  auf  ein  und  dieselbe  Weise  von- 
statten gehen. 

Die  Potenzen,  die  auf  Naturanlage  beruhen,  bestehen  teil- 
weise in  den  nicht  animalischen  Körpern,*)  teilweise  in  den 
tierischen  Körpern.  Einige  der  ersten  Philosophen  —  zu  ihnen 
gehörte  Gärbaqü  —  behaupteten,  die  Fähigkeit  bestehe  zugleich 
mit  der  Handlung;  sie  gehe  ihr  nicht  voraus.  Viele  Philosophen, 
die  nach  diesem  (gegen  die  obige  Lehre)  in  vielfältiger  Weise 
Schwierigkeiten  vorbringen,  behaupten  dasselbe.  (Nach  diesen 
wäre  die  Potenz  nur  ein  Zustand  der  Substanz,  der  im  Augen- 
blicke der  Handlung  eintritt.  Sie  wäre  kein  bleibendes  Akzidens.) 

Wer  diese  Lehre  aufstellt,  behauptet  mit  anderen  Worten: 
der  Sitzende  vermag  nicht  zu  stehen  d.  h.  seiner  Natur  zufolge 
kann  er  nicht  aufstehen  solange  er  nicht  steht  Wie  könnte  er 
aber  auch  dann  aufstehen?  pie  Scholastiker  behandelten  diese 
Schwierigkeit  mit  der  Distinktion  des  sensus  compositus  und 
sensus  divisus  d.  h.  der  Sitzende  kann  in  sensu  composito  d.  h. 
während  er  sitzt,  nicht  stehen,  wohl  aber  in  sensu  diviso,  d.  h. 
nachdem  er  gesessen  hat*)  Dieser  Objizient  ist  also  konsequenter- 

1)  Ans  dem  bewußt  erstrebten  Ziele  ergibt  sich  das  der  Gewohnheit 
Wörtlich:  das  die  Gewohnheit  ist. 

*)  Die  „Formen"  beider  Tätigkeiten  sind  in  der  Seele,  anch  wenn  sich 
der  Mensch  noch  nicht  an  diese  Tätigkeiten  gewöhnt  hat.  Es  maß  also  cor 
Erkenntnisform  der  auszuführenden  Handlungen  noch  etwas  anderes  hiniu- 
treten,  damit  ein  habitus  entstehe. 

*)  Cod.  d  GL:  „Widerlegung  Aschails  und  seiner  Schule".  Sie  lehrten 
also,  nur  im  animalischen  Lebensprinzipe  seien  Potenzen. 

*)  Cod.  c,  b  add.:  „Es  liegt  dann  nicht  in  der  Natur  des  Holzes,  daß  es 
gehobelt  werden  kann.    Aber  wie  kann  es  dann  gehobelt  werden?" 


Digitized  by 


Googk 


261 

weise  nicht  vermögend  an  einem  Tage  zu  verschiedenen  Malen 
zu  sehen  und  die  Augen  zu  öffnen.  In  Wahrheit  ist  er  dann 
blind  (weil  er,  wenn  er  nicht  sieht,  keine  Potenz  zum  Sehen  be- 
sitzt). Vielmehr  ist  dasjenige,  was  nicht  existiert  und  für  das 
keine  Möglichkeit  der  Existenz  besteht,  unmöglich.  Daher 
kann  das  Ding,  das  existieren  kann,  auch  nicht  existieren,  sonst 
müßte  es  notwendig  sein.  Das  ens  possibile  aber  ist  entweder 
in  der  Möglichkeit,  ein  anderes  Ding  zu  sein  (werden)  und  (auch) 
nicht  zu  werden  —  dieses  (die  Möglichkeit  der  Veränderung)  ist 
das  Substrat*)  für  das  Ding,  das  eine  Wesensform  in  sich  auf- 
nehmen kann  (also  die  erste  Materie),  —  oder  das  ens  possibile 
ist  so  beschaffen  inbezug  auf  sich  selbst  (d.  h.  es  hat  eine  be- 
stimmte Natur,  die  etwas  anderes  werden  kann).  So  verhält 
sich  die  weiße  Farbe.  Wenn  nun  ein  Ding  in  sich  selbst  in  der 
Möglichkeit  ist,  zu  sein,  oder  nicht  zu  sein,  so  kann  es  sich  in 
zweifacher  Weise  verhalten.  Es  ist  (wird)  entweder  ein  bestimmtes 
Ding  und  dieses  verhält  sich  so,  daß  es,  wenn  es  wirklich  ist, 
in  sich  selbst  besteht  (wie  eine  Substanz).  Die  Möglichkeit 
seiner  Existenz  besteht  also  darin,  daß  es  in  der  Möglichkeit  ist, 
ein  Ding  zu  sein  das  unabhängig^)  besteht  Im  anderen  Falle 
ist  es  in  der  Möglichkeit,  wenn  es  real  existiert,  in  einem  anderen 
zu  sein  (als  Akzidens).  Wenn  nun  das  Mögliche  bedeutet,  daß 
es  in  der  Potenz  ist,  etwas  in  einem  anderen  (ihm  inhärierendes) 
zu  sein,  so  ist  also  die  Möglichkeit  seiner  Existenz  auch  in  diesem 
anderen  (wie  die  Möglichkeit  des  Akzidens  auch  in  der  Substanz 
ist).  Daher  ist  es  notwendig,  daß  dieser  andere  real  existiere, 
trotzdem  er  nur  der  Möglichkeit  nach  die  Existenz  besitzt.  Ein 
so  beschaffenes  Ding  aber  ist  sein  Substrat  (das  dadurch  wirklich 
wird,  daß  es  die  betreffende  Wesensform  in  sich  aufnimmt). 
Wenn  nun  aber  das  Mögliche  darin  besteht,  daß  es  in  sich  Be- 
stand habe,  nicht  in  einem  anderen,  noch  auch  in  irgendwelcher 
Abhängigkeit  von  einem  anderen  und  ohne  daß  es  zu  irgend 
einer  Art  der  Materie  in  Verbindung  stände,  in  der  es  existieren 
würde  wie  in  einem  Substrate  und  deren  es  in  irgend  welcher 
Weise  bedürfte,  dann  ist  die  Möglichkeit  seiner  Existenz  dem 
Dinge  vorausgehend  (wie  die  der  Substanz).    Sie  hängt  nicht 


1)  Dies  bezeichnet  hier  wohl  die  Voraasfletznng. 

*)  Wörtlich:    „loflgelört,  abstrakt",   d.  h.  frei  von  dem  esse  in  Sub- 


strate. 


Digitized  by 


Google 


262 

ab  von  einer  bestimmten  Materie  mit  Ansschluß  einer  anderen 
(sondern  nur  von  der  ersten  Materie),  noch  auch  von  einer  be- 
stimmten Substanz  mit  Ausschluß  einer  anderen;  denn  das  sobe- 
schaffene  Ding  hat  überhaupt  keine  Verbindung  mit  einem  Dinge 
(d.  h.  mit  einer  Substanz  in  der  es  wie  ein  Akzidens  inhärierte). 
Daher  ist  die  Möglichkeit  seiner  Existenz  (die  materia  prima) 
eine  Substanz:  denn  es  ist  ein  Ding,  das  in  sich  existiert  (nicht 
einem  anderen  wie  einem  subjektum  inhaesionis  inhäriert).  Kurz, 
wenn  die  Möglichkeit  seiner  Existenz  nicht  wirklich  ist  (d.  h. 
wenn  keine  erste  Materie  real  existiert)  dann  ist  es  nicht  in  der 
Möglichkeit  zur  Existenz,  d,  h.  unmöglich.»)  Weil  nun  dieses  (die 
erste  Materie  aus  der  die  Substanz  werden  soll)  wirklich  ist,  real 
existiert  und  in  sich  selbst  besteht,  wie  angenommen  wurde,  dann 
ist  es  also  eine  reale  Substanz;  oder  wenn  dieses  eine  Substanz 
ist,  dann  muß  es  ebenso  eine  Wesenheit  besitzen,  die  etwas  an- 
deres ist,  als  eine  reine  Relation;  denn  die  Substanz  ist  ihrem 
Wesen  nach  keine  Relation,  sondern  ein  Substrat  und  ein  Fun- 
dament für  eine  Relation.  Dieses  Ding,  das  in  sich  selbst  exi- 
stiert (die  gewordene  Substanz),  besitzt  also  eine  Existenz,  die 
größer  ist,  als  die  Möglichkeit  seiner  Existenz.  Durch  letztere 
ist  es  ein  Terminus  der  Relation.  (Durch  die  Möglichkeit  der 
Existenz  steht  das  Ding  in  Relation  zu  den  Bedingungen  und 
Phasen  des  Werdens).  Unsere  Ausführungen  bezogen  sich  aber 
auf  die  Möglichkeit  seiner  (der  Substanz)  Existenz  selbst  (nicht 
auf  die  reale  Substanz),  und  betrefe  dieser  Möglichkeit  steUen 
wir  die  Thesis  auf,  daß  sie  (also  die  erste  Materie)  nicht  in 
einem  Substrate  ist;  (denn  dieses  Substrat  hätte  bereits  ein 
Dasein;  dann  also  wäre  das  Ding  nicht  seinem  ganzen  Sein 
nach  in  der  Möglichkeit  zur  Existenz).  Nun  aber  ist  sie  (die 
Substanz)  tatsächlich  in  einem  Substrate  wirklich  geworden.*) 
Damit  ist  ein  Widerspruch  gegeben.  (Jeder  Aktualität  geht  also 
eine  Potenz  voraus.  Die  materia  prima  aber  ist  die  erste  Potenz.) 

^)  Verwandt  damit  ist  der  Gedanke,  der  in  der  Definition  des  M(^licheii 
ausgedrückt  ist.  Wenn  die  Ursache  eines  möglichen  Dinges  nicht  existiert, 
dann  ist  das  Ding  unmöglich.  Die  Definition  des  Mönchen  ist  dadurch  ge- 
geben, daß  die  Ursache  des  Dinges  real  existiert 

^)  Die  Möglichkeit  ist  in  der  realen  Substanz  wie  in  einem  Substrate. 
Jedoch  kann  man  nicht  von  der  ersten  Materie  sagen,  sie  sei  in  der  realen 
Substanz  wie  in  einem  Substrate.  Die  angeführte  Lehre,  die  A^icenna  im 
folgenden  zurückweist,  identifizierte  also  die  Möglichkeit  des  Werdois  mit 
der  realen  Materie,  dem  Ausgangspunkte  des  Werdens. 


Digitized  by 


Googk 


263 

Folglich  ist  es  nicht  möglich,  daß  ein  Ding,  das  in  sich 
selbst  bestehen  bleibt,  ohne  in  einem  Substrate  zu  sein,  oder  in 
irgend  einer  Weise  von  einem  solchen  abzuhängen,  reale  Existenz 
besitze,  bevor  es  wird  (oder  ist).  Es  muß  vielmehr  in  Ab- 
hängigkeit stehen  von  dem  Substrate  (obwohl  es  eine  Substanz 
ist),  damit  es  tatsächlich  zum  Sein  gelangt.  Besteht  nun  das 
Ding,  das  existiert,  in  sich  selbst  (wie  eine  Substanz),  entsteht 
es  jedoch  aus  einem  anderen  Dinge,  oder  existiert  es  gleich- 
zeitig mit  einem  solchen,  dann  gilt  folgendes.  Das  erste  (die 
Abhängigkeit  von  den  konstituierenden  und  komponierenden 
Teilen)  trifft  zu  bei  dem  Körper,  der  aus  einer  Materie  und 
einer  Form  besteht.  Das  zweite  (nämlich  die  Gleichzeitigkeit 
mit  anderem)  trifft  zu  bei  der  vernünftigen  Seele.  Sie  besteht 
gleichzeitig  mit  dem  Werden  der  lebenden  Körper.  (Sie  ist 
gleichzeitig  mit  dem  Körper);  denn  die  Möglichkeit  ihrer  Exi- 
stenz steht  in  Abhängigkeit  von  diesem  Dinge;  jedoch  verhält 
sich  dieselbe  nicht  so,  daß  jenes  Ding  (der  Körper)  in  der 
Potenz  sich  verhielte  (zur  Seele  als  Form),  wie  z.  B.  der  Körper 
der  Potenz  nach  die  weiße  Farbe  besitzt,*)  noch  auch  so,  daß 
in  ihm  (dem  Körper)  die  Möglichkeit  dazu  läge,  daß  sie  (die 
Seele)  in  ihm  (dem  Körper)  eingeprägt  werde,  so  wie  die  weiße 
Farbe  in  dem  Substrate  vorhanden  sein  kann.  In  ihm  wird 
die  weiße  Farbe  „eingeprägt".  2)  Das  Verhältnis  zwischen  Seele 
und  Körper  ist  vielmehr  so,  daß  sie  gleichzeitig  und  mit  ihm 
oder  gleichzeitig  mit  einem  Zustande  3)  seiner  Existenzweise 
besteht 

Derjenige  Körper  also,  der  neu  entsteht,  wie  z.B.  das  ent- 
stehende Feuer,  besitzt  die  Möglichkeit  seiner  Existenz  nur 
darin,  daß  er  aus  der  Materie  und  der  Form  entstehe,  und  daher 
besitzt  also  die  Möglichkeit  seiner  Existenz  in  gewisser  Weise 
ein  Substrat,  und  dieses  ist  seine  Materie.  Daher  entsteht  also 
das  Ding,  das  in  erster  Linie  aus  diesem  Substrate  wirklich 
wird,  nämlich  die  Form,  in  der  Materie  und  so  entsteht  der 
Körper  durch  ein  Zusammentreten  beider,  von  der  einen  Seite 
aus  der  Materie,  von  der  anderen  Seite  aus  der  Form.    Die 


')  Die  Seele  wäre  dann  Akzidens  des  Körpers. 

')  Die  Seele  müßte  dann  eine  materielle,  in  sich  nichtsubstanzielle 
Wesensform  sein. 

*)  Der  „Zustand"  bedeutet  die  Bedingungen,  die  im  Körper  erfüllt  sein 
müssen,  damit  die  Seele  in  ihm  existiere,  also  die  Gesundheit  und  Integrität. 


Digitized  by 


Googl( 


264 

Seele  aber  entsteht  in  der  gleichen  Weise  nur  durch  die  Existenz 
eines  körperlichen  Substrates.  Dann  also  liegt  die  Möglichkeit 
der  Existenz  des  Körpers  in  diesem  Substrate  begründet  und 
besteht  durch  dasselbe,  indem  jene  Materie  als  dieses  bestimmte 
Substrat  determiniert  istO  ^^^  Seele  kann  nur  zur  Existenz 
gelangen,  nachdem  sie  nicht  vorhanden  war,*)  und  darin  liegt 
die  Möglichkeit  ihres  zeitlichen  Entstehens  begründet,  die  „gleidi- 
zeitig"  mit  der  Existenz  der  Körper  erfolgt  Die  Art  und  Weise 
dieses  Entstehens  ist  die  der  Mischung,  die  so  beschaffen  sein 
muß,  daß  sie  ein  Organ  für  die  Seele  sein  kann.  Durch  dieses 
(geeignete)  Organ  (den  Körper)  3)  zeigt  sich  ihr  Ansprach  auf 
ihr  Entstehen  aus  den  ersten  Prinzipien*)  gegenüber  dem  Zu- 
stande, in  dem  sie  keinen  Anspruch  hat,  aus  diesen  Prinzipiai 
zu  entstehen.  Befindet  sich  daher  in  den  Körpern  die  Möglidi* 
keit,  daß  diese  Mischung  eintrete,  so  besteht  darin  die  Möglidi- 
keit  für  die  Existenz  der  Seela 

Jeder  Körper  wirkt,  wenn  von  ihm  eine  Handlung  aus- 
geht (und  zwar  aus  seinem  Wesen),  nicht  per  Akzidens,  noch 
auch  widerwillig  unter  der  Einwirkung  eines  anderen  Körp«^ 
(sondern)  durch  Vermittlung  einer  Potenz,  die  in  ihm  ist  Wirkt  das 
handelnde  Subjekt  durch  den  Willen  und  den  freien  Entschluß, 
so  ist  dieses  offenbar.  Wirkt  das  handelnde  Subjekt  nicht  durch 
den  Willen  oder  die  freie  Wahl,  so  geht  diese  Handlung  ent- 
weder von  seinem  Wesen  aus,  oder  von  einem  körperlichen 
Dinge,  das  außerhalb  seines  Wesens  ist,  oder  drittens  von  einem 
unkörperlichen  Dinge,  das  von  ihm  getrennt  existiert  Geht 
nun  die  Wirkung  von  seinem  Wesen  aus,  so  befindet  sich  dieses 
sein  Wesen  in  Übereinstimmung  mit  den  anderen  Körpern  inbezug 
auf  die  Körperlichkeit;  es  ist  aber  verschieden  von  ihnen  inbezug 
darauf,  daß  diese  Wirkung  aus  ihm  hervorgeht*)    Daher  ent- 


^)  Die  Materie  des  Körpers  wird  determiniert  als  Substrat  f!br  diesea 
bestimmten  EOrper.  In  diesem  Bestimmtsein  ist  die  MögUchkeit  des  Körpers 
gegeben. 

*)  Sie  entsteht  nicht  durch  Transformierung  ans  Stoffen. 

")  In  der  Disposition  des  Körpers  liegt  die  Vorbedingong  f&r  die 
Existenz  der  Seele,  also  ihre  Möglichkeit  potentiä  passivä. 

*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  den  rein  geistigen  Substanzen". 

')  Diese  Wirkung  zeigt  sich  nicht  bei  den  anderen  Körpern.  Sie  kann 
also  in  dem  ersten  nur  durch  die  Annahme  einer  besonderen  Ursache  f&r  diese 
Wirkung  erklärt  werden,  d.  h.  durch  Annahme  einer  besonderen  Potenz. 


Digitized  by 


Googk 


265 

hüt  es  in  seinem  Wesen  etwas 0  (wörtlich:  eine  „ratio"),  das 
znr  iTörperlichkeit  hinzukommt.  Dieses  ist  das  erste  Prinzip, 
von  dem  die  besagte  Wirkung  ausgeht  Dasselbe  wird  Potenz 
genannt  Trifft  nun  der  zweite  Fall  ein,  daß  nämlich  die 
Wirkung  von  einem  anderen  Körper  ausgeht,  so  entsteht  sie  aus 
dem  ersten  durch  Zwang  oder  per  accidens.  Es  war  jedoch  voraus- 
gesetzt, daß  die  Wirkung  nicht  durch  Zwang  noch  per  accidens 
erfolge  unter  Einwirkung  eines  anderen  Körpers.  (Daher  ist 
dieser  Fall  auszuschließen;  denn  die  Existenz  einer  Potenz  für 
das  Wirken  soll  nur  nachgewiesen  werden  für  das  per  se  er- 
folgende Wirken.)  Tritt  nun  der  dritte  Fall  ein,  daß  die  Wir- 
kung von  einem  Subjekte  ausgeht,  das  unkörperlicher  Natur 
(wörtlich:  getrennt)  ist,  dann  können  zwei  Fälle  vorliegen.  Der 
Körper  wirkt  durch  die  Vermittlung  des  unkörperlichen  Prin- 
zipes.  Entweder  wird  nun  dieser  Körper  determiniert')  mit 
dieser  Vermittelung,  die  von  jener  unkörperlichen  Substanz  aus- 
geht, insofern  er  Körper  ist  (also  auf  Grund  seines  Genus),  oder 
vermöge  irgend  einer  Potenz,  die  in  ihm  ist,  oder  auf  Grund 
einer  Potenz  in  jener  unkörperlichen  Substanz.  Nun  aber  trifft 
diese  Determinierung  nicht  ein,  insofern  er  Körper  ist;  denn  in 
dieser  Eigenschaft  stimmt  derselbe  mit  allen  anderen  Körpern 
überein.^)  Kommt  ihm  aber  diese  Eigenschaft  zu  vermöge  einer 
Fähigkeit,  die  in  ihm  ist,  so  ist  diese  Fähigkeit  auch  das  erste 
Prinzip,  von  dem  jene  Wirkung  ausgeht,  selbst  wenn  sie  manch- 
mal von  jeder  unkörperlichen  Substanz  emaniert,  indem  dieses 
Prinzip  die  himmlische  Einwirkung  unterstützt  Oder  jene 
Fähigkeit  ist  (nicht  als  erstes  Prinzip  im  absoluten  Sinne  auf- 
zufassen, sondern  als)  erstes  Prinzip,  das  in  ihm  ist  (Dann  also 
wirken  zu  dieser  Handlung  zwei  gleichzeitige  Ursachen,  eine 
äußere  und  eine  innere.)  Hat  aber  der  Körper  die  oben  besagte 
Determination  auf  Grund  einer  Fähigkeit,  die  in  jener  unkörper- 
lichen Substanz  besteht,  dann  können  zwei  Fälle  eintreten. 
Entweder  bewirkt  jene  Fähigkeit  selbst  oder  die  Determi- 
nation eines  Willens  in  notwendiger  Weise  die  Wirkung.  Be- 
wirkt nun  die  Fähigkeit   selbst  diese  Wirkung,   dann  können 

^)  Aviceima  stellt  sich  die  Frage:  weshalb  wirkt  der  himmlische  Geist 
oder  die  Seele  der  Sphäre  gerade  auf  diesen  speziellen  Körper?  Die  Ursache 
davon  muß  eine  besondere  Potenz  in  dem  KOrper  sein,  die  ihn  zur  Annahme 
der  himmlischen  Einwirkung  disponiert  —  qnod  erat  demonstrandum. 

*)  Alle  müßten  also  dieselben  Wirkungen  zeigen  wie  dieser. 


Digitized  by 


Googl( 


266 

ebenfalls  zwei  Fälle  eintreten.  Der  Vorgang  geht  in  seinem 
ganzen  Sein  von  diesem  Körper  selbst  ans  anf  Gmnd  eines  der 
genannten  Dinge  (nämlich  entweder  der  Substanz  oder  einer 
Eigenschaft  in  der  Substanz),  und  dann  kehrt  die  Diskussion  zu 
ihrem  Ausgangspunkte  zurück.  Die  Handlung  (Wirkung)  kann 
aber  im  anderen  Falle  auf  dem  Wege  des  freien  WiUens  von 
dem  Subjekte  ausgehen.  Dann  kennzeichnet')  entweder  da* 
Willensentschluß  diesen  bestimmten  Körper  mit  einer  Eigen- 
schaft,^) die  ihm  allein  zukommt,  im  Gregensatze  zu  allen  übrigen 
Körpern,  oder  er  wird  durch  Zufall,  wie  es  sich  gerade  trifft^ 
determiniert  Wenn  nun  das  letztere  eintritt,  dann  bleibt  die 
Wirkung  nicht  in  der  ewigen  Harmonie  (des  Weltalls),  noch  in 
der  Ordnung,  die  in  den  meisten  Fällen*)  sich  ereignet;  denn 
die  zufälligen  Dinge  sind  nicht  beständig  (wörtlich:  e^ng  dauernd), 
noch  ereignen  sie  sich  in  den  meisten  Fällen.  Im  Gegensatze 
dazu  sind  die  natumotwendigen  Dinge  beständig  und  gesetz- 
mäßig (wörtlich:  sicut  in  pluribus);  sie  sind  nicht  zufällig. 
Daher  bleibt  nur  übrig,  daß  der  Körper  mit  einer  Determination 
(wörtlich:  Eigentümlichkeit)  ausgestattet  werde,  die  ihn  von 
den  anderen  Körpern  unterscheidet  (und  die  ihm  eigentümliche 
Wirkung  erklärt).  Diese  Eigentümlichkeit  muß  sich  nun  so 
verhalten,  daß  das  Hervorgehen  der  Wirkung  aus  ihr  beab- 
sichtigt ist  Dann  können  viele  Falle  eintreten.  Die  Wirkung 
wurde  beabsichtigt,  weil  die  betreffende  Eigentümlichkeit  jene 
Wirkung  notwendig  (und  immer)  zur  Folge  hat  oder  weil  sie 
in  den  meisten  Fällen  von  ihr  ausgeht,  oder  die  besagte  Eigen- 
tümlichkeit bewirkt  die  Wirkung  nicht  notwendig,  noch  geht 
sie  von  ihr  sicut  in  pluribus  aus.  Wenn  nun  die  Eigentüm- 
lichkeit die  Wirkung  notwendig  hervorbringt,  dann  ist  der 
Körper  (der  Subjekt  der  „Eigentümlichkeit",  d.  h.  der  De- 
termination ist)  erstes  Prinzip  der  Wirkung.    &folgt  die  Hand- 


^)  Avicenna  sncht  den  Gnmd  anzugeben,  weshalb  gerade  dieser  Körper 
Wirkungen  ansübt  mit  Aasschluß  anderer  Körper.  Es  muß  eine  Ursache  fttr 
diese  Determination  geben. 

')  d.  h.  der  Kigenschaft  diese  Wirkang  anszattben. 

*)  Vgl  Arist.,  d.  interpr.  19  a  18:  <pav6Qdv  a^a  8ti  ovz  oaiavra  iS 
ävayxTjg  ovz  sariv  ofe  ylvezaiy  dXXa  ta  fikv  otiot^  hcvxt^  xal  ov^  fUtXXow 
^  xazatpaatg  ^  ^  an6<paoiq  äXrj^g,  za  Sk  fiäXXov  ftkv  xal  ig  inl  xo  nokv 
^oxeQOv^  ov  fiijv  eUil'  ivSixETcu  ycvia^t  xal  ^aTE(N>y,  ^aTE(N>y  dl  /cif.  ßynonjm 
ist  wq  iv  toiq  nlelazoig,  sicut  in  pluribus. 


Digitized  by 


Googl( 


267 

lung  aber  sicut  in  pluribus,  so  verhält  sich  diese  Gesetzmäßig- 
keit so,  wie  du  es  in  den  Naturwissenschaften  (I.  Teil,  I  12 
nnd  13)  kennen  gelernt  hast,  nämlich :  sie  ereignet  sich  zwar 
notwendigerweise,  aber  ihr  steht  ein  Hindernis  entgegen.  Denn 
die  Determination  des  Körpers,  die  dann  besteht,  daß  diese 
Wirkung  von  ihm  in  den  meisten  Fällen  ausgeht,  bedeutet  ein 
Abweichen  (eine  Ausnahme)  von  dem  natürlichen  Verlaufe  (der 
notwendig  und  immer  erfolgt)  zu  einer  bestimmten  Seite  hin, 
unter  deren  Einfluß  die  Wirkung  erfolgt.  Tritt  die  Wirkung 
nicht  ein,  dann  ist  die  Ursache  dafür  ein  Hindernis.  Daher  ist 
auch  die  sicut  in  pluribus  erfolgende  Wirkung  eine  in  sich  selbst 
notwendig  erfolgende,  wenn  kein  Hinderndes  in  den  Weg  tritt. 
Die  notwendig  wirkende  Ursache  ist  diejenige,  der  die  Wirkung 
zugesprochen  wird  (d.  h.  von  der  sie  ausgeht),  wenn  kein 
Hindernis  besteht  Verhält  sich  nun  die  oben  genannte  Eigen- 
tümlichkeit so,  daß  sie  die  Wirkung  nicht  notwendig  hervor- 
bringt, noch  auch  so,  daß  dieselbe  sicut  in  pluribus  von  ihr  aus- 
geht, dann  ist  es  gleich, 0  ob  sie  aus  ihm  (dem  Körper)  oder 
aus  einem  anderen  erfolgt  Die  Determination  dieses  Körpers 
mit  dieser  Wirkung  ist  also  ein  Zufall  (und  philosophisch  un- 
befriedigend). Es  wurde  aber  bereits  fes^estellt,  daß  sie  nicht 
aus  Zufall  erfolge.^)  Ebenso  verhält  es  sich,  wenn  man  erklärt: 
daß  der  Körper  diese  bestimmte  Determination  besitze,  komme 
ihm  in  vorzüglicherem  Sinne  zu,  bedeute:  es  sei  angebrachter 
(entsprechender),  daß  die  Wirkungen  (gerade)  von  ihm  (nicht 
von  einem  anderen  Körper)  ausgehen. »)  Folglich  ist  also  dieser 
Körper  (so  widerlegt  Avicenna  obigen  Einwand)  notwendig- 
wirkendes Prinzip  der  Wirkung,  oder  ein  solches,  das  die  Not- 
wendigkeit (d.  h.  das  notwendige  Eintreten)  der  Wirkung  er- 
leichtert Dasjenige  Prinzip  aber,  das  die  Wirkung  erleichtert, 
ist  eine  „Ursache",  die  entweder  durch  ihr  Wesen  oder  per 
accidens  wirkt  Existiert  nun  aber  keine  andere  Ursache,  die 
durch  ihr  Wesen  (d.  h.  notwendig)  wirkt,  dann  kann  auch  jene 


^)  Dann  bewirkt  ebensogut  jeder  andere  Körper  dieselbe  Wirkung.  Es 
bleibt  also  unerklärt,  weshalb  gerade  dieser  Körper  so  wirkt 

*)  Der  Körper  muß  also  in  sich  eine  Potenz  enthalten,  die  die  Wirkung 
erklärt,  quod  erat  demonstrandum. 

*)  Weshalb  dies  aber  angebrachter  sei,  ist  ohne  Annahme  einer  Potenz 
cum  Wirken  im  Körper  nicht  erklärt 


Digitized  by 


Google 


268 

nicht  per  accidens  wirken  ;0  denn  dasjenige,  was  per  accidens 
wirkt,  muß  sich  nach  einer  der  genannten  beiden  Weisen  ver- 
halten. 2)  Daher  bleibt  nur  übrig,  daß  jene  Eigentümlichkeit 
(des  wirkenden  Körpers)  durch  sich  selbst  die  Wirkung  notr 
wendig  hervorbringt.  Diese  notwendig  wirkende  Eigentümlich- 
keit wird  nun  aber  „Potenz"  genannt,  und  diese  Potenz  bildet 
den  Ausgangspunkt,  von  dem  die  körperlichen  Wirkungen  (wört- 
lich: Handlungen)  ausgehen,  selbst  wenn  sich  diese  Wirkungen 
unter  Hilfeleistung  eines  weiter  zurückliegenden  Prinzipes  (unter 
dem  Einflüsse  der  Sphaerengeister)  vollziehen. 

Wir  wollen  nun  den  Beweis  dafür  noch  verstärken,  daß 
jedes  entstehende  Ding  ein  erstes  körperliches  Seinsprinzip  haben 
muß.  Wir  lehren  also:  jedes  Ding,  das  entsteht,  nachdem  es 
nicht  war,  besitzt  notwendig  „Materie" ;  denn  jedes  Ding,  das 
entsteht,  muß  vorher  die  Möglichkeit  der  Existenz  in  ßich  selbst 
besitzen;  denn,  wäre  es  in  sich  unmöglich,  dann  könnte  es  in 
keiner  Weise  wirklich  werden.  Die  Möglichkeit  seiner  Existenz 
besteht  jedoch  nicht  darin,  daß  die  Wirkursache  die  Macht  hat, 
das  Ding  hervorzubringen.  Die  Wirkursache  vermag  vielmehr 
nichts  über  das  Ding,  wenn  dasselbe  nicht  in  sich  selbst  die 
Möglichkeit  zur  Existenz  besitzt  Es  ist  also  klar,  daß  wir  der 
Ansicht  sind:  das  Unmögliche  könne  in  keinem  Falle  Gegen- 
stand einer  schöpferischen  Macht  sein;  jedoch  erstreckt  sich  die 
Macht  auf  dasjenige,  was  möglicherweise  sein  kann.  Wenn 
daher  die  Möglichkeit  für  die  Existenz  eines  Dinges  dasselbe 
wäre  wie  die  Macht  über  das  Ding  (von  selten  der  ürsacheX 
dann  verhielte  sich  die  obige  Aussage  so,  als  ob  wir  lehrten:') 


<)  Die  einzige  Ursache  einer  Wirkung  muß  per  se  wirken.  Eine  causa 
per  accidens  setzt  immer  eine  andere  cansa  per  se  voraus. 

*)  Es  muß  entweder  notwendig  die  Wirkung  hervorbringen  oder  nicht. 
Im  ersten  FaUe  ist  sie  causa  per  se,  im  zweiten  muß  eine  andere  causa  per 
se  gesucht  werden. 

')  Avicenna  definiert  (Metaph.  1, 6)  die  Transcendentalia:  Notwendigkeit, 
Möglichkeit  und  Unmöglichkeit  durch  die  Relation  zur  Ursache.  Dann  aber 
ist  es  eine  Tautologie,  die  betreffende  „Macht"  durch  die  Relation  zur  Ur- 
sache bestimmen  zu  woUen.  Dieser  Schwierigkeit  wiU  Avicenna  hier  be- 
gegnen, indem  er  sagt:  Das  Mögliche  z.  B.  ist  dasjenige,  was  bewirkt  werden 
kann,  d.  h.  was  eine  Ursache  hat.  Beide  Begriffe:  posse  effici  und  esse 
possibile,  oder,  was  dasselbe  ist:  habere  causam  und  esse  possibiie  sind  keine 
identischen  Begriffe.  Die  obige  Definition  der  modi  entis  ist  also  nur  eine 
definitio  descriptiva.    Dann  ist  die  Tautologie  vermieden.    Godd.  c  und  b 


Digitized  by 


Googk 


269 

das  Unmögliche  kann  nicht  Gegenstand  irgend  einer  Macht 
sein,  weil  keine  Macht  sich  auf  dasselbe  (wie  auf  ein  Objekt) 
erstrecken  kann  (was  eine  Tautologie  einschließt).  Daß  aber 
dieses  „bestimmte"  Ding  Gegenstand  einer  hervorbringenden  Macht 
sein  kann  oder  nicht,  erkennen  wir  nicht,  indem  wir  das  Ding 
selbst  in  seinem  Wesen  betrachten,  sondern  indem  wir  unser 
Augenmerk  richten  auf  die  Macht  des  Mächtigen  und  uns  fragen, 
ob  er  über  das  Ding  eine  Macht  habe,  oder  nicht. 

Wenn  es  uns  daher  zweifelhaft  ist,  ob  das  Ding  Gegen- 
stand einer  Machtwirkung  sein  kann  oder  nicht,  dann  können 
wir  dieses  durchaus  nicht  wissen  aus  dem  Wesen  des  Dinges 
selbst;  denn  wenn  wir  dieses  Verhältnis  bestimmen  und  definieren, 
insofern  das  Ding  unmöglich  oder  möglich  ist  —  der  Begriff  „un- 
möglich" bedeutete  aber  nach  früherer  Bestimmung  nur,  daß 
es  nicht  Gegenstand  einer  Machtwirkung  sein  kann,  und  der 
Begriff  „möglich"  nur,  daß  es  Objekt  einer  Macht  sein  kann  — 
dann  definieren  wir  das  Unbekannte  mit  dem  Unbekannten. 

Daher  ist  es  ganz  offenbar,  daß  der  Begriff  der  inneren 
Möglichkeit  0  eines  Dinges  verschieden  ist  von  dem  Begriffe, 
daß  das  Ding  Gegenstand  einer  Machtwirkung  sein  kann,  selbst 
wenn  beide  in  dem  Substrate  ein  und  dasselbe  sind.  Der  Um- 
stand, daß  das  Ding  Gegenstand  einer  Machtwirkung  sein  kann, 
haftet  dem  anderen  Umstände  notwendig  an,  daß  das  Ding  in 
sich  möglich  ist.  Der  letztere  Umstand  wird  rücksichtlich  seines 
eigenen  Wesens  ausgesagt;  der  Begriff  aber,  daß  das  Ding 
Gegenstand  einer  Machtwirkung  sein  kann,  gilt  inbezug  auf 
seine  Kelation  zu  seiner  Wirkursache. 

Wenn  dieses  feststeht,  so  lehren  wir  also:  jedes  Ding,  das 
neu  entsteht,  hat  vor  seinem  Werden  entweder  in  sich  die 
Möglichkeit  zu  existieren,  oder  es  ist  unmöglich.  Dasjenige,  das 
aber  unmöglich  existieren  kann,  existiert  auch  wirklich  nicht 
Demjenigen  Dinge  aber,  das  möglicherweise  existiert,  geht  die 
Möglichkeit  der  Existenz  und  auch  die  Bestimmung,  daß  es  in 
bezug  auf  die  Existenz  möglich  2)  ist,  voraus.    Die  Bestimmung 


fOgen  hinzn:  „als  ob  wir  lehrten:  Die  Macht  erstreckt  sich  nur  auf  das,  auf 
was  sich  die  Macht  erstreckt,  und  das  Unmögliche  . . ." 

')  Wörtlich:  „daß  ein  Ding  per  se  möglich  ist**. 

')  Die  MögUchkeit  ist  im  ersten  Falle  substantivisch,  im  zweiten  ad- 
jektivisch gefaßt.  Das  erste  kann  also  eventueU  eine  Substanz  bezeichnen, 
das  zweite  nur  eine  Qualität,  die  einem  Wirklichen  inhäriert. 


Digitized  by 


Google 


270 

des  Möglichseins  ist  nun  entweder  etwas*)  real  Existierendes, 
oder  etwas  Nichtseiendes.  Der  Begriff  der  Möglichkeit  kann 
nun  aber  keinesfalls  ein  Nichtseiendes  sein,  sonst  würde  dem 
Möglichen  die  Möglichkeit  der  Existenz  nicht  vorausgehen.  Daher 
muß  derselbe  etwas  Reales  sein.  Nun  aber  ist  jedes  Beale  ent- 
weder in  einem  Substrate  bestehend  (also  Akzidens)  oder  nicht 
(also  Substanz).  Alles  aber,  das  nicht  in  einem  Substrate  be- 
steht, besitzt  eine  ihm  eigentümliche  Existenz,  ohne  daß  es 
durch  dieselbe  ein  Terminus  der  Relation  werde*)  (d.  k  ohne 
daß  es  in  seiner  Existenz  notwendig  von  einem  subjektnm  in- 
haesionis  abhinge).  Die  Möglichkeit  der  Existens  ist  nun  aber 
das,  was  sie  ist,  nur  dadurch,  daß  sie  zu  dem  Möglichen^)  in 
Relation  steht  (d.  h.  sie  verhält  sich  zu  dem  Dinge  wie  die 
Eigenschaft  zum  Subjekte).  Daher  ist  die  Möglichkeit  der  Exi- 
stenz keine  Substanz,  die  nicht  in  einem  Substrate  ist  Sie  ist 
also  eine  „ratio"  (Wesenheit)  die  in  einem  Substrate  existiert 
und  ein  Akzidens  desselben  ist 

Wir  nennen  Möglichkeit  der  Existenz  die  Fähigkeit  zur 
Existenz  und  wir  nennen  Träger  der  Fähigkeit  zur  Existenz 
dasjenige  Subjekt,  in  dem  die  Fähigkeit  für  die  Existenz  des 
Dinges  vorhanden  ist,  sei  es  als  Substrat,  erste  Materie,  Stoff 
(zweite,  reale  Materie)  und  anderes,  je  nach  den  verschiedenen 
Beziehungen.  Daher  muß  jedem  neu  entstehenden  Sein  die 
Materie  vorausgehen.*) 

Daher  lehren  wir:  Diese  Auseinandersetzungen,  die  wir 
dargelegt  haben,  lassen  die  Meinung  entstehen,  die  Potenz,  wenn 


>)  Wörtiich:  ratio  =  Wesenheit 

')  Das  esse  per  se  schließt  nicht  das  esse  ab  aUo,  wohl  aber  das 
in  alio  ans.  Die  Selbständigkeit  der  Existenz  schließt  wohl  das  Lnh&renx- 
Verhältnis  in  einem  Substrate,  nicht  aber  die  Abhängigkeit  von  einer  Ursache 
ans.  Die  Substanz  ist  selbständig,  insofern  sie  nicht  in  einem  Subjekte  be- 
steht   Dies  hebt  aber  ihren  Charakter  als  Verursachtes  natürlich  nicht  anl 

*)  WörtUch:  zu  dem,  dem  die  Möglichkeit  zu  existieren  inhäriert 

*)  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  I— n  55,  2  c:  Cum  duplex  sit  potentia,  sdlicet 
potentia  ad  esse  et  potentia  ad  agere,  utriusque  potentiae  perfectio  Tirtus 
Yocatnr.  Sed  potentia  ad  esse  se  tenet  ex  parte  materiae,  quae  est  ens  im 
potentia,  potentia  autem  ad  agere  se  tenet  ex  parte  formae,  quae  est  pria- 
dpium  agendi,  eo  quod  unnmquodque  agit,  inquantum  est  actn.  Arist,  de 
ooelo  288  a  20:  hi  el  TiQonQOv  ^  dvvafiiq  tWa(>x£i  xljq  ive^^laq^  SxarO^ 
inoQSei  xov  xq6vop,  xal  l^v  ityhrjftov  ^v  xed  fi^  Sf  top  ßstei^r  jfiiiporf^ 
ylyveod^ai  dh  Swofuvop,    Sfia  Sij  avx  ^  xal  xo^  ävai  SvrofiiP  dxB, 


Digitized  by 


Googk 


271 

sie  im  allgemeinen  Sinne  aufgefaßt  wird,  sei  „früher**  als  der 
Akt  und  gehe  ihm  voraus')  und  zwar  nicht  der  Zeit  allein 
nach  (sondern  auch  der  Natur  nach  in  demselben  Subjekte, 
während  absolut  genommen  die  Aktualität  früher  ist).  Zu  dieser 
Lehre  neigten  alle  früheren  Denker  hin.  Einige  von  ihnen 
legten  daher  der  ersten  Materie  eine  Existenz  vor  der  Wesens- 
form bei  und  behaupteten,  der  Demiurg  (wörtlich :  der  Wirkende) 
habe  sie  mit  der  Wesensform  umkleidet  „nach  dieser"  2)  ent- 
weder ohne  eine  Vermittlung,  aus  eigenem  Antriebe,  oder  auf 
Grund  eines  Vermittelnden, 5)  wie  einige  Theologen  lehrten, 
indem  sie  über  das  reden,  was  sie  nichts  angeht  und  was  nicht 
erforscht  werden  kann.  Man  sagte  z.  B.  daß  ein  Ding  wie  die 
menschliche  Seele  sich  unvermittelter  Weise  und  ohne  Grund 
befasse  mit  der  Leitung  der  materia  prima  und  dem  Einführen 
der  Wesensformen  in  dieselbe.  Daher  sei  die  Ordnung  der 
Materie  in  sich  nicht  vollkommen,  noch  auch  die  Einführung 
der  Wesensform  in  dieselbe  vollendet  und  deshalb  sorgte  der 
Schöpfer  für  dieselbe,  verbesserte  die  Mängel  und  schmückte 
ihren  Bestand  aus.  Einige  lehrten,  daß  diese  Dinge  (die  Materie 
und  die  Form  oder  die  Atome)  durch  ihre  eigene  Natur  von 
Ewigkeit  her  bewegt  seien  in  ungeordneten  Bewegungen.  *) 
Daher  unterstützte  der  Schöpfer  ihre  Natur  und  ordnete  sie 
(so  daß  aus  ihnen  die  geordnete  Welt  entstehen  konnte).  Andere 
sagten,  das  Ewige  sei  die  Finsternis  oder  der  Abgrund  *)  oder 
das  Unendliche  {ämigov,  Anaximander),  das  von  Ewigkeit  her 
unbewegt  sei;  dann  aber  wurde  es  (durch  ein  äußeres  Agens) 
in  Bewegung  gesetzt  (so  daß  aus  ihm  die  Welt  entstand).  Andere 


*)  Vgl  Thomas,  Snm.  th.  I  77,  3  ad  1:  actus  licet  sit  posterior  potentia 
iB  esse,  est  tarnen  prior  in  intentione  et  secnndum  rationem,  sicnt  finis  in 
agente  and  ib.  82,  3  ad  2:  Illnd  qnod  est  prius  generatione  et  tempore,  est 
imperfectius;  qnia  in  uno  eodemque  potentia  tempore  praecedit  actum  et  im- 
perfectio  perfectionem.  Sed  iUud  quod  est  prius  simpUciter  et  secundum 
naturae  ordinem  est  perfectius;  sie  enim  actus  est  prior  potentia. 

'}  d.  h.  nachdem  sie  bereits  Dasein  besaß. 

•)  Wörtlich:  „eines  Auffordernden''.  Cod.  c  GL:  „der  den  Wirkenden 
dazu  anhielte 

*)  Demokritos  lehrte  durch  die  aviyxri  würden  alle  Atome  in  eine 
Kreisbewegung  versetzt,  aus  der  die  geordnete  Welt  notwendig  entstehe. 

*)  VieUeicht  ist  damit  die  Lehre  des  Anaximenes  bezeichnet,  der  die 
Luft,  oder  die  des  Demokrit,  der  das  Leere  als  Prinzip  der  Weltbildung 
aufsteUte. 


Digitized  by 


Google 


272 

meinen  das  Ewige  sei  die  Mischung  (das  Chaos),  von  der  Anaxa- 
goras  spricht.  Der  Grund  aller  dieser  philosophischen  Behaup- 
tungen ist  der,  daß  nach  ihrer  Überzeugung  die  Potenz  dem 
Akte  vorausgehen  müsse,  wie  z.  B.  im  pflanzlichen  Samen,  und 
Sperma  und  in  allen  Kunst-  und  technischen  Produkten. 

Daran  anschließend  müssen  wir  nun  darüber  diskutieren 
und  so  sagen  wir:  das  Verhältnis  in  den  individuellen,  den  ent- 
stehenden und  vergehenden  Dingen  verhält  sich  so,  wie  jene 
sagten;  denn  die  Potenz  geht  in  ihnen  dem  Akte  voraus  und 
zwar  in  einem  Früher  der  Zeit  nach.  Was  aber  die  ewigen 
und  universellen  Dinge  angeht,  die  nicht  vergehen,  selbst  wenn 
sie  individueller ')  Natur  sind,  so  geht  diesen  das,  was  in  Potenz 
ist,  in  keiner  Weise  voraus. 

Die  Potenz  ist  sodann  nach  allen  diesen  Bestimmungen 
(wörtlich:  Bedingungen)  später  in  jeder  Hinsicht;  denn  weil  die 
Potenz  nicht  in  sich  selbst  besteht  (wie  eine  Substanz),  so  kann 
sie  nur  durch  eine  Substanz  ihr  Bestehen  erhalten,  die  ihrerseits 
aktuell  existieren  muß.  Sollte  diese  aber  nicht  schon  früher  zur 
aktuellen  Existenz  gelangt  sein,  dann  ist  sie  auch  nicht  disponiert^ 
irgend  etwas  aufzunehmen;  denn  dasjenige,  was  ein  absolutes 
non-ens  ist,  ist  in  keiner  Weise  befähigt,  etwas  zu  empfangen 
(sie  kann  also  auch  nicht  die  Eigenschaft  der  Möglichkeit,  die 
Potenz,  in  sich  enthalten).  Vielfach  ist  sodann  das  Ding  aktuell 
existierend,  ohne  daß  es  der  Potenz  nach  irgend  ein  Ding  sein 
müßte.  So  verhalten  sich  die  ewigen  Substanzen  (die  nicht 
Ausgangspunkt  des  Werdens  sind);  denn  diese  bestehen  ohne 
Aufhören  aktuell,*)  und  in  dieser  Hinsicht  ist  das  Wesen  des 
Dinges,  das  aktuell  existiert,  der  Natur  nach  (per  se)  früher 
als  die  Wesenheit  des  Dinges,  das  nur  der  Möglichkeit  nach 
existiert  Auch  von  anderer  Seite  her  ist  es  erforderlich,  daß 
die  Potenz  durch  ein  Ding  zur  Aktualität  gebracht  werde,  das 


^)  Ihre  Individualität  ist  nicht  dnrch  die  Materie,  sondern  die  Spezies 
selbst  hergestellt. 

*)  Sie  besitzen  also  keine  Entwicklungsfähigkeit  VgL  Arist,  Metaph. 
1072  a 3:  x6  fjihv  Srj  Svva/iiv  o&o^ai  ivegyelaq  tcqotbqov  %<ni  fjihv  tig  xakdfg^ 
ian  f  <og  ov,  etQfizat.  ^  ndpQ.  8n  S*  ivigyeta  uqoxbqov  fjLOQXv^X  AvaiayqQoq, 
i  Y&Q  vo^,  ivEQysla,  de  coelo  302  a  8:  dXX*  el  xb  dwofisi  Bv  a^fia  fiif^iv 
ionv  iXXo  adifia  ivegysia  TtQOteQOv,  xevov  Matai  xBXioQiofdvov,  Psych.  415  a  19: 
UQOXBQOV  yag  itai  xiSv  dvvofiewv  al  Mgyeiai  xal  al  ngi^Biq  xaxa  xov  loyov. 
VgL  Thomas,  c.  gent.  n,  23  natoraliter  prios  est,  qnod  est  perfectins,  licet  in 
nnoquoqne  sit  tempore  posterius. 


Digitized  by 


Googl( 


2W 

real  und  aktuell  existiert.  Daher  bringt  also  das  Ding,  das  in 
der  Potenz  existiert,  jenes  andere  nicht  einfachhin  gleichzeitig 
mit  der  Aktualität  hervor.  Denn  auch  jenes  (das  Hervorbringen 
und  das  Hervorgebrachte)  bedarf  einer  hervorbringenden  Ur- 
sache, und  so  gelangt  man  zu  einem  letzten  Gliede,  das  real 
und  aktuell  existiert,  ohne  entstanden  zu  sein. 

In  den  meisten  Fällen  wird  die  Potenz  zum  Akte  geführt 
durch  ein  Ding,  daß  dieser  Aktualität  gleicht  und  vor  der 
Wirkung  aktuell  existierte.  In  dieser  Weise  erhitzt  z.  B.  das 
Heiße  und  kfihlt  das  Kalte  ab.  Femer:  häufig  verhält  es  sich 
so,  daß  das,  was  in  der  Potenz  existiert,  insofern  dasselbe  Träger 
der  Potenz  ist,  existiert  unter  Einwirkung  des  Dinges,  das  selbst 
aktuell  besteht.  In  dieser  Weise  ist  der  Akt  zeitlich  vor  der 
Potenz,  nicht  gleichzeitig  mit  derselben.  So  stammt  z.  B.  das 
Sperma  (das  die  Potenz  darstellt)  von  dem  Manne,  (der  die 
Aktualität  bedeutet)  und  der  Samenkem  von  dem  Baume,  so 
daß  also  von  jenem  ein  Mensch  entsteht  und  von  diesem  ein 
Baum  Das  aber  die  Aktualität  in  diesen  irdischen  Dingen  vor 
der  Potenz  angenommen  wird,  geschieht  mit  größerer  Berech- 
tigung, als  daß  man  umgekehrt  annehme,  die  Potenz  gehe  der 
Aktualität  voraus.  Femer:  in  der  begrifOichen  Vorstellung  und 
der  Begriffsbestimmung  ist  die  Aktualität  vor  der  Potenz;  denn 
du  vermagst  nicht  die  Potenz  zu  definieren,  es  sei  denn,  in 
Hinordnung  auf  die  Aktualität.  Die  Aktualität  aber  bedarf, 
um  definiert  und  begrifflich  vorgestellt  zu  werden,  nicht  der 
Potenz.  Sodann  ist  die  Aktualität  früher  als  die  Potenz  in 
bezug  auf  die  Vollkommenheit  und  das  letzte  ZieL^  Denn  die 
Potenz  enthält  einen  Mangel 

Die  Aktualität  ist  eine  Vollkommenheit  und  das  Gute,^) 
das  sich  in  jedem  Dinge  befindet  in  Verbindung  mit  dem  Aktuell- 

*)  Das  letzte  Ziel  ist  in  intentione  früher  als  die  Potenz,  in  execntione 
später.  Der  Ansdrack  „Ziel^  könnte  anch  die  höchste  VoUendnng  eines  Gegen- 
standes bezeichnen,  und  dann  ist  das  „Ziel^  in  der  Ordnung  des  Vollkommenen 
frOher  als  das  weniger  Vollkommene.  Cod.  c,  b  add:  „Du  definierst  deshalb  das 
Quadrat  und  denkst  es,  ohne  daß  in  Deinem  Geiste  der  Begriff  auftritt,  es 
besitze  die  Potenz,  die  Qnadratnr  anzunehmen,  aber  Du  kannst  die  Potenz, 
die  Quadratur  anzunehmen  nur  definieren,  wenn  Du  dem  Worte  oder 
-wenigstens  dem  Gedanken  nach  das  Quadrat  erwähnst  und  dieses  zum  Teile 
der  Definition  der  Potenz  machst.*' 

*)  Das  Gute  ist  etwas  Positives  und  daher  Aktualität,  das  Böse  etwas 
Privatives  und  daher  Potenzialität. 

Horttn,  Dm  Bnoh  der  0«nefiuf  d«r  SmI«.  18 


Digitized  by 


Googl( 


274 

sein.  Überall  aber,  wo  sich  das  Böse  findet,  ist  auch  etwas, 
was  in  gewisser  Weise  in  Potenz  ist  Ist  das  Ding  nämlich 
schlecht,  so  können  zwei  Fälle  eintreten.  Der  erste  besagt:  es 
hat  diese  Eigenschaft  entweder  dnrch  sein  eigenes  Wesen  und 
in  jeder  Hinsicht.  Dies  ist  nun  aber  unmöglich;  denn  wenn 
das  Ding  real  existiert,  so  ist  es,  insofern  es  Realität  besitzt, 
kein  Schlechtes.  Es  ist  ein  malum  nur  insofern  es  einen  Mangel 
an  Vollkommenheit  enthält  wie  z.  B.  die  Unwissenheit  Der 
zweite  besagt:  das  Ding  ist  deshalb  ein  Böses,  weil  es  in  einem 
anderen  ein  malum  verursacht,  wie  z.  B.  der  Frevel;  denn  der 
Frevel  ist  ein  Übel,  insofern  er  von  dem  Gegenstande  der 
schlechten  Handlung,  die  Integrität  und  den  Reichtum,  von  dem 
Frevelnden  die  Natur  des  Guten  entfernt  (In  beiden  Hinsichten 
bedeutet  also  der  Frevel  eine  Privation.)  Daher  ist  das  Böse, 
insofern  es  malum  ist,  behaftet  mit  Nichtsein  und  mit  etwas, 
das  in  der  Potenz  existiert J)  Wenn  nun  weder  gleichzeitig  mit 
dem  Subjekte  noch  auch  von  ihm  ausgehend  etwas  bestände, 
das  in  der  Potenz  existierte,  dann  wären  die  Vollkommenheiten, 
die  dem  Dinge  zukommen,  real  vorhanden,  und  es  gäbe  in  keiner 
Weise  etwas  Böses. 

Es  ist  also  klar,  daß  dasjenige,  das  aktuell  existiert,  das 
Gute  als  solches,  und  daß  dasjenige,  was  in  der  Potenz  existiert^ 
das  Böse  ist,  und  4ie  Ursache,  von  der  das  Böse  herkommt  Wisse, 
daß  die  Potenz,  das  Böse  auszuführen,  besser  ist  als  das  aktuelle 
Böse,  und  umgekehrt,  daß  der  Umstand,  daß  etwas  aktuell  ein 
Gutes  darstellt,  besser  ist  als  die  Potenz,  das  Gute  auszu- 
führen. Der  Böse  ist  nicht  ein  Böser,  durch  die  Fähigkeit, 
das  Böse  auszufuhren,  sondern  durch  die  Gewohnheit  der  bösen 
Handlung. 

Daher  wollen  wir  zur&ckkehren  zu  dem  Ausgangspunkte 
der  Untersuchung,  indem  wir  ausführen:  daß  die  Potenz  im 
allgemeinen  Sinne  früher  ist  (als  die  Aktualität),  hast  du  erkannt 
Auch  im  einzelnen  Dinge  geht  die  Potenz  der  Aktualität  voraus. 
Diese  ist  die  Fähigkeit,  auf  die  individuelle  Potenz  zu  wirken. 
Manchmal  jedoch  geht  der  Potenzialität  eine  Aktualität  voraus. 


0  Das  Gute  identifiziert  Arist.  mit  dem  Sein  (Ethik  1096  a  23):  ki 
xaya^ov  laax<ög  UyBxai  r^  ovn,  Gr.  Eth.  1183  a  7:  to  6*  8lo¥  Üoi  «y  tt^ 
du  ovx  loTi  fiiäq  oi^  iiuctiifitjg  ovze  SwiiUfoq  x6  vtAq  nm*to^  äya^v 
oxoTiBtVf  Sta  xi;  Sxt  xaya^ov  iv  naoaig  xaXq  xvfxtiyoifiaiq  icxlv. 


Digitized  by 


Googl( 


die  ähnlich  ist  der  der  Potenz  entsprechenden  Aktualität,  so 
daß  die  Potenz  von  dieser  herstammt  Manchmal  jedoch  ist 
dieses  (das  zeitliche  Früher  des  Aktes)  nicht  erforderlich,  sondern 
gleichzeitig  mit  der  Potenzialität  besteht  ein  anderes  Ding, 
durch  das  die  Potenz  zum  Akte  überführt  wird.  Sonst  würde 
überhaupt  keine  Aktualität  in  der  Wirklichkeit  entstehen,  da 
die  Potenz  für  sich  allein  nicht  genügt,  um  eine  Aktualität 
hervorzubringen.  Sie  bedarf  vielmehr  eines  hervorbringenden 
Prinzipes,  daß  die  Potenz  zur  Aktualität  bringt. 

Es  ist  daher  einleuchtend,  daß  die  Aktualität  nach  ihrem 
realen  Wesen  früher  ist,  als  die  Potenzialität  und  daß  erstere 
sowohl  der  Würde  als  auch  der  Vollkommenheit  nach  das 
Frühere  ist.0 


Drittes  KapiteL 

Das  Vollkommene  und  Unvollkommene  und  das,  was  über  der 
Vollendung  steht.    Das  Ganze  und  die  Summe. 

Das  Vollkommene  ist  das  erste,  das  der  Erkenntnis  ein- 
leuchtet Es  ist  (zunächst)  evident  in  den  Dingen,  die  Zahlen 
besitzen  (d.L  den  numerisch  verschiedenen  materiellen  Individuen.) 
Es  ist  vorhanden,  wenn  alles,  was  einem  Dinge  aktuell  zukommen 
soll,  in  ihm  in  individueller  Weise')  wirklich  geworden  ist, 3)  und 

*)  Vgl.  Thomas,  Som.  th.  I  3,  Ic:  Necesse  est  id  qaod  est  primum  ens 
esse  in  acta,  et  nullo  modo  in  potentia.  Licet  in  uno  et  eodem,  quod  exit 
de  potentia  in  actom,  prios  sit  potentia  quam  actus  tempore,  simplidter  tamen 
actus  prior  est  potentia,  quia  quod  est  in  potentia  non  reducitur  in  actum 
nisi  per  ens  actu  und  ib.  2,  3  c:  moyere  nihil  aliud  est,  quam  educere  (der- 
selbe Ausdruck  wie  im  Arab.  „hrg"  IV  =  herausführen)  aliquid  de  potentia  in 
actum.  De  potentia  autem  non  potest  aliquid  edud  in  actum  nisi  per  ali- 
quod  ens  actu:  und  c.  gent.  1, 16  und  ü,  78.  Arist.,  Phjs.  265  a  23:  ngoxe^ov 
Sh  xal  fpvoBi  xal  Xoytp  xal  XQ^vqt  ro  riXsiov  fjihv  xoü  äxeXoi^q,  toD  qS'OLQXo^ 
6k  %o  aipd-OQXov, 

>)  Wörtlich:  numero. 

')  VgL  Arist,  Metaph.  1021b  21:  xal  rj  ä^er^  nXslwali  tig,  ?xaaxov 
yoQ  Taxe  xiXeiov  xal  ovala  näaa  xoxb  xeXsla,  8xav  xaxa  x6  slöog  x^g  obcelag 
äffsx^g  firjdh^  iXXelim  fioQiov  xo€  xaxa  <pvaiv  fisyidovg,  Iti  olq  htoQxu  xo 
xiXog  CTiovSatov,  xa^a  Hyexai  xiXsia,  Thomas,  Sum.  th.  I  4,  Ic:  Secundum 
hoc  dicitur  aliquid  esse  perfectum,  secundum  quod  est  in  actu,  perfectum 
didtnr,  cui  nihil  deest  secundum  modum  suae  perfectionis. 

18* 


Digitized  by 


Google 


276 

wenn  daher  nichts  von  den  erforderlichen  Vollkommenheit^i 
dem  Dinge  fehlt 

Der  Begriff  des  Vollkommenen  wird  sodann  übertragen  auf 
die  Dinge,  die  eine  kontinuierliche  Quantität  besitzen.  Daher 
nennt  man  etwas  vollkommen  in  der  Statur  (der  Größe).  Denn ') 
auch  die  Statur  des  Dinges  ist  nach  allgemeiner  Ansicht,  obwohl 
ein  Kontinuum,  durch  feste  Maße  bestimmbar.  Nach  allgemeiner 
Ansicht  wird  sie  nämlich  nur  dann  erkannt,  wenn  sie  nach  Mafien 
bestimmt  ist.  Besitzt  das  Ding  aber  bestimmte  Maße,  dann  mnfi 
es  notwendig  nach  Einheiten  zählbar  (und  durch  Vorhandensein 
aller  dieser  Einheiten  vollkommen)  sein. 

Sodann  verwendet  man  den  Ausdruck  „vollkommen^  zur 
Bezeichnung  der  Fähigkeiten  und  der  Qualitäten.  Daher  sagt 
man,  dieser  Gegenstand  ist  „vollkommen^  inbezug  auf  seine 
Fähigkeit,  „vollkommen"  inbezug  auf  die  weiße  Farbe,  „voll- 
kommen" inbezug  auf  die  Schönheit  und  „vollkommen"  im  Gutem. 
Die  Bedeutung  dieser  Worte  ist  die,  daß  die  Fülle  alles  Guten, 
die  dem  Gegenstande  (infolge  seiner  Eigenschaft)  zukommen 
müßte,  in  ihm  wirklich  geworden  ist,  ohne  daß  etwas  Reales 
(Gutes)  bestehen  bliebe,  das  nicht  in  ihm  vorhanden  *)  wäre  (ihm 
aber  zukommen  müßte).  Grehört  daher  zum  Grenus  eines  Dinges 
eine  Realität,  und  bedarf  das  Ding  dieser  Realität  nicht  not- 
wendig, noch  auch  zu  seinem  Nutzen  oder  zu  einem  luideren 
Zwecke,  so  ist  man  der  Ansicht,  daß  dieses  Ding  dem  Wesen 
des  Gegenstandes  von  außen  hinzukomme  (oder:  „fiberflüssig  sei^X 
und  femer:  daß  das  Ding  selbst  vollkommen  sei  auch  ohne  diese 
Realität.  Sodann  kann  folgender  Fall  eintreten.  Das  Ding,  das 
real  existiert,  besitzt  alles  das  aktuell,  was  es  aus  sich  heraus 
erfordert,  und  mit  ihm  wird  zugleich  ein  anderes  Ding  derselben 
Gattung  aktuell,  dessen  der  erste  Gegenstand  auf  Grund  seines 
Wesens  nicht  notwendig  bedari  Jedoch  ist  das  Letztere,  audi 
wenn  es  in  jenem  Dinge  nicht  notwendig  erfordert  wird,  ein 
Nützliches  (nicht  ein  notwendiges).    Tritt  dieser  Fall  ein,  dann 


0  VoUkommen  gilt  das,  dessen  Bestandteile  alle  vorhanden  nnd.  Der 
Gegenstand,  der  als  vollkommen  bezeichnet  wird,  besitzt  also  Teile  nnd  wird 
dnrch  eine  Einheit  gemessen.  Man  könnte  nun  die  Schwierigkeit  erheben: 
das  Kontinnierliche  besitzt  keine  Teile;  folglich  kann  es  nicht  vollkommen 
sein  in  dem  Sinne,  daß  aUe  seine  Teile  aktueU  vorhanden  w&ren.  Diesem 
Einwände  wiU  Avicenna  b^egnen. 

«)  Wörtiich:  „außerhalb«. 


Digitized  by 


Googl( 


277 

bezeichnet  man  die  Snnune  dieser  Eealitäten  mit  „höher  als  die 
Vollendung"  und  „jenseits  der  höchsten  Vollkommenheit". 

Dieses  ist  also  das  Vollkommene  und  die  Vollendung.  Sie 
bezeichnet  gleichsam  einen  letzten  Endpunkt  riXog — riXeiov. 
Ein  solcher  Begriff  trifft  aber  in  erster  Linie  nur  die  Zahl 
(d.  L  die  individuellen  Dinge)  und  erst  in  zweiter  Linie  andere 
Gegenstände  in  bestimmter  Ordnung.  ^  Die  meisten  bezeichnen 
dasjenige,  was  die  Eigenschaft  der  Zahl  hat,  nicht  mit  „voll- 
kommen", wenn  seine  Summe  aus  weniger  als  drei  Einheiten 
besteht  Ebenso  bezeichnen  die  meisten  dasselbe  nicht  als  Ganzes 
oder  Summe.*)  Die  Drei  ist  aber  nur  deshalb  vollkommen,  weil 
sie  ein  Erstes,  ein  Mittleres  und  ein  Letztes  enthält.  Nur  der 
Umstand,  daß  ein  Ding  ein  Erstes,  ein  Mittleres  und  ein  Letztes 
enthält)  macht  es  zu  einem  Vollkommenen;  denn  das  Fundament 
der  Vollkommenheit  liegt  in  der  Zahl.  Femer  liegt  es  nicht  in 
der  Natur  irgend  einer  Zahl  als  solcher,  daß  sie  im  absoluten 
Sinne  vollkommen  sei  Denn  zu  der  Gattung  (=  Natur)  der  Ein- 
heiten, die  in  jeder  Zahl  enthalten  sind,  gehört  etwas,  was 
nicht  real  ist,  noch  in  der  Zahl  existiert.  (Jede  Zahl,  abgesehen 
von  10  und  9  3)  wird  als  mangelhaft  aufgefaßt)  Sie  wird  viel- 
mehr erst  vollkommen  in  der  Zehn^)  oder  der  Neun.*)    Insofern 

^)  Der  Begriff  des  Vollkommenen  kommt  denselben  secondom  prius  et 
>)sterins,  d.  h.  analogice  zn,  der  Zahl  in  erster  Linie,  der  Substanz  und  den 
Akzidenzien  in  zweiter.  Dieser  logischen  entspricht  auch  die  reale  Ordnung, 
TgL  Thomas,  Sum.  th.  I  105,5  c:  Semper  imperfectum  (=  minus  perfectum) 
est  propter  perfectins.  Sicut  igitur  materia  est  propter  formam  ita  forma,  quae 
est  actus  primus,  est  propter  suam  operationem,  quae  est  actus  secundus,  et 
de  operatio  est  finis  rei  creatae. 

*)  Die  Zahl  Drei  ist  nach  dieser  Meinung  die  erste  Zahl.  Vgl.  Thomas, 
Quodlibet,  m,  6  End.:  Contingit  id  quod  est  prius  inter  species  eiusdem 
generis  esse  aliorum  principium  et  causam,  sicut  motus  localis  aliorum  motuum 
et  binarius  aliorum  numerorum  et  triangulus  aliarum  figurarum  rectilinearum. 
Nach  Avicenna  (s.  unten)  ist  die  Zwei  eine  unyoUkommene  Zahl. 

»)  Cod.  a:  „der  Sieben". 

*)  Vgl.  Thomas  ad  Hebraeos  Vn  lec.  1  med.  Numerus  denarius  est 
perfectus  quia  consurgit  ex  partibus  suis  aliquotis;  quia  unum,  duo,  tria, 
quatuor  fadunt  decem.  Usque  etiam  ad  ipsum  ascendit  numerus,  et  omnes 
alii  non  sunt  nisi  quaedam  repetitio  et  additio  super  denarium.  Omnes  enim 
sunt  imperfecti  usque  dum  pervenitur  ad  ipsum.  Arist.,  Probl.  910  b  82:  no- 
xfQov  Sxi  tä  6ixa  rsXsio^  dgid^fiog;  i^otv  yoQ  navxa  xa  xov  dgiS-fiof)  cSJj/, 
Si^xiov  TUQXtov,  xexQoyofvov  xvßoVf  fjifjxoQ  inlTuSov,  ngdhov  ovv&exov,  §  Sxt 
a^X^  h  <^öf«C/  8v  yoQ  xal  6vo  xal  xgia  xal  xhxaga  yivexat  dexag, 

»)  Arist.,  ProbL  910  b  85:  . . .  ^  ?n  ra  tpeQO/jieva  adfiaxai  ivvia. 


Digitized  by 


Googk 


'278 

a1)er  die  Zahl  eine  Zahl  ist,  kann  sie  nicht  vollkommen  sein, 
Insofern  sie  aber  ein  Erstes,  ein  Letztes  nnd  ein  Mittleres  besitzt 
ist  sie  vollkommen;  denn  insofern  in  ihr  ein  Erstes  und  ein 
Letztes  enthalten  ist^  ist  sie  in  dem  Sinne  unvollkommen,  sis 
zwischen  diesen  beiden  Punkten  kein  Mittelglied  vorhanden  ist, 
das  seiner  Natur  nach  die  mittlere  Stelle  einnehmen  muß.  Dieses 
ist  das  „Mittlere". 

Bestimme  danach  die  übrigen  Arten  (der  Zahl  und  des  Voll- 
kommenen) d.  h.  danach,  ob  (z.  B.  in  der  Zwei)  ein  mittleres  Glied 
besteht,  ohne  daß  ein  Endglied  vorhanden  ist,  oder  ein  mittleres 
und  zugleich  ein  Endglied,  während  dabei  aber  dasjenige»)  ver- 
loren ging,  was  notwendig  ist^  damit  ein  erstes  und  letztes  Glied 
vorhanden  sei  Es  gehört  zu  den  unmöglichen  Vorstellungen, 
das  zwei  erste  Glieder  in  den  Zahlen  vorhanden  seien,  ohne  daß 
das  eine  von  beiden  in  irgend  welcher  Weise  ein  mittieres  Glied 
sei.  Höchstens  könnte  dasselbe  zutreffen  in  zwei  verschiedenen 
Zahlen.  Ebensowenig  kann  man  sich  vorstellen,  daß  zwei  Ehid- 
glieder  bestehen,^)  ohne  daß  das  eine  von  beiden  in  irgendwelcher 
Weise  ein  Mittelglied  wäre,  es  sei  denn  in  zwei  Zahlen.  Die 
Mittelglieder  hingegen  können  vervielfältigt  werden.  Jedoch 
muß  ihre  Summe,  insofern  sie  ein  mittleres  Ganze  bildet,  sich 
wie  ein  einziges  Ding  verhalten  (gegenüber  dem  Anfangs-  und 
Endgliede).  Die  Vermehrung  (der  mittleren  Glieder)  ist  nicht 
durch  eine  obere  Grenze  eingeschränkt.  Daher  ist  das  Vorhandoi- 
sein  eines  ersten  Gliedes,  eines  Endgliedes  und  der  mittleren 
Glieder  das  Vollkommenste,  was  existieren  kann  in  einer  so  be- 
schaffenen Seinstufe.  Dies  trifft  jedoch  nur  bei  der  Zahl  zu. 
In  der  kürzesten  Zusammenfassung  findet  es  nur  in  der  Dreiheit 
statt  Wenn  wir  also  auf  diese  Summe  (von  Lehrsätzen)  hinge- 
wiesen haben,  dann  verlassen  wir  dieses  Problem. 

Es  liegt  nicht  in  unserer  Grewohnheit,  über  solche  Dinge 
zu  verhandeln,  die  auf  evidente ')  (adäquate)  sinnliche  Wahr- 


0  Das  Mittelglied  macht  erst  das  Vorhergehende  nnd  Folgende  tarn 
Anfangs-  nnd  Endglied.  Codd.:  „es  ging  verloren,  was  notwendig  An&ngs- 
nnd  Endglied  sein  rnnfi."^ 

*)  Cod.  a  add:  „Es  liegt  in  dem  Begriffe  des  Ersten  eine  Unmöglichkeit^ 
vervielfältigt  zn  werden.    Ebenso  in  dem  des  Endgliedes." 

*)  Wörtlich:  „Die  (das  Erkennen)  befriedigen''.  Das  materielle  Indi- 
viduum kann  nicht  geistig  erkannt  werden,  da  seine  Materie  das  Erkennen 
hindert    Die  einzig  mögliche  Erkenntnis,  die  sich  auf  daßsdbe  erstreckt 


Digitized  by 


Googk 


279 

nehnumgen  begründet  sind,  ohne  zu  den  Methoden  wissenschaft- 
licher Demonstrationen  gerechnet  zu  werden.  Wir  lehren  viel- 
mehr, daß  auch  die  (belehrten  den  Terminus  „Vollkommen"  auf 
das  reale  Wesen  des  Existierenden  übertragen  haben.  Sie  lehrten 
also  auf  der  einen  Seite:  das  Vollkommene  ist  das  Ding,  in  dem 
kein  Teil  so  beschaffen  ist,  daß  durch  ihn  die  Wirklichkeit  des 
Dinges  einen  Zuwachs  an  realer  Vollkommenheit  erhalte,  die 
vorher  nicht  in  ihm  enthalten  war.  Vielmehr  ist  die  ganze  Fülle 
dessen,  was  sich  so^)  verhält,  in  dem  Dinge  wirklich.  In  einer 
anderen  Hinsicht  lehrten  die  Philosophen:  das  Vollkommene  sei 
dasjenige,  das  die  eben  bezeichnete  Eigenschaft  habe,  jedoch  mit 
der  Bedingung,  daß  seine  Existenz  auf  Grund  seines  Wesens 
(per  se)  sich  in  dem  vollkommensten  Zustande  befinde  und  in 
ihm  wirklich  sei.  Aus  seinem  Wesen  stammt  nur  dasjenige 
wie  von  einer  Ursache  ab,  was  ihm  zukommt.  Kein  Ding,  das 
zu  der  Kategorie  des  Existierenden  gehört  und  das  über  das 
eben  bezeichnete  Maß  hinausginge,  läßt  sich  auf  dieses  Wesen 
(wie  auf  seine  Ursache)  in  erster  Linie  zurückführen,  nicht 
etwa  durch  Vermittelung  eines  anderen.^) 

Übervollkommen  ist  dasjenige,  dem  zunächst  die  Existenz 
zukommt,  die  ihm  zugehört,  und  von  dem  (sodann)  die  Existenz 
auf  die  übrigen  Dinge  ausströmt.  Er  selbst  besitzt  also  die- 
jenige Existenz,  die  ihm  notwendig  zukommt,  und  zudem  eine 
noch  größere  Fülle  der  Existenz,  die  ihm  nicht  notwendig  zueigen 
ist  (Aus  dieser  Überfälle  der  Existenz  schafft  Gott  die  Dinge.) 
Jedoch  erfüllt  sie  darin  ihren  Zweck,  daß  sie  auf  die  Welt- 
dinge ausströmt  Er  (Gott)  vollzieht  diesen  Akt  (der  Schöpfung) 
auf  Grund  seines  Wesens.  Man  bezeichnete  sodann  dieses  als 
Seinstufe  des  ersten  Prinzipes,  das  „über  alle  Vollkommenheit" 
erhaben  ist  Aus  Seiner  Existenz  im  Inneren  Seines  Wesens, 
ohne  die  Einwirkung  einer  anderen  Ursache  emaniert  das  Dasein, 
überströmend   von  Seinem  Sein  auf  alle  Dinge.     Sodann  be- 


nnd  die  den  Erkennenden  „befriedigt'',  ist  die  sinnliche  Wahmehmnng. 
Der  Erkennende  muß  sich  mit  dieser  „begnügen*',  weil  eine  andere  nicht 
möglich  ist. 

^)  AUes,  was  als  Teil  zum  Dinge  gehört,  mnfi  in  dem  vollkommenen 
Dinge  vorhanden  sein. 

*)  Avicenna  will  damit  das  Vollkommene  von  dem  Übervollkommenen 
unterscheiden.  Das  Wesen  des  Ersteren  verursacht  nur  die  notwendigen 
Momente,  die  nicht-notwendigen  höchstens  per  accidens. 


Digitized  by 


Googl( 


280 

zeichnete  man  als  Stnfe  der  „Vollkommenheit"  den  Verstand, 
der  zu  der  Welt  der  reinen  Geister  gehört  Er  existiert  im 
ersten  Augenblicke  seiner  Existenz  aktuell,  ohne  daß  ihm  etwas 
Potentielles  beigemischt  wäre  und  ohne  daß  er  eine  neue  Seins- 
weise  erwartete.^)  Sollte  aber  ein  anderes  Ding  existieren,  das 
durch  ihn  verursacht  ist,  so  gehört  auch  dieses  zu  derjenigen 
Seinsstufe  des  Wirklichen,  die  (direkt)  von  dem  ersten  Seins- 
prinzip ausströmt 

„Unter  der  Vollkommenheit"  befinden  sich  nach  Angabe 
der  Philosophen  zwei  Dinge,  das  „sich  Benagende"  (das  die 
ihm  notwendig  zukommende  Fülle  des  Seins  wenigstens  im  Keime 
besitzt)  und  das  Unvollkommene.  Das  sich  Begnügende  ist  das- 
jenige, dem  alles  verliehen  wurde,  wodurch  es  in  sich  selbst  seine 
eigene  Vollkommenheit  erlangt  2)  Das  Unvollkommene,  all- 
gemein gefaßt,  ist  dasjenige,  das  eines  anderen  bedarf,  der  ihm 
die  Vollkommenheit  verleiht  Wie  das  „sich  B^nügende"  ver- 
hält sich  die  vernünftige  Seele,  die  das  Weltall,  d.  h.  die  Himmel 
belebt;  denn  auf  Grund  ihres  Wesens  vollbringen  sie  die  Werke, 
die  ihnen  zugeschrieben  werden,  und  erzeugen  die  Vollkommen- 
heiten, die  ihnen  zukommen  müssen,  ^e  eine  nach 5)  der  anderen. 
Weder  werden  alle  zugleich  vereinigt  (ihre  Wirkungen  sind 
also  auf  die  Teile  der  Zeit  verteilt,  während  die  Wirkung  Gottes 
in  ihrer  ganzen  Fülle  „zugleich"  erfolgt)  noch  bleiben  dieselbe  ^) 
ewig  bestehen,  abgesehen  von  denjenigen  Vollkommenheiten,  die 
in  der  Substanz  und  Wesensform  der  himmlischen  Seelen  ent- 
halten sind.  5)  Diese  Substanzen  sind  notwendig  mit  etwas  ver- 
bunden,«) das  in  Potenz  besteht,  selbst  wenn  in  ihm  (zugleich) 
ein  erstes  Prinzip  vorhanden  ist^  das  ihre  Potenz  zur  Aktualität 
bringt,  wie  du  es  bald^  kennen  lernen  wirst     Das  UnvoU- 

^)  Eine  Yeränderang  kann  also  nicht  in  ihm  stattfinden;  denn  er  ist 
weder  in  Potenz  zu  einem  anderen,  noch  anfnahmeföhig  für  eine  neae  Form. 

^  Die  Vollkommenheit  ist  noch  nicht  ganz  aktneU,  sondern  entsteht 
und  zwar  ans  ihm  selbst,  nicht  durch  fremde  Einwirkung. 

')  Es  findet  also  in  ihren  Vollkommenheiten  eine  Aufeinanderfolge 
statt.  Diese  ist  das  Fundament  für  die  himmlische  Zeit,  das  aevunL  Ohne 
irgendwelche  Aufeinanderfolge  könnte  nur  von  einer  aetemitas,  der  un- 
wandelbaren Ewigkeit,  die  Bede  sein. 

*)  Die  Vollkommenheiten  der  himmlichen  Geister  bedeuten  zugleich 
ihre  Einwirkung  auf  die  sublunarische  Welt. 

^  Nur  akzidenteUe  Veränderungen  sind  in  ihnen  möglich. 

•)  Wörtlich:  „sind  nicht  getrennt  von". 

0  AbLEL 


Digitized  by 


Googk 


281 

kommene,  allgemein  gefa£t,  ist  dasjenige,  das  eines  anderen 
(einer  Wirknrsache)  bedarf,  der  ihm  die  eine  VoHkommenheit 
nach  der  anderen  znteil  werden  läßt  So  verhalten  sich  diese 
(sublnmarischen)  Dinge,  die  sich  im  Entstehen  und  Vergehen^) 
befinden.  Der  Terminus  „Vollkommenheit",  „Ganzes"  und 
„Summe"*)  bezeichnen  verwandte  Begriffe;  jedoch  ist  es  keine 
Bedingung  des  Vollkommenen,  daß  es  eine  Vielheit  von  Einzel- 
dingen in  sich  enthalte,  sei  es  nun,  daß  diese  sich  in  der  Potenz 
(wie  die  Teile  des  Kontinums)  oder  aktuell  in  ihm  befinden.  Das 
„Ganze"  ^)  muß  jedoch  notwendigerweise  eine  Vielheit  der  Po- 
tenz oder  dem  Akte  nach  in  sich  enthalten.  Die  Einheit,  die 
in  vielen  Dingen  besteht,  ist  sogar^)  die  „Existenz,  die  dem 
Gegenstande  zukommt"  Die  Vollkommenheit  in  den  Dingen, 
die  Dimensionen  besitzen,  ist  identisch  mit  dem  „Ganzen,"  das 
in  einem  Substrate  existiert  (d.  h.  der  kontinuierlichen  Größe). 
Das  Ding  gilt  daher  als  vollkommen,  insofern  nichts  Reales 
(das  ihm  zuteil  werden  müßte)  „außerhalb"  bleibt  (d.  h.  ihm 
mangelt).  Alles,  was  das  Ding  seiner  Natur  nach  erfordert,  ist 
in  ihm  wirklich.  In  Hinsicht  auf  die  Vielheit,  die  real  existiert 
und  die  in  ihm  eingeschlossen  ist,  ist  das  Ding  ein  „Ganzes." 
Inbezug  auf  die  Bestimmung,  daß  nichts  (Erforderliches)  außer- 
halb seines  Wesens  bleibt,  ist  es  „vollkommen".  Über  die  Ver- 
wendung, der  beiden  Ausdrücke  „Summe"  und  „Ganzes"  nach 
ihren  beiden  Bedeutungen  ist  man  verschiedener  Ansicht  Das 
eine  Mal  behauptet  man,  das  „Ganze"  müße  von  dem  Kontinum 
(der  Ausdehnung)  und  von  dem  Diskretum  (d.  L  der  Quantität, 


0  Vgl.  Arist.,  Zoolog.  644  b  24:  T(ßv  ovaidiv  Scai  <pv<jei  avwatßiJi,  täi 
fikv  äyeviitovqf  xal  Apd-OQXOvg  elvai  xov  Shtavta  alSva,  tag  Sh  [jibt^xbiv, 
yevia€Q>q  xal  ipdoQ&g,  ovfißißrixe  Sh  tisqI  fjihv  ixeivag  xifiLag  ovaag  xal  d-elag 
ilarrovg  rjfjiTv  vnoQX^^v  d-etaglag, 

•)  Arist,  Poietik.  1450  b  26:  SXov  f^axl  xi  ^ov  cigx^v  xal  fiiaov 
xal  xeXevrtjv,  Dies  ist  zugleich  die  Definition  der  vollkommenen  Zahl  nach 
Avicenna.  Metaph.  1023  b  26  findet  sich  ebenfalls  die  Definition  des  VoU- 
kommenen  als  die  der  Summe  verwandt:  8Xov  Xiysxai  ov  xs  fiTjd^v  otisoxi 
fdQog  k^  dtv  Xiyexai  8Xov  <pva€i  und  Phys.  207a 9:  oi  fjtijöhv  ^^cd,  to^*  iaxl 
xiXeiop  xal  8Xov, 

■)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1024 al:  hi  roiJ  noao€  f^^vro?  oqx^'^  ^«^ 
fiiaov  xal  iaxaxoVy  Saotv  fikv  fiij  noul  rj  d^iaig  6ia<poQav,  näv  Xiyexat,  Söcdv 
dh  noiBl^  SXov  8aa  6h  &fi<pQ>  ivSix^xai,  xal  8Xa  xal  navxa, 

^  Nicht  nur  die  Definition  des  Ganzen  und  der  Summe,  auch  die  der 
£iiihdt  ist  in  gewisser  Hinsicht  identisch  mit  der  der  Vollkommenheit 


Digitized  by 


Googl( 


282 

die  aktuelle  Teile  besitzt,)  der  Zahl  aasgesagt  werden.  Der 
Ausdruck  „Summe"  wird  jedoch  nur  für  die  diskrete  Größe  ver- 
wandt Das  andere  Mal  behauptet  man,  das  Wort  „Summe" 
werde  in  speziellem  Sinne  für  dasjenige  gebraucht,  das  durch 
seine  Lage  keine  Verschiedenheit  begründet,  0  wid  der  Ausdruck 
„Ganzes"  für  dasjenige,  das  durch  seine  Lage  eine  Verschieden- 
heit herbeiführt  Ebenso  sagt  man.  Ganzes  und  Summe  von 
demjenigen  aus,  dem  beide  Bestimmungen  zugleich  zukommen. 
Du  weist  bereits,  daß  diese  Ausdrücke  nur  gebraucht  werden, 
so  wie  sie  die  Terminologie  feststellt  Das  andere  Mal  behauptet 
man  in  anderer  Hinsicht,  „Ganzes"  bezeichne  dasjenige,  das  in 
sich  eine  Trennung  aufweist,  2)  sodaß  es  einen  aktueUen  Teil  in 
sich  einschließt.  Das  „Ganze"  wird  nämlich  mit  Rücksicht  auf 
den  Teil  ausgesagt  und  die  „Summe"  mit  Eucksicht  auf  die 
Einheiten.  Das  Ganze  schließt  gleichsam  in  sich  die  Bestimmung 
ein,  daß  es  dasjenige  in  sich  besitzt,  was  das  Ganze  zahlenmäßig 
bestimmt  (eine  Maßeinheit),  selbst  wenn  man  nicht  seine  Ein- 
heit') in  Bücksicht  zieht  Die  „Summe"  schließt  hingegen  in 
sich  die  Bestimmung  ein,  daß  Einheiten  in  ihr  enthalten  sind, 
auch  ohne  daß  man  die  Zahl  der  Einheiten  ins  Auge  faßt<) 

„Ganzes"  und  „Summe"  verwendet  man  manchmal  bei 
Dingen,  die  keine  Quantität  besitzen,  da  solchen  (den  Qualitäten) 
zukommt,  daß  sie  in  akzidenteller  Weise  Quantität^)  besitzen. 
So  verhält  sich  der  Ausdruck:  die  „ganze"  weiße  Farbe.    Oder 


*)  Dies  ist  die  Definition  des  nav  nach  Allst,  das  Folgende  die  des 
8Xov;  s.  loc  cit.  Die  Lage  der  homogenen  oder  heterogenen  Teile  sn  ein- 
ander, oder  die  Stellung  des  Ganzen  ist  für  das  eine  indifferent,  für  das 
andere  nicht 

*)  Es  bedeutet  also  die  diskontinuierliche  GrOße,  die  ZahL 

')  Auch  ohne  dafi  man  mit  der  Einheit  des  Maßes  das  Ganjse  mißt,  ist 
es  als  „Ganzes*'  zu  bezeichnen. 

^  Codd.  c  und  b  add:  „Auch  die  Summe  muß  sich  ebenso  Yeihalten; 
denn  „Summe^  kommt  von  summieren.  Ein  Summieren  findet  aber  nur  mit 
aktneUen  Einem  statt,  oder  aktueUen  Einheiten.  Der  philosophische  G^raudi 
wandte  es  aber  allgemein  an  auf  Gegenstände,  deren  Teil  (ihre  Zusammen- 
fassung wurde  oben  als  „Ganzes^  nicht  als  „Summe"  bezeichnet)  und  Einheit 
in  potentia  existiert.  Es  yerhält  sich  also  so,  daß  man  von  dem  „Ganzen*' 
spricht  im  Gegensatz  zum  Teile,  und  von  der  „Summe"  im  Gegensatz  zur 
Einheit"  „Diese  ganze  Auseinandersetzung  ist  fast  flberflfissig;  denn  der 
Gebrauch  verwandte  beide  in  derselben  Weise"  (wörtlich:  ließ  beide  fließen 
in  demselben  Flusse). 

.  *)  Vermöge  ihrer  Quantität  kOnnen  sie  „Summe"  oder  „(James'*  sein. 


Digitized  by 


Googk 


283 

diese  Qualitäten  verhalten  sich  so,  daß  sie  intensiver  0  oder 
schwächer  werden,  wie  z.  B.  die  „ganze"  Hitze  und  die  „ganze" 
Potenz.  Manchmal  sagt  man  von  dem  ans  verschiedenen  Bestand- 
teilen Zusammengesetzten,  wie  z.  B.  von  dem  Tiere  aus,  es  sei 
ein  „Ganzes",  da  es  aus  Seele  und  Leib  zusammengesetzt  ist. 
Das  Wort  „Teil"  verwendet  man  manchmal  zur  Bezeichnung 
desjenigen,  was  zählbar  ist  (und  gezählt  wird),  manchmal  zur 
Bezeichnung  desjenigen,  was  irgend  ein  Teil  (wörtlich  ein  Ding) 
eines  Dinges  ist,  indem  ein  anderer  Teil  zugleich  mit  ihm  ver- 
bunden ist,  selbst  wenn  dieser  Teil  das  Ganze  nicht  zahlenmäßig 
bestimmt  (wie  es  im  ersten  Beispiele  der  Fall  war).  Manchmal 
jedoch  bezeichnet  man  dieses  in  spezieller  Weise  als  „Teil".  2) 
Der  „Teil"  ist  vielfach  dasjenige,  in  das  sich  ein  Ding  zerlegen 
läßt,  nicht  sowohl  in  der  Quantität  als  vielmehr  in  der  Existenz, 
wie  z.  B.  Seele  und  Leib  inbezug  auf  das  Tier.  Kurz  bezeichnet 
es  alles,  woraus  das  Zusammengesetzte  besteht,  das  aus  ver- 
schiedenen ersten  Prinzipien  gebildet  wird. 

*)  Die  Intenntäten  kann  man  nach  einer  Mafiheinheit  bestinmien.  Daher 
können  sie  als  „G^anze'^  bezeichnet  werden. 

*)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1034  b  32:  noXXaxdk  ^yetai  xo  id^oq,  <Lv  ilq 
(jikv  tQonoi  xo  (jlbxqo^v  xaxa  x6  nooov  und  Phys.  218  a  7:  ijlbxqbX  xe  yog  x6 
(ligo^y  xal  avyxBlc^ai  Sei  xo  SXov  ix  x(ßv  fiegdiv. 


Digitized  by 


Google 


Fünfte  Abhandlung. 


Erstes  Kapitel. 

Die  universellen  Dinge  und  die  Art  ihrer  Existenz. 

Wir  müssen  nun  über  das  Universelle  und  Individuelle 
sprechen;  denn  auch  dieses  hat  Beziehung  zu  dem,  was  wir 
soeben  auseinandergesetzt  haben.  Es  gehört  nämlich  zu  den 
eigentümlichen  Akzidenzien  des  Seins  (und  folglich  auch  in  die 
metaphysische  Betrachtung).  Daher  lehren  wir:  das  Universelle 
wird  in  dreifacher  Weise  prädiziert  Man  nennt  universell  den 
Begriff,  insofern  er  aktuell  von  einer  Vielheit  von  Einzeldingen 
ausgesagt  wird,»)  wie  z.  B.  den  Begriff  „Menscht  Femer  nennt 
man  den  Begriff  universell,  insofern  er  von  vielen  Dingen  prädiziert 
werden  kann')  (also  in  der  Potenz  ist,  prädiziert  zu  werden), 
selbst  dann  wenn  man  nicht  voraussetzt,  die  individuellen 
Dinge  existierten  aktuell,  wie  z.  B.  der  Begriff  des  Hauses,') 

^)  Allst.,  Metaph.  1023  b  30:  to  fikv  yoQ  xad^okov  xal  x6  iXii^  Xeyo' 
fjievov  «Sc  8Xov  n  Sv,  ofkwg  iaü  xa^olov  Äq  noXka  TUQiixov  xtp  xcmjYOQetO' 
^i  xad^  hxaoTOv  xal  ev  anavxa  elvai  <ig  Sxaatov  olov  Svd^Qomov. 

*)  VgL  Arist.,  Inter.  17  a  39:  Xiym  dh  xa»6)iov  /jikv  o  iTÜ  nXetovo^v 
ni<pvxt  xatfiyogetod^ai,  xad^  Sxaatov  Sk  fiij,  Thomas  1—1129, 6c:  nnUa 
potentia  sensitivae  partis,  neque  apprehensiva  neqae  appetitiva,  fem  potest 
in  nniversale,  qoia  universale  fit  per  abstractionem  a  materia  indlvidnali  in 
qna  radlcator  omnis  virtos  sensitiva.  De  universaU  duplidter  contingit  loqni, 
nno  modo  secnndum  quod  sabest  intentioni  nniversalitatis,  aUo  aatem  modo 
dicitor  de  natura,  cul  talis  intentio  attribuitur;  alla  est  enim  consideratlo 
hominis  universalis,  et  alia  hominis  in  eo,  quod  est  homo  (seine  reale  und 
allgemeine  Wesenheit). 

*)  Ck>dd.  c,  b:  „Es  ist  universeU,  insofern  seine  Natur  so  beschaffen  ist 
(7ä<pvxe)f  daß  sie  von  vielen  Individuen  ausgesagt  wird.  Jedoch  ist  es  nicht 
erforderlich,  daß  diese  Individuen  real  existieren.  Ja  nicht  einmal  ein  einziges 
braucht  reale  Existenz  zu  besitzen.^ 


Digitized  by 


Googl( 


285 

das  unnahbar  istO  Drittens  beseichnet  man  mit  universell 
den  Begriff,  der  seinem  Wesen  nach  es  nicht  hindert,  daß 
er  von  vielen  Einzeldingen  ausgesagt  wird.  Er  wird  daran 
nur  gehindert,  wenn  ihn  eine  äußere  Ursache  davon  zurückhält, 
und  wenn  irgend  ein  Anhaltspunkt  darauf  hinweist  (daß  er 
nicht  von  vielen  Dingen  ausgesagt  wird),  wie  z.  B.  die  Sonne 
und  die  Erde.  2)  Es  besteht  fOr  den  Verstand  kein  Hindernis, 
zuzugeben,  daß  dieser  Begriff  (ratio,  auch  reales  Wesen  be- 
deutend) in  vielen  Einzeldingen  vorhanden  sein  kann,  ab- 
gesehen davon,  daß  ein  Anhaltspunkt  und  ein  Beweis  für  das 
Gegenteil  sich  einstellt  Es  ist  dies  derjenige  Beweis,  der  zeigt, 
daß  die  soeben  genannte  Prädikation  auf  Grund  einer  äußeren 
Ursache  unmöglich  ist,  nicht  etwa  auf  Grund  der  Vorstellung 
(des  Wesens  der  Sonne  selbst).  Manchmal  ist  die  reale  Existenz 
eines  solchen  Begriffes  möglich,  und  daher  kamen  die  Gelehrten 
schließlich  in  der  Definition  überein,  die  besagt,  das  Universelle 
sei  dasjenige,  dessen  Begriff  für  sich  allein  betrachtet,  es  nicht 
ausschließt,  von  vielen  Einzeldingen  ausgesagt  zu  werden.  3) 
Dasjenige  Universelle,  von  dem  die  Logik*)  handelt,  ist  dieses. 
Das  Individuelle  und  Singulare  ist  dasjenige,  dessen  Be- 
griff für  sich  allein  genommen  es  ausschließt,  daß  derselbe  von 
vielen  Einzeldingen  ausgesagt  wird.*)    (Es  ist  die  erste  Sub- 


')  Es  ist  wohl  eine  sagenhafte  Wohnstfttte  wie  das  Schlofi  Dornrtfschens 
gemeint.  Es  ist  oniverseU  auch  ohne  daß  es  aktueU  in  realen  Individuen 
existiert 

')  (}od.  c,  b  add:  „Denn  insofern  beide  gedacht  werden  als  eine  Sonne 
und  eine  Erde  (also  die  essentia),  wird  der  Verstand  nicht  gehindert  znzn- 
geben  u.  s.  w. 

')  Thomas  y  Smn.  th.  I  85,  8  ad  1:  Universale  dnpliciter  potest  consi- 
derari:  nno  modo  secondom  qnod  natura  universalis  consideratur  simul  cum 
intentione  universalitis.  Et  cum  intentio  universalitatis,  ut  scilicet  unum 
et  idem  habeat  habitudinem  ad  multa,  proveniat  ex  abstractione  intellectas, 
oportet  quod  secundum  hunc  modum  universale  sit  posterius  (post  rem). 
Alio  modo  potest  considerari  quantum  ad  ipsam  naturam,  scilicet  animalitatis 
vel  humanitatis,  pront  invenitur  in  particularibus  (in  re).  Ante  rem 
existieren  die  universalia  im  Geiste  der  Engel  und  Gottes. 

*)  Log.  I.  Teil  und  ü.  TeiL 

»)  VgL  Arist.,  Metaph.  999  b  33:  x6  yoQ  oqi^h^  ^v  §  to  xa&*  kxaoxov 
XiyBiv  Sta^QCi  oyd-ev  oSxw  y&Q  UyopiBv  xo  xa9*  ^xaaxov  xo  agi^fnf  iv, 
xa^olov  dh  xo  ird  xovxwv.  Thomas,  c.  gent.  1,42:  Singularitas  aUcuius  rei 
non  est  alteri  praeter  ipsum  singulare.  Identisch  ist  der  Begriff  ,,indivi- 
dniun\ 


Digitized  by 


Googk 


286 

stanz  nach  Aristoteles,  Kateg.  1  b  3  ff.)  So  verhält  sich  z.  B.  Zidd, 
der  Gegenstand  eines  individuellen  Hinweises')  sein  kann;  denn 
es  ist  unmöglich,  daß  man  sich  dieses  Individuum  anders  vor- 
stelle als  dem  Zaid  allein  zukommend.«)  Daher  ist  das  Uni- 
verselle, insofern  es  universell  ist,  ein  besonderes  „Etwas"') 
und  auf  dasselbe  weist  eine  dieser  Definitionen^)  hin.  Insofern 
es  ein  „Etwas"  ist,  dem  die  Eigenschaft  der  Universalität  an- 
haftet, ist  es  wiederum  „Etwas"  besonderes  für  sich*)  (ver- 
schieden von  dem  eben  genannten  Universellen).  Daher  ist 
dieses  z.B.  ein  individuelles  Pferd.«)  Abgesehen  von  dem  Be- 
griffe des  Universellen  (durch  den  es  von  vielen  Einzeldingen 
ausgesagt  werden  kann),  ist  hier  (in  dem  Beispiele)  noch  eine 
andere  ratio  enthalten,  nämlich  die  der  esse  equum.  Denn  die 
Definition  dieser  letzteren  ratio  ist  verschieden  von  der  Definition 
der  Universalität,  noch  hat  überhaupt  die  Definition  der  letzteren 
einen  Anteil ')  an  der  Definition  des  Pferdes.»)  Die  D^nition 
der  Universalität  haftet  vielmehr  der  Natur  des  Pferdes  wie  ein 
Akzidens  an;  denn  diese  Natur  ist  in  sich  selbst  betrachtet*) 
weder  ein  Einzelding,  noch  auch  eine  Vielheit  von  Dingen  weder 
in  den  Individuen  existierend,  noch  auch  in  der  (denkenden) 
Seele,  noch  ist  sie  in  dieser  Beziehung  irgend  etwas,  weder  in 
der  Potenz,  noch  auch  aktuell,  so  daß  jenes  einen  Teil  der 
Definition  des  Pferdes  bilden  würde.  Die  Definition  des  Pferdes 
als  solche  enthält  vielmehr  nur  diesen  ihren  Inhalt  (des  esse 


*)  Allst.  L  dt:  oiov  i  xlg  avd'Qomog  xal  6  rlg  hatog,  odShv  yoQ  tov- 
Tfov  oixB  h  imoxEtfdvqt  iotlv  oixB  xa9^  imoxeifdvov  Xfyexau 

*)  VgL  Thomas,  Sam.  th.  1 29, 3  ad  4:  IndiTidnnm  antem  Deo  competere 
non  potest  quantnm  ad  hoc  quod  individuatioms  prindpinm  est  mateiia,  sed 
solmn  secondom  quod  importat  in  commanicabilitatem  und  DI  77,2c: 
est  de  ratione  indiTidui,  quod  non  possit  in  plnribns  esse. 

*)  Cod.  c,  b :  „und  insofern  es  ein  Etwas  ist,  haftet  ihm  die  Universalität 
an.  Das  Universale  als  solches  ist  dasjenige,  das  definiert  wird  dorch  eL  der 
ang.  Definitionen. 

*)  Irgend  eine  Definition  „dieser^  Dinge,  d.  h.  der  Weltdinge  bedeutet 
das  universale  logicom  des  Dinges  und  seine  essentia. 

*)  Dem  realen  Individuum  haftet  die  Universalität  wie  ein  logisches 
Akzidens  an. 

*)  Ein  aristotelisches  Beispiel!  s.  loc  dt 

^  Die  Universalität  bildet  keinen  Bestandteil  der  essentia. 

*)  Codd.  c  und  b:  „Denn  das  esse  equum  besitzt  eine  Definition,  die 
der  Universalität  nicht  bedarf*'  (um  die  essentia  zu  bezdchnen). 

*)  Codd.  c  und  b  add:  „in  keiner  Weise  irgend  eines  der  realen  Dinge". 


Digitized  by 


Googk 


equnm).  Die  Individualität  (und  Einheit)  ist  dagegen  eine 
Eigenschaft,  die  sich  mit  der  Natur  des  esse  equum  verbindet. 
Daher  ist  der  Begriff  dieser  abstrakten  Natur  verbunden  mit 
dieser  Eigenschaft  ein  einheitlicher J)  Der  Allgemeinbegriff  des 
esse  equum,  insofern  er  sich  in  seiner  Definition  auf  viele  Dinge 
erstreckt  (wörtlich:  mit  ihnen  kongruent  ist),  ist  ein  allgemeiner. 
Insofern  er  aber  in  seinen  Eigentümlichkeiten  und  Akzidenzien 
genommen  wird,  die  Objekte  eines  Hinweises  werden, 2)  ist  er 
individuell.*) 

Wenn  wir  daher  betreffs  des  Begriffes  der  allgemeinen 
Natur  des  Pferdes  gefragt  werden  nach  den  beiden  Teilen  des 
kontradiktorischen  Gegensatzes,  ob  diese  allgemeine  Natur  ein 
bestimmtes  A  sei,  oder  non-A,  so  ist  die  Antwort  nur  eine  ver- 
neinende, d.  h.  daß  sie  nicht  irgend  ein  beliebiges,  individuelles 
Ding  seL  Die  Verneinung  verhält  sich  nicht  so,  daß  sie  nach 
dem  secundum  quid*)  einträfe.  Sie  tritt  vielmehr  ein  vor  dem 
die  bestimmte  Beziehung  des  secundum  quid  vorhanden  ist,  d.  h. 
man  kann  nicht  sagen:  der  universelle  Begriff  des  Pferdes  als 
solcher  sei  nicht  das  bestimmte  Individuum  A  nach  dem  secundum 
quid  (dann  könnte  eventuell  das  Universelle  kein  bestimmtes 
Individuum  bedeuten).  Das  Verhältnis  ist  vielmehr  anders.  Man 
muß  sagen:  der  universelle  Begriff  sei  als  solcher  (vor  dem 
secundum  quid)  nicht  das  bestimmte  Individuum  A,  noch  über- 
haupt irgend  ein  beliebiges  reales  Einzelding.  (Sonst  würde  er 
seine  Universalität  verlieren  und  nur  dieses  Individuum  sein.) 

')  Ck^dd.  c  und  b  add:  „Ebenso  kommen  auch  dem  esse  equum  zugleich 
mit  dieser  Eigenschaft  (des  esse  indiyiduum)  noch  yiele  andere  Eigenschaften 
zu,  die  zu  ihrem  Wesen  hinzutreten  (nicht  Bestandteile  des  Wesens  aus- 
machen).*' 

^  Die  Akzidenzien  sind  die  Prinzipia  indiyiduantia  des  Dinges.  Sie 
werden  von  der  Scholastik  in  den  Vers  zusammengefaßt :  Forma,  figura,  locus, 
tempus,  stirps,  patria,  nomen:  Haec  ea  sunt  Septem,  quae  non  habet  unus 
et  alter. 

')  Ck>dd.  b  und  c  add:  „Daher  ist  also  das  esse  equum  in  sich  selbst 
nur  esse  equum,  essentia  equi"  (es  ist  noch  kein  Indiyiduum). 

^  Die  universeUen  Begriffe  kann  man  in  zweifacher  Hinsicht  auffassen, 
entweder  insofern  sie  eine  bestimmte  Wesenheit  bezeichnen,  oder  insofern  sie 
den  Charakter  der  Universalität  besitzen.  In  keiner  dieser  beiden  „formeUen^ 
Hinsichten  schließen  sie  das  bestimmte  Einzelding  aus.  Vor  diesen  „Hin- 
sichten'' aber,  d.  h.  wenn  man  den  Begriff  in  sich  betrachtet,  schließt  er  das 
Lidividuam  nicht  ein,  noch  ist  er  ausschließlich  in  nur  einem  Indiyiduum 
vorhanden. 


Digitized  by 


Googk 


288 

Wenn  nnn  die  beiden  Seiten  der  Frage  sich  auf  zwei  Dinge 
erstrecken,  die  positiv  sind,^  dann  enthalten  beide  Teile  der 
Frage  etwas,  das  nicht  notwendig  znr  Folge  hat,  daß  man  auf 
beide  Teile  antworte.  2)  In  dieser  Weise  unterscheidet  sich  die 
positive  von  der  negativen  Aussage  (also:  die  oppositio  contra- 
dictoria)')  und  von  den  beiden  positiven  Ausssagen,  die  in  zwä 
konträren  Gegensätzen  der  Potenz  nach  vorhanden  sind.*)  Der 
Grund  dafür  ist  der,  daß  die  positive  Aussage  von  den  beiden 
(kontradiktorischen)  Gegensätzen,  die  notwendig  der  negativeai 
anhaftet  (Arist  loc.  cit  jtdQsöti),  bedeutet,  daß  das  Ding^  warn 
ihm  nicht  „jene"  positive  Aussage  zukomme,  mit  dieser  anderen  j 
(positiven)*)  beeigenschaftet  sein  muß.  Es  ist  femer  nicht  mit  j 
dieser  Eigenschaft  bezeichnet,  in  dem  Sinne,  als  ob  dassdbe  i 
sein  Wesen  ausmachte.«)  Daher  ist  die  individuelle  Wesenhdt  I 
des  Menschen  nicht  dasselbe,  als  die  der  Einheit,  oder  d^  1 
weißen  Farbe,  oder  die  des  Einen,  oder  das  Weiße.  Setzen  wir  j 
den  Fall:  der  Gegenstand  der  Frage  nämlich,  die  individuelle  j 
Wesenheit  des  Menschen,  ingofem  ihr  die  menschliche  Natur  j 
zukommt,  verhält  sich  wie  ein  einziges  Ding.  Dann  stellt  man  ' 
die  Frage  betreffs  der  beiden  Gegensätze:  ist  sie  ein  Individuum    j 

^)  Der   Gegensatz    ist   dann   weder   ein   kontradiktorischer   noch  ein    | 
konträrer,  sondern  ein  snbaltemierter:  „ist  die  essentia  eqni  ein  bestimmtes    i 
Indiyidnnm  oder  dieses  bestimmte  Indiyidnnm" ;  oder  in  sQbkontrftrer:  „ist 
die  essentia  eqni  dieses  oder  jenes  (A  oder  B)  bestimmte  IndiTidaum**. 

')  Betrachtet  man  die  essentia  eines  Dinges  in  sich,  dann  besagt  sie    j 
nnr  diese  spezifische  Wesenheit.     Sie  hat  noch  keine  B>elation  zn  d^i  In-    ! 
dividnen.    Beide  Teile  der  Frage  mit  snbkontrfirer  Opposition  können  zudem 
zugleich  falsch  sein,  während  einer  von  zwei  kontradiktorisdien  Gegenafttzen    ! 
wahr  sein  muß.  1 

•)  Vgl.  Arist.  de  interpr.  17  a  33:  xal  foro»  avxl<paatq  zolrtOy  xatmpmui 
xal  ano^aatg  al  avtueeifjievai,  Ifyof  6h  ävTixela^ai  rrjv  wv  ccizov  xdva  tü^ 
avtoff,  (Atl  ifimvvfAioq  6L 

*)  Die  subkonträren  Gegensätze  werden  unter  die  konträren  subsumiert. 

»)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1057  a  34:  toCfro  y&Q  iauv  avzlipaatqy  ivri^cu; 
flQ  StfpoCv  &at€QOv  (loQiov  na^eanv,  ovx  ^ovariQ  ovdkv  fjisxaiv.  Daher 
muß  der  eine  der  beiden  Gegensätze  dem  Subjekte  zukommen.  Ist  nun  d^ 
negative  ausgeschlossen  und  bildet  der  positive  in  sich  eine  subkonträre  Oppo- 
sition, Individuum  A  oder  B,  dann  ist  also  von  B  der  Begriff  auszusages^ 
wenn  er  von  A  verneint  wird. 

^)  Codd.  b,  c  add:  „denn  besitzt  der  Mensch  die  Eigenschaft  des  einoi 
(ein  Individuum  zu  sein)  oder  die  der  weißen  Farbe,  dann  ist  diese  bestimmte 
Natur  des  Menschen  nicht  identisch  mit  dieser  bestimmten  Natur  der  Einheit 
oder  der  weißen  Farbe*'. 


Digitized  by 


Googk 


289^ 

oder  eine  Vielheit?  dann  erfordert  sie  keine  Antwort;  denn 
insofern  das  Universelle  die  individuelle »)  Wesenheit  des  Menschen 
(im  G^ensatz  zu  der  des  Pferdes)  bezeichnet,  ist  sie  verschieden 
von  jedem  einzelnen  Individuum  beider  Opposita.    In  der  De-  I 

finition  des  Universellen  wird  aus  demselben  Grunde  nur  die 
allgemeine  Natur  des  Menschen  (nicht  die  des  Individuums)  ver-  j 

wertet  Was  nun  die  Frage  anbetrifft,  ob  das  Universelle  die 
Eigenschaft  des  Einen  ^)  oder  die  einer  Vielheit  von  Dingen  be-  I 

sitze,  insofern  man  dieselbe  von  ihm  in  akzidenteller  Weise  aus-  ! 

sagt  und  insofern  sie  ihm  von  außen  anhaftet,  so  ist  es  nicht 
notwendig,   daß  dasselbe  diese  Eigenschaft  erhalte.     Nun  ist  I 

dieser  Begriff  nicht  identisch  mit  dem  Subjekte  dieser  Eigen-  I 

Schaft  (dem  Individuum),  insofern  er  die  allgemeine  Natur  des  i 

Menschen  bedeutet  5)  Betrachten  wir  den  Begriff  also  nur, 
insofern  er  die  universelle  Natur  des  Menschen  enthält,  dann 
ist  es  nicht  erforderlich,  daß  mit  ihm  sich  die  Individualität 
durch  Sücksicht  auf  ein  äußeres*)  Ding  vermische.  Diese  Rück- 
sicht (Beziehung)  macht  die  Auffassungsweise  der  Wesenheit  zu 
zwd  verschiedenen  Inhalten.  Der  eine  betrachtet  das  Universale 
insofern  es  diese  bestimmte  Wesenheit  ausdrückt,  der  andere, 
insofern  es  die  entsprechenden  Eigenschaften  (die  individuali- 
sierenden Bestimmungen)  hat  Infolge  der  ersten  Betrachtungs- 
weise besteht  die  allgemeine  Natur  des  Menschen  nicht  real  für 
sich  allein.  (Damit  die  reale  Existenz  möglich  werde,  müssen 
die  Individnationsprinzipien  hinzutreten.) 

Deshalb   stellte   jemand   die  Frage:   ist  die  menschliche 
Natur,  die   dem  Zaid  zukommt,  insofern  sie  eine  universelle 


')  Ayicenna  verwendet  in  diesen  Ausführungen  den  Terminus ,  der  die 
IndiTidoAlitSt  bezeichnet,  in  dem  Sinne  von  „bestimmter  Wesenheit",  die  aber 
kda  IndiTiduum  darstellt  Die  eine  Art  soll  auf  diese  Weise  von  der  Mitart, 
&  m  demselben  Genus  gehört,  unterschieden  werden.  Die  Gefahr  einer  Un- 
Uididt  ist  dadurch  leider  herbeigeführt. 

*)  Dem  UniverseUen  kommt  es  wie  eine  Qualität,  also  zufälligerweise 
o.  ?on  einem  Individuum  ausgesagt  zu  werden.  Avicenna  fafit  in  extrem 
irmKitMcher  Welse  das  esse  indiyiduum  als  eine  Qualität  des  Allgemeinbegriffes 
mL  Er  yersteht  jedoch  diese  Ausdruckgweise  in  gemäfiigt-realistischer  Weise. 

^  Ck>dd.  c,  b  add:  „Insofern  er  also  die  Wesenheit  des  Menschen  be- 
BÖ^Bet,  ist  er  nicht  eine  Vielheit  von  Individuen.  Es  verhält  sich  vielmehr 
«,  ab  ob  das  esse  muita  individua  etwas  wäre,  das  dem  Universale  wie  ein 
A^wAarffi^  ^on  anfien  anhafte.'' 

*)  Das  esse  Individuum  ist  fOr  die  Wesenheit  eine  res  externa. 

0orl«B,  IHM  Bnoh  d«r  Genasoiif  der  SmI«,  j^9 


Digitized  by 


Google 


29Ö 

Natur  ist,  verschieden  von  derjenigen,  die  sich  in  Omar  befindet? 
Darauf  müssen  wir  antworten:  dies  ist  nicht  der  FalL  Diese 
Konsequenz  folgt  nicht  aus  den  von  ihm  angenomenen  Prä- 
missen. Wir  lehren  vielmehr:  sowohl  diese,  wie  auch  jene  (die 
allgemeine  Natur  in  diesem  und  jenem  Individuum)  sind  ewig 
eine  und  dieselbe  Wesenheit;»)  denn  dieses*)  ist  eine  absolute 
Verneinung  und  mit  derselben  bezeichnen  wir,  daß  jene  all- 
gemeine Natur  des  Menschen  als  Wesenheit  des  Menschen  eben 
ausschließlich  die  menschliche  Natur  (kein  Individuum)  bedeutet. 
Insofern  sie  (die  menschliche  Natur  in  Zaid)  aber  verschieden 
ist  von  der,  die  Omar  besitzt,  haftet  ihr  ein  äußeres  (dem 
Wesen  akzidentelles)  Ding  an.*)  Dieses  lenkt  den  Blick  anf 
das  was  Gegenstand  eines  Hinweises  (rods  ri,  Individuum)  ist 
als  solches,  und  dann  auf  seine  Akzidenzien; 4)  denn,  wenn  man 
die  menschliche  Natur  prädiziert,  die  „als  universelle  Natur"* 
im  „Zaid  vorhanden  ist",  dann  bewirkt  die  Bestimmung  „als 
universelle  Natur",  daß  die  andere  Bestimmung,  „insofern  sie 
im  Zaid  vorhanden  ist",  oder  die  Bestimmung:  „insofern  sie 
dieselbe  ist,  die  im  Zaid  vorhanden  ist"  in  Wegfall  kommt*) 
Haben  wir  die  Abstraktion  (von  dem  Individuum)  vollzogen 
und  diskutieren  wir,  indem  wir  das  Universelle  betrachten, 
nämlich  die  allgemeine  Natur  des  Menschen,  dann  muß  die  Be- 
zeichnung, die  in  den  Worten  „die  Bestimmung  als  — "  enthalten 
ist,  auf  die  menschliche  Natur  gehen,  die  im  Zaid  vorhanden 
ist.  Diese  Art  der  Aussage  jedoch  ist  unmöglich ;  denn  die  beiden 
Bestimmungen,  daß  die  „allgemeine"  Natur  des  Menschen  „im 


')  Ck>dd.  c,  b  add:  „Daher  ist  diese  (die  menschliche  Natur  in  Zaid) 
identisch  mit  jener  (der  menschlichen  Nator  in  Omar)  and  diese  and  jene 
(der  rein  abstrakte  Begriff  der  menschlichen  Natur)  sind  numerisch  ein 
und  dasselbe/  Dem  Universellen  korrespondiert  also  eine  reale  und  einheit- 
liche Natur  in  der  Außenwelt. 

*)  d.  h.  die  Bestimmung,  dafi  das  Universale  weder  ein  einzelnes  In- 
dividuum noch  eine  individuelle  Vielheit  bezeichnet. 

*)  Cod.  c  add:  „Denn  wenn  jenes  (das  esse  hoc  Individuum  z.B.  A) 
nicht  außerhalb  des  Begriffes  der  menschlichen  Natur  läge,  ergftbe  sich,  dafi 
die  menschliche  Natur  als  solche  A  sei  oder  nicht  Dies  jedoch  haben  wir 
bereits  als  falsch  erwiesen.'' 

*)  Godd.b,  d:  „Wir  fassen  den  Begriff  der  mensdiHchen  Natur  als 
solcher;  denn  wenn"  u.  s.  w. 

')  Die  eine  Hinsicht,  in  der  man  das  Universale  betrachtet,  schliefit 
die  andere  ans. 


Digitized  by 


Googl( 


291 

Zaid"  sich  befindet,  insofern  sie  nur  eine  „allgemeine"  Natur 
besagt,  können  sich  nicht  in  einem  Subjekte  vereinigen.  Wenn 
man  sein  Augenmerk  nun  auf  die  menschliche  Natur  (d.  h.  die 
Universalität  des  Begriffes),  wendet, ^  dann  ist  die  Erwähnung 
des  (Individuum)  Zaid  nur  ein  Wort')  (kein  Gedanke),  es  müßte 
denn  folgendes  eintreffen.  Mit  dem  genannten  Ausdrucke  müßten 
wir  die  menschliche  Natur  bezeichnen,  der  es  von  außen  akzi- 
dentellerweise zukommt,  in  Zaid  (wie  in  einem  subjectum 
inhaesionis)  zu  sein.  Jedoch  haben  wir  von  ihr  (durch  die 
formelle  Auffassung  als  Universale)  diejenige  Bestimmung  ent- 
fernt, daß  sie  dem  Zaid  anhafte.  Die  Frage  also,  ob  sie  dieses 
bestimmte  Individuum^)  sei  und  ob  dieses  in  jener*)  (wie  unter 
seinem  Artbegriffe)  enthalten  sei,  ist  eine  Betrachtungsweise, 
die  sich  auf  etwas  anderes  richtet  als  auf  die  menschliche 
Natur  (nämlich  die  Individua). 

Man  könnte  den  Einwand  machen:^)  habt  ihr  nicht  in  der 
Antwort  behauptet,  daß  die  universelle  Natur  nicht  so  be- 
schaffen«) sei.  Nun  aber  ist  der  Umstand,  daß  sie  nicht  indi- 
viduell beschaffen  ist,  verschieden  von  dem  Umstände,  daß  sie 
die  allgemeine  Natur  des  Menschen  als  solcher  darstellt.  Darauf') 
erwidern  wir:  Wir  antworten  nicht:  die  allgemeine  Natur  sei 
als  universelle  Natur  des  Menschen  nicht  so  beschaffen  (d.  h. 
daß  sie  nicht  ein  Individuum  sein  könnte.  Sie  könnte  dann 
Oberhaupt  kein  Individuum  sein).   Wir  antworten  vielmehr:  die 


>)  Wörtlich:  „wenn  Du  zurückkehrst  zur  hmnanitas". 

')  Ebenso  ist  die  Lengnong  des  Prinzipes  des  Widerspruches  „nur  ein 
Wort",  d.  h.  sie  kann  keine  Überzeugung  sein.  Die  Vereinigung  des  Uni- 
versellen und  Singul&ren,  wenn  sie  formeU  aufgefaßt  werden,  ist  gleichfalls 
ein  Gedanke  der  logisch  nicht  vollziehbar  ist,  eine  contradictio  in  adiecto. 

*)  Codd.  c,  b:  „ob  sie  sich  so  (d.  h.  individuell)  verhalte"*. 

*)  Codd.  „in  jenem". 

*)  Codd.  c  und  b:  „Wenn  uns  jemand  fragt:  Antwortet  und  behauptet 
Ihr  etwa  nicht,  sie  (die  universeUe  Natur)  sei  nicht  so  und  so  (d.  h.  nicht  A 
oder  B,  nicht  dieses  oder  jenes  Individuum)?    Nun  aber"  u.  s.  w. 

•)  d.  h.  sie  sei  nicht  ein  Individuum.  „So  beschaffen"  und  „dieses"  be- 
zeichnen die  materieUen  Individua. 

^  Die  Conclusio  fehlt.  Sie  würde  lauten:  die  wesentliche  Bestimmung 
ist  also  ebenso  verschieden  von  dem  Subjekte  wie  die  äußerliche.  Die  Be- 
stimmung „non  esse  hoc  individuum"  ist  wesentlich  für  das  Universale.  Die 
Bestimmung  „esse  hoc  individuum"  ist  äußerlich  und  akzidenteU.  Beide  sollen 
nach  dem  Einwände  in  gleicher  Weise  verschieden  sein  vom  Subjekte. 

19* 


Digitized  by 


Googl( 


292 

allgemeine  Natur  sei  nicht*)  insofern  sie  eine  universelle  Natur 
darstelle,  individuell  bestimmt  (wörtlich:  „so  beschaffen").  Der 
Unterschied  zwischen  beiden  Prädikationsarten  ist  bereits  aus 
der  Logik  bekannt.  (In  der  ersten  Auffassungsweise  käme  es 
der  universellen  Natur  notwendig  zu,  nicht  individuell  zu 
sein;  in  der  zweiten  steht  sie  der  Individualität  indifferent 
gegenüber.) 

Eine  andere  Schwierigkeit  (wörtlich:  Ding)  drängt  sich  hier 
auf,  nämlich  die,  daß  der  Gegenstand  (wörtlich:  das  Substrat) 
dieser  und  ähnlicher  Fragen  auf  eine  Ungenauigkeit  hinaus- 
läuft, wenn  man  das  Subjekt  derselben  nicht  mit  einer  ein- 
schränkenden Determination  verbindet.')  Keine  andere  Antwort 
gibt  es  wahrlich  auf  dieselben,  es  müßte  denn  sein,  daß  man 
diese  universelle  Natur  als  einen  Gegenstand  des  Hinweises  be- 
zeichnete, ohne  daß  jedoch  in  demselben  eine  Vielheit  enthalten 
sei.  8)  Dann  aber  ist  (das  Subjekt)  unserer  Prädikation  „diese 
universelle  Natur  des  Menschen  als  solche"*)  kein  Teil*)  des 
Subjektes;  denn  man  kann  nicht  sagen,  „die  menschliche  Natur, 
die  in  Zaid  vorhanden  ist,  insofern  sie  menschliche  Natur 
ist  u. s.w."  Sie  müßte  sonst  wieder  unbestimmt  werden  (also 
die  Individualität  in  Zaid  verlieren). 

Man  könnte  aber  eine  Aussage  bilden :  „jene  menschliche" 
Natur,  der  wir,  insofern  sie  den  universellen  Charakter  des 
esse  hominem  hat,  eine  logische  Bestimmung  beilegten  u.s.w.*) 


')  Die  Verschiebung  der  Negation  bedingt  den  Unterschied.  Wird  die 
universelle  Natur  also  ein  Individuum,  so  geschieht  dies  nicht  auf  Grund 
ihrer  universeUen  Natur,  sondern  durch  andere  Determinationen,  die  von  aufien 
hinzukommen.    YgL  Logik  III.  Teil,  1 6  und  10,  und  II,  1  und  5. 

')  Das  ganze  Mißverständnis  wird  dadurch  hervorgerufen,  daß  man 
nicht  in  jeder  Aussage  genau  bezeichnet,  in  welcher  formeUen  Hinsicht  man 
das  Subjekt  verstanden  wissen  will. 

»)  Dies  ist  eine  contradictio  in  adiecto.  Der  „Hinweis",  rode  Ti,  geht 
auf  ein  Individuum,  und  dieses  in  den  materieUen  Dingen  gleichbedeutend 
mit  individueller  Vielheit.  In  der  himmlischen  Welt  ist  teilich  jede  Art  nur 
in  einem  einzigen  Individuum  enthalten. 

^)  Cod.  a:  „Wir  haben  sie  als  eine  Auffassungsweise  bezeichnet". 

*)  In  der  obigen  Annahme  ist  das  UniverseUe  identisch  mit  dem 
Singulären,  also  kein  Teil  desselben.  In  der  richtigen  Auffassung  ist  das 
UniverseUe  ein  logischer  Teil  des  Einzeldinges. 

*)  Codd.  c,  b:  „Die  menschliche  Natur  würde  Gegenstand  des  individuellen 
Hinweises  werden".  Ck>d.  d  GL:  „d.  h.  mit  dem  „Hinweise  (würde  sie  de- 
terminiert) der  in  dem  Ausdrucke  ,jene'  menschliche  Natur  Hegt". 


Digitized  by 


Googl( 


293 

Diese  Bestimmung  würde  dann  zur  universellen  Natur  des  Men- 
schen hinzugefügt.  Doch  sehen  wir  über  dieses  hinweg!  Dann 
sind  die  beiden  Seiten ')  der  Frage  zu  verneinen.  Die  allgemeine 
Natur,  so  aufgefaßt  wie  es  ihr  Inhalt  besagt  (wörtlich:  sie  als 
sie),  muß  nämlich  weder  ein  Einzelding,  noch  auch  eine  Vielheit 
sein  (sie  verhält  sich  also  zu  dem  einen,  wie  zu  dem  anderen 
indifferent  Sie  ist  nur  das,  was  ihr  Inhalt  bedeutet).  Sie  ist 
weder  identisch  mit  sich  selbst')  noch  ein  anderes-*)  (als  sie 
selbst),  es  sei  denn  in  dem  Sinne,  daß  dieses  Subjekt  (sachlich) 
notwendig  entweder  identisch  mit  sich  oder  ein  anderes  ist.  In 
diesem  Sinne  sagen  wir:^)  die  universelle  Natur  muß  ein  anderes 
werden  durch  die  Akzidenzien,  die  sich  mit  ihr  verbinden ;  denn 
das  Universale  kann  durchaus  nicht  real  existieren,  es  sei  denn 
in  Verbindung  mit  Akzidenzien.  Dann  aber  ist  dieselbe  nicht 
begrifflich  gefaßt,  insofern  sie  eine  allgemeine  Natur  des  Menschen 
darstellt.  Ist  dieselbe  nicht  gleichbedeutend  mit  der  Wesenheit 
Mensch,  der  in  Omar  vorhanden  ist,  so  ist  dieselbe  verschieden 
von  dieser  seiner  universellen  Wesenheit  durch  die  Akzidenzien 
(die  die  Individualität  herbeiführen).  Diese  Akzidenzien  wirken 
ein  auf  die  Person  (d.  h.  das  Individuum)  des  Zaid,  insofern  er 
zusammengesetzt  ist  aus  dem  Menschen  oder  der  universellen 
Natur  des  Menschen  und  Akzidenzien,  die  ihm  notwendig  an- 
haften (den  Individuationsprinzipien).     Sie  verhalten  sich  fast 

>)  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  die  Antwort  ist  dann  die  Negation  der  beiden 
Seiten  der  Frage",  d.  h.  der  oben  genannten  snbkonträren  Gegensatze,  von 
denen  das  Universale  notwendig  den  einen  bezeichnen  sollte  oder  sogar 
beide  zugleich. 

*)  d.  h.  das  Allgemeine  in  dem  Individuum.  Wenn  auch  das  eine  von 
beiden  notwendig  zutrifft,  so  soll  doch  der  universelle  Begriff,  in  sich  be- 
trachtet, davon  ganz  absehen. 

■)  Das  Universale  wird  zu  einem  „anderen"  wenn  es  zu  einem  In- 
dividuum wird.  Beide  sind  durchaus  zu  trennen.  Das  Erstere  bedingt  nicht 
notwendig  das  Zweite. 

*)  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  1 85, 2  ad  2:  Cum  dicitur  universale  abstractum, 
duo  intelliguntur,  scilicet  ipsa  natura  rei  (z.  B.  Mensch)  et  abstractip  seu 
universalitas.  Ipsa  igitur  natura  cui  accidit  vel  intelligi,  vel  abstrahi,  vel 
intentio  universalitatis,  non  est  nisi  in  singularibus;  sed  hoc  ipsum  quod  est 
intelligi  vel  abstrahi  vel  intentio  universalitatis  est  in  intellectu.  . . .  Similiter 
humanitas,  quae  intelligitur,  non  est  nisi  in  hoc  vel  illo  homine;  sed  quod 
humanitas  apprehendatur  sine  individualibus  conditionibus  quod  est  ipsam  ab- 
strahi, ad  quod  sequitur  intentio  universalitatis,  accidit  humanitati,  secundum 
quod  perdpitnr  ab  intellectu  in  quo  est  similitudo  naturae  specici  et  non  in- 
dividualiam  pnndpiorum. 


Digitized  by 


Googk 


294 

wie  seine  Teile  (so  daß  das  Individuum  ein  „Ganzes"  oder  eine 
Summe  ist).  Die  Einwirkung  der  Akzidenzien  findet  ferner  auf 
den  (universellen)  Menschen  oder  die  menschliche  Natur  dadurch 
statt,  daß  sie  (durch  die  Akzidenzien)  bezogen  wird  auf  ihn 
(d.  h.  das  Individuum,  den  Zaid). 

Wir  kehren  nun  zum  Anfangspunkt  der  Diskussion  zurück 
und  fassen  die  Auseinandersetzungen  zusammen,  indem  wir  über 
das  Problem»)  in  einer  anderen  Beziehung  verhandeln,  die  ver- 
wandt ist  mit  der  früher  erwähnten.  In  diesem  Sinne  lehren 
wir.  In  dem  Bereiche  des  Erkennbaren  findet  sich  ein  sinnlich- 
wahrnehmbarer Ausgangspunkt,  (das  empirische  Objekt)  wie 
z.  B.  das  Tier  oder  der  Mensch,  und  dieser  ist  ausgestattet  mit 
Materie  und  Akzidenzien.  Dies  ist  der  physische  Mensch.  Femer 
befindet  sich  in  dem  Bereiche  des  Erkennbaren  etwas  anderes, 
nämlich  das  Tier  und  der  Mensch,  der  in  seiner  eigenen  Natur 
betrachtet  wird,  insofern  er  dieses  Wesen  darstellt  (wörtlich: 
mit  sich,  seinem  Wesensinhalte,  identisch  ist,  also  die  Spezies), 
ohne  daß  man  zugleich  mit  derselben  dasjenige  betrachtet,  was 
sich  mit  ihr  (in  der  physischen  Wirklichkeit)  verbindet,  und 
ohne  daß  man  die  Bedingung  stellt,  diese  allgemeine  Natur  sei 
entweder  universell  oder  individuell,  ein  Einzelding  oder  eine 
Vielheit  und  zwar  weder  aktuell,  noch  auch  mit  Rücksicht  auf 
die  Potenz, 2)  insofern  dieselbe  in  potentia  ist.  Man  kann  in 
dieser  Weise  den  begrifflichen  Inhalt  eines  Gegenstandes  rein 
in  sich  betrachten;  denn  das  Tier  als  solches  und  der  Mensch 
als  solcher  d.  h.  in  seiner  Definition  und  seiner  „ratio",  ohne  daß 
man  andere  Wirklichkeiten  (Akzidenzien)  zugleich  mit  diesem 
Begriffe  betrachtet,  die  sich  (in  Wirklichkeit)  mit  ihm  verbinden, 
ist  nicht  nur  ein  beliebiges,  individuelles  Tier  oder  ein  indivi- 
dueller Mensch  (sondern  sieht  ab  von  jeder  Determination). 

Was  nun  aber  den  universellen  Begriff  Tier  betrifft  und  das 
individuelle  Tier  und  ebenso  den  Begriff  Tier,  insofern  er  in  der 
Potenz  ein  allgemeiner  oder  ein  singulärer  ist  (d.  h.  in  seiner  Be- 
ziehung zu  der  individuellen  Vielheit)  und  das  Tier,  insofern  es 
in  den  realen  Individuen  existiert,  oder  in  der  Seele  als  Begriff 
gedacht  wird,  so  enthält  dieses  Wirkliche  die  Natur  des  bestimmten 
Tieres  und  etwas,  was  verschieden  ist  von  dieser  und  das  allein 

>)  Das  Problem  lautet  kurz:  der  Allgemeinbegriff  ist  ans  sich  heraus 
weder  etwas  Universelles,  noch  etwas  Singnläres. 

2)  Tism  TTnivftrspllft  Ut  pot^.ntiÄ.  mne  Vielheit  toü  Individuen. 


Digitized  by 


Googk 


29^ 

betrachtet  wird  (nämlich  die  Wesenheit  abgesehen  von  den  Prin- 
zipien der  Individualisation).  Es  ist  bekannt,  daß  wenn  (diese  beiden 
Gegenstände)  ein  beliebiges  (individuelles)  Tier  und  ein  anderes  Wirk- 
liche besteht,  dann  das  Tier  (als  Universale)  sich  darin  verhält 
wie  ein  TeilJ)  Ebenso  verhält  es  sich  betreffs  der  menschlichen 
Natur.  Daß  man  also  die  Natur  des  Tieres  in  sich  betrachtet, 
ist  zulässig,  selbst  dann,  wenn  dieselbe  real  nur  mit  einem  anderen 
(den  individualisierenden  Akzidenzien)  verbunden  existiert;  denn 
ihr  eigentliches  Wesen  ist  in  Verbindung  mit  diesem  anderen 
ihr  reales  Wesen  geblieben  und  dieses  reale  Wesen  kommt  ilir 
„durch  sich  selbst"  zu.^)  Daß  dasselbe  aber  mit  einem  anderen 
zugleich  existiert  (mit  den  Prinzipien  der  Individualisation),  ist 
ein  Zustand,  der  der  universellen  Natur  entweder  als  äußerliches, 
oder  als  innerliches,  notwendiges  Akzidens  anhaftet. 

Daher  verhält  sich  die  Natur  wie  die  tierische  und  mensch- 
liche Natur  in  dieser  Hinsicht  (d.  h.  sie  ist  universell)  und  ist 
der  Existenz  nach  früher  als  das  Tier,  das  auf  Grund  seiner 
Akzidenzien  individuell  existiert  oder  universell  ist,  sei  es  nun 
real  oder  begrifflich.  Es  ist  früher  in  der  Weise,  wie  das  Ein- 
fache vor  dem  Zusammengesetzten,  oder  der  Teil  vor  dem 
Ganzen.  Durch  diese  Existenzweise  ist  es  weder  Genus  noch 
Spezies  noch  Individuum,  noch  Einzelding  noch  eine  Vielheit 
solcher.  Durch  diese  Art  der  Existenz  (als  Begriff)  ist  der 
Gegenstand  nur  „Tier"  oder  „Mensch",  jedoch  haftet  es  ihm  not- 
wendigerweise an,  daß  es  entweder  ein  Einzelding,  oder  eine  Viel- 
heit darstelle;  denn  jedes  wirkliche  Ding  muß  entweder  das  eine 
oder  das  andere  von  beiden  sein.  Es  verhält  sich  aber  so,  daß  diese 
Bestimmung  ihm  von  außen  anhaftet  (also  nicht  wesentlich  ist). 
Unter  der  besagten  Voraussetzung  (der  Abstraktion)  ist  das  Tier 
selbst  dann,  wenn  dasselbe  in  jedem  Individuum  vorhanden  ist, 
auf  Grund  dieser  Bedingung  nicht  ein  beliebiges  (individuelles) 
animaL  Freilich  haftet  ihm  die  Bestimmung  notwendig  an,  daß 
es  zum  konkreten  Tier  werden  muß;  denn  es  ist  in  seinem  realen 
Wesen  und  seiner  essentia  in  dieser  Hinsicht  (in  der  ihm  die 
genannte,  akzidentelle  Bestimmung  anhaftet)  irgend  ein  beliebiges 

*)  Das  einzelne  Indiyidaiim  ist  ein  Teil  des  Universellen  als  Art,  aber 
das  UniverseUe  ist  ebensogut  ein  Teil  des  Individnellen,  insofern  es  die  reine 
Wesenheit  des  Einzeldinges  bedeutet. 

>)  Daher  ist  es  erlaubt  dieses  auch  „für  sich  selbst  genommenen"  zu 
betrachten. 


Digitized  by 


Googl( 


296 

(individuelle«)  Tier,  und  der  Umstand,  daß  die  universelle  Natur 
des  Tieres,  die  in  einem  Individuum  real  existiert,  ein  beliebiges, 
individuelles  Tier  ist,  hindert  nicht,  daß  es  die  allgemeine  Natur 
des  Tieres  als  solche  darstelle,  (und  daß  man  es  betrachten  kann) 
ohne  darauf  Rücksicht  zn  nehmen,  daß  es  ein  beliebiges  Tier 
ist,  das  in  einem  bestimmten  Zustande  sich  befindet.  Denn 
wenn  dieses  Individuum  ein  individuelles  Tier  ist,  so  ist  es  also 
ein  reales  Tier.  Das  Tier  (als  Universale),  das  Teil  eines  realen 
„beliebigen"  (d.  h.  individuellen)  Tieres  ist,  verhält  sich  wie  die 
weiße  Farbe.  Denn  wenn  die  weiße  Farbe  sich  auch  nicht  von 
der  Materie  trennen  läßt,  so  ist  sie  doch  das  Wesen  der  weißen 
Farbe  selbst,  die  in  der  Materie  existiert  Dies  verhält  sich  so, 
indem  die  abstrakte  Natur  der  weißen  Farbe  etwas  anderes  (als 
das  Individuum)  ist.  Sie  wird  in  ihrem  eigenen  Wesen  betrachtet 
und  besitzt  durch  sich  selbst  eine  reale  W^esenheit  Freilich 
kommt  es  dieser  realen  Wesenheit  akzidentell  zu,  daß  sie  sich 
in  der  wirklichen  Existenz  mit  einem  anderen  Realen  (der  In- 
dividualität des  Dinges)  verbindet 

Dagegen  könnte  jemand  einwenden,  daß  die  universelle  Natur 
„animal"  als  abstrakte  nicht  in  den  Individuen  real  existiert; 
denn  das,  was  real  in  Individuen  existiert,«)  ist  irgend  ein  be- 
stimmtes Tier,  nicht  das  animal  als  solches;^)  femer  die  universelle 
Natur  des  animal  als  solche,  ist  etwas  Reales.  Sie  ist  also  von 
den  Individuen  getrennt  (für  sich  existierend  in  einer  idealen 
Existenz).  Wenn  nämlich  die  Natur  des  animal  als  solche,  diesem 
bestimmten  Individuum  real  zukäme,  dann  müßte  sie  dem- 
selben entweder  in  spezieller  Weise  (also  mit  Ausschluß  aller 
anderen  Individuuen)  zukommen  oder  nicht ^)  Kommt  dieser  Be- 
griff ihm  nun  in  eigentümlicher  Weise  zu,  dann  ist  der  univer- 
selle Begriff  animal  als  solcher  nicht  das,  was  in  dem  Individuum 
real  existiert,  noch  ist  er  diese  (universelle)  Natur  selbst,  sondern 
er  ist  irgend  ein  individuelles  animal  (hat  also  seine  universelle 
Natur  eingebüßt).  Kommt  derselbe  dem  Individuum  aber  nicht 
in  eigentümlicher  Weise  zu,  so  ergibt  sich,  daß  ein  einziges  Ding, 
das  in  sich  selbst  numerisch  dasselbe  bleibt,  real  existiert  durch 
eine  Vielheit  von  Individuen.    Dies  jedoch  ist  unmöglich. 


>)  Cod.  c  GL:  „diese  Prämisse  ist  zngegfeben". 

')  Cod.  d  GL:  „denn  das  Existierende  ist  in  den  Individuen''. 

*)  VgL  dazu  die  Eingsteine  Färabis,  Nr.  4,  5,  6. 


Digitized  by 


Google 


297 

Selbst  wenn  dieser  Zweifel  schwach  und  unbedeutend  ist, 
so  haben  wir  ihn  dennoch  angeführt,  weil  von  einem  Objizienten 
dieser  Zweifel  zu  unserer  Zeit  vorgebracht  wurde.  Er  stammt 
von  einer  Gruppe  von  Philosophen,  die  sich  dilettantisch  mit 
der  Philosophie  beschäftigen.  Wir  antworten  auf  denselben:  in 
dieser  Objektion  ist  von  vielen  Seiten  her  der  Irrtum  enthalten. 
Zunächst  ist  es  die  Ansicht,  daß  das  real  Existierende,  wenn 
es  ein  bestimmtes  Individuum  ist,  inbezug  auf  seine  universelle 
Natur  (absolut)  in  sich  betrachtet  werde,  nicht  in  einer  anderen 
Bedingung,  9  die  nicht  in  dem  allgemeinen  Begriff  enthalten  ist. 
Daß  dies  ein  Irrtum  ist,  haben  wir  bereits  früher  klargelegt. 

Der  zweite  Irrtum  ist  die  Ansicht,  daß  die  universelle 
Natur  des  animal  als  solche  entweder  individuell,  oder  nicht 
individuell  sein  muß,  sodaß  diese  beiden  Seinsformen  sich  „gleich- 
geordnet" wären,  (und  ein  tertium  ausschlössen).  So  verhält  es 
sich  aber  nicht  Betrachtet  man  vielmehr  das  Tier  als  solches, 
insofern  es  die  universelle  Natur  besitzt,  so  ist  es  weder  indi- 
viduell, noch  auch  nicht  individuell,  d.  h.  universell  Diese  beiden 
Prädikate  werden  vielmehr  von  ihm  verneint;  denn  insofern  es 
die  Natur  des  animal  besitzt,  ist  es  nur  „Tier".  Der  Begriff 
des  animal  als  solcher  (als  Wesensbegriff)  ist  verschieden  sowohl 
von  dem  Begriffe  des  Universellen,  als  auch  dem  des  Singulären. 
Ebensowenig  bilden  diese  beiden  Begriffe  einen  Teil  der  Wesen- 
heit des  Tieres.  Wenn  dieses  sich  nun  so  verhält,  dann  ist  das 
Tier  als  solches  weder  singulär,  noch  universell  inbezug  auf  seine 
Natur  als  Tier.  Es  enthält  vielmehr  eben  nur  das  Wesen  als 
„Tier",  abgesehen  von  allen  anderen  Dingen  (Akzidenzien)  und 
Verhältnissen  (Existenzweisen  wie  das  Individuelle  und  Univer- 
selle). Trotzdem  aber  ist  es  ihm  notwendig  (wie  ein  Akzidens) 
„anhaftend",  daß  es  entweder  individuell  oder  universell  sei. 
Versteht  man  nun  unter  dem  Ausdrucke:  „der  Begriff  Tier  muß 
notwendigerweise  entweder  individuell  oder  universell  sein,"  daß 
das  Tier  in  seiner  (abstrakten)  Wesenheit  als  Tier  nicht  ohne 
das  eine  von  beiden  sein  kann,  so  ist  es  in  Wirklichkeit  dennoch 
in  seiner  (reinen)  Wesenheit  frei  von  beiden.  Versteht  man  aber 
unter  obigem  Ausdrucke,  daß  das  Tier  in  der  realen  Existenz 

^)  Die  „andere  Bedingung",  die  zur  universellen  Natur  hinzutritt,  ist 
die  Individualität.  Diese  hindert,  daß  die  universelle  Natur  im  Individuum 
^in  se  betrachtet"  werde,  d.  h.  rein  vorhanden  sei,  ohne  determinierende  Be- 
stimmungen.  Vgl.  die  Darlegungen  S.  291  ff. 


Digitized  by 


Googk 


298 

nicht  frei  von  beiden  sein  kann,  d.  h.  daß  es  notwendigerweise 
eines  von  beiden  als  Akzidens  besitzen  muß,  so  ist  dieses  richtig.  0 
Welches  von  beiden  ihm  nun  zukommt,  —  in  jedem  Falle  wird 
die  Betrachtung  der  allgemeinen  Natur  des  Tieres  dadurch  nicht 
abgelenkt.  Diese  selbst  ist  in  gewisser  Hinsicht  weder  individuell, 
noch  universell,  vielmehr  wird  sie  individuell  oder  universell, 
nachdem  sie  „rein"  bestand  (d.  h.  nachdem  sie  keines  von  beiden 
war)  und  zwar  durch  Zustände,  die  der  Wesenheit  als  solcher 
wie  Akzidenzien  zukommen. 

Ein  weiteres  Ding  bleibt  liier  zu  überlegen,  das  erschlossen 
werden  muß.  Es  ist  zutreffend,  zu  sagen,  daß  das  Tier  als 
solches  weder  Universalität  noch  Individualität  besitze. ')  Der 
Grund  dafür  ist:  Wäre  es  für  die  universelle  Natur  des  Dinges 
erforderlich,  daß  man  von  ihr  entweder  die  Universalität  oder 
die  Individualität  positiv  aussagte,  dann  entstände  kein  indivi- 
duelles, noch  ein  universelles  Tier.  Daher  muß  ein  fester  Unter- 
schied bestehen  zwischen  dem,  daß  man  sagt,  „das  Tier  als  solches 
ist  abstrakter  Natur  unter  Voraussetzung  einer  anderen  Bedingung^ 
und  zwischen  dem,  daß  man  sagt,  „das  Tier  als  solches  ist  (in 
sich)  abstrakter  Natur  unter  der  Voraussetzung,  daß  keike  andere 
Bedingung  hinzukomme."  Wäre  es  möglich,  daß  das  Tier  als 
solches,  ohne  Voraussetzung  irgend  einer  anderen,  real -indivi- 
duellen Bedingung  3)  universeller  Natur  wäre  (also  ohne  Indivi- 
duationsprinzipien),  dann  müßten  die  Ideen  Piatos  in  den  (idealen) 
Individuen  existieren!  Das  Tier  als  solches,  ohne  Hinzufügnng 
einer  anderen  Bedingung,  hat  die  ihm  zukommende  Existenz  nur 
im  Geiste.  Faßt  man  aber  das  Tier  abstrakt  au^  nicht  unter 
der  Bedingung,  daß  ihm  ein  anderes  reales  Ding  (die  Indivi- 
dualität) eigne,  so  kommt  ihm  in  den  Individuen  (der  sub- 
lunarischen  nicht  der  idealen  Welt)  eine  gewisse  Existenz  zu.*) 
Denn  *)  in  dem  eigentlichen  Wesen  des  Tieres  besteht  nicht  die 

*)  Codd.  c  und  b  add:  „denn  dem  Tiere  haftet  es  notwendigerweise  an, 
entweder  individuell  oder  universell  zu  sein". 

')  Codd  c,  b  add:  „Es  ist  aber  unzutreffend  zu  sagen:  dem  Tiere  als 
solchem  mtlsse  notwendig  die  Prädication  der  Individualität  oder  Universalität 
zukommen".    Ck>d.  c  GL:  „es  sind  die  Akzidenzien". 

■)  Wörtlich:  „Wegen  dieser  ratio". 

*)  Codd.  c  und  b:  „unter  der  Bedingung,  daß  kein  anderes  Reale  (als 
die  Abstrakte)  in  den  Individuen  existiere". 

^  Zu  ergänzen  ist  der  Gedanke:  Das  Abstrakte  und  Konkieie  kann 
man  in  dieser  Weise  unterscheiden. 


Digitized  by 


Googk 


299 

Bedingung,  daß  ihm  irgend  ein  anderes  Ding  zukommen  müsse, 
selbst  wenn  das  Tier  mit  tausend  Bedingungen,  die  ihm  von 
außen  zukommen,  real  existiert  Daher  existiert  das  Tier  in 
der  reinen  Natur  seines  Wesens  und  in  den  realen  Individuen. 
Daraus  läßt  sich  aber  nicht  folgern',  es  müsse  als  „Getrenntes" 
(als  Idee)  existieren.  Vielmehr  ist  dasjenige,  was  in  sich  selbst 
frei  ist  von  den  anhaftenden  Bedingungen,  real  existierend  in 
den  Individuen.  Von  außen  her  (nicht  aus  seinem  Wesen)  treten 
aber  Zustände  und  Verhältnisse  an  die  Wesenheit  heran,  die 
dieselbe  „umkleideten"  (und  ihm  Individualität  verliehen).  Daher 
ist  es  in  der  Definition  seiner  Einheit,  durch  die  es  ein  einziges 
Ding  (ein  konkretes  Individuum)  ist,  in  dieser  bestimmten  Hin- 
sicht (in  der  man  im  materiellen  Dinge  die  Wesenheit  allein 
betrachtet)  ein  abstraktes  Tier,^)  ohne  irgend  welche  andere 
Bedingung  (von  der  man  abstrahierte),  selbst  wenn  diese  Ein- 
heit (die  Individualität)  zu  seiner  Natur  als  Tier  hinzukommt. 
Jedoch  ist  die  eigentliche  Wesenheit  verschieden  von  den  „anderen" 
Akzidenzien  (die  nicht  „Wesenheit"  sind). 

Existierte  das  Tier  als  unkörperliche  Substanz,  wie  manche 
es  glauben,  dann  wäre  dieselbe  nicht  das  individuelle  Tier,  2)  das 
wir  (in  unserem  Erkennen)  suchen  und  über  das  wir  diskutieren; 
denn  wir  suchen  zu  erkennen  ein  Tier,  das  von  vielen  Individuen 
ausgesagt  wird,  sodaß  jedes  einzelne  dieser  vielen  Individuen 
eben  diese  Wesenheit  enthält.  Der  getrennten  Substanz  aber,  die 
nicht  von  diesen  (irdischen)  Dinge  ausgesagt  werden  kann,  da 
nichts  von  diesen  Dingen  das  Wesen  jener  idealen  Substanz 
ist,  —  dieser  bedürfen  wir  nicht  in  dem,  womit  wir  uns  hier 
beschäftigen.») 

Daher  ist  das  Tier,  das  als  behaftet  mit  seinen  Akzidenzien 
aufgefaßt  wird,  das  physische  Wirkliche.  Dasjenige  aber,  das 
in  sich  selbst  betrachtet  wird  (der  universelle  Begriff)  ist  die 
Natur,  von  der  man  aussagt:  ihre  Existenz  gehe  der  Existenz 
des  physisch  Wirklichen  voraus  in  der  Weise,  wie  das  Einfache 
dem  Zusammengesetzten  vorausgeht.  Es  ist  dasjenige,  dessen 
Existenz  dadurch  bestimmt  wird,  daß  es  die  göttliche  Existenz 


*)  Es  enthält  die  abstrakte  Wesenheit  „Tier". 
*)  oder:  „Dann  existierte  dieses  individuelle  Tier  nicht,  das". 
*)  Zur   Erklärung    der    realen   Welt    ist    die   platonische   Hypothese 
überflüssig« 


Digitized  by 


Google 


300 

seiJ)  Denn  der  Grund  für  die  Existenz  dieses  unkörperlichen 
Wesens,  insofern  es  ein  animal  darstellt,  ist  die  Vorsehung  Gtottes. 
Existiert  dasselbe  aber  in  Verbindung  mit  einer  Materie,  Akzi- 
denzien und  mit  diesem  Individuum,  so  ist  die  Ursache  davon, 
selbst  wenn  dasselbe  abhängt  von  der  Vorsehung  Gk)ttes,  die 
individuelle  Natur.  Ebenso  wie  das  Tier  in  der  realen  Existenz 
mehr  als  eine  Art  bildet,  ebenso  (bildet  es)  auch  im  Verstände 
(verschiedene  Begriffe).  Im  Verstände  existiert  die  abstrakte 
Wesensform  des  Tieres  in  der  Weise,  wie  wir  es  in  der  Be- 
sprechung der  Definition*)  erwähnt  haben.  In  diesem  Sinne  wird 
dasselbe  „geistige  Wesensform"  genannt. 

Im  Verstände  befindet  sich  ebenfalls  die  Wesensform  des 
Tieres,  insofern  als  sie  im  Verstände  durch  einen  einzigen  Be- 
griff allein  mit  vielen  Individuen  „kongruent"  ist  (d.  h.  diese 
wiedergibt).  Daher  ist  die  eine  Wesenform  (d.  h.  Erkenntnisform) 
im  Verstände  auf  eine  Vielheit  von  Individuen  bezogen.  Sie  ist 
in  dieser  Hinsicht  universell. »)  Im  Verstände  ist  sie  ein  einziger 
Begriff,  dessen  Beziehung  zu  irgend  einem  Einzeldinge,  das  aus 
der  Menge  z.  B.  der  Tiere  genommen  wird,  keine  Verschiedenheit 
aufweist  d.  h.  zu  irgend  einem  einzelnen  von  ihnen,  dessen  Er- 
kenntnisform in  der  inneren  Vorstellung  präsent  ist  4)  Der 
Verstand  abstrahiert  s)  sodann  den  unkörperlichen  Begriff  von 
den  Akzidenzien  und  bewirkt,  daß  im  Verstände  diese  Wesens- 
form selbst  aktuell  wird.  Es  ist  also  diese  individuelle  Wesens- 
form, die  infolge  des  Abstraktionsprozesses  des  Begriffes  „animal" 
von  irgend  einer  Phantasievorstellung  eines  Individuums  herkommt 
Sie  ist  hergenommen  von  einem  real  existierenden  Dinge  der 
Außenwelt  oder  von  irgend  einem  anderen  Dinge,  das  sich  ebenso 
verhält  wie  ein  reales  Ding  der  Außenwelt,  selbst  wenn  dasselbe 
in  sich  nicht  real  existieren  sollte,  sondern  durch  die  Phantasie 
erfunden  ist  (wie  z.B.  Gegenstände  des  Mythos). 


^)  Die  Ideen  existieren  nur  in  dem  göttlichen  Verstände  mid  dem 
der  himmlischen  Geeister. 

«)  Logik  I.  Teil,  ganz  bes.  1, 10. 

')  Die  Scholastiker  erklären  vielfach  universale  als  unum  versus  alia, 
d.  h.  ein  einheitlicher  Begriff,  der  in  Relation  steht  zu  einer  Vielheit 
anderer  Dinge. 

*)  Der  abstrakte  Begriff  verhält  sich  indifferent  zu  allen  Individuen. 

*)  Wörtlich:  „reißt  ihn  heraus". 


Digitized  by 


Googl( 


301 

Diese  Wesensform  ist  also,  selbst  wenn  sie  inbezug  auf  die 
Vielheit  der  Individuen  universelle  Natur  hat,  dennoch  inbezug 
auf  die  Seele,  die  ihrerseits  individueller  Natur  ist  und  in  dem 
menschlichen  Körper  „eingeprägt" ')  wurde,  ein  singuläres  Ding. 
Sie  ist  eine  individuelle  Erkenntnisform,  die  im  Verstände  wirk- 
lich ist  Weil  nun  aber  die  individuellen  Seelen  der  Zahl  nach 
eine  Vielheit  bilden,  so  kann  auch  diese  universelle  Erkenntnis- 
form eine  numerische  Vielheit  sein,  insofern  sie  durch  diese 
Seelen  (als  aufnehmendes  Substrat)  individuell  ist.  Dieser  Er- 
kenntnisform 2)  kommt  ein  anderer  universeller  Begiiff  zu,  der 
sich  zur  Erkenntnisform  ebenso  verhält  wie  die  Erkenntnisform 
zu  (den  Dingen)  der  Außenwelt  3)  Dieser  andere  Begriff  unter- 
scheidet sich  in  der  Seele  von  dieser  (individuellen)  Erkenntnis- 
form, die  inbezug  auf  die  Außenwelt  universeller  Natur  ist, 
indem  derselbe  (der  Begriff  der  Universalität)  von  der  (indivi- 
duellen) Erkenntnisform  ausgesagt  wird  und  ebenso  von  anderen 
(die  zusammen  mit  der  ersten  eine  numerische  Vielheit  bilden). 
Über  dieses  Problem  wollen  wir  später  noch  weiter  diskutieren. 

Die  universellen  Dinge  sind  also  in  gewißer  Hinsicht  in 
der  Außenwelt  real  existierend,  in  anderer  Hinsicht  aber  nicht; 
denn  sonst  müßte  ein  und  dasselbe  Ding  in  seiner  numerischen 
Einheit,  das  von  vielen  Einzeldingen  prädiziert  wird,  von  diesem 
Individuum  ausgesagt  werden,  insofern  dieses  Individuum  (als 
Individuum)  jenes  (das  universale)  wäre.  Ebenso  müßte  es  von 
anderen  Individuen  ausgesagt  werden.  So  ist  es  also  klar,  daß 
dieses  unmöglich  ist  Die  Zahl  der  Beweise  dafür  werden  wir 
noch  vermehren.  Die  allgemeinen  Dinge  sind  vielmehr,  insofern 
sie  allgemeiner  Natur  sind,  aktuell  nur  im  Geiste  real  existierend. 

^)  Dadurch  dafi  die  Seele  in  die  Materie  „eingeprägt"  wird,  erhält  sie 
seihst  Lndividualität.  Um  so  mehr  sind  alle  Gedanken  in  ihr  als  psychische 
Inhalte  indiyidnell,  auch  wenn  sie  Universelles  besagen. 

«)  Cod.  d  GL:  „der  Wesenheit". 

•)  Der  Charakter  der  Universalität  verhält  sich  zum  Wesensbegriffe 
wie  das  Allgemeine  zum  Besonderen,  oder  die  begriffliche  Fassung  der  „Er- 
kenntnisform", d.  h.  des  physischen  Vorganges  des  Erkennens,  verhält  sich  zur 
„Erkenntnisform",  d.h.  zum  einzelnen  Erkenntnisakte,  wie  irgend  eine  De- 
finition zu  ihren  Objekten  in  der  Außenwelt. 


Digitized  by 


Google 


302 


Zweites  Kapitel 

Der  Charakter  der  Universalität  haftet  den  universellen  Naturen  an. 

Darüber  wird  die  Diskussion  zu  Ende  geführt.   Der  Unterschied  zwischen 

dem  Ganzen  und  dem  Teile,  dem  Universellen  und  Singularen. 

Es  wurde  also  bereits  klargestellt,  was  die  universelle  Natur 
in  den  realen  Dingen  sei.  Sie  ist  diese  individuelle  Natur,  indem 
ihr  irgend  einer  der  Begriffe  (von  der  Wesenheit  oder  der  Art  eines 
beliebigen  Dinges)  zukommt,  die  wir  als  universell  bezeichnen. 
Dieser  Begriff  hat  in  sich  durchaus  keine  selbständige  Existenz 
in  den  Individuen;  denn  das  Universelle  als  solches  existiert 
nicht  selbständig  für  sich  allein.  Zweifelhaft  ist  nur  betreffs 
des  Universellen,  ob  ihm  reale  Existenz  in  der  Weise  zukomme, 
daß  es  für  irgend  ein  bestimmtes  Ding  ein  „Akzidens"  sei 
Dann  existierte  also  in  den  Individuen  ein  Ding,  das  z.  B.  ein 
(universeller)  Mensch  wäre,  und  dieser  wäre  in  seinem  Wesen 
selbst  real  in  Zaid,  Omar  und  Hälid  vorhanden  (als  Akzidens 
käme  er  also  den  singularen  Substanzen  zu). 

Betreffs  dieses  Problems  lehren  wir:  Der  Natur  des  Menschen, 
insofern  sie  eine  universelle  Natur  ist,  kommt  es  nur  akzi- 
denteller Weise  zu,  real  zu  existieren.  Femer,  der  Umstand, 
daß  sie  real  existiert,  ist  nicht  identisch  mit  dem  anderen,  daß 
sie  „Mensch"  ist.  Ebensowenig  ist  der  erstere  ein  Teil  (Bestand- 
teil) >)  des  Menschen.  Sodann  haftet  dieser  Natur  zugleich  mit 
der  Existenz  manchmal  diese  Universalität  an.  Dieselbe  hat 
aber  keine  reale  Existenz  als  nur  in  der  Seele.  Die  „allgemeine 
Natur  in  der  Außenwelt"  ist  unter  einer  anderen  Hinsicht  auf- 
zufassen. Dieses  haben  wir  in  den  früheren  Kapiteln  aus- 
einandergesetzt Einige  dieser  universellen  Naturen  (die  Geister) 
bedürfen  vielmehr  keiner  Materie,  damit  sie  in  der  Existenz  ver- 
harren, noch  auch,  damit  sie  anfangen,  zu  existieren.  Daher  ist 
es  unmöglich,  daß  sie  eine  Vielheit  von  Individuen  enthalten.  Nur 
die  Art  von  ihnen  bleibt  bestehen  als  numerisch  eine  und  dieselbe;^) 


•)  Vgl  Farabi,  Ringsteine  Nr.  1. 

*)  Vgl.  Thomas,  Som.  th.  I  56,  2  ad  2 :  Ipse  angelos  est  forma  snbsistens 
in  esse  natorali  und  ib.  art.  2  c:  Sic  igitnr  si  aliqnid  in  genere  inteUigibilinm 
se  habeat  nt  forma  inteUigibilis  snbsistens,  inteUigit  seipsom.  Angelns  antem, 
cum  Sit  immaterialis,  est  qnaedam  forma  snbsistens,  et  per  hoc  inteUigibilis 
in  acta. 


Digitized  by 


Googl( 


303 

denn  eine  solche  Natur  zerfällt  nicht  in  eine  Vielheit  durch  die 
Differenzen,  noch  die  Materien  noch  die  Akzidenzien  —  nicht 
durch  die  Differenzen,  weil  sie  die  Beschaffenheit  einer  Art*) 
besitzt,  noch  durch  die  Materien  weil  sie  in  einer  körperlosen 
Existenz  besteht,  noch  durch  die  Akzidenzien;  denn  diese  haften 
der  Natur  entweder  notwendig  an,  dann  ist  durch  sie  die  Vielheit 
nicht  verschieden  auf  Grund  der  Art,*)  oder  die  Akzidenzien 
haften  dem  Dinge  zufällig  und  von  außen  an,  ohne  notwendig 
mit  der  Natur  verbunden  zu  sein.  Daher  haften  sie  dem  Subjekte 
an  wegen  einer  Ursache,  die  von  der  Materie  abhängig  ist,  und 
wegen  einer  Bedingung  die  gleichfalls  in  Abhängigkeit  steht  zur 
Materie.  Diese  Art  ist  also  in  ihrer  realen  Existenz  so  beschaffen, 
daß  sie  numerisch  eine  einzige  d.  h.  ein  Individuum  darstellt 
(weil  sie  in  einer  Materie  und  behaftet  mit  materiellen  Akzi- 
denzien existiert). 

Diejenigen  Arten,  die  der  Materie  bedürfen,  existieren  nur, 
indem  zugleich  die  Materie  Dasein  hat  und  (für  die  Aufnahme 
der  Wesensform)  disponiert  ist.  Mit  ihrer  Existenz  sind  also 
Akzidenzien  und  akzidentelle  Zustände  verbunden,  durch  die  sie 
individualisiert  werden.  Eine  und  dieselbe  Natur  kann  also  nicht 
zugleich  materiell  und  unmateriell  sein.  Dieses  hast  du  bereits 
kennen  gelernt  im  Verlaufe  der  früheren  Studien.  Nimmt  man 
nun  diese  Natur  in  der  Art  eines  Genus  an,  so  ist  es  klar,  daß 
die  Natur  des  Genus  durchaus  nur  in  der  untersten  Art  existieren 
kann.  Auf  diese  folgt  *)  das  reale  Bestehen  der  Arten.  Diese 
ist  die  Art  und  Weise,  wie  die  Universalia  existieren.  Ein 
abstraktes  Wesen  (ratio),  das  so  wie  es  individuell  in  sich  ist«) 
in  der  Vielheit  enthalten  wäre,  können  die  Universalia  nicht 
sein.   Sonst  müßte  sich  z.  B.  die  menschliche  Natur,  die  in  Omar 


>)  Man  konnte  einwenden:  gerade  ans  diesem  Grunde  müßte  sie 
Differenzen  besitzen,  denn  jede  Art  wird  durch  Differenzen  konstituiert.  Doch 
Avicenna  versteht  hier  unter  Differenzen  solche  Momente,  die  die  ultima 
gpezies  in  Individuen  zerlegt.    Vgl.  dazu  FäräM,  Bingsteine  Nr.  6. 

*)  Die  notwendigen  Akzidenzien  haften  allen  Individuen  der  Art  in 
gleicher  Weise  an,  bringen  also  in  ihnen  höchstens  eine  Gleichheit,  nicht 
eine  Verschiedenheit  hervor. 

*)  Das  UniverseUere,  das  Genus,  gilt  als  früher  gegenüber  dem  weniger 
universeUen,  den  Arten. 

*)  Die  Universalia  kOnnen  nicht  als  numerisch  dieselben  in  ver- 
schiedenen Einzeldingen  existieren.    Nur  die  Spezies  ist  die  gleiche. 


Digitized  by 


Googl( 


304 

ist^  selbst  wenn  sie  durch  sich  selbst  (per  se) »)  nicht  auf  Grund 
der  (abstrakten)  Definition  in  Zaid  existierte,  wie  folgt  ver- 
halten. Alles  was  dieser  menschlichen  Natur  in  Zaid  zukommt^ 
müßte  in  ihr  notwendigerweise  auch  vorhanden  sein,  während 
sie  in  Omar  wirklich  ist,  ausgenommen  die  zufälligen  Akzidenzien. 
Sie  befände  sich  in  Omar  als  eine  Wesenheit,  die  mit  Rücksicht 
auf  Zaid*)  ausgesagt  würde.  Dasjenige  aber,  was  in  dem  Wesen 
des  Menschen  dauernd  (als  innerer  Bestandteil)  besteht,  erfordert 
in  seinem  Bestände  nicht,  daß  es  auf  ein  äußeres  Objekt  bezogen 
werde,  wie  letzteres  z.  B.  der  Fall  ist  bei  einem  Gegenstande, 
damit  er  weiß  oder  schwarz  oder  wissend  werde;  denn  wenn  der 
Mensch  wissend  ist,  so  ist  er  dadurch  (nicht  in  seinem  Wesen) 
ein  Terminus  der  Relation,  es  sei  denn  inbezug  auf  das  Gewußte 
(also  nur  in  einer  äußeren  Bestimmung).  Daraus  ergibt  sich,  daß 
er  ein  einziges,  gleichbleibendes  Wesen  ist,  in  dem  verschiedene 
Opposita  vereinigt  sind.  Dies  trifft  dann  besonders  ein,  w^m 
sich  das  Genus  zu  den  Arten  verhält,  wie  die  Arten  zu  den 
Individuen.  Daher  existiert  ein  einziges  sich  gleichbleibendes 
Wesen  (animal  als  Genus)  von  dem  ausgesagt  wird,  daß  es  ver- 
nünftig (Mensch)  und  auch  nicht  vernünftig  (Tier)  seL  Keiner 
der  eine  gesunde  Natur  hat,  kann  denken,  daß  die  eine  sich 
gleichbleibende  menschliche  Natur  von  den  (individualisierenden) 
Akzidenzien  des  Omar  und  zu  gleicher  Zeit,  in  ihrer  Individualität 
dieselbe  bleibend,  von  den  Akzidenzien  des  Zaid  umgeben  seL 
Betrachtet  man  die  menschliche  Natur,  ohne  die  hinzukommenden 
anderen  Bedingungen  (Bestimmungen)  zu  berücksichtigen,  dann 
wendet  man  sein  Augenmerk  durchaus  nicht  auf  diese  (individuali- 
sierenden) Relationen,  wie  wir  es  gelehrt  haben. 

Es  ist  also  einleuchtend,  daß  die  abstrakte  Natur  nicht  in 
den  Individuen  existieren  kann  (d.  h.  als  Individuum)  und  daß 
sie  zugleich  aktuell  von  universeller  Natur  sei  d.  h.  sie,  in  ihrer 
Einheit  gefaßt,  ist  enthalten  in  der  großen  Anzahl  der  Individuen 
(wörtlich  in  der  Gresamtheit).  Der  Charakter  der  Universalität 
haftet  einer  Natur  nur  dann  an,  wenn  sie  in  der  begrifflichen 
Vorstellung  des  Verstandes  wirklich  wird.    Über  die  Art  und 


^)  Sie  würde  anf  Grand  ihres  Wesens  notwendig  dem  Zaid  znkon 
nicht  per  accidens. 

*)  Das  esse  in  hoc  individno  k&me  ihr  nach  der  Annahme  wesentlich 
zn.  Wo  immer  also  ihr  Wesen  sich  hefindet,  muß  es  eine  notwendige  Hin- 
ordnnng  anf  dieses  Individuum,  den  Zaid,  enthalten. 


Digitized  by 


Googk 


ä05 

Weise,  wie  dieses  nun  vor  sich  geht,  betrachte  unsere  Auseinander- 
setzungen in  der  Psychologie  (im  VI.  Buche  der  Naturwissen- 
schaften). 

Es  ergibt  sich  also,  daß  das  in  einem  menschlichen  Geiste 
begrifflich  Gefaßte  das  Universelle  ist.  Seine  universelle  Natur 
(die  die  Relation  zu  den  Individuen  bedeutet)  entsteht  nicht  auf 
Grund  dessen,  weil  der  Begriff  in  der  Seele  ist;  sondern  sie 
entsteht  nur  dadurch,  daß  der  Begriff  in  Beziehung  gesetzt  wird 
zu  einer  Vielheit  von  Individuen,  die  entweder  real  existieren, 
oder  nur  innerlich  vorgestellt  sind.  Sie  werden  von  dem  Geiste 
beurteilt  wie  ein  einziges  Wirkliche  (in  ein  und  derselben  Weise). 
Dieses  Erkenntnisbild  ist  eine  Erkenntnisform  in  der  Seele,  die 
individuelle  Natur  hat.  Von  derselben  gilt  also,  daß  sie  ein 
„Individuum"  der  Wissenschaften  und  Begriffe  ist.  Ebenso  wie 
nun  dasselbe  Wirkliche  nach  verschiedenartigen  Hinsichten  Genus 
oder  Art  wird,  ebenso  wird  es  auf  Grund  verschiedenartiger 
Beziehungen  universell  und  singulär.  Insofern  daher  dieses 
Erkenntnisbild  irgend  eine  Form  ist,  die  in  einem  denkenden 
Geiste  existiert,  ist  sie  singulär  (individuell).  Insofern  aber 
eine  Anzahl  von  Individuen  an  ihr  teilnimmt  in  einer  der  drei  >) 
oben  genannten  Weisen,  ist  die  universell.  Zwischen  diesen 
beiden  Wirklichkeiten  besteht  keine  Opposition;  denn  es  ist  nicht 
unmöglich,  daß  sich  die  Bestimmungen  vereinen,  die  besagen: 
ein  und  dasselbe  Wesen  besitzt  2)  inbezug  auf  eine  Vielheit  von 
Individuen  eine  gemeinsame  Beziehung;  denn  die  Gemeinsam- 
keit in  der  Vielheit  der  Individuen  (so  daß  jedes  einzelne  Glied 
dieser  Vielheit  teil  hat  an  dem  Universale)  kann  in  einem  Un- 
teilbaren^) nur  stattfinden  durch  eine  Relation.  Haftet  nun  diese 
Relation  einer  Vielheit  von  Wesenheiten  an  (d.  h.  bildete  der 
Begriff  keine  Einheit),  dann  entsteht  keine  Gremeinschaft  (einer 
Vielheit  von  Individuen  an  einem  und  demselben  Inhalte).  Es 
muß  also  eine  Vielheit  von  Relationen  einem  numerisch  ein- 
zigen Dinge  (dem  Universale)  anhaften.  Das  numerisch  Einzige 
als  solches  ist  notwendig  individuell  (daher  ist  der  universelle 

^)  Cod.  c  GL:  „Za  Begiim  des  ersten  Kapitels  dieser  Abhandlung*'. 
Der  Begriff  wird  1)  entweder  aktneU  von  yielen  Individuen  ausgesagt,  oder 
2)  kann  und  muß  so  ausgesagt  werden,  oder  3)  in  ihm  ist  kein  Hindernis 
enthalten,  dafi  er  so  prftdiziert  wird. 

>)  Wörtlich:  „accidit  ei". 

*)  Das  Universale  ist  in  sich  unteilbar  wie  jede  Wesenheit. 

Borten,  Dm  Baoh  der  0«n«timg  dar  äe«le.  20 


Digitized  by 


Google 


306 

Begriff  als  psychisches  Wirkliche  individuell,  ohne  daß  darin 
ein  Widerspruch  läge).  Die  Seele  selbst  stellt  sich  auch  ein 
anderes  Universelle  vor.  Dieses  erste  Erkenntnisbild  vereinigt 
sich  mit  einem  anderen  in  jener  (selben)  Seele  oder  in  einer 
anderen.  Alle  diese  (individuellen)  Erkenntnisformen  werden, 
insofern  sie  in  der  Seele  vorhanden  sind,  durch  eine  einzige 
Definition  bestimmt»)  Auf  diese  Weise  entstehen  andere*)  Uni- 
versalitäten (d.  h.  Naturen  und  Begriffe,  an  denen  eine  Vielheit 
teilnimmt).  Daher  ist  das  andere  Universelle  (zweiter  Ordnung) 
von  dieser  ersten  Erkenntnisform  durch  etwas  verschieden,  was 
ihm  individuell  zukommt.  Dies  ist  seine  Beziehung  zu  Inhalten, 
die  im  Geiste  vorhandeu  sind  (das  Universale  erster  Ordnung 
z.  B.  homo  besitzt  eine  Beziehung  zu  konkreten  Dingen  der 
Außenwelt,  nicht  zu  Gedanken  des  Geistes).  Diese  Beziehung 
(des  Begriffes  erster  Ordnung)  ist  eine  solche,  die  den  Begriff 
zu  einem  universellen  macht  Sie  geht  auf  viele  Dinge  der 
Außenwelt  und  macht  den  Begriff  nur  dadurch  zu  einem  uni- 
versellen, daß  von  jedem  dieser  Dinge  der  Außenwelt,  das  zum 
Geiste  hingelangt,  diese  selbe  Wesens-  und  Erkenntnisform  her- 
kommt (und  im  Geiste  entsteht  Ein  und  dieselbe  Erkenntnis- 
form kann  deshalb  von  allen  in  gleicher  Weise  prädiziert  werden). 
Geht  nun  eines  voraus  (d.  h.  wirkt  ein  Ding  der  Außenwelt 
zuerst  auf  den  Geist),  und  empfängt  dann  die  Seele  von  ihm 
diese  Eigenschaft  (d.  h.  die  Erkenntnisform,  die  als  Qualität  in 
der  Seele  vorhanden  ist),  dann  kann  ein  anderes  Ding  der 
Außenwelt  keine  neue  Einwirkung  auf  die  Seele  mehr  aus- 
üben. 5)  Es  besteht  nur  diese  erwähnte  Möglichkeit  (daß  von 
dem  zweiten  Reize  ebendieselbe  Erkenntnisform  herkommt*) 
Dieses  Bild  ist  daher  das  Ebenbild  der  Wesensform  des  im  Be- 
wußtsein vorausgehenden  Gegenstandes.    Von  den  Akzidenzien 

^)  Diese  Definitionen,  die  logischen  Kategorien,  auch  dritte  Substanzen 
genannt,  haben  als  ihren  „Umfang"  die  Begriffe,  die  zweiten  Substanzen, 
ebenso  wie  die  Begriffe  die  Individuen  der  Außenwelt,  die  ersten  Substanzen, 
in  sich  enthalten.  Jede  Definition  muß  individua  umschließen.  Die  individua 
der  logischen  Kategorien,  der  quinque  voces,  sind  die  Begriffe  von  den  Welt- 
dingen; die  individua  der  Begriffe  sind  die  Dinge  der  Außenwelt. 

')  d.  h.  Universalia  zweiter  Ordnung. 

^)  Der  Begriff  ist  bereits  durch  den  ersten  äußeren  Reiz  gebildet. 

*)  Der  zweite  Beiz  eines  Dinges  derselben  Spezies  bestätigt  also  nur 
die  Erkenntnisform  des  ersten.  Er  stimmt  mit  dem  ersten  Üb  er  ein.  Da- 
durch entsteht  das  Universale. 


Digitized  by 


Googk 


SÖ7 

wurde  es  bereits  befreit  (abstrahiert).  In  dieser  Ebenbildlich- 
keit besteht  die  Übereinstimmnng  (eines  Begriffes  mit  einer 
Vielheit  von  Individuen).  Wenn  nun  an  Stelle  eines  dieser  Ob- 
jekte, die  auf  den  Gteist  einwirken,  oder  an  Stelle  dessen,  was 
durch  dieselben  (in  der  Seele)  abgebildet  wird,  etwas  anderes 
träte,  als  jene  angenommenen  Dinge,  und  etwas,  das  ihnen  un- 
gleich wäre,  dann  wäre  auch  diesses  Abbild  verschieden  von 
jenem.  Eine  Übereinstimmung  (vieler  Individuen  der  Außenwelt 
mit  einem  Begriffe)  findet  dann  nicht  statt  (also  auch  kein 
Universale).  Das  Allgemeine,  das  in  der  Seele  vorhanden  ist, 
besteht  in  der  Relation  auf  diese  geistige  Erkenntnisform,  i) 
Diese  Bestimmung  (die  der  Universalität)  haftet  dem  Begriffe 
an,  insofern  er  sich  auf  irgend  eine  beliebige  „Form"  von  den- 
jenigen bezieht  (und  mit  ihr  inhaltsgleich  ist),  die  im  Bewußt- 
sein vorhanden  und  in  die  Seele  hineingelangt  sind.  Diese 
Eigentümlichkeit  (der  Universalität)  unterscheidet  dann  jene 
Erkenntnisformen  von  allem,  was  vor  ihr  begrifflich  vorgestellt 
wurde  (insofern  es  der  Art  nach  verschieden  war).  Sodann  ist 
auch  diese  letztere  eine  individuelle  Erkenntnisform,  insofern  sie 
die  Bedingungen  verwirklicht,  die  wir  oben  erwähnt  haben. 

Es  ist  nun  in  der  Erkenntniskraft  der  Seele  gelegen,  daß 
sie  nachdenkt  und  femer,  daß  sie  über  ihr  eigenes  Nachdenken 
(reflexiv)  nachdenkt,  und  daß  sie  wieder  über  dieses  Denken 
zweiter  Ordnung  (reflexiv)  nachdenkt,  und  daß  sie  so  eine  Be- 
ziehung zur  anderen  häuft.  Sie  bildet  in  einem  einzigen  Gegen- 
stande verschiedene  Zustände,  nämlich  die  Proportionen,  die  der 
Potenz^)  nach  kein  Ende  haben.  Daher  ist  es  notwendig,  daß 
diese  geistigen  Erkenntnisformen,  die  nacheinander  geordnet 
sind,  kein  letztes  Glied  (wörtlich:  kein  Stillstehen)  haben  und 
es  ergibt  sich  notwendig,  daß  man  ohne  Ende  fortschreitet. 
(Dieses  Inflnitum  besteht  jedoch  nur  in  der  Potenz,  nicht  in 
actu);  denn  es  ergibt  sich  für  die  Seele  nicht  notwendig,  daß 
sie,  wenn  sie  irgend  ein  Ding  aktuell  denkt,  zugleich  mit 
diesem  (alle)  diejenigen  Dinge  erfaßt,  die  dem  Gegenstande  not- 


>)  d.  h.  das  Universale  kommt  dadurch  zustande,  daß  die  zweite  Form 
mit  der  ersten  übereinstimmt,  und  daß  die  Beziehung  einer  YieUieit  auf  ein 
und  dieselbe  Erkenntnisform  stattfindet. 

*)  Sie  sind  nicht  aktueU  unendlich,  indem  sie  eine  unendliche,  nicht 
mehr  vermehrbare  Zahl  darstellten,  sondern  potenziell,  indem  sie  immer  weiter 
vermehrt  werden  können  in  reflexiven  und  superreflexiven  Denkbewegungen. 

20* 


Digitized  by 


Googk 


308 

wendig  nahe  verwandt  sind,  selbst  daün,  wenn  sie  diese  im 
Geiste  präsent  macht.  (Nicht  einmal  für  nahe  verwandte  (Gegen- 
stände ist  dieses  aktuelle  Mitdenken  notwendig)  geschweige 
denn  für  solche,  die  nur  entfernt  verwandt  sind  —  so  ver- 
halten sich  die  Proportionen  der  höheren  (wörtlich:  doppelten) 
Wurzeln  der  Zahlen  —  und  für  alle  Relationen  der  Zahlen 
(wörtlich:  „Hinzufügungen",  also  Addition,  Multiplikation,  Poten- 
zierung), die  für  die  Seele  leicht  faßlich  sind.  Es  ist  nicht  er- 
forderlich, daß  die  Seele  in  einem  und  demselben  Zustande 
(also:  zugleich)  alle  diese  Proportionen  aktuell  denke,  noch 
daß  sie  beständig  mit  diesem  Denken  beschäftigt  sei  (so  daß  sie 
also  die  unendliche  Vielheit  dieser  Objekte  nacheinander  er- 
faßte). In  der  potentia  proxima  der  Seele  liegt  es  vielmehr, 
daß  sie  dieses  Objekt  denke.  So  verhalten  sich  das  bewußte 
Erkennen  der  aus  geraden  Seiten  bestehenden  Figuren,»)  die 
an  Zahl  kein  Ende  haben,  und  die  Beziehungen^)  der  einen 
Zahl  zur  anderen,  die  ebenfalls  unendlich  sind,  und  die  Pro- 
portionen, die  der  einen  Zahl  zu  einer  ähnlichen  zukommen, 
die  sich  ohne  Ende  durch  „Verdoppelung"  (d.  h.  durch  Multi- 
plikation mit  immer  derselben  Zahl)  wiederholen  (geometrische 
Proportionen).  Dieses  ist  das  offenkundigste,  mit  dem  wir  uns 
befassen.  Die  Ansicht,  es  sei  möglich,  daß  die  für  eine  Vielheit 
von  Individuen  universellen  Begriffe  abstrakt  existierten,  ge- 
trennt von  der  Vielheit  der  Individuen  und  von  den  be^friff- 
lichen  Vorstellungen  (in  der  Art  der  platonischen  Ideen)  — 
diese  Ansicht  wollen  wir  sogleich  besprechen. 

Wenn  wir  daher  sagten,  die  universelle  Natur  sei  in  den 
Individuen  real  existierend,  so  wollten  wir  sie  damit  nicht  be- 
zeichnen, insofern  sie  in  dieser  Weise  eine  universelle  Natur 
besitzt  (d.  h.  sie  existiert  in  den  Individuen  nicht,  insofern  sie 
den  Charakter  der  Universalität  besitzt,  als  solche  existiert  sie 
nur  im  denkenden  Geiste).  Wir  wollten  vielmehr  nur  aus- 
drücken, daß  diejenige  reale  Natur,  der  der  Charakter  der 
Universalität  akzidentell  zukommt,  in  den  Individuen  existiert 
Insofern  sie  also  eine  bestimmte  Natur  ist,  ist  sie  als  ein  wirk- 
liches Ding  für  sich  zu  betrachten.    Insofern  aus  ihr  heraus 


0  Cod.  a:  „der  wahren  Aussagen". 

')  wortlich:  „Die  Seiten,  Rücksichten".    In  einer  arithmethischen  Pro- 
purtion  stellt  dieselbe  Zahl  den  Unterschied  vieler  Zahlen  dar. 


Digitized  by 


Googk 


309 

eine  universelle  Erkenntnisform  gedacht  (d.  h.  abstrahiert)  werden 
kann,  ist  sie  etwas  anderes.  Femer,  insofern  sie  aktuell  ge- 
dacht wird,  unterscheidet  sie  sich  ebenfalls  als  ein  besonderes 
Ding.  Insofern  es  viertens  richtig  ist,  von  ihr  auszusagen: 
„wenn  sie  als  (spezifisch)  dieselbe  sich  nicht  etwa  mit  dieser 
Materie  und  diesen  Akzidenzien  (denen  des  Zaid),  sondern  viel- 
mehr mit  jener  Materie  und  jenen  Akzidenzien  (denen  des 
Omar)  verbindet,  ist  sie  jenes  andere  Individuum",  ist  die  ge- 
nannte Natur  (d.  h.  Wesenheit)  wiederum  ein  Ding  für  sich. 
Diese  allgemeine  Natur  existiert  nun  aber  in  den  realen  Indi- 
viduen und  zwar  in  der  ersten  Hinsicht  (von  den  vieren). 
Durch  diesen  Umstand  Ist  sie  nicht  universeller  Natur.  Sie 
existiert  in  der  zweiten,  dritten  und  vierten  Hinsicht  auch 
real  in  den  Individuen.  Wenn  diese  Hinsicht  als  universell  auf- 
gefaßt wird,  dann  befindet  sich  diese  (universelle)  Natur  zu- 
gleich mit  dem  Charakter  der  Universalität  in  den  Individuen. 
Die  universelle  Natur  aber,  mit  der  wir  uns  hier  beschäftigen, 
(die  logische)  ist  nur  in  der  denkenden  Seele. 


über  das  Ganze  und  den  Teil.    Das  Universelle  und  Singulare. 

Da  wii*  diese  Verhältnisse  nunmehr  definiert  haben,  ist  es 
leicht,  den  Unterschied  zwischen  dem  Ganzen  und  dem  Teile, 
zwischen  dem  Universellen  und  Singulären  zu  erkennen.  Der 
Grund  dafür  ist  der,  daß  das  Ganze  als  solches  in  den  realen 
Dingen  existiert  Das  Universelle*)  aber  als  solches  existiert 
nur  in  der  begrifflichen  Vorstellung.  Femer  wird  das  Ganze 
gezählt  nach  seinen  Teilen  und  jeder  einzelne  Teil  gehört  zum 
Bestände  des  Ganzen.  Das  Universelle  aber  wird  nicht  nach 
seinen  Teilen  (den  Individuen)  gezählt,  noch  auch  gehören  die 
Individuen  zum  Bestände  des  Universellen.  Sodann  verursacht 
die  Natur  des  Ganzen  nicht  das  reale  Bestehen  der  Teile,  die 
in  dem  Ganzen  enthalten  sind.  Sie  entnimmt  vielmehr  ihr  Be- 
stehen von  jenen  (den  Teilen).  Die  Natur  des  Universellen 
aber  verleiht  den  Teilen  (den  Individuen)  ihr  Bestehen,  die  in 
dem  Umfange  des  universellen  Begriffes  enthalten  sind.  Aus 
demselben  Grunde  wird  die  Natur  des  Ganzen  durchaus  nicht 


>)  Die  arabische  Bezeichnung  für  Universale  ist  abgeleitet  von  dem 
Worte  für  Ganzes.    Daher  die  ZusanunensteUung. 


Digitized  by 


Googk 


810 

zu  einem  seiner  Teile.  Die  Natur  des  Universellen  aber  ist 
selbst  ein  Teil  (nämlich  die  Wesensform)  der  Natur  (seiner 
Teile)  der  Individuen;  denn  das  Universelle  ist  entweder  die 
Arten  —  diese  bestehen  aus  den  Naturen  beider  Universalia, 
nämlich  des  Genus  und  der  Differenz  —  oder  das  Universelle 
ist  die  Vielheit  der  Individuen.  Diese  bestehen  aus  der  Natur 
aller»)  Universalia  und  aus  der  Natur  der  Akzidenzien,  die  den 
Universalien  zugleich  mit  der  Materie  zukommen.  Das  Ganze 
ist  femer  nicht  ein  Ganzes  für  jeden  einzelnen  Teil,*)  wenn 
dieser  getrennt  würde. »)  Das  Universelle  aber  ist  ein  Uni- 
verselles, indem  es  ausgesagt  wird  von  jedem  singulären  (und 
jedem  Teile  seines  Umfanges).  Die  Teüe  jedes  Ganzen  sind 
sodann  endlich  an  Zahl.  Die  Teile  eines  jeden  Universellen 
jedoch  sind  unendlich  (insofern  sie  immer  vermehrbar  sind). 
Das  Ganze  erfordert,  daß  seine  Teile  zugleich  in  ihm  präsent 
sind.  Das  Universelle  aber  erfordert  es  nicht,  daß  seine  Teile 
zugleich  in  ihm  enthalten  sind. 

Auf  Grund  dieser  Auseinandersetzung  kannst  du  andere 
Unterschiede  finden  zwischen  diesen  Begriffen,  und  auf  diese 
Weise  hast  du  erkannt,  daß  das  Universelle  verschieden  ist 
von  dem  Ganzen. 


Drittes  Kapitel 
Der  Unterschied  zwischen  dem  Genus  und  der  Materie. 

Das,  was  uns  jetzt  obliegt,  besteht  darin,  die  Natur  des 
Genus  und  der  Art  zu  definieren,  und  darzulegen,  von  wie  vielen 
Gegenständen  das  Genus  ausgesagt  wird.  Zur  Zeit  der  Griechen 
bezeichnete  es  viele  Begriffe,  und  ebenso  stellt  sich  sein  Gebrauch 
zu  unserer  Zeit.  Der  Ausdruck  Genus  bezeichnet  in  unseren 
Künsten  (den  Teilen  der  Philosophie)  nur  dasjenige,  was  er  in 
der  Logik,  wie  bekannt,  bedeutet.  Femer  bezeichnet  er  das 
Substrat.   Manchmal  verwenden  wir  den  Ausdruck  Genus  indem 


0  In  einem  IndiTidunm  sind  alle  Universalia  der  arbor  porphyriana, 
von  der  untersten  Art  bis  zum  höchsten  Genus  enthalten. 

«)  Cod.  d  GL:  „d.  h.  Ist  das  Ganze  wirklich  vorhanden,  dann  gilt  das- 
selbe auch  von  aUen  Teilen",  boUektiv,  aber  nicht  distributiv  an^;efaßt 

')  Es  würde  jedem  einzelnen  Teile  zukommen  „ein  Ganzes  zu  sein". 


Digitized  by 


Googk 


311 

wir  sagen:  dieses  gehört  nicht  zum  Genus  jenes  Dinges,  d.  h.  es 
ist  nicht  von  der  Art  jenes  Dinges  oder  es  gehört  nicht  zu  den- 
jenigen Dingen,  mit  denen  jenes  in  der  Definition  übereinstimmt. 

Das  Wort  „Art"  bezeichnet  jetzt,  in  unserer  Zeit  und  nach 
unserer  Gewohnheit  in  der  philosophischen  Literatur  nur  den 
logischen  Begriff  der  Art  und  die  Wesensformen  der  Dinge. 
Wir  wollen  jetzt  darüber  sprechen,  wie  es  die  Logiker  ge- 
brauchen. 

In  diesem  Sinne  sagen  wir:  der  Begriff,  der  mit  dem  Worte 
Genus  bezeichnet  wird,  ist  nur  „Genus",  nach  Art  der  begriff- 
lichen Vorstellung.  Ist  er,  wenn  auch  nur  in  geringem  Grade, 
verschieden  von  dieser  Definition,  dann  ist  er  kein  Genus.  Ebenso 
verhalten  sich  alle  einzelnen,  bekannten  Universalbegriffe.  Unsere 
Darlegung  erstreckt  sich  zunächst  auf  das  Genus  und  auf  ähn- 
liche Begriffe,  deren  Formeln  bei  den  weniger  großen  Philosophen 
eine  große  Anzahl  bilden.  Daher  lehren  wir:  der  Körper  wird 
als  Genus  des  Menschen  bezeichnet.  Manchmal  jedoch  wird  er 
auch  als  die  Materie  des  Menschen  dargestellt.  Wenn  er  daher 
Materie  des  Menschen  ist,  dann  muß  er  notwendig  realer  Teil 
seiner  Existens  sein.  Nun  aber  ist  es  unmöglich,  das  dieser 
Teil  (die  Materie)  vom  Ganzen  ausgesagt  werde.')  Daher  wollen 
wir  betrachten,  wie  der  Unterschied  zwischen  Genus  und 
Körper  sich  verhält.  Manchmal  wird  der  Gegenstand  als  Genus 
aufgefaßt,  manchmal  als  Materie.  Aus  diesem  Umstände  er- 
öffnet sich  uns  die  Möglichkeit,  zu  erkennen,  was  wir  darlegen 
wollen.  Fassen  wir  das  Genus  und  den  Körper  als  Substanz, 
die  Länge,  Breite  und  Tiefe  besitzt,  insofern  sie  Substanz  ist 
und  stellen  wir  zugleich  die  Bedingung,  daß  kein  anderer  Begriff 
in  ihr  enthalten  sei,  als  dieser  (der  des  Körpers).  Würde  ein 
anderer  Begriff  ihr  von  außen  zukommen,  der  nicht  der  Begriff 
des  Körpers  wäre,  wie  z.  B.  der  des  sensitivum,  Vegetativum 
oder  ein  anderer,  dann  wäre  dieses  ein  Begriff,  der  zu  dem  der 
Körperlichkeit  von  außen  hinzukäme,  von  der  körperlichen 
Natur  ausgesagt  und  auf  dieselbe  bezogen  würde.  Der  Körper 
ist  also  eine  Materie. 

Fassen  wir  aber  den  Körper  als  Substanz,  die  Länge, 
Breite  und  Tiefe  besitzt  und  stellen  wir  zugleicli  die  Bedingung, 
daß  er  keinem  anderen  Dinge  zukomme,  noch  mit  irgend  einer 


*)  Dies  müßte  jedoch  der  Fall  sciii,  wenn  er  zugleich  Genus  wäre. 


Digitized  by 


Googl( 


S12 

anderen  Bedingung  verbunden  sei.')  Dann  kann  nicht  ausgesagt 
werden,  daß  seine  körperliche  Natur  eine  Substanzialität  be- 
sitze, die  durch  diese  bestimmten  Dimensionen  allein  bezeichnet 
wäre.  Sie  besitzt  vielmehr  eine  Substanzialität  in  irgend 
welcher  unbestimmten  Weise,  selbst  wenn  sie  mit  tausend 
(anderen)  rationes  verbunden  wäre,  die  die  eigentümliche  Natur 
dieser  Substanzialität  konstituieren,  und  tausend  Wesensformen.*) 
Jedoch  treten  gleichzeitig  mit  der  Substanzialität  und  in  ihr 
die  Dimensionen  aul  Im  ganzen  sind  es  drei  Dimensionen, 
so  wie  sie  dem  Körper  zukommen  können.  Kurz,  beliebige 
Bestimmungen  mögen  sich  (zu  der  Natur  des  Körpers)  vereinigen, 
indem  (wörtlich:  nachdem)  deren  Gesamtheit  eine  Substanz  von 
drei  Ausdehnungen  wird.  (Diese  Natur  besitzt  eine  unbestimmte 
Substanzialität,  ohne  dreidimensionale  Materie  zu  sein),  und  diese 
vereinigten  Bestimmungen,  wenn  sie  überhaupt  stattfinden,  mögen 
in  die  individuelle  Natur  dieser  Substanz  eintreten  (und  Bestand- 
teile derselben  bilden).  Jedoch  wird  diese  Substanz  nicht  zuerst 
durch  die  Dimensionen  vollendet  noch  haften  sodann  jene  all- 
gemeinen Begriffe  dem  Dinge  nur  äußerlich  an,  nachdem  es 
bereits  (als  Substanz)  zur  Vollendung  gelangt  ist  Wenn  wir 
den  Körper  in  diesem  Sinne  verstehen,  dann  ist  er  der  Körper 
der  das  Genus  darstellt  Daher  ist  der  Körper  in  dem  ersten 
Sinne  (als  dreidimensionale  Materie)  genommen  —  er  ist  nämlich 
ein  Teil  der  zusammengesetzten  Substanz,  die  besteht  aus  dem 
Genus  „Körper"  und  den  Wesensformen,  die  später  sind  als  die 
Körperlichkeit  in  dem  Sinne  der  Materie  —  nicht  ein  Prädikat 
(noch  prädizierbar);  denn  diese  Summe  (von  Dimensionen,  die 
den  konkreten  Körper  ausmachen)  ist  nicht  etwa  nur  eine  ab- 
strakte^) Substanz,  die  Länge,  Breite  und  Tiefe  besitzt,  (sondern 
ein  konkretes  Ding).  Was  aber  den  zweiten  Begriff  angeht  (die 
substantia  secunda  des  Körpers  als  Genus),  so  ist  sie  ein  Prädikat 
für  jede  Zusammensetzung,  die  aus  Materie  und  Wesensform 
besteht  (also  von  jedem  individuellen  Körper),  sei  dieses  nun 
eine  einzige,  oder  eine  Mehrzahl  von  Individuen.  In^)  dieser 
Substanz  befinden  sich  die  drei  Dimensionen.     Der  Begriff  des 


*)  Das  Genus  muß  yon  jeder  Detenniniemng  frei  sein. 
*)  Diese  dürfen  den  Körper  aber  nicht  individualisieren,  noch  die  drei 
Dimensionen  in  ihn  einführen.    Er  mnfi  logisches  Genas  bleiben. 

*)  Nnr  das  Abstrakte,  das  Universelle  kann  prädiziert  werden. 

*)  Sie  sind  nicht  diese  Substanz  selbst,  sondern  Akzidenzien  derselben. 


Digitized  by 


Googk 


313 

Körpers  (als  Genus)  ist  daher  ein  Prädikat,  das  ausgesagt  wird 
von  der  Summe,  die  aus  der  Körperlichkeit,  in  dem  Sinne  der 
Materie  genommen,  und  aus  der  Seele  besteht;  0  denn  die  Summe 
dieser  (wesentlichen  Teile)  ist  eine  Substanz,  selbst  dann,  wenn 
di^e  sich  aus  vielen  realen  Bestandteilen  (wörtlich:  „rationes", 
Wesenheiten)  zusammensetzt  Diese  Summe  (aus  Wesensform 
und  Materie)  existiert  real  und  zwar  nicht  in  einem  Substrate 
(weil  sie  selbst  eine  Substanz  ist).  Diese  Summe  ist  also  ein 
Körper;  denn  sie  ist  eine  Substanz,  nämlich  eine  Substanz,  die 
Länge,  Breite  und  Tiefe  besitzt 

Ebenso  verhält  sich  folgendes.  Betrachtet  man  den  (ab- 
strakten) Begriff  „animal",  unter  der  Bedingung,  daß  in  seiner 
Natur  als  animal  nur  die  Körperlichkeit  und  Bestimmung  des 
esse  Vegetativum  und  die  der  sinnlichen  Wahrnehmung  enthalten 
ist  Alles,  was  über  diese  Begriffe  hinausgeht,  kommt  dem 
animal  von  außen  zu.  Dann  ist  es  häufig  sehr  nahe  liegend, 
daß  dieses  animal  Vegetativum,  sensitivum  für  den  Menschen 
zur  Materie  oder  zum  Substrate  wird.  Seine  Wesensform  ist 
dann  die  vernünftige  Seele.  (Sie  wird  in  dieses  animal  sensi- 
tivum „eingeprägt".)  Dies  trifft  zu,  selbst  wenn  man  das  animal 
betrachtet  als  Körper  in  dem  Sinne,  in  dem  der  Körper  „Genus" 
ist^)  In  den  rationes  dieses  Körpers  (d.  h.  in  den  wesentlichen 
Bestimmungen  desselben)  ist  das  sensitivum  und  andere  Wesens- 
formen (z.  B.  das  Vegetativum  und  rationale)  in  der  Weise  ent- 
halten, daß  der  Körper  die  Möglichkeit  (für  die  Aufnahme  dieser 
Formen)  offenläßt 3)  Alles  dieses  gilt,  selbst  wenn  wir  den 
unrealen  Fall  setzen,  daß  das  rationale,  oder  eine  spezifische 
Differenz,  die  dem  rationale  gleichsteht,  nicht  bewirkt,  daß  irgend 
etwas  von  diesen  Dingen  (dem  sensitivum  oder  Vegetativum)  seine 
Existenz  erhalte  oder  vernichtet  werde,^)  sondern,  daß  das  ratio- 


*)  Vorausgesetzt  ist,  daß  das  Genus  „Körper**  von  einem  Lebewesen 
ausgesagt  wird. 

•)  Avicenna  denkt  an  den  Fall,  in  dem  der  physische,  tierische  Körper 
Substrat  für  die  menschliche  Seele  ist.  Es  bestand  die  Lehre,  der  menschliche 
Embryo  habe  zuerst  eine  sensitive  Seele.  Diese  werde  durch  die  vernünftige 
Seele  verdrängt.  Der  Embryo  werde  also  von  einem  Tiere  zum  Menschen. 
Dasselbe  gilt  auch  von  der  begrifflichen  Ordnung.  Der  Körper  als  Genus  ist 
Substrat  für  die  Seele  indem  man  das  Unbestimmte  und  Allgemeinere  auffaßt 
als  Substrat  für  das  Bestimmte  und  Besondere. 

•)  Wörtlich:  „auf  dem  Wege  der  Erlaubnis". 

*)  Wörtlich:  „zu  setzen  oder  aufzuheben". 


Digitized  by 


Googk 


SU 

nale  vielmehr  nur  die  Möglichkeit  offenlasse  für  die  Existenz 
irgend  eines  jener  Dinge  0  in  seinem  eigentumlichen  Wesen. 
Dort  2)  ist  zugleich  mit  der  Wesensform  die  Potenz  des  Vege- 
tativum, der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  der  Bewegung  not- 
wendigerweise verbunden.  Sie  sind  notwendig  oder  auch  nicht 
notwendig,  wenn  es  sich  darum  handelt,  daß  keine  anderen 
Wesensformen  vorhanden  sind."*)  Oder  der  {Gegenstand  ist  (wenn 
B.,  s.  und  V.  nicht  eintreten)  ein  animal  in  dem  Sinne  des  Genns. 
Ebenso  verstehe  das  Verhältnis  der  beiden  Differenzen,  des 
sensitivum  und  rationale.  Betrachtet  man  nämlich  das  sensi- 
tivum  als  Körper  (corpus  animatum  anima  sensitiva)  oder  als 
irgend  ein  Ding,  dem  die  Fähigkeit  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
zukommt,  und  stellt  man  zugleich  die  Bedingung,  daß  demselben 
keine  andere  Bestimmung  hinzugefügt  werde,  dann  ist  es  keine 
eigentliche  differentia  specifica  (hominis),  selbst  wenn  (das  sensi- 
tivum) ein  Teil  des  Menschen  ist.*)  Aus  dem  gleichen  Grunde 
(weil  keine  weitere  Bestimmung  hinzugefügt  werden  soll)  wird 
auch  der  Begriff  des  animal  nicht  von  ihm  (dem  sensitivum) 
ausgesagt.  Betrachtet  man  aber  den  Begriff  der  Differenzen 
(des  sensitivum)  als  einen  Körper  oder  ein  Ding  (ohne  Hinzu- 
f  ügung  weiterer  Bedingungen),  dann  können  andere  Bestimmungen 
ihm  zukommen,  in  ihm  enthalten  sein  und  zugleich  mit  ihm 
existieren,  welche  W^esensformen  und  Bedingungen  es  auch  sein 
mögen,  — vorausgesetzt  ist^  daß  in  diesen  Wesensformen  die  Fähig- 
keit der  sinnlichen  Wahrnehmung  eingetreten  ist  —  und  dann 
bildet  dieselbe  (im  eigentlichen  Sinne)  eine  spezifische  Differenz 
für  den  Menschen.  Der  Begriff  animal  kann  und  wird  dann  von 

>)  Das  rationale  bedingt  nicht  notwendig  die  tierische  oder  vegetative 
Seele.  Sonst  könnte  es  nicht  ohne  letztere  als  reiner  Geist  existieren. 
Ayicenna  bezeichnet  den  angenommenen  Fall  als  einen  irrealen,  obwohl  er 
absolut  genommen  real  ist,  weil  er  in  dem  vorliegenden  Falle  nur  redet  tm 
einer  Seele  die  Form  eines  Körpers  ist.  In  diesem  Falle  bedingt  natüriidi 
das  rationale  auch  das  sensitivum  und  Vegetativum. 

*)  Cod.  d  Gl. :  „d.  h.  in  der  tierischen  Natur". 

•)  Der  Sinn  dieser  dunkelen  Worte  ist  wohl  der.  Die  Bewegung  (B.) 
setzt  dos  Vegetativum  (v.)  und  sensitivum  (s.)  voraus,  das  v.  nur  s.  Not- 
wendig sind  also  v.  und  s.,  wenn  B.  oder  v.  allein,  wenn  s.  ohne  B.  vor- 
handen ist.  Nicht  notwendig  sind  B.  und  s.  wenn  nur  v.,  oder  B.  wenn  nur 
V.  und  s.  als  real  angenommen  werden. 

*)  Die  differentia  eines  konkreten  Dinges  muß  sich  so  verhalten,  daß 
noch  weitere  Bestimmungen  wie  die  propria,  acddentia  und  prindpia  indi- 
vidnationis  hinzugefügt  werden  können. 


Digitized  by 


Googk 


815 

ihm  ausgesagt.  Infolgedessen  gilt  der  Gedanke:  in  welchem 
Begriffe  du  auch  immer  den  Körper  fassest  betreffs  aller  Dinge  ^) 
dieser  sublunarischen  Welt,  deren  Charakter  als  Genus  oder 
Materie  zweifelhaft  sind,  du  findest,  daß  es  immer  möglich  ist, 
spezifische  Differenzen  zu  ihm  hinzuzufügen,  welche  es  auch  (im 
einzelnen  Falle)  sein  mögen.  Diese  verhalten  sich  so,  daß  sie  in 
den  Körper  (als  das  Genus)  eintreten.  Im  Verhältnisse  zu  dieser 
Differenz  ist  dann  der  Körper  „Genus".  Betrachtest  du  sie  (die 
Materie)  aber  mit  Eücksicht  auf  eine^)  spezifische  Differenz, 
vollendest  du  mit  derselben  den  Begriff  (ratio)  und  machst  ihn 
zu  einem  in  sich  ganz  abgeschlossenen,  so  daß  ein  anderes  Ding, 
wenn  es  noch  zu  ihm  hinzutreten  würde,  nicht  zu  jener  Summe 
von  (wesentlichen)  Bestimmungen  gehörte,  sondern  von  außen 
hinzugefügt  würde,  dann  ist  sie  nicht  „Genus",  sondern  „Materie". 
Sagt  man  aber  von  der  Materie  aus,  daß  sie  ein  vollendetes 
Wesen  (ratio)  sei,  so  daß  in  derselben  alles  dasjenige  bereits 
als  Bestandteil  eingetreten  ist,  was  einen  Teil  derselben  bilden 
kann  (also  auch  die  differencia  specifica  ultima),  dann  wird  sie 
eine  „Art".  Wenn  du  aber  auf  diesen  Begriff  (ratio,  Wesen) 
hinweisest  (indem  du  betonst),  daß  er  jenes  (die  Differenz)  nicht 
annimmt,*)  so  ist  die  Materie  ein  Genus. 

Daher  ist  dieser  Gegenstand,  wenn  er  unter  der  Bedingung 
aufgefaßt  wird,  daß  keine  von  außen  hinzutretenden  Bestimmungen 
ihm  anhaften,  eine  „Materie."  Stellt  man  aber  die  Bedingung, 
daß  ihm  solche  Bestimmungen  (die  wie  z.  B.  Differenz)  wirklich 
zukommen,  dann  ist  er  eine  „Art".  Verhält  es  sich  aber  so, 
daß  die  äußeren  Bestimmungen  noch  nicht  hinzutreten,  sondern 
vielmehr  so,  daß  jede  einzelne  von  außen  hinzutretende  Be- 
stimmung ihm  anhaften  kann  und  zwar  in  dem  Sinne,  daß  sie 
einen  innem  Teil  seines  gesamten  Inhaltes  bildet,  dann  ist  der- 
selbe ein  Genus.  Dieses  alles  ist  aber  nur  in  einem  zusammen- 
gesetzten Wesen  zweifelhaft  (dort  ist  die  Materie  zu  unter- 
scheiden von  dem  Genus).  In  einem  Wesen  aber,  das  einfach 
ist,  kann  eventuell  der  Verstand  in  sich  selbst  diese  Bestim- 
mungen logisch  denken  und  supponieren,  in  der  Weise,  wie  wir 

^)  Ebenso  wie  an  Mensch,  Tier  und  Pflanze  kann  man  an  allen  anderen 
Weltdingen  das  Verhältnis  von  Genus  und  Materie  exempUfizieren. 

')  Für  ein  konkretes  kommt  nur  eine  Differenz  im  eigentlichen  8inne 
in  Frage.    Der  arabische  Ausdruck  könnte  auch  „einige"  bezeichnen. 

")  Wörtlich:  „Daß  er  nicht  hingelangt  zu  jenem "". 


Digitized  by 


Googk 


316 

dasselbe  in  einem  früheren  Kapitel  (1  und  2  dieser  AbhandL) 
auseinandergesetzt  haben.  In  der  realen  Existenz  aber  kann  in 
dem  einfachen  Gegenstande:  ein  reales  Ding  als  Grenus  und  ein 
anderes  Ding  als  die  Materie  nicht  unterschieden  werden. 

Daher  lehren  wir:  der  Mensch  besitzt  die  Körperlichkeit^ 
bevor  er  die  Natur  des  „animal"  hat  nur  in  einigen  Arten  und 
Weisen  unseres  Denkens,  wenn  wir  die  Körperlichkeit  auffassen 
als  die  Materie,  >)  nicht  als  Genus.  Ebenso  besitzt  der  Mensch 
den  Körper  begrifflich  früher  als  die  Natur  des  animal,  und 
zwar  indem  man  den  Körper  auffaßt  in  dem  Sinne,  daß  er  nicht 
von  dem  Subjekte  prädiziert  werden  kann,  nicht  etwa  in  dem 
Sinne  daß  er  (als  Genus)  von  ihm  ausgesagt  wird.')  Was  nun 
aber  den  Begriff  der  Körperlichkeit  (als  Genus)  angeht,  den  man 
voraussetzt,  indem  man  es  zugleich  für  möglich  hält,  daß  er 
jeden  anderen  Wesensbegriff  in  sich  (der  Potenz  nach)  einschließe, 
der  sich  mit  der  Körperlichkeit  verbindet  —  durch  diesen  be- 
steht zugleich  die  Notwendigkeit,  daß  er  die  drei  Dimensionen 
enthalte  —  so  kommt  dieser  Begriff  nicht  dem  Dinge  zu,  daß 
eine  bestimmte  Art  des  Tieres  ist,  es  sei  denn,  daß  dieser  „Körper" 
das  Wesen  des  animal  bereits  enthält  3)  Dann  ist  also  das 
Wesen  (ratio)  des  animal  irgend  ein  aktueller  Teil  der  realen 
Existenz*)  dieses  Körpers,  nachdem  das  animal  vorher  in  (dem 
Begriffe)  der  Körperlichkeit  nur  der  Potenz  nach  enthalten  war.*) 
Daher  ist  das  Wesen  (ratio)  des  animal  ein  Teil  von  der  Exi- 
stenz jenes  Körpers.  Er  verhält  sich  umgekehrt  wie  der  Körper, 
wenn  er  aktuell  existiert.  <*)  Ebenso  verhält  sich  der  Körper, 
wenn  man  ihn  faßt  als  Materie.  Er  ist  ein  Teil  des  real  exi- 
stierenden animal.  Das  abstrakt  gefaßte  Genus  „Körper"  das 
nicht  die  physische  Materie  bedeutet,  erhält  seine  Existenz  und 
die  Verbindung  (Summierung)  seiner  Teile  nur  dadurch,   daß 

*)  Der  Begriff  animal  sendÜTom  setzt  den  des  physischen  Körpers 
voraus. 

>)  Cod.  a  umgekehrt:  „in  dem  Sinne,  daß  er  von  ihm  ausgesagt  wird''. 
Das  Physische  kann  als  prima  substantia  (cfr.  Arist.,  Kat.  la— b)  nicht  prä- 
diziert werden. 

*)  a  add:  „wenn  der  Körper  ein  lebender  ist". 

*)  Wird  das  Genus  differenziert,  dann  ist  zugleich  seine  reale  Existenz 
gegeben.    Vgl.  Fär&bi,  Ringsteine  Nr.  6. 

»)  Wörtlich:  „nachdem  die  körperliche  Natur  das  animal  in  sich  einschlofi''. 

•)  Der  physische  Körper  ist  ein  Teil  des  Tieres,  das  „Tier"  aber  ein 
Teil  des  logischen  Körpers,  des  Grenus  Körper. 


Digitized  by 


Googk 


817 

seine  einzelnen  Arten*)  existieren.  Was  unter  dem  Genus  (als 
Individuen  und  Arten)  auftritt,  sind  die  äußeren  Ursachen  seiner 
Existenz.  Das  Genus  ist  nicht  umgekehrt  Ursache  für  die 
Existenz  der  Arten  und  Individua.  Besäße  die  Körperlichkeit, 
die  als  Gfenus  gefaßt  wird,  eine  reale  Existenz,  die  aktuell  wäre, 
bevor  die  Natur  der  Art  real  existierte,  dann  wäre  das  G^nus 
Ursache  für  die  Existenz  der  Wesenheit  der  Art.  So  z.  B.  ver- 
hält sich  der  Körper,  der  als  Materie  aufgefaßt  wird  (er  ist 
integraler  Teil  des  Dinges  und  daher  könnte  man  ihn  als  „Ur- 
sache" für  die  „Art"  auffassen.  Als  Ursache  wäre  er  zugleich 
früher  als  die  Wirkung),  selbst  wenn  dieses  kein  prius  der  Zeit 
nach2)  ist.  Die  Existenz  jener  Körperlichkeit  (als  Genus),  die 
in  dieser  Art  existiert,  ist  also  selbst  die  reale  Existenz  dieser 
Art,  nichts  anderes  (kein  physisch  von  ihr  zu  trennender  Teil). 
Ebenso  verhält  sich  das  begriffliche  Denken;  denn  das 
Gesetz  dieser  Verhältnisse  in  der  logischen  Ordnung  ist  ebenso, 
wie  wir  auseinandergesetzt  haben.  Der  Verstand  kann  in 
keinem  der  realen  Dinge  dem  Begriffe  der  Körperlichkeit,  die 
zur  Natur  des  Genus  gehört,  eine  reale  Existenz  beilegen,  so  daß 
diese  Körperlichkeit  zuerst  wirklich  würde,  und  daß  dann  der- 
selben ein  anderes  Wirkliche  hinzugefügt  werden  müßte.  Da- 
durch erst  entstände  das  animal,  nämlich  die  Spezies  im  Geiste. 
Denn  wenn  man  dieses  (das  Hinzufügen  eines  wirklichen  zum 
Genus)  ausführte,  dann  könnte  der  Begriff  (ratio,  Wesen),  der 
dem  Genus  zukommt,  im  Verstände  nicht  von  der  Natur  der 
Art  prädiziert  werden. 3)  Die  Art  wäre  vielmehr  ein  Teil*) 
des  Genus  (in  der  Wirklichkeit  wie)  auch  im  logischen  Denken. 
Im  Gegenteil  kommt  dem  (realen)  Dinge,  das  Art  ist,  die  Natur 
des  Genus  in  der  wirklichen  Existenz  und  zugleich^)  im  Ver- 
stände nur  dann  zu,  wenn  die  Art  in  ihrer  ganzen  Vollkommen- 
heit wirklich  geworden  ist.  Die  spezifische  Differenz  ist  dabei 
aber  nicht  etwas,  das  der  „ratio"  jenes  Genus  fremd  wäre  und 
das  auf  das  Genus  bezogen  würde.  Sie  ist  vielmehr  im  Genus 
enthalten  und  ein  Teil  desselben  und  zwar  in  der  Weise,  die 


>)  Nur  in  den  realen  Arten  sind  alle  Bestandteile  mit  dem  Qenxis  ver- 
bunden. 

*)  G04.  c  2  add:  „sondern  nur  ein  solches  dem  Wesen  nach  ist". 
')  Die  Art  wäre  etwas  zum  Genus  Hinzugefügtes,  etwas  ihm  Fremdes. 
*)  Der  Teil  kann  nicht  von  dem  Ganzen  prädiziert  werden. 
')  Logische  und  ontologische  Ordnung  sind  parallel. 


Digitized  by 


Googk 


318 

wir  erwähnt  haben.  *)  Dieses  ist  nicht  das  eigentliche  Seins- 
gesetz des  Genus  allein,  sondern  das  Seinsgesetz  eines  jeden 
Universellen,  insofern  es  ein  Universelles  ist 

Es  ist  daher  klar,  daß  der  Körper,  wenn  man  ihn  in  der  Hinsicht 
auffaßt,  in  der  er  ein  Genus  ist,  sich  verhält  wie  ein  Unerkanntes.^) 
(weil  Undeterminiertes).  Von  diesem  erkennen  wir  noch  nicht,  (so- 
lange es  Genus  bleibt)  welche  und  wie  viele  Wesensformen  es  in  sich 
enthält.  Die  Seele  sucht  nach  der  Aktuierung  (Bestimmung) 
jenes  (Undeterminierten),  denn  das  Genus  (als  solches)  ist  noch 
nicht  im  Geiste  gefaßt  und  bestehend  als  ein  Gegenstand,  der 
aktuell  determiniertes  Genus  wäre.  3)  Ebenso  verhält  es  sich, 
wenn  wir  die  Farbe  betrachten  und  sie  im  Geiste  präsent  halten; 
denn  die  Seele  ist  nicht  dadurch  befriedigt,  daß  ein  Ding  in  ihr 
wirklich  wird,  das  nicht  aktuell  bestände;  sondern  sie  sucht  in 
dem  Begriffe  (ratio)  der  Farbe  etwas,  das  zum  Wesen  derselben 
hinzugefügt  werde  (die  Inhärenz  und  die  Artbestimmtheit),  so 
daß  sie  eine  beliebige  aktuelle  Farbe  werde.  Betreffs  der  Natur 
der  Art  aber  verlangt  die  Seele  nicht,  daß  ihr  Wesensbegriff  voll- 
ständig werde.  <)  Die  Seele  verlangt  vielmehr  (nur),  daß  derselbe 
die  individuelle  Determination  erlange.  Wenn  nun  die  Seele 
betreffs  der  Natur  des  Genus  die  individuelle  Determination 
sucht  (um  das  Individuum  zu  erkennen),  dann  leistet  sie  das 
Entsprechende  und  Erforderliche  und  erfüllt  dasjenige,  mit  dem 
sie  sich  innerlich  zufrieden  fühlt.  (Wenn  der  Geist  aber  auch 
in  dieser  Weise  auf  das  Erkennen  des  Individuums  gerichtet  ist), 
so  sucht  er  zugleich  trotzdem  auch  die  Aktualisierung  (Deter- 
minierung) des  Wesensbegriffes  (der  ratio)  des  G^nus.  Dadurch 
bleibt  dem  Genus  (das  zur  Art  determiniert  wurde)  nur  noch 
die  eine  Möglichkeit  (für  eine  weitere  Determination)  übrig,*)  so 
daß  es  um  so  mehr  disponiert  wird  für  dieses  Suchen  der  Seele 
(nach  einer  individuellen  Determination).  Der  Seele  kommt  es 
dann  zu,  daß  sie  irgend  ein  beliebiges  individuelles  Ding  (wört- 
lich ein  Objekt  des  Hinweises)  annimmt    Die  Seele  kann  das 


0  Vgl.  Kap.  1  und  2,  dann  Logik  I,  Teil  1, 10—13  und  Metaph.  V,  5—7. 

*)  Cod.  a:  „wie  ein  Prädikat". 

•)  Das  Genus  ist  nur  in  den  Arten  aktueU  und  determiniert. 

*)  Die  Art  ist  ein  in  sich  abgeschlossener  Begriff,  der  keines  Subjektes 
der  Inhäsion  bedarf,  um  zu  existieren.    Der  Artbegriff  besagt  keine  Relation« 

*)  Nach  der  Determination  der  letzten  Art  kann  keine  andere  als  die 
der  Individualität  mehr  stattfinden. 


Digitized  by 


Googk 


3id 

Genus  aber  nicht  so  umgestalten,  daß  dasselbe  irgend  ein  be- 
liebiges Individuum  werde,  es  sei  denn,  nachdem  sie  andere 
Begriffe  hinzugefügt  hat,  die  logisch  später  sind  als  der  der 
Farbe  und  früher  als  die  individuelle  Determination;')  denn  der 
Geist  vermag  nicht,  die  Farbe,  solange  sie  nur  (abstrakte)  Farbe 
ist,  ohne  daß  sie  eine  andere  Determination  erhalten  hat,  als 
ein  reales  Individuum  zu  bezeichnen,  sodaß  sie  eine  bestimmte 
Farbe  sei  in  dieser  (bestimmten)  Materie.  Jenes  (generische) 
Ding  ist  nur  „Farbe"  (ohne  ein  Individuum  zu  sein).  Manch- 
mal aber  wird  es  durch  akzidentelle  Dinge,  die  ihm  von  außen 
zukommen,  zum  Individuum  bestimmt.  Sie  verhalten  sich  so, 
daß  sich  das  Ding  als  Individuum  fortbestehend  vorstellt,  trotz- 
dem eines  der  Akzidenzien  aufhört  zu  sein.  (Denn  dieses  Akzi- 
dens ist  für  das  Wesen  nicht  unbedingt  notwendig.)  Ebenso 
verhält  es  sich  mit  den  determinierenden  Bestimmungen,  die  die 
Art  herstellen.  Dasselbe  ist  der  Fall  betreffs  der  Dimension 
und  der  Qualität  und  ähnlicher  Verhältnisse.  Das  Gleiche  gilt 
von  dem  Körper  (als  Genus  aufgefaßt),  über  den  wir  jetzt  ver- 
handeln. Der  Verstand  kann  ihn  sich  nicht  als  einen  indivi- 
duellen vorstellen  (wörtlich  zu  einem  Gegenstande  des  Hinweises 
machen),  wenn  er  ausschließlich  den  Begriff  auffaßt,  daß  er  eine 
„Substanz"  ist,  die  irgend  ein  beliebiges  Ding  enthält  (und  ent- 
halten kann),  nachdem  die  Summe  (der  Dimensionen)  lang,  breit 
und  tief  aktuell  geworden  ist,  kurz  bevor  die  Dinge  bestimmt 
(determiniert)  worden  sind,  die  das  Genus  (der  Potenz  nach)  in 
sich  einschließt,  oder  nicht.  Dann  (durch  diese  Determination) 
wird  das  Genus  zur  Art. 

Dagegen  könnte  jemand  einwenden:  infolge  obiger  Aus- 
führung könnten  wir  durch  eine  solche  Summe,  die  wir  her- 
stellen (z.  B.  aus  den  drei  Dimensionen)  ein  beliebiges  Ding 
zusammenfügen.  Dagegen  erwidern  wir:  unsere  Ausführungen 
behandeln  eine  bestimmte  Art  der  Summierung.  Diese  gilt  nur 
von  Gegenständen,  innerhalb  deren  ein  Zusammentreten  von 
Bestimmungen  (wörtlich  „Dinge"  wie  Genus,  Differenz  u.  s.  w.) 
stattfinden  und  zwar  in  der  Weise  wie  „Dinge"  „zusammentreten" 
in  der  Natur  des  Genus,  insofern  es  ein  Genus  ist. 2)   Diese  Art 

^)  Zwischen  Genus  und  Individuum  müssen  vorerst  die  Arten  ein- 
geschoben werden,  damit  das  Einzelding  zu  stände  komme. 

')  Die  „Summierung'',  d.  h.  Zusammenfügung  muß  also  stattfinden,  so 
da0  das  eine  determiniert,  das  andere  determiniert  wird. 


Digitized  by 


Google 


320 

der  Vereinigung  besteht  darin,  daß  die  vereinigenden  Dinge 
spezifische  Differenzen  sind,  die  zum  Genus  hinzugefügt  werden. 
Jedoch  will  unsere  Auseinandersetzung  an  dieser  Stelle  die 
Natur  des  Genus  nicht  klar  legen  noch  auch  die  Frage  erörtern, 
wie  das  Genus  die  spezifischen  Differenzen  und  andere  Bestim- 
mungen als  die  spezifischen  Differenzen  in  sich  einschließt 
Ebensowenig  wollen  wir  auseinandersetzen,  welche  Dinge  nach 
Art  der  spezifischen  Differenzen  im  Genus  sich  vereinigen;  son- 
dern unsere  Darlegungen  über  Genus,  Differenz  u.  s.  w.  wollen 
nur  zur  Lösung  der  Frage  hinführen,  worin  der  Unterschied 
zwischen  Genus  und  Materie  bestehe. 

Wenn  wir  nun  einen  Unterschied  zwischen  zwei  Dingen 
begründen  wollen,  so  liegt  es  uns  ob,  diese  Unterscheidung  und 
Trennung  weiter  zu  führen  bis  zur  Darlegung  anderer  Zustände 
(deren  Darlegung  jedoch  nicht  unsere  eigentliche  Absicht  war). 
Unsere  Absicht  war  vielmehr  nur,  die  Natur  des  G^nus,  das 
den  Körper  darstellt,  klarzulegen,  nämlich  zu  zeigen,  daß  derselbe 
eine  Substanz  sei,  in  der  sich  viele  Dinge  (d.  h.  Bestimmungen) 
zusammenfinden  können  und  die  so  beschaffen  sind,  daß  sie  sich 
in  derselben  harmonisch  vereinigen.  Auf  diese  Weise  wird  ihre 
Summe  lang,  breit  und  tief  (d.  h.  sie  wird  ein  Körper).  (Wir 
wollten  nur  dieses  darlegen),  selbst  wenn  (auf  diese  Weise)  die 
Dinge  nicht  inbezug  auf  die  Voraussetzungen  >)  bekannt  werden 
und  noch  unbekannt  bleiben. 

Soweit  geht  unsere  Diskussion  betreffs  dessen,  was  wir  in 
diesem  Kapitel  auseinandersetzen. 


Viertes  Kapitel. 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  der  Natur  des  Genus  fremdartigen 
Begriffe  in  das  Genus  eintreten. 

Wir  wollen  nun  über  die  Dinge  sprechen,  die  sich  im 
Genus  zusammenfinden  können  und  die  sich  so  verhalten,  daß 
allein  durch  sie  der  Werdeprozeß  zum  Stillstand  kommt,*)  der 

*)  Durch  die  Darlegungen  ist  noch  nicht  klar  geworden,  welche  Be- 
dingungen Genus,  Art  und  Differenz  erfiiUen  müssen,  damit  sie  „sich  yer- 
eini^n"  können.    Dies  bleibt  den  folgenden  Kapiteln  zu  erklären  übrig. 

')  Cod.  d  GL:  „d.  h.  das  Genus  schließt  dieselben  ein  und  um^t  sie''« 


Digitized  by 


Googk 


821 

die  Natur  und  die  Wesenheit  des  Genus  zur  Existenz  bringt,  so 
daß  sie  aktuell  wirklich  ist. 

Daher  lehren  wir:  dieses  Problem  zerfällt  in  zwei  Teile. 
Der  eine  besagt,  welches  die  Dinge  sind,  die  das  Genus  in  sich 
selbst  hervorrufen  und  in  sich  vereinigen  muß  (damit  ein  reales 
Individuum  entstehe).  Dann  also  machen  jene  Dinge  das  G^nus 
zu  einer  Art.  Der  zweite  Teil  besteht  in  der  Frage,  welche 
Dinge  sind  tatsächlich  präsent  im  Bereiche  des  Genus,  ohne 
daß  sie  sich  so  verhalten  (wie  die  Bestimmungen,  die  das 
Genus  zu  einer  Art  machen).  Wenn  z.  B.  in  jenem  determinierten 
Körper  die  weiße  Farbe  in  der  erwähnten  Weise  ^)  präsent  ge- 
worden ist,  dann  bildet  sie  denselben  nicht  zu  einer  Art  um. 
Wenn  daher  das  animal  in  ein  männliches  und  weibliches  zer- 
fällt, wird  das  Tier  dadurch  noch  nicht  zu  einer  Art  gemacht. 
Folglich  wird  dasselbe  trotz  dieser  zweifachen  Teilung  durch 
andere  „Dinge"  (Begriffe)  in  seiner  Art  bestimmt  Das  „animal" 
kann  femer  einem  Individuum  in  Wirklichkeit  zukommen,  in 
dem  viele  Akzidenzien  vorhanden  sind,  so  daß  diese  Summe  zu 
einem  bestimmten  Tiere  wird,  das  Objekt  eines  individuellen 
Hinweises  wird. 

Daher  lehren  wir:  es  ist  nicht  erforderlich,  daß  wir  uns 
bemühen,  die  Eigentümlichkeit  der  Differenz  eines  jeden  Genus 
zu  beweisen  für  eine  jede  Art,  noch  die  Differenzen  der  ver- 
schiedenen Arten  eines  einzelnen  Genus;  denn  dies  übersteigt 
unsere  Fähigkeit.  Was  in  unserer  Macht  liegt,  ist  vielmehr  die 
Kenntnis  des  Gesetzes  dieser  Verhältnisse  und  der  Frage,  wie  sich 
die  Sache  (absolut  genommen)  in  sich  verhält  Betrachten  wir 
aufmerksam  irgend  eine  der  begrifflich  faßbaren  Abstraktionen, 
die  bei  der  Determinierung  des  Genus  auftreten,  und  fragen  dann, 
ob  dieser  Begriff  dem  Genus  zukomme  unter  Voraussetzung  dieses 
Gesetzes  oder  nicht,  dann  können  wir  häufig  betreffs  einer  Viel- 
heit von  Dingen  keine  Antwort  auf  diese  Frage  geben.  Manch- 
mal aber  erkennen  wir  das  Gesetz  betreffs  eines  bestimmten 
Dinges.  Infolgedessen  lehren  wir:  der  universale  Begriff  ver- 
hält sich,  wenn  er  mit  irgend  einer  bestimmten  Natur  aus- 
gestattet wird,  zunächst  so,  daß  diese  Hinzufügung  zum  Genus 
nach  Art  einer  Teilung  vor  sich  geht,  so  daß  also  jene  Natur 
ihm  den  Charakter  einer  Art  verleiht,  und  daß  femer  diese 


')  D.  h.  indem  die  Akzidenzien  nicht  die  Art  beeinflnssen. 

Horten,  Dm  Baob  dar  OenMung  der  Seele.  21 


Digitized  by 


Googk 


322 

Teilung  unmöglich  konvertiert  werden  kann,0  indem  zugleich 
jenes  Objekt  eines  Hinweises  (das  Individuum)  in  seiner  Sub- 
stantialität  bestehen  bliebe.  In  diesem  Sinne  würde  z.  B.  das 
sich  Bewegende  von  beiden  (Teilen  des  kontradiktorischen  Gregen- 
satzes)2)  zu  einem  solchen,  das  sich  nicht  bewegt  (wenn  es 
seine  „Art"  änderte)  oder  umgekehrt.^)  Dabei  aber  bleibt  es 
numerisch  ein  und  dasselbe  und  das  sich  Bewegende  oder  sich 
nicht  Bewegende  sind  die  zwei  Arten  einer  wesentlichen  <)  Ein- 
teilung. Die  Einteilung  muß  vielmehr  dem  Genus  notwendig 
anhaften.  Daher  trennt  sich  der  dem  Dinge  eigentümliche  Be- 
griff nicht  von  dem  ihm  zukommenden  Anteile  des  Grenus.*) 
Femer  muß  der  positive  der  beiden  Teile  oder  beide  zusammen 
sich  nicht  akzidentell  verhalten  in  Beziehung  auf  das  Genus 
und  ihm  nicht  zukommen  durch  Vermittlung  eines  Inhaltes 
(wörtlich:  Dinges),  der  (logisch)  früher  ist  wie  diese  beiden. 
Die  Natur  des  Genus  begreift  in  sich,  daß  jener  Begriff  (die 
Differenz)  in  erster  Linie  (primo  et  per  se)  dem  Genus  zu- 
kommt; denn  wenn  jener  Begriff  (ratio)  erst  in  zweiter  Linie 
(durch  Vermittlung  eines  anderen)  ihm  anhaftet,  dann  kann  er 
durchaus  keine  Differenz  bilden.  Er  bildet  vielmehr  ein  not- 
wendiges Akzidens  für  dasjenige,  was  Differenz  ist.  Die  Sache 
verhält  sich  dann  so,  wie  wenn  ein  (anderes)  Teilungsprinzip 
bereits  eine  Verschiedenheit  (im  G^nus)  herbeigeführt  hat  (vor 
dem  Eintreten  der  scheinbaren  Differenz).  Die  Substanz  zer- 
fällt daher«)  nicht  in  eine  körperliche  und  unkörperliche  (dies 
wäre  eine  Einteilung  primo  et  per  se),  sondern  in  eine,  die  die 
Bewegung  aufnimmt,  oder  nicht  Das  „aufnahmefähig  Sein  für 
die  Bewegung"  haftet  der  Substanz  nicht  an  in  erster  Linie 
(unvermittelt),  sondern  nachdem  sie  ein  Körper  und  ein  Räum- 
liches geworden  ist.    Daher  haftet  das  „aufnahmefähig  Sein  für 

1)  Die  Art  kann  nicht  durch  das  Genus,  wohl  das  Genus  durch  die 
Art  geteilt  werden. 

*)  mobile  und  immobile. 

*)  Die  Konvertierung  ist  hier  möglich.  Durch  diese  Bestimmung  wird 
das  Genus  also  nicht  zu  einer  Art  gemacht  im  eigentlichen  Sinne.  Das  In- 
dividuum oder  das  Genus  erhält  vielmehr  in  den  Bestimmungen  des  moveri 
vel  non  moveri  nur  akzidentelle  Momente. 

*)  Es  ist  eine  Einteilung  gemeint,  die  kein  tertium  zuläßt,  also  eine 
in  kontradiktorische  Gegensätze. 

^  Jede  Art  füllt  den  ihr  zufaUenden  Teil  des  Genus  aus. 

^  Avicenna  wiU  ein  Beispiel  för  eine  sekundäre  Einteilung  anführen. 


Digitized  by 


Googk 


323 

die  Bewegung"  notwendig  dem  Körper  an.  Ebenso  sind  mit 
dem  Körper  viele  (andere)  Dinge  verbunden,  von  denen  jedes 
einzelne  den  Begriff  des  Körpers  wachruft J)  Sie  sind  jedoch 
keine  spezifischen  Differenzen,  sondern  wirkliche  Dinge,  die  den 
Differenzen  notwendigerweise  anhaften  ;2)  denn  der  Substanz 
haften  jene  Dinge  (rationes)  (nur)  durch  Vermittlung  der  körper- 
lichen Natur  an.  Die  Einteilung  der  Substanz  aber  in  Teile, 
die  bezeichnen,  daß  sie  nicht  Körperliches  oder  etwas  Körper- 
liches sei,  ist  eine  Teilung  der  Substanz  als  solcher  (ihrem 
Wesen  nach),  nicht  auf  Grund  irgend  eines  anderen  Dinges 
(das  eine  Vermittlung  bildete,  also  primo  et  per  se). 

Manchmal  ist  es  zulässig,  daß  einige  Bestimmungen,  die 
dem  Genus  nicht  in  ursprünglicher  und  direkter  Weise  zukommen, 
dennoch  spezifisch  eine  Differenz  sind.  Jedoch  ist  dieses  keine 
spezifische  Differenz,  die  jenem  Genus  nahe  steht  (differentia 
proxima);  sondern  es  handelt  sich  dann  um  eine  Differenz,  die 
auf  eine  andere  folgt.  So  sagt  man,  der  Körper  ist  teils 
rationale,  teils  non- rationale;  denn  der  Körper,  nur  als  solcher 
genommen,  ist  nicht  dazu  disponiert,  rationale  oder  non -rationale 
zu  sein.  Damit  er  diese  letzteren  Bestimmungen  annehme,  muß 
er  zunächst  ein  seelisches  Prinzip  besitzen  (also  animal  sein),  so 
daß  er  dann  erst  rationale  wird-  Existiert  nun  eine  Differenz 
fftr  das  Genus,  so  ergibt  sich  notwendig,  daß  die  Differenzen, 
die  auf  diese  erste  Differenz  folgen,  solche  sind,  die  die  Deter- 
minierung (und  Individualisierung)  dieser  ersten  Differenzen  be- 
deuten. Denn  das  rationale  oder  non-rationale  erklärt  näher 
die  Differenz  der  Substanz  als  einer,  die  ein  Lebensprinzip  be- 
sitzt; denn  das  rationale  haftet  dem  Dinge  an,  insofern  es  ein 
sensitivum  ist,  nicht  insofern  es  z.  B.  die  weiße  Farbe  hat,  oder 
süß,  oder  schwarz  ist  oder  irgend  ein  anderes  Akzidens  aktuell 
besitzt  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Bestimmung  des  Körpers 
als  eines  vivens  oder  non-vivens.  Diese  Bestimmungen  kommen 
demselben  durchaus  nicht  auf  Grund  irgend  eines  Genus  zu,  das 
die  Vermittelung  bildete^)  (sondern  primo  et  per  se).    Denn  wenn 

')  In  deren  Definition  wird  der  Körper  „genannt",  weil  er  Substrat 
dieser  Dinge,  diese  also  seine  Akzidenzien  sind. 

*)  Sie  haften  also  durch  Vermittelung  der  Differenzen  der  Substanz 
des  Körpers  an. 

•)  Wörtlich:  „eines  der  mittleren  Genera",  die  in  der  arbor  porphyriana 
zwischen  der  Substanz  und  dem  Individuum  liegen.  AUe  die  genannten 
haften  der  substantia  corporea  immediate  an. 

21* 


Digitized  by  VjOOQIC  ; 


324 

der  Natur  des  Genus  noch  andere  Akzidenzien  (abgesehen  von 
der  Differenz)  zukommen,  durch  die  die  Natur  des  Genus  geteilt 
wird,  dann  muß  entweder  die  Disposition  fftr  die  (Aufnahme 
der)  Teilung  durch  diese  Akzidenzien  auf  Grund  der  Natur  des 
Genus  selbst  (direkt)  bestehen  oder  durch  eine  universellere 
Natur  vermittelt  werden,  in  demselben  Sinne  wie  in  anderen 
Fällen,  die  oben  aufgezählt  sind  (wörtlich  „früher"),  die 
Teilung  dem  Genus  zukommt  auf  Grund  einer  weniger  univer- 
sellen Natur J)  Wenn  die  Bestimmung  eines  Genus  erfolgt  auf 
Grund  einer  Natur,  die  universeller  ist  als  die  des  Genus,  so 
verhält  sich  dieses,  wie  wenn  der  Begriff  des  animal  bestimmt 
wird  durch  den  der  weißen  und  schwarzen  Farbe  und  der  Be- 
griff des  Menschen  durch  den  des  Männlichen  und  Weiblichen. 
Diese  Bestimmungen  gehören  nicht  zu  den  Artdifferenzen  der 
beiden  Begriffe;  vielmehr  kann  das  animal  jene  Akzidenzien 
nur  deshalb  in  sich  aufnehmen,  weil  es  zugleich  ein  natürlicher 
Körper  ist,  und  weil  dieser  natürliche  Körper  aktuell  als  Sub- 
stanz')  existiert.  Sodann  bildet  in  zweiter  Linie  das  animal 
ein  Substrat  für  diese  genannten  Akzidenzien,  und  nimmt  die- 
selben in  sich  auf,  selbst  dann  wenn  es  in  der  Tat  nicht  ein 
animal  ist  (sondern  nur  Körper  bleibt).')  Der  Mensch  ist  eben- 
falls nur  in  dem  Sinne  disponiert,  die  Ak^denzien  des  Männlichen 
und  Weiblichen  in  sich  aufzunehmen,  als  er  ein  animal  ist  Da- 
her sind  diese  beiden  Akzidenzien  (weil  sie  durch  einen  Begriff 
vermittelt  werden,  der  universeller  ist  als  der  des  Menschen) 
keine  spezifischen  Differenzen  des  Q^nus  „Mensch". 

Manchmal  sind  Dinge  dem  Genus  eigentümlich  und  zer- 
legen dasselbe,  wie  die  Bestimmungen  des  Männlichen  und  Weib- 
lichen das  G^nus  Tier  einteilen,  ohne  daß  sie  jedoch  in  irgend 
welcher  Weise  spezifische  Differenzen  des  Genus  wären.  Der 
Grund  dafür  ist  der:  diese  Bestimmungen  sind  nur  dann  „Diffe- 
renzen",   wenn  sie  dem   animal  zukommen  auf  Grund  seiner 

^)  Die  Akzidexuden  halten  der  Natur  des  Glenns  anf  Gmnd  eines  nni- 
Terselleren  Begriffes  an,  wenn  sie  anch  anderen  Genera  zukommen,  also  einen 
weiteren  Um^uig  haben,  wie  das  genannte  Genns.  Die  Unterarten  werden 
jedoch  dnrch  einen  engerbegrenzten  Begriff  vermittelt,  weil  sie  den  Umtog 
des  Genns  einschränken. 

*)  Nor  einer  Substanz  können  die  genannten  Akzidenzien  anhaften. 

^  Das  Substrat  erster  Linie  für  die  genannten  Akzidenzien  ist  die 
substantia  corporea.  Das  Genus  animal  yerhftlt  sich  zu  ihnen  indifferent.  Das 
esse  substantiam  gilt  als  ein  prius  im  Vergleich  zu  dem  esse  animaL 


Digitized  by 


Googl( 


325 

Wesensform,  so  daß  also  gerade  seine  Wesensform  ^)  durch  die- 
selben in  ursprünglicher  und  unvermittelter  Weise  geteilt  wird- 
Diese  Bestimmungen  dürfen  nicht  notwendige  Akzidenzien 
bilden  für  ein  Ding,  das  bereits  durch  spezifische  Differenzen 
seinen  Bestand  erhält  und  zwar  in  ursprünglicher  Weise  (primo 
et  per  se).  Wenn  sich  die  Sache  aber  nicht  so  verhält,  sondern 
wenn  die  Bestimmungen  dem  animal  nur  zukommen,  weil  seiner 
Materie  —  und  diese  besteht  auf  Grund  der  spezifischen  Differenzen  ^) 
—  ein  Akzidens  anhaftet,  dann  tritt  das  animal  in  einen  Zustand 
ein,  der  sich  so  verhält,  daß  er  das  Eintreten  der  Wesensform 
und  Wesenheit  des  Genus  in  die  Materie  nicht  ausschließt  (sie 
aber  auch  nicht  fordert)  noch  auch  die  beiden  Extreme  der  Ein- 
teilung. 3)  Ebensowenig  hindert  sie  dieser  Zustand,  daß  das 
Genus  sich  mit  anderen  Bestimmungen  auf  Grund  seiner  Wesens- 
form^) durch  Vermittelung  der  spezifischen  Differenzen  ver- 
binde. Daher  sind  die  beiden  Extreme  der  Teilung  (z.  B.  das 
Männliche  und  Weibliche  inbezug  auf  den  Menschen)  keine 
spezifischen  Differenzen,  sondern  notwendig  anhaftende  Akzi- 
denzien. So  verhält  sich  z.  B.  das  Männliche  und  Weibliche;^) 
denn  ist  z.  B.  der  Same  gut  disponiert  für  die  Wesensform  des 
Tieres  und  ist  er  zugleich  disponiert  für  eine  spezielle  Differenz 

*)  Vgl.  Ariflt.,  Metaph.  1058 bl:  xal  htsiöri  ioxi  x6  fihv  Xoypg,  to  cJ* 
f^Xtj,  oaai  fihv  ovv  iv  t<p  Xoytp  elalv  ivavtiozijxsg  etdsi  (Wesensform)  noiovai 
ÖiatpoQav,  Som  <J*  iv  t<p  ovvsiXTjfjifjLivtj)  t§  SXg  ov  noio^aiv,  Sio  äv&Qcinov 
Xsvxoztjg  ov  noieZ  ov6h  fjieXavia  (sü.  öiatpoQOv). 

•)  Wörtlich:  „Diese  ist  von  ihnen",  d.  h.  eventuell:  die  Materie  gehört 
ebenfalls  zu  den  Differenzen  des  Oenus  (substantia  corporea). 

>)  Die  beiden  Extreme  der  Einteilung  sind  die  als  kontradiktorische 
Gegensätze  gefaßten  Arten  des  Genus,  z.  B.  rationale  und  non-rationale.  Wenn 
die  Bestimmungen  sich  indifferent  zur  Wesensform  verhalten,  dann  können 
sie  auch  anderen  Arten  zukommen,  sind  also  keine  Differenzen  im  eigent- 
lichen Sinne. 

*)  Die  ersten  Bestimmungen  erfolgen  auf  Grund  der  Materie.  Es  bleibt 
also  noch  für  andere  Bestimmungen  die  Möglichkeit,  auf  Grund  der  Form 
dem  Dinge  zu  inh&rieren. 

*)  Vgl.  Arist,  Metaph.  9, 1058  b  29:  jinoQfiaete  ö"  &v  xiq  öia  xi  yvvrj 
avÖQog  ovx  e^öei  öia<p^QEi,  ivavxlov  (konträr)  xov  S^i^Xeoq'xal  xov  OQQEVoq 
ovxog,  xfjg  6h  dia(pOQaq  ivayxtcioewg,  ovöh  ^(pov  O'^Xv  xal  aQQSv  txsQOV  TCfJ 
efösi,  xalxot  xad-^  avxo  xov  gyor  «Irriy  ^  öitupoga  xal  ovx  dg  Xevxoxrjg  ^ 
fisXavia,  d).Xä  y  t,^ov  xal  x6  d^fjXv  xal  x6  clqqbv  vnaQX^i.  toxi  ö*  tj  anoQia 
afhri  oxeöbv  i}  avxTJ  xal  öiä  xl  ^  fihv  noiBl  xip  ttöet  kxega  ivavxitooig,  ^  (f 
oi,  olov  xo  :wgov  xal  x6  nxegwxov,  Xevxoxrjg  Sh  xal  fieXavla  ov.  ?  oxi  xa 
/jihv  olxeta  nad^  xoü  yivovg,  xa  ^  ^zxov. 


Digitized  by 


Googl( 


326 

des  oniversellen  animal,  dann  wirkt  auf  ihn  z.  6.  das  Element 
des  Heißen  ein,  und  dann  wird  das  Tier  ein  männliches;  empfängt 
der  Same  aber  eine  Einwirkung  des  Kalten  in  der  Mischung, 
dann  wird  das  Tier  ein  weibliches. 

Dieses  Sichpassiwerhalten  (inbezug  auf  Hitze  und  Kälte) 
allein  verhindert  es  an  und  für  sich  nicht,  daß  das  animal  irgend 
eine  Artdifferenz,  die  in  den  Bereich  des  animal  fällt,  infolge 
seiner  Wesensform  in  sich  aufnehme,  d.  h.  infolge  des  Umstandes, 
daß  das  Tier  ein  sensitivum  ist,  ein  sinnliches  Erkennen  besitzt 
und  sich  willkürlich  bewegt.  Daher  ist  es  möglich,  daß  dieses 
entstehende  Tier  sowohl  das  rationale  als  auch  das  non-rationale 
in  sich  aufnehmen  kann.  Die  oben  aufgezählten  Einwirkungen 
wirken  also  nicht  auf  die  Bestimmung  der  Art  Wenn  wir  daher 
das  entstehende  Lebewesen  uns  vorstellten  als  weder  männlich 
noch  weiblich  und  wenn  wir  überhaupt  von  dieser  Betrachtung 
absehen,  dann  wird  es  dennoch  irgend  eine  bestimmte  Art  und 
zwar  durch  das  (andere)  Prinzip,  das  die  Art  direkt  bestimmt 
Das  Sichpassivverhalten  verhindert  ebensowenig  das  Entstehen 
der  Art  dadurcli,  daß  es  die  Art  nicht  berücksichtigt,  ebensowenig 
bewirkt  es  das  Entstehen  der  Art  dadurch,  daß  es  dieselbe  be- 
rücksichtigt*) Die  Sache  verhält  sich  aber  anders,  wenn  wir 
das  entstehende  Lebewesen  betrachten  als  weder  rationale  noch 
non-rationale,  (wenn  wir  also  eigentliche  Differenzen  ins  Auge 
fassen),  oder  wenn  wir  z.  B.  die  Farbe  betrachten  als  weder 
weiß  noch  schwarz.  Wenn  wir  zwischen  den  Artdifferenzen 
und  den  Propria,  die  die  Art  in  Klassen  zerlegen,  teilen  wollen, 
so  genügt  es  nicht,  daß  wir  lehren:  diejenige  Bestimmung,  die 
infolge  der  Materie  dem  Dinge  anhaftet,  sei  nicht  eine  Artdifferenz; 
denn  der  Umstand,  daß  das  Tier  entweder  ein  sich  ernähren- 
des oder  nicht  sich  ernährendes  ist,  haftet  ihm  an  auf  Grund 
der  Materie  (und  bildet  dennoch  eine  spezifische  Differenz  für 
Pflanze  und  Tier).  Wir  müssen  vielmehr  auf  die  anderen  Be- 
dingungen bei  dieser  Bestimmung  von  Differenz  und  Proprium 
Rücksicht  nehmen.  Sie  wurden  bereits  früher  erwähnt*)  Auf 
Grund  dessen  finden  wir  keine  Art  des  Körpers,  die  zu  den  Lebe- 
wesen gehört  und  zu  gleicher  Zeit  zur  Gruppe  der  non-viventia 


*)  In  diesem  FaUe,  wenn  es  in  Beziehung  zur  Art  steht,  setzt  es  die- 
selbe Toraus. 

«)  Logik  L  Teil,  1, 13  und  14. 


Digitized  by 


Googk 


327 

zu  rechnen  wäre.  Wir  finden  aber,  daß  der  Mensch  —  er  ist  not- 
wendig eine  Art  des  animal  —  zu  gruppieren  ist  unter  die  Katego- 
rien des  Männlichen  und  Weiblichen  zugleich,')  ebenso  verhält  sich 
das  Pferd  und  andere.  Daher  ist  der  Begriff  des  Männlichen 
und  Weiblichen  ebensowohl  innerhalb  der  Kategorie  des  Menschen 
als  auch  der  des  Pferdes  und  zwar  in  der  Weise,  daß  dieser 
Begriff  —  er  ist  ein  notwendiges  Akzidens  der  Substanz  durch 
das  eine  Teilung  herbeigeführt  wird,  —  dem  bereits  in  Teile 
zerlegten  anhaftet.  2)  Wenn  diese  Bedingungen  zu  denen  der 
Differenz  gehören,  so  sind  sie  manchmal  doch  nicht  in  der  Diffe- 
renz selbst.  Dasjenige,  was  im  Grunde  keine  eigentliche  Diffe- 
renz ist,  haftet  vielfach  einer  einzigen  Art  an,  ohne  deren  Um- 
fang zu  überschreiten.  Dieses  tritt  auf,  wenn  die  Bestimmung 
zu  den  Propria  der  Differenz  gehört. 

Wir  kehren  nun  zum  Anfange  der  Diskussion  zurück  und 
lehren:  die  Materie  bringt,  wie  du  gesehen  hast,  eine  Wesens- 
form hervor,  wenn  sie  sich  darauf  hinbewegt,  um  eine  reale 
Wesensform  in  sich  aufzunehmen,  so  daß  durch  diese  hervor- 
gebrachte Wesensform  eine  Art  entsteht.  Dieser  Materie  (oder 
Wesensform)  haften  manchmal  Akzidenzien  infolge  der  Mischungen 
und  anderer  Umstände  an.  Durch  diese  Akzidenzien  ist  die 
Wirkungsweise  der  Materie  in  den  Wirkungen,  die  von  ihr  aus- 
gehen, verschieden,  insofern  diese  Materie  die  Wesensform  des 
Genus  oder  die  der  Differenz  an  sich  trägt.  Der  Grund  dafür 
ist  der,  weil  nicht  alles,  was  an  äußeren  Zuständen  und  an 
Akzidenzien  die  Materie  in  sich  aufnimmt,  notwendigerweise  ein 
Bestandteil  des  Endzweckes  ist,  zu  dem  das  entstehende  Wesen 
in  seinem  Werdegange  sich  hinbewegt  (es  gibt  vielmehr  auch 
außerhalb  der  wesentlichen  und  notwendigen  Bestimmungen  des 
Dinges  zufällige  und  akzidentelle,  ^die  die  Verschiedenartigkeit 
der  Betätigungen  herbeiführen).  . 

Du  hast  bereits  die  sich  gegenüberstehenden,  natürlichen 
Elemente  (das  Trockene,  Feuchte,  Kalte  und  Heiße)  und  ihre 
gegenseitigen  Einwirkungen  wie  auch  die  passiven  Zustände  der 
natürlichen  Dinge  in  ihren  Verhältnissen  zu  einander  kennen 


*)  Eb  haftet  dem  Menschen  an  auf  Grand  eines  weiteren  Begriffes  als 
des  Begriffes  der  menschlichen  Natur. 

•)  CJod.  a,  d:  „dem  als  Substanz  bestehenden".  Er  setzt  also  die  Differenz 
voraus. 


Digitized  by 


Googl( 


328 

gelernt.  >)  Diese  passiven  Zustände  der  Körper,  die  für  dieselben 
,,Akzidenzien^  bilden,  wenden  dieselben  manchmal  von  dem  er- 
strebten Endziele  ab,  manchmal  treten  dieselben  auf  auf  Grund 
von  verschiedenartigen  Naturen,  die  nicht  in  dem  erstrebten 
Endziel  selbst  begründet  sind,  sondern  in  Dingen,  die  dem  End- 
ziele in  irgend  welcher  Weise  gleichen  und  zu  demselben  in 
Beziehung  stehen.  Manchmal  befinden  sich  diese  Passiones  (Ein- 
wirkungen) in  Dingen,  die  weitab  liegen  von  dem  letzten  Ziele. 
Alles,  was  nun  der  Materie  in  dieser  Rücksicht  anhaftet  und 
zwar  so,  daß  zugleich  mit  diesen  Bestimmungen  (passiones)  die 
Materie  in  ihrem  Bestände  erhalten  bleibt  und  die  Wesensform 
in  sich  festhält  —  alles  dieses  befindet  sich  außerhalb  des  natür- 
lichen Endzweckes.  Das  Männliche  und  Weibliche  wirkt  in 
dieser  Weise  ein  auf  die  Qualität  der  Organe,  durch  die  die 
Erzeugung  stattfindet.  Nun  aber  ist  das  Erzeugen  zweifellos 
ein  Akzidenz,  das  auf  das  Leben  (corpus  vivens)  folgt,  und 
ebenfalls  später  als  die  Konstituierung  des  lebenden  Wesens  aik 
eines  wirklichen  und  individuellen  Dinges.  Diese  beiden  und 
ähnliche  Bestimmungen  gehören  also  zu  der  Gruppe  der  akzi- 
dentellen Verhältnisse,  die  auftraten,  nachdem  die  Art  zu  einer 
bestimmten  Art  geworden  ist,  selbst  dann  wenn  diese  Verhält- 
nisse zu  dem  Endzwecke  der  Natur  (der  Erhaltung  der  Spezies) 
in  Beziehung  stehen. 

Die  passiven  Verhältnisse  der  Körper  und  die  notwendigen 
Akzidenzien  gehören  daher  alle,  insofern  sie  diese  Eigenschaft 
besitzen,  wie  bekannt,  nicht  zu  den  spezifischen  Differenzen 
der  Genera. 


Fünftes  Kapitel 

Die  Bestimmungen  (Dinge),  die  das  Genus  enthält^) 

Die  Natur  des  Universellen  haben  wir  bereits  definiert  und 
femer  festgestellt,  wie  sie  existiert  und  wie  das  Genus  in  ihr 

»)  Naturw.  IV.  Teil. 

-)  Codd.  b  und  a:  teilen  hier  kein  Kapitel  ab. 


1 


Digitized  by 


Googl( 


329 

sich  von  der  Materie  unterscheidet.  Wir  haben  diese  Dinge  in 
einer  gewissen  Hinsicht  definiert,  so  daß  diese  Definition  auch 
nach  anderen  Hinsichten  weiter  ausgebaut  werden  könnte.  Wir 
wollen  dieselben  später  darlegen.  Femer  haben  wir  klargestellt, 
welche  Dinge  der  Begriff  des  G^nus  in  sich  enthält,  —  Dinge, 
durch  die  es  in  Arten  zerfällt.  Nach  all  diesem  erübrigen  noch 
zwei  Untersuchungen,  die  sich  eng  an  das  anschließen,  womit 
wir  uns  gerade  beschäftigen.  Die  erste  ist  die  Frage:  welche 
Dinge  schließt  das  Genus  ein,  ohne  durch  dieselben  in  Arten 
zu  zerfallen?  Die  zweite  Untersuchung  ist  die:  in  welcher 
Weise  verhalten  sich  die  ebengenannten  Dinge  (wörtlich:  diese 
Auffassung)  (im  Genus)  und  wie  stehen  sie  zu  Genus  und 
Differenz?  Es  sind  dies  (logisch)  zwei  Dinge,  die  zugleich  ein 
Ding  bilden,  das  in  der  realen  Wirklichkeit  auftritt. 

Betreffe  der  ersten  Untersuchung  lehren  wir:  wenn  die 
genannten  (im  Genus  enthaltenen)  Dinge  keine  spezifischen 
Differenzen  sind,  dann  müssen  sie  notwendig  Akzidenzien  sein. 
Die  Akzidenzien  sind  nun  entweder  notwendig  anhaftend  oder 
nicht  notwendig  anhaftend.  Die  notwendig  anhaftenden  haften 
entweder  den  höheren  Gattungen  an,  wenn  überhaupt  solche 
höheren  Gattungen  für  das  in  Frage  stehende  Genus  existieren 
oder  den  Differenzen  seiner  Gattungen,  oder  der  Gattung  selbst 
in  Beziehung  zu  ihrer  Differenz  und  infolge  derselben,  oder  auf 
Grund  von  Differenzen,  die  sich  unterhalb  des  Genus  befinden, 
oder  auf  Grund  der  Materie  eines  Dinges,  das  innerhalb  der 
eben  genannten  Begriffe  sich  befindet.  Was  nun  diejenigen  Be- 
stimmungen angeht,  die  den  höheren  Gattungen  anhaften,  so 
sind  es  die  notwendig  anhaftenden  Akzidenzien,  die  diesen 
höheren  Gattungen  eigen  sind,  und  ebenso  den  spezifischen 
Differenzen  derselben  anhaften.  Diejenige  Differenz,  die  dem 
Dinge  den  Bestand  verleiht  und  der  Gattung  selbst  direkt  an- 
haftet, und  die  notwendigen  Akzidenzien  der  Materien  dieser 
Gattungen  und  Differenzen  und  die  notwendigen  Akzidenzien 
ihrer  Akzidenzien  selbst  —  denn  manchmal  inhärieren  den  Akzi- 
denzien andere  Akzidenzien  —  die  Summe  von  all  diesem  ist 
ein  Proprium  des  Genus  und  dessen,  was  dem  Genus  subaltemiert 
ist.  Die  Bestimmungen  aber,  die  den  dem  Genus  subaltemierten 
Differenzen  anhaften,  sind  in  keinem  ihrer  Teile  notwendige 
Akzidenzien  des  Genus,  da  sich  aus  einem  solchen  Verhältnisse 
ergeben  würde,  daß  dem  Genus  zwei  konträre  Bestimmungen 


Digitized  by 


Googk 


330 

anhaften  würden«  Es  ist  vielmehr  manchmal  möglich ,  daß  in 
dem  Genus  beide  Opposita  auftreten.*) 

Betreffs  der  zweiten  Untersuchung  wollen  wir  das  Ding 
als  ein  individueUes  voraussetzen.  Ein  solches  ist  eine  reale 
Summe,  die  besteht  aus  den  Differenzen  der  Körper  und  vielen 
Akzidenzien.  Wenn  wir  daher  dieses  Ding  einen  Körper  nennen, 
so  bezeichnen  wir  mit  diesem  Ausdrucke  nicht  nur  die  Summe 
von  körperlicher  Wesensform  und  Materie  allein,  der  diese  Be- 
stimmungen alle  anhaften  und  zwar  als  ihre  äußerlichen  Be- 
stimmungen, sondern  wir  bezeichnen  mit  Körper  ein  Ding,  das 
nicht  in  einem  Substrate  existiert  (also  kein  Akzidens  ist)  und 
das  Länge,  Breite  und  Tiefe  besitzt,  sei  es  nun,  daß  diese  Be- 
stimmungen des  Körpers  von  ihm  in  ursprünglicher  oder  meht 
in  ursprünglicher  Weise  prädiziert  werden.  Die  Summe  dieser 
Bestimmungen,  insofern  sie  eine  determinierte  und  individuelle 
ist,  wird  in  diesem  Sinne  als  (mathematischer)  Körper  bezeichnet 
Sie  wird  nicht  in  dem  anderen  Sinne  als  (physischer)  Körper 
bezeichnet,  in  dem  sie  mehr  seine  Materie  bedeuten  würde.  Wird 
nun  das  Ding  Körper  genannt,  so  ist  derselbe  nur  dieser  Körper, 
nicht  etwa  ein  Teil  von  ihm  (Körper  als  Genus)  oder  etwas,  was 
außerhalb  des  Begriffes  der  körperlichen  Natur  liegt  (materielle 
Akzidenzien). 

Dagegen  könnte  man  einwenden:  Dir  habt  die  Bestimmung 
aufgestellt,  daß  die  Natur  des  Genus  nicht  verschieden  sei  von 
der  Natur  des  Individuums.  2)  Nun  aber  ist  es  allgemeine  Lehre 
der  Philosophen,  daß  das  Individuum  Akzidenzien  und  Propria 
besitzt,  die  außerhalb  der  Natur  des  Genus  liegen  (dann  muß 
also  das  Individuum  eine  andere  Natur  haben  als  die  des  Genus). 
Dagegen  erwidern  wir:  Der  Ausdruck  jener  Philosophen:  das 
Individuum  besitzt  Akzidenzien  und  Propria,  die  außerhalb  der 
Natur  des  Genus  liegen,  bedeutet,  daß  die  Natur  des  Genus,  die 
von  dem  Individuum  ausgesagt  wird,  nicht  jener  Akzidenzien 
aktuell  bedarf,  damit  sie  die  Natur  des  G^nus,  und  zwar  des 
Genus  nach  seiner  universellen  Seite  angefaßt,  besitze.  Damit 
ist  jedoch  nicht  gesagt,  daß  die  Natur  des  Genus  nicht  von  der 
Summe  (jener  individuellen  Bestimmungen  des  Einzeldinges)  aus- 


>)  Diese  sind  dann  aber  znfäUige  Akzidenzien. 

')  Avicenna  lehrte :  in  dem  In^vidnnm  ist  das  Genas  enthalten,  jedoch 
so,  dafi  beide  nicht  konyertibel  sind. 


Digitized  by 


Googk 


331 

gesagt  werde.  Denn  wenn  die  Natur  des  Genus  nicht  von  der 
Summe  (die  das  Individuum  darstellt)  ausgesagt  wird,  dann 
wird  sie  ebensowenig  von  dem  Individuum  selbst  ausgesagt. 
Das  Genus  müßte  dann  vielmehr  ein  Teil  des  Individuums  sein. 
Wenn  jene  Akzidenzien  und  Propria  nicht  existierten,  dann 
würde  dennoch  diese  Natur,  die  wir  genannt  haben  (der  mathe- 
matische Körper)  real  existieren  in  dem  genannten  Sinne,  näm- 
lich in  dem  Sinne,  daß  sie  die  Natur  einer  Substanz,  wie  auch 
immer  ihre  Substanzialität  beschaffen  sein  mag,  bedeutet,  und 
zwar  einer  Substanz,  die  in  diesen  und  jenen  Bestimmungen  be- 
steht, die  ihr  insofern  sie  Körper  ist,  notwendigerweise  zu- 
kommen. Diese  Akzidenzien  und  Propria  liegen  außerhalb  der 
Natur  des  Dinges,  so  daß  der  Körper  ihrer  nicht  bedarf  infolge 
seiner  Gattungen,  so  z.  B.  damit  er  ein  Körper  sei,  wie  aus- 
geführt wurde.  Sie  sind  nur  dann  erforderlich,  wenn  der  Körper 
individualisiert  werden  soll. 

Die  Sache  verhält  sich  nicht  so,  daß  jene  akzidentellen 
Bestimmungen  nicht  als  Körper  bezeichnet  werden  könnten,  wenn 
sie  real  vorhanden  wären.*)  Zwischen  der  Redeweise:  „eine 
Natur  bedarf  zum  Zustandekommen  ihres  Wesensbegriffes  nicht 
eines  anderen  Dinges"  und  der  anderen  Redeweise:  „eine  uni- 
verselle Natur  wird  nicht  von  einem  Dinge  ausgesagt"  2)  besteht 
ein  Unterschied.  Denn  manchmal  wird  ein  universeller  Begriff 
ausg^agt  von  etwas,  dessen  er  zur  Konstituierung  seines  Wesens- 
begriffes nicht  bedarf.  Wenn  nun  die  Prädikation  vollzogen 
wird,  dann  wird  der  universelle  Begriff  dadurch  aktuell  indi- 
vidualisiert, wenn  es  überhaupt  möglich  ist,  daß  er  durch  eine 
ihm  fremde  Natur  individualisiert  werde.  Ebenso  verhält  sich 
das  Genus  zu  den  Differenzen.  Bestände  nicht  diese  verschiedene 
Betrachtungsweise  (des  Universellen  und  Konkreten)  in  der 
Prädikation  des  Genus,  dann  müßte  die  Natur  des  Genus 
einen  Teil  des  Dinges  bilden,  sie  könnte  nicht  ein  Prädikat 
desselben  sein. 


')  So  könnte  man  einwenden  auf  Grund  der  Lehre,  daß  beider  Natur 
verschieden  ist.  Jedoch  können  die  Akzidenzien  nicht  ohne  die  körperliche 
Substanz  wirklich  werden. 

»)  Der  Körper  wird  nicht  ausgesagt  von  den  Akzidenzien  in  der  Weise 
wie  von  wesentlichen  Bestandteilen;  dennoch  bedarf  er  derselben. 


Digitized  by 


Google 


332 


Sechstes  Kapitel. 

Die  ArtJ) 

Die  Art  ist  dasjenige,  was  in  der  realen  Ibdstenz  und  zu- 
gleich im  Verstände  aktualisiert  ist.  Der  Grund  davon  ist  der, 
daß,  wenn  das  Genus  inbezug  auf  seine  Wesenheit  durch  reale 
Dinge  bestimmt  wird,  die  es  aktualisieren,  dann  der  Verstand 
nach  jenem  Vorgange  der  Aktualisierung  nur  noch  verlangt^ 
daß  das  Wesen  durch  das  Individualisationsprinzip  determiniert 
und  aktualisiert  werde.  Der  Verstand  verlangt  für  die  Aktuali- 
sierung der  Wesenheit  nur  noch  das  Individualisationsprinzip, 
nachdem  die  letzte  Art  aufgetreten  ist;  die  Aktualisierung  ist 
dann  nur  die  Individualisierung.  Dann  haften  der  Wesenheit 
notwendige  Bestimmungen  an,  nämlich  Propria  und  Akzidenzien, 
durch  die  die  Wesenheit  als  ein  individuelles  Ding  bestimmt 
wird.  Diese  Propria  und  Akzidenzien  sind  entweder  nur  Re- 
lationen, ohne  daß  sie  in  sich  selbst  irgend  einen  selbständigen 
Wesensbegriff  2)  darstellten  —  so  verhalten  sich  diejenigen  Be- 
stimmungen, die  den  Individuen  der  einfachen  Dinge  und  den 
Akzidenzien  (als  accidentia  accidentis)  zukommen  —  oder  es 
sind  Zustände,  die  ihrerseits  zu  den  Relationen  hinzugefügt 
werden.  Jedoch  verhalten  sich  einige  so,  daß,  wenn  man  sie 
von  diesem  Individuum  in  der  Vorstellung  entfernt,  sich  not- 
wendig ergibt,  daß  dann  nicht  mehr  dieses  bestimmte  Individuum, 
das  sich  von  anderen  unterscheidet,  wirklich  ist  Die  dem 
Individuum  notwendig  anhaftende  Verschiedenheit  von  anderen 
Dingen  wurde  vielmehr  vernichtet.    Andere  Bestimmungen  ver- 


»)  Vgl.  Arist,  MetÄph.  1057  b  7:  xal  ü  (ßkv  yivog  loxai  oitwq  äax 
BLvai  TtQOXEQOv  u  T(0v  ivavTiütVf  al  SiafpoQoi  TiQoxBQai  ivavziai  faovrai  cd 
Tioiijaaaai  ta  ivavtia,  sf^rj  <o^  yivovg.  ix  yoQ  toC  yivovQ  xal  rdJv  SiatpogSv 
rä  BiSri.  Anch  Fär&bi  faßt  die  Art  nicht  nur  als  ein  Universale,  sondern  als 
ein  Beales  auf.  Die  Differenz  macht  das  Genus  zn  einem  konkreten  Indi- 
Tidnnm  (vgL  Ringsteine ,  Nr.  6).  Die  Individnalisationsprinzipien  sind  da- 
durch nicht  ausgeschlossen. 

*)  Cod.  c  2  Gl. :  „  Denn  die  Individualisierung  der  universeUen  Natur 
vollzieht  sich  dadurch,  daß  sie  (von  Individuen)  prädiziert  wird,  d.  h.  dadurch,  daß 
sie  in  ihren  Substraten  existiert,  und  die  Individualisierung  durch  das  Sub- 
strat geschieht  durch  das  Akzidens.  So  verhält  sich  die  natürliche  Wesens- 
form wie  z.  B.  die  des  Feuers."  Es  ist  ihr  akzidenteU,  ob  sie  in  dieser 
oder  jener  Materie  auftritt. 


Digitized  by 


Googk 


333 

halten  sich  so,  daß,  wenn  man  sie  von  dem  Dinge  in  der  Vor- 
stellung entfernt,  sich  dann  nicht  notwendig  ergibt,  daß  das 
Wesen  seine  Existenz  verliert,  nachdem  es  dieselbe  erhalten 
hatte,  noch  auch  sein  Wesen  und  seine  Selbständigkeit  einbüßt, 
nachdem  dasselbe  die  Individualität  erhalten  hatte.  Vernichtet 
wird  nur  die  Verschiedenheit  und  das  Anderssein  in  Beziehung 
auf  andere  Individuen,  indem  zugleich  eine  andere  Art  des 
Verschiedenseins  auftritt  Dieses  Anderssein  verändert  sich  ohne 
daß  das  Ding  dabei  vernichtet  wird.  In  vielen  Fällen  ist  uns 
jedoch  dies  Verhältnis  zweifelhaft,  ohne  daß  wir  darin  zur 
klaren  Ansicht  gekommen  wären.  Unsere  Darlegung  soll  sich 
auch  nicht  auf  das  erstrecken,  was  unsere  Meinung  ist,  sondern 
auf  die  Verhältnisse,  die  in  dem  wirklichen  Dinge  selbst  vor- 
handen sind. 


Siebentes  Kapitel. 

Die  Definition  der  Differenz  0  und  ihrer  Wesenheit. 

Auch  fiber  die  DifEerenz  müssen  wir  reden  und  ihr  Ver- 
hältnis definieren.  Daher  lehren  wir:  die  Differenz  im  eigent- 
lichen Sinne  verhält  sich  nicht  wie  die  Rationalitas  und  Sensi- 
bilitas;  denn  diese  Bestimmungen  werden  nicht  von  einem  realen 
Dinge  ausgesagt,  es  sei  denn')  in  einer  Weise,  in  der  sie  nicht 
Differenzen  des  Dinges  sein  können,  sondern  Arten  sind.  So 
verhält  sich  z.  B.  der  Tastsinn  zu  dem  Begriff  der  sinnlichen 
Wahrnehmung.^)     Bereits  an  anderen  Orten  hast  du   dasselbe 

^)  Im  Gegensatze  zu  dem  Begriffe  des  Genus  wird  der  der  Differenz  klar. 
Arist.,  Topik  1,  40  a  27:  Set  yoQ  xo  filv  yivoq  and  xwv  aXXo)v  xioQCtßiv^  tjJv 
dl  SiaipOQav  ano  xivoq  x(öv  iv  X(p  aix<ß  yhsu  Metaph.  1087  b  30:  ovölv  yoQ 
SxBQOv  iaxiv  iv  xfp  igiafi^  nXrjv  x6  xe  nQcHov  Xeyofjievov  yivoq  xal  al  öia- 
^OQai,  De  gener.  318  b  15:  r^g  lihv  yaQ  fioXXov  al  öiatpoQal  xoSe  xi  OTifiai- 
vovoiVf  fiSXkov  ovaia  (Individuum)  ^g  ^  axiQrjoiv,  fjiij  Sv  und  Kat.  Ibl7: 
x(Sv  kxsQoyevdfv  SxsQai  x<f  bXöbl  xal  ai  SiafpOQal. 

*)  oder:  es  sei  denn  von  etwas,  das  nicht  Differenz  des  realen 
Dinges  ist. 

')  Die  Differenz  darf  nicht  ein  Substantiv  sein,  sondern  mufi  ad- 
jektivische Form  haben.  Die  sinnliche  Wahrnehmung  wird  von  dem  Tast- 
sinne, das  „sinnlich  wahrnehmend  Sein"  von  dem  Lebewesen,  dem  Individuum 
prftdiziert. 


Digitized  by 


Googk 


334 

kennen  gelernt  (vgl.  Logik  I,  Teil  I,  Kap.  13  und  ebenda  Ab- 
handlung n).  Ebensowenig  kann  diese  substantivisch  ausgedrückte 
Differenz  ausgesagt  werden  von  einem  Individuum  wie  z.  B. 
die  rationalitas  ausgesagt  wird  von  der  rationalitas  des  Zaid 
und  Omar;  denn  die  Individuen  der  Menschen  enthalten  als 
Prädikat  die  rationalitas  ebensowenig  wie  die  sensibilitas.  Kein 
einziges  Individuum  wird  bezeichnet  als  rationalitas  oder  sensi- 
bilitas.  Man  nimmt  nur  von  diesen  universellen  Begriffen  einen 
abgeleiteten  Namen,*)  um  die  Individuen  zu  bezeichnen.  Wenn 
nun  jene  Begriffe  Differenzen  sind,  dann  sind  sie  in  einer  anderen 
Weise  Differenzen,  jedoch  nicht  in  der  Weise,  in  der  sie  Teile 
der  allgemeinen  Kategorie  (des  Genus)  sind,  die  von  vielen 
Dingen  in  eindeutiger  Weise  (und  de  toto)  ausgesagt  wird.') 

Daher  ist  es  entsprechender,  diese  (substantivischen)  üni- 
versalia  als  Prinzipien  der  Differenzen  nicht  als  eigentliche 
Differenzen  zu  bezeichnen;  denn  diese  Universalia  werden  in 
eindeutiger  Weise  von  Individuen  ausgesagt,')  die  nicht  In- 
dividuen der  Art  sind,  von  der  sie  als  ihre  spezifische  Differenzen 
ausgesagt  werden;  denn  die  rationalitas  wird  ausgesagt  von 
der  rationalitas  des  Zaid  und  der  rationalitas  des  Omar 
in  eindeutiger  Weise  (also  nicht  von  Zaid  und  Omar,  den 
Individuen  der  Art,  deren  spezifische  Differenz  die  rationalitas 
ist).    Die  sensibilitas  wird  ebenso  ausgesagt  von  dem  Gehörs- 


^)  Mit  einem  anderen  Beispiele  führt  Thomas  die  gleiche  Lehre  ans 
Sum.  th.  I  85,  5  ad  3 :  Genus  sumitur  a  materia  (vgl.  Avicenna,  hier,  Kap.  3) 
commnni,  differentia  vero  completiva  speciei  a  forma,  particnlare  vero  a  materia 
individnali  . . .  Tamen  differt  compositio  intellectns  a  compositione  rei:  nam 
ea  qnae  componnntnr  in  re,  sunt  diversa;  compositio  autem  inteUectos  est 
signnm  identitatis  eomm  qnae  componnntnr.  Non  enim  inteUectns  sie  oom- 
ponit,  nt  dicat  qnod  homo  est  albedo;  sed  didt,  qnod  homo  est  albus,  id 
est  habens  albedinem. 

•)  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  I— n  67,  5  c:  Non  comparatur  genus  ad  dif- 
ferentiam  sicut  materia  ad  formam,  ut  remaneat  substantia  generis  eadem 
numero,  differentia  remota,  sicut  remanet  eadem  numero  substantia  materiae, 
remota  forma.  Genus  enim  et  differentia  non  sunt  partes  speciei;  sed  sicut 
species  significat  totum,  id  est  compositum  ex  materia  et  forma  in  rebus 
materialibus,  ita  differentia  significat  iotum,  et  similiter  genus;  sed  genus 
denominat  totum  ab  eo  qnod  est  sicut  materia,  differentia  vero  ab  eo  quod 
est  sicut  forma,  species  vero  ab  utroque. 

*)  So  wird  die  sinnliche  Wahrnehmung  von  dem  Tastsinne  ausgesagt, 
nicht  von  dem  Tiere,  also  nicht  von  der  Art,  dessen  Differenz  die  sinnliche 
Wahrnehmung  sein  soll. 


Digitized  by 


Googk 


335 

sinne  und  Gesichtssinne  in  eindeutiger  Weise;  daher  ist  also 
die  DifEerenz,  die  sich  verhält  wie  die  rationalitas  und  die 
sensibilitas  nicht  dadurch  bestimmt,  daß  sie  von  einem  konkreten 
Dinge,  das  in  den  Begriff  des  Genus  fällt,  ausgesagt  wird;  denn 
die  sensibilitas  und  die  rationalitas  sind  nicht  ein  individuelles 
animaL 

Was  nun  diejenige  Differenz  anbetrifft,  die  als  rationale  und 
sensitivum  bezeichnet  wird,  so  ist  das  Genus  der  Potenz  ^)  nach 
diese  Differenz  selbst.  Wird  nun  das  Genus  zu  dieser  Differenz 
in  aktueller  Weise,  dann  wird  das  Genus  zur  Art  Was  nun 
die  Frage  anbetrifft,  wie  dieses  vor  sich  geht,  so  haben  wir 
bereits  darüber  verhandelt  (Metaphysik,  diese  Abhandlung  Kap.  1 
und  2).  Wir  haben  klar  gelegt,  wie  das  Genus  eine  Differenz 
wird  und  ebenfalls  wie  es  in  realer  und  aktueller  Weise  eine 
Art  ist  und  wie  die  eine  dieser  logischen  Kategorien  sich  von 
der  anderen  unterscheidet.')  Femer,  daß  die  Art  ihrem  realen 
Wesen  nach  ein  Ding  ist,  das  selbst  das  Genus  ist,^)  und  zwar 
das  Genus,  wenn  es  aktuell  bestimmt  wird  (durch  die  Differenz). 
Diese  Unterscheidung  und  Trennung  der  Begriffe  findet  aber 
(nur)  im  Verstände  statt.  Will  man  aber  (das  logische  Ver- 
hältnis) absichtlich  *)  auf  das  reale  Gebiet  übertragen  und  in  der 
realen  Existenz  bezüglich  der  zusammengesetzten  Substanzen 
eine  Scheidung  und  Trennung  (nach  Genus  und  Differenz)  herbei- 
führen, dann  ist  das  Genus  die  Materie  und  die  Differenz  die 
Wesensform.  Dann  aber  ist  das  Genus  ebensowenig  wie  das 
Ding  ein  Prädikat,  das  man  von  der  Art  aussagt  (denn  das 
Prädizierte  muß  abstrakt  und  universell  sein). 


0  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  I  85,  3  ad  4:  Si  consideremus  ipsam  naturam 
generis  et  speciei  prout  est  in  singularibns,  sie  quodammodo  habet  rationem 
principii  formalis  respectu  singularium.  Nam  singulare  est  propter  materiam, 
ratio  autem  speciei  somitar  ex  forma.  Sed  natura  generis  comparatur  ad 
naturam  speciei  magis  per  modum  materialis  principii,  quia  natura  generis 
sumitur  ab  eo  quod  est  materiale  (also  potentiale)  in  re,  ratio  vero  speciei 
ab  eo  q^od  est  formale. 

»)  Vgl.  auch  Logik  I.  Teü  I,  5—13. 

')  Vgl  Thomas,  Sum.  th.  I— n  67,5  c:  in  homine  sensitiva  natura 
materialiter  se  habet  ad  intellectivam;  animal  autem  dicitur,  quod  habet 
naturam  sensitivam,  rationale  quod  habet  intellectivam,  homo  vero  quod  habet 
utrumque:  et  sie  idem  totum  significatur  per  haec  tria,  sed  non  ab  eodem. 

*)  WörtHch:  „mit  List". 


Digitized  by 


Google 


336 

Manche  Schwierigkeiten  stellen  sich  diesem  Problem  und 
sogar  der  realen  Existenz  der  Natur  des  Artunterschiedes  ent- 
gegen. Zu  ihnen  gehört  das,  was  wir  jetzt  erwähnen:  es  ist 
nämlich  einleuchtend,  daß  jede  Art  von  den  Mitarten  innerhalb 
des  Bereiches  des  Genus  getrennt  ist  durch  eine  Differenz. 
Diese  Differenz  ist  sodann  ebenfalls  ein  bestimmter  Begriff.  Ein 
solcher  muß  nun  aber  entweder  das  universellste  Prädikat  sein 
oder  ein  solches,  das  in  den  Umfang  des  universellsten  Prädikates 
fällt.  Nun  ist  es  aber  unmöglich,  zu  sagen,  daß  jede  Differenz 
das  universellste  Prädikat  sei;  denn  das  Rationale  und  viele 
andere  diesem  ähnliche  Begriffe  (wörtlich:  „Dinge")  sind  weder 
Kategorien  noch  verhalten  sie  sich  nach  Art  von  Kategoriai,^ 
und  daher  bleibt  nur  die  Möglichkeit  übrig,  daß  sie  in  des 
Bereich  des  universellsten  Prädikates  fallen.  Jeder  Begriff  aber, 
der  unter  einen  universelleren,  subaltemierenden  Begriff  fällt 
muß  sich  von  allen  anderen  Begriffen,  die  gleichfalls  als  Mitarten 
unter  diesen  universelleren  Begriff  fallen,  durch  eine  Differenz 
unterscheiden,  und  zwar  durch  eine  Differenz,  die  ihm  in  eigen- 
tümlicher Weise  zukommt.  Daher  muß  also  jeder  Differenz  eine 
neue  Differenz  zukommen,  (die  sie  von  den  gleichstehenden 
Differenzen  unterscheidet).  Diese  Differenzierung  müßte  dann 
ins  Unendliche  weiter  gehen. 

Was  nun  zur  Lösung  dieser  Schwierigkeit  festgestellt 
werden  muß,  ist,  daß  es  verschiedene  Arten  des  Prädikations- 
verhältnisses gibt  Einige  verhalten  sich  so,  daß  das  Prädikat 
dem  Wesen  seines  Substrates  seinen  Bestand  verleiht;  andere 
verhalten  sich  so,  daß  das  Prädikat  ein  dem  Substrate  notwendig 
anhaftendes  Akzidens  (proprium)  ist,  ohne  daß  es  seiner  Wesen- 
heit den  Bestand  verleiht  Femer  ist  zu  betonen,  daß  nicht 
jeder  Begriff  der  einen  geringeren  Umfang  hat  und  unter  einoi 
universelleren,  subaltemierenden  Begriff  fällt,  durch  eine  netae 
spezifische  Differenz  sich  von  den  Mitarten,  die  ihm  im  Be- 
reiche des  universelleren  Begriffes  zur  Seite  stehen,  unterscheidet, 
und  zwar  durch  eine  Differenz  im  begrifflichen  Denken,  die  einen 
Inhalt  darstellt,  der  verschieden  ist  von  dem  Wesen  (der  Differenz) 
selbst  und  ihrer  Wesenheit  Diese  Unterscheidung  (durch  eine 
neue  hinzukommende  Differenz)  ist  nur  dann  erforderlich,  wenn 


^)  Dann  würden  de  per  rednctiojiem  zu  den  Kategorien  zu  redinen 
sein,  so  wie  der  Punkt  zur  Linie. 


Digitized  by 


Googk 


837 

dasjenige,  was  von  einem  Dinge  ausgesagt  wird,  seiner  Wesen- 
heit den  Bestand  verleiht;  dann  verhält  sich  dieses  Prädikat 
wie  ein  Teil  des  Wesens  im  begrifflichen  Denken  und  ttber- 
l^enden  Verstände  (nicht  in  der  Außenwelt).  Die  anderen 
Begriffe  aber,  die  diesem  ersten  Begriffe  als  Mitarten  zur  Seite 
stehen  im  Verstände,  Denken  und  Definieren,  stimmen  mit  jenem, 
dam  ersten  Begriffe  (der  ersten  Art)  überein  in  einem  Inhalte, 
der  Teil  seines  Wesens  ist  (im  Gtenus).  Sind  nun  beide  ver- 
schieden (der  eigentliche  Begriff  und  seine  Mitart),  so  müssen 
sie  verschieden  sein  in  einem  Dinge,  das  beide  nicht  gemeinsam 
haben.  Nun  aber  ist  dieses  für  die  Begriffiäbildung,  das  Denken 
and  Definieren  gleichbedeutend  mit  einem  anderen  Teile  der 
Wesenheiten.  Daher  ist  also  die  Verschiedenheit  dieses  Begriffes, 
die  ihm  ursprünglich  (primo  et  per  se)  zukommt,  durch  einen 
Inhalt  (wörtlich:  Ding)  herbeigeführt,  der  zur  Summe  der  Be- 
stimmungen seines  Wesens  (als  Teil)  gehört,  ohne  die  ganze 
Summe  derjenigen  Bestimmungen  auszumachen,  die  notwendige 
und  innere  Teile  der  Wesenheit  bilden  (wie  die  spezifische 
Differenz)  d.  h.  nur  für  das  begriffliche  Denken  und  Definieren.') 
Der  Teil  ist  nun  verschieden  vom  Ganzen,  und  daher  wird  also 
die  Verschiedenheit  dieses  Begriffes  von  seinen  Mitarten  herbei- 
geführt durch  ein  Ding,  das  verschieden  ist  von  dem  Ganzen 
(dem  Genus)  und  dieses  ist  Differenz.^) 

Stimmen  zwei  Inhalte  in  einem  Begriffe  überein,  der  ein 
notwendig  anhaftendes  Akzidens  ist,  stimmen  beide  aber  durch- 
aus nicht  überein  in  den  Teilen  der  Definition  der  Wesenheit, 
dann  ist  die  Wesenheit  durch  sich  selbst,  nicht  durch  irgend 
einen  ihrer  Teile  getrennt  (von  anderen,  sogar  dem  Genus  nach 
verschiedenen  Wesenheiten).  In  dieser  Weise  ist  z.  B.  die  Farbe 
von  der  Zahl  verschieden;  denn  beide,  wenn  sie  auch  in  der 
realen  Existenz  als  einem  gemeinsamen,  notwendigen  Akzidens 
zusammenfallen,  so  ist  doch  die  Existenz,  wie  aus  vielen  anderen 
philosophischen  Erörterungen  klar  ist,  ein  notwendiges  Akzidens,^) 


^  In  der  Außenwelt  sind  die  begrifflich  getrennten  Inhalte  ein  und  das- 
idbe  Ding. 

«)  VgL  Thomas,  Sum.  th.  I— n  18,7  c:  Differentiae  dividentes  aliqnod 
^itt  et  constitnentes  speciem  illios  generis,  per  se  (Avicenna  „in  erster 
LtBie'')  drvidont  iUnd,  d  antem  per  accidens,  non  recte  procedit  divisio. 

*)  Darauf  stfitzt  sich  der  Eontingenzbeweis  fflr  die  Existenz  Gottes. 
Tgl  Firftbf,  Kingsteine,  Nr.  1. 

U«rtcs ,  !>••  Bach  der  Genetnng  dar  Seele.  22 


Digitized  by 


Google 


338 

nicht  ein  innerer  Bestandteil  der  Wesenheit,  und  daher  bedarf 
die  „Farbe",  um  sich  von  der  „Zahl"  der  Definition  nach  und 
im  logischen  Denken  zu  unterscheiden,  keines  anderen  Dinges 
als  ihrer  Wesenheit  und  ihrer  Natur.  Würde  die  Zahl  mit  der 
Farbe  übereinstimmen  in  einem  Inhalte,  der  einen  inneren  Teil 
der  Wesenheit  bedeutete,  dann  müßte  sie  von  der  Zahl  getrennt 
werden  durch  einen  anderen  Begriff  als  den  aller  Bestimmungen 
ihrer  Wesenheit.^  Nun  aber  ist  die  ganze  Wesenheit  der  Farbe 
in  keiner  Weise  gemeinsam  mit  der  Wesenheit  der  Zahl  Beide 
stimmen  nur  überein  in  einem  Dinge,  das  außerhalb  der  Wesen- 
heit liegt  und  daher  bedarf  die  Farbe  keiner  eigentlichen 
Differenz  (die  einen  inneren  Teil  der  Wesenheit  bildet),  um 
sich  von  der  Zahl  zu  unterscheiden.  (Sie  unterscheidet  sich  von 
ihr  durch  die  ganze  Wesenheit.) 

Femer  lehren  wir:  das  Genus  wird  von  der  Art  ausgesagt 
in  der  Weise,  daß  es  als  ein  Teil  ihrer  Wesenheit  auftritt  Es 
wird  ebenfalls  ausgesagt  von  der  Differenz  in  dem  Sinne,  daß 
das  Genus  ein  notwendiges  Akzidens  der  Differenz  ist,  nicht 
in  der  Weise,  daß  es  Teil  der  Wesenheit  der  Differenz  wäre. 
So  verhält  sich  z.  B.  der  Begriff  des  animal.  Er  wird  ausgesagt 
von  dem  Menschen  in  dem  Sinne,  daß  er  Teil  seiner  Wesenheit 
ist.  Er  wird  femer  ausgesagt  von  dem  rationale  in  dem  Sinne, 
daß  das  animal  ein  notwendig  anhaftendes  Akzidens  des  rationale 
ist,  nicht  in  der  Weise,  daß  es  ein  Teil  der  Wesenheit  des 
rationale  wäre.  Denn  unter  rationale  versteht  man  ein  Ding, 
dem  die  rationalitas  zukommt,  und  ein  Ding,  dem  eine  anima 
rationalis  eigen  ist,  ohne  daß  jedoch  der  Ausdrhck  rationale 
in  sich  einen  Beweis  dafür  enthielte,  daß  jenes  Ding  Substanz 
oder  keine  Substanz  sei.  Der  Begi*iff  der  Substanzialität  ist 
nur  insofem  in  dem  der  Rationalität  inbegriffen  als  unbedingt 
notwendig  ist,  daß  dieses  Ding  (das  als  ein  rationale  bezeichnet 
wird)  nur  eine  Substanz  oder  ein  Körper  und  ens  sensitivum 
sein  kann.  Diese  Bestimmungen  werden  daher  von  der  Differenz 
(z.  B.  dem  rationale)  ausgesagt  nach  der  Weise  wie  das  not- 
wendig anhaftende  Akzidens  seinem  Substrate  beigelegt  wird. 
Diese  Bestimmungen,  (die  höheren  Genera)  bilden  keine  wesent- 


>)  Ein  Ding  das  toto  genere  verschieden  ist  von  einem  anderen,  bedarf 
keiner  besonderen  Differenzierung,  weil  letztere  nur  innerhalb  desselben 
Genus  eintritt 


Digitized  by 


Googk 


339 

liehen  Bestandteile  des  Begriffes  rationale,  d.  h.  des  Dinges,  das 
die  rationalitas  besitzt 

Daher  stellen  wir  nnn  folgende  Lehre  auf:  Die  Differenz 
stimmt  mit  dem  Genus,  das  von  der  Differenz  ausgesagt  wird, 
nicht  in  der  Wesenheit  überein  (sonst  müßte  die  Differenz  sich 
wiederum  durch  eine  andere  Differenz  von  der  Wesenheit  unter- 
scheiden, was  einen  regressus  in  inflnitum  ergäbe).  Daher  ist 
also  die  Differenz  verschieden  von  dem  Genus  durch  ihr  Wesen 
selbst  Sie  stimmt  überein  mit  der  Art  in  der  Weise,  daß  sie 
ein  Teil  der  Art  ist,  und  daher  unterscheidet  sich  also  die 
Differenz  von  der  Art  durch  die  Natur  des  Genus,  die  in  der 
Wesenheit  der  Art  einbegriffen  ist,  ohne  gleichzeitig  in  der 
Wesenheit  der  Differenz  enthalten  zu  sein  (d.  h.  ihr  Fehlen  bildet 
den  Unterschied  zwischen  Differenz  und  Art).  Das  Verhältnis 
der  Differenz  zu  den  übrigen  „Dingen"  (Begriffen)  ist  wie  folgt: 
Hat  die  Differenz  das  gleiche  Wesen  wie  diese  übrigen  Be- 
griffe (die  aus  den  höheren  Genera  entnommen  sind),  dann  muß 
sich  die  Differenz  von  diesen  durch  eine  neue  Differenz  unter- 
scheiden. Stimmt  aber  die  Differenz  nicht  in  dem  Wesen  mit 
diesen  anderen  Begriffen  überein,  dann  ist  es  nicht  erforder- 
lich, daß  sie  sich  durch  eine  neue  Differenz  von  ihnen  unter- 
scheide. Nun  aber  ist  es  nicht  erforderlich,  daß  jede  Differenz 
mit  einen  anderen  Dinge  in  ihrem  Wesen  übereinstimme,  und 
ebensowenig  ist  es  konsequenter  Weise  erforderlich,  daß,  wenn 
die  Differenz  unter  einen  universelleren,  subaltemierenden  Be- 
griff fällt,  sie  in  der  Weise  in  den  Bereich  und  Umfang  dieses 
Begriffes  einzureihen  ist,  wie  eine  Differenz  unter  das  Genus 
eingereiht  wird.  Die  Differenz  kann  vielmehr  im  Umfange  eines 
universelleren  Begriffes  enthalten  sein,  und  zugleich  kann  der 
universellere  Begriff  einen  wesentlichen  Bestandteil  ihrer  Wesen- 
heit bilden.  Ebenso  ist  es  möglich,  daß  die  Differenz  nicht  unter 
einen  universelleren  Begriff  fällt,  es  sei  denn  in  der  Weise  wie 
irgend  ein  Begriff  enthalten  ist  in  dem  Begriffe  sein&  notwendig 
ihm  anhaftenden  Akzidens,  der  nicht  in  dem  Begriffe,  der 
einen  wesentlichen  Teil  des  Dinges  bildet,  vorliegt.  So  verhält 
sich  z.  B.  das  rationale.  Es  ist  enthalten  in  dem  (allgemeineren) 
Begriffe  des  Erkennenden;^  denn  das  Erkennende  ist  Genus  des 


^)  Dieser  Terminus  bezeichnet  sowohl  das  geistige  als  auch  das  sinn- 
liche Erkennen. 

22* 


Digitized  by 


Googl( 


340 

rationale.  Der  Begriff  des  Erkennenden  fällt  nnter  den  der 
Substanz  (und  letztere  wird  ausgesagt  von  dem  Erkennenden) 
in  dem  Sinne,  daß  die  Substanz  notwendiges  „Akzidens"  (d.  h. 
Voraussetzung")  für  den  Begriff  des  „Erkennenden"  bildet,  nicht 
so,  als  ob  die  Substanz  Genus  desselben  wäre,  in  der  Weise, 
wie  wir  es  auseinandergesetzt  haben.  Ebenso  fällt  der  Begriff 
„erkennend"  unter  den  Begriff  der  Relation,  jedoch  nicht  in 
der  Weise,  daß  die  Relation  Substanz  des  Begriffes  „erkennend" 
wäre  oder  einen  wesentlichen  Bestandteil  von  ihm  bildete,  sondern 
nur  in  der  Weise,  daß  der  Begriff  der  Relation  notwendige  Be- 
stimmung (wörtlich:  Akzidens)  des  Begriffes  „erkennend"  ist. 

Daher  bedarf  die  Differenz,  damit  sie  sich  von  ihrer  Art 
unterscheide,  nicht  einer  neuen  Differenz,  und  ebensowenig  be- 
darf sie,  um  sich  von  anderen,  ihr  in  dem  Begriffe  der  „realen 
Existenz  wesentlicher  und  notwendig  anhaftender  Akzidenzien" 
verwandten  Inhalten  zu  unterscheiden,  eines  neuen  Begriffes, 
der  verschieden  wäre  von  ihrer  Wesenheit  selbst  Ebenso- 
wenig ist  es  erforderlich,  daß  die  Differenz  notwendigerweise 
unter  einen  universelleren,  subaltemierenden  Begriff  fallen  müßte, 
in  der  Weise  wie  eine  Art  unter  das  Genus  fällt  Manch- 
mal ist  vielmehr  das  Verhältnis  das  des  Subjektes  eines  not- 
wendig anhaftenden  Akzidens,  das  geringeren  Umfang  hat 
Dieses  gehört  unter  den  Begriff  des  notwendigen  Akzidens,  das 
keinen  wesentlichen  Bestandteil  des  Subjektes  bildet  Gelangt 
nun  die  Differenz  wie  z.  B.  die  rationalitas  zur  wirklichen  Exi- 
stenz, so  müssen  die  verwandten  Begriffe  nur  in  den  Differenzen 
der  zusammengesetzten  Dinge  >)  wirklich  werden.  Versteht  man 
nun  unter  rationalitas  den  Umstand,  daß  der  Gegenstand  eine 
vernünftig  denkende  Seele  besitzt,  dann  ist  die  Differenz  als  ein 
Begriff  zu  bezeichnen,  der  zusammengesetzt  ist  aus  einer  Be- 
ziehung und  einer  Substanz,  wie  du  an  anderen  Orten  kennen  ge- 
lernt hast  (vgl.  Logik  I  Teil,  I  Kap.  13  und  n  Kap.  1).  Versteht 
man  unter  rationalitas  die  Seele  selbst,  dann  ist  er  eine  Substanz 
und  verhält  sich  wie  der  Teil  einer  zusammengesetzten  Substanz. 
Dieser  muß  sich  wiederum  von  der  ganzen  Substanz  unterscheiden 
durch  die  Differenz,  die  statthat  zwischen  der  einfachen  und 
zusammengesetzten  Substanz,  wie  es  häufig  dargelegt  wurde. 

0  Nor  in  diesen  Dingen  müssen  gleichzeitig  aUe  selbstverständlichen 
Voranssetzungen  der  Differenz  eintreten.  In  den  einfachen  Dingen  sind  sie 
nur  log^h  von  der  Differenz  verschieden,  haben  also  keine  besondere  Realität. 


Digitized  by 


Googk 


341 

Wir  kehl'en  nun  zurück  zu  den  (allgemeinen)  Prämissen, 
die  in  der  angeführten  Schwierigkeit  enthalten  sind.  Daher 
lehren  wir:  die  Prämisse,  die  besagt,  weil  die  Differenz  irgend 
ein  begrifflich  faßbarer  Inhalt  ist,  muß  sie  entweder  das  univer- 
sellste Prädikat  sein  oder  ein  Begriff,  der  unter  dieses  univer- 
sellste Prädikat  fällt  —  diese  Prämisse  bildet  ein  Problem  für 
sich.  Die  zweite  Prämisse  ist  diejenige,  die  besagt,  daß  jedes 
allgemeinste  Prädikat  eine  Kategorie  im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes  sei,  und  diese  ist  unrichtig;  denn  die  Kategorie  ist  das 
allgemeinste  Prädikat  nur  inbezug  auf  die  Genera,  die  die  Wesen- 
heit konstituieren;  sie  ist  aber  nicht  das  allgemeinste  Prädikat 
schlechthin  (ohne  Einschränkung)  und  ohne  daß  seine  Wesen- 
heit allem,  was  unter  ihren  Umfang  fällt,  den  Bestand  verleiht. 
Es  haftet  vielmehr  den  Dingen  als  notwendiges  Akzidens  an 
(und  kann  deshalb  kein  wesentlicher  Bestandteil  sein). 

Die  zweite  Prämisse,  daß  nämlich  jeder  Begriff,  der  unter 
einen  allgemeineren  fällt,  sich  von  anderen,  die  ihm  als  Mitarten 
innerhalb  dieses  allgemeineren  zur  Seite  stehen,  durch  eine  Diffe- 
renz unterscheidet  und  zwar  eine  Differenz,  die  ihm  in  eigentüm- 
licher Weise  zukommt  —  diese  Prämisse  ist  unrichtig;  denn  die 
an  einem  Inhalt  gemeinsam  teilnehmenden  Begriffe  können  sich 
verhalten  wie  Begriffe,  die  in  einem  notwendig  anhaftenden  Akzi- 
dens übereinstimmen,  nicht  in  einem  Bestandteile  der  Wesenheit. 
Dann  unterscheidet  sich  der  eine  Begriff  von  dem  anderen  nicht 
durch  eine  neu  hinzutretende  Differenz,  sondern  einfachhin  durch 
sein  Wesen  selbst. 

Nach  diesen  Auseinandersetzungen  ist  es  einleuchtend,  daß 
durchaus  nicht  jeder  Differenz  eine  neue  Differenz  zukommen  muß. 
Femer  muß  dir  klar  sein,  daß  jene  Lehre,  die  besagt:  die  Diffe- 
renzen der  Substanz  sind  selbst  Substanz  und  die  Differenzen  der 
Qualität  selbst  Qualität  —  nur  behaupten  will:  die  Differenzen  der 
Substanz  müssen  notwendiger  Weise  Substanz  sein  und  die  Diffe- 
renzen der  Qualität  notwendiger  Weise  ebenfalls  Qualität.  Der 
Sinn  obigen  Ausdruckes  ist  nicht  der,  daß  die  Differenzen  der 
Substanz  hier  in  dem  Begriff  ihrer  Wesenheit  die  Definition  der 
Substanzen  einschlössen  und  daß  die  Differenzen  der  Qualität, 
in  ihrer  Wesenheit  die  Definition  der  Qualität  enthielten,  weil 
auch  sie  Qualitäten  seien.  Es  müßte  denn  sein,  daß  wir  unter 
Differenzen  der  Substanz  nicht  etwa  die  Differenz  verstehen, 
die  von  der  Substanz  in  eindeutiger  Weise  (und  de  tx)tA  re)  aus- 


Digitized  by 


Googk 


342 

gesagt  wird,  sondern  diejenige  Differenz,  die  in  abgeleiteter 
Bedeutung  von  der  Substanz  prädiziert  wird,  d.  h.  nicht  das 
rationale,  sondern  die  rationalitas.  Dann  trifft  das  ein,  was 
bereits  bekannt  ist,  und  so  wird  die  Differenz  zu  einer  Differenz 
in  abgeleiteter  Bedeutung,  nicht  in  eindeutigem  und  eigent- 
lichem Sinne.  Die  wahre  Differenz  ist  jedoch  diejenige,  die  in 
eindeutigem  Sinne  (und  de  toto  genere)  ausgesagt  wird.  Existiert 
nun  die  Differenz,  die  in  eindeutigem  Sinne  ausgesagt  wird,  in 
realer  Weise,  dann  ergibt  sich  noch  nicht,  daß  nun  auch  die 
Differenz,  die  in  abgeleiteter  Bedeutung  gebraucht  wird,  real 
existiere.  Dies  trifft  zu  (d.  h.  sie  existiert)  nicht  etwa  in  jedem, 
was  nur  die  Natur  einer  Art  hat,  sondern  nur  in  dem,  was  eine 
substanzielle  Art  ist,  mit  Ausschluß  der  akzidentellen  Arten. 
Jedoch  existiert  sie  auch  nicht  in  jeder  substanzeilen  Art, 
sondern  nur  in  den  zusammengesetzten  Arten,  die  keine  einfachen 
Substanzen  sind. 

Daher  bedeutet  diejenige  Differenz,  die  univoce  ausgesagt 
wird,  ein  Ding,  das  als  so  und  so  bestimmt  im  allgemeinen 
Sinne  bezeichnet  wird.  Sodann  ist  nach  eingehender  Betrach- 
tung und  Überlegung  (erst  in  weiterer  Deduktion,  noch  nicht 
direkt  aus  dem  Begriffe  der  Differenz)  klar,  daß  dieses  Ding, 
das  als  ein  solches  (als  ein  so  differenziertes)  bezeichnet  wird, 
eine  Substanz  oder  eine  Qualität  ist,  z.  B.,  daß  das  rationale 
ein  Ding  ist,  dem  die  rationalitas  zukommt.  Der  Umstand  aber, 
daß  es  ein  Ding  ist,  dem  die  rationafitas  zukommt,  enthält  nicht 
in  sich,  daß  das  Ding  eine  Substanz  oder  ein  Akzidens  sei  Es 
muß  vielmehr  durch  außerhalb  der  Differenz  liegende  Determi- 
nierungen 9  erkannt  werden,  daß  dieses  Ding  (das  ens  rationale) 
nur  eine  Substanz  oder  ein  Körper  sein  kann. 


Achtes  Kapitel. 

Dariegung  der  Beziehung  zwischen  definitio  und  definitum. 

Dagegen  könnte  man  einwenden,  daß  die  Definition  nach 
übereinstimmender  Lehre  der  Philosophen  •'^)  zusammengesetzt  ist 
aus  Genus  und  Differenz  (vgl.  dazu  Färäbi,  Ringsteine  Nr.  56). 


*)  WörtKch:  „es  sei  denn,  daß  man  von  außen  weiß". 
■)  wörtlich:  „der  Genüssen  der  Kunst"  peritorum  in  arte. 


Digitized  by 


Googk 


343 

Jeder  einzelne  Inhalt  dieser  beiden  Begriffe  ist  verschieden  von 
dem  anderen.  Ihre  Summe  bildet  die  Definition.  ^  Die  Definition 
ist  nun  aber  nichts  anderes  als  die  Wesenheit  2)  des  Definierten. 
Daher  verhalten  sich  die  Begriffe,  die  durch  das  Genus  und  die 
Differenz  bezeichnet  werden,  zur  Natur  der  Art  wie  die  Definition 
zum  definierten  Gegenstande.  Das  Genus  und  die  Differenz  sind 
nun  die  beiden  Teile  der  Definition,  und  in  gleicher  Weise 
müssen  daher  ihre  Inhalte  die  beiden  Teile  des  definierten  Gegen- 
standes sein.  Wenn  sich  die  Sachlage  nun  so  verhält,  dann 
kann  die  Natur  des  Genus  nicht  von  der  Natur  der  Art  ausge- 
sagt werden;  denn  das  Genus  ist  ein  Teil  der  Art.  Gegen 
diesen  Einwand  erwidern  wir:  Definieren  wir  ein  Ding  und 
sagen  wir  z.  B.,  der  Mensch  ist  ein  animal  rationale,  so  wollen 
wir  mit  diesem  Ausdrucke  nicht  bezeichnen,  daß  der  Mensch  die 
Summe  ist  aus  animal  und  rationale,  sondern  wir  wollen  nur 
sagen,  daß  er  das  animal  ist,  welches  als  ein  solches  animal 
zugleich  rationale  ist.3)  Das  animal  ist  in  sich  selbst  gleichsam 
ein  Inhalt,  dessen  Existenz  nicht  in  der  Weise  aktualisiert  wird, 
wie  wir  früher  erwähnt  haben  (nicht  als  Realidee  und  unkörper- 
liche Substanz).  Nehmen  wir  nun  an,  jenes  animal  sei  ein 
rationale.  Dann  ist  also  dieses  Individuum,  von  dem  wir  aus- 
sagen, daß  es  ein  ens  habens  animam  cognoscitivam^)  sei  im 
allgemeinen  Sinne,  —  mit  allgemein  bezeichnen  wir  etwas,  das 
nicht  determiniert  ist,  d.  h.  also,  daß  dieses  Ding,  ein  ens  sensi- 
tivum  ist  —  dadurch  determiniert  worden,  daß  es  selbst  ein  sensi- 
tivum  rationale  ist.  Diese  Aktualisierung  vollzieht  sich  an 
dem  Individuum  auf  Grund  dessen,  daß  es  eine  anima  sensitiva 
habens  cognitionem  besitzt  Der  Körper,  der  die  sensitiv  er- 
kennende Seele  besitzt,  ist  nicht  für  sich  etwas  Reales,  und  der 
Umstand,  daß  er  eine  vernünftig  denkende  Seele  besitzt,  ist 
nicht  wiederum  ein  etwas  Reales  für  sich,  das. zum  Ersten  hinzu- 
gefügt würde  und  außerhalb  des  Wesens  des  ersten  läge.  Viel- 
mehr ist  dieses  selbe  Individuum,  das  animal  ist^  zugleich  der 
Körper,  der  die  sensitiv  erkennende  Seele  besitzt.    Femer,  der 


>)  Vgl.  Arist,  Metaph.  1037  b  29:  ovl^hv  yag  hegov  ioziv  iv  ztp  OQiaß<p 
nkriv  x6  te  tcq&iov  Xsyofitvov  yhoq  xal  al  SiatpogaL  Porphyrius,  Isagoge 
Kap.  2. 

•)  Vgl.  Arist.,  Anal,  poster.  91  a  1 :  6  fikv  olv  ogiofioq  xi  iati  dTjXot, 
*)  Cod.  a  und  c  2:  »Dieses  ist  also  nnmerisch  dasselbe  wie  das  rationale." 
*)  Hier  ist  damit  nur  die  sinnliche  Wahmehmong  bezeidinet 


Digitized  by 


Googk 


344 

Umstand,  daß  seine  sensitive  Seele  eine  erkennende  ist,  ist  etwas 
Undeterminiertes.  In  der  realen  Existenz  kann  jedoch  das  Ding 
aktuell  nicht  undeterminiert  sein,  wie  du  weißt.  In  der  realen 
Existenz  muß  es  vielmehr  determiniert  werden.  Die  Undeter- 
miniertheit  besteht  vielmehr  nur  im  Verstände,  da  der  Verstand 
sich  die  unbestimmte  Vorstellung  bildet  von  dem  Wesen  der 
sensitiv  erkennenden  Seele,  so  daß  er  diese  durch  Differenzen 
unterscheiden  kann. 

Der  Ausdruck  „erkennend"  wird  gebraucht  für  die  äußere 
Sinneswahmehmung,  die  Phantasievorstellung  und  das  vernünftige 
Denken.  Nimmt  man  daher  den  Begriff  des  sinnlichen  Erkennens 
in  die  Definition  des  animal,  so  ist  dieser  nicht  im  eigentlichen 
Sinne  eine  Differenz.  Er  ist  vielmehr  nur  ein  Hinweis  auf  die 
eigentliche  Differenz,  Die  eigentliche  Differenz  des  animal  be- 
steht nämlich  darin,  daß  es  eine  anima  sensitiva  und  sinnliches 
Erkennen  besitzt  und  sich  willkürlich  bewegt.  Die  eigentum- 
liche Wesenheit')  des  animal  besteht  nicht  etwa  darin,  daß  es 
eine  sinnliche  Wahrnehmung  besitzt,  ebensowenig  darin,  daß  es 
Phantasietätigkeit  oder  willkürliche  Bewegung  hat  Das  erste 
Prinzip  für  alle  diese  Bestimmungen  ist  vielmehr  jenes  (d.  h.  die 
eigentliche  Differenz).  Alle  diese  Bestimmungen  sind  die  Fähig- 
keiten des  animaL  Es  steht  zu  den  einen  nicht  in  vorzüglicherem 
Sinne  in  Beziehung  als  zu  den  anderen.  Für  diesen  Begriff 
selbst  gibt  es  jedoch  keine  eigentliche  Bezeichnung,  und  die 
drei  anderen  Bestimmungen  (das  sinnliche  Erkennen,  die  anima 
sensitiva  und  die  willkürliche  Bewegung)  sind  Begriffe,  die  auf 
diesen  ersten  folgen  (und  sich  aus  ihm  ergeben).  Daher  sind 
wir  gezwungen,  einen  Namen  in  Beziehung  auf  jene  ihm  folgenden 
Begriffe  aufzustellen  (die  des  sensitivum  und  des  se  movens). 
Infolgedessen  findet  sich  das  sensitivum  und  das  se  movens  in 
der  Definition  von.  animal  zusammen.  Der  Ausdruck  sensitivum 
wird  in  dem  Sinne  gebraucht,  daß  er  sowohl  die  äußere  wie 
auch  die  innere  Sinneswahmehmung  zugleich  bezeichnet,  oder 
in  dem  anderen  Sinne,  in  dem  er  nur  die  äußere  Sinneswahr- 
nehmung bedeutet.  Er  bezeichnet  aber  auch  zugleich  alle  jene 
Begriffe  (die  sich  aus  dem  Begriff  des  sensitivum  ergeben)  nicht 
in  der  Weise,  daß  er  jene  Begriffe  logisch  in  sich  enthielte, 
sondern  nur  insofern  jene  Begriffe  mit  ihm  notwendig  verbunden 

0  Wörtlich:  Individualität. 


Digitized  by 


Googl( 


345 

sind  (in  demselben  Lebewesen,  indem  alle  drei  aus  einer  Wurzel, 
der  anima  sensitiva  stammen).  Die  Darlegung  dieser  und  ver- 
wandter Dinge  wurde  bereits  ausgeführt  (Logik  L  Teil,  1 13 — 15). 

Daher  ist  also  die  sensibilitas  nicht  im  eigentlichen  Sinne 
eine  Differenz  des  animal;  sondern  sie  ist  eine  von  den  Folge- 
erscheinungen seiner  Differenz  und  eins  von  den  notwendig  dem 
animal  anhaftenden  Propria.  Die  eigentliche  Differenz  des  animal 
ist  die  Existenz  der  Seele,  die  Prinzip  für  alles  dieses  (die 
sinnliche  Wahrnehmung  und  die  willkürliche  Eigenbewegung) 
im  Tiere  ist.  Ebenso  verhält  sich  das  rationale  zum  Menschen. 
Der  Mangel  an  philosophischen  Termini  und  unsere  geringe 
Kenntnis  der  spezifischen  Differenzen  zwingt  uns  jedoch  ent- 
weder zu  dem  einen  oder  zu  dem  anderen  Ausdrucke,  so  daß 
wir  dadurch  von  der  richtigen  Bezeichnungsweise  der  Differenz 
abkommen  und  statt  derselben  eine  notwendig  anhaftende  Be- 
stimmung wählen.  Vielfach  wählen  wir  für  unsere  Bezeich- 
nungen ein  Wort,  das  abgeleitet  ist  aus  der  Bezeichnung  für 
ein  notwendig  anhaftendes  Akzidens. 

Unter  sensitivum  verstehen  wir  dasjenige,  das  jenes  Prinzip 
besitzt,  von  dem  die  äußere  Sinneswahmehmung  und  andere 
Tätigkeiten  ausgehen.  Manchmal  ist  nun  die  Differenz  selbst 
uns  unbekannt;  wir  kennen  nur  das  notwendige  Akzidens. 
Unsere  Ausführung  in  diesen  Problemen  erstreckt  sich  jedoch 
nicht  auf  das,  was  wir  wissen  oder  tun  oder  auf  die  Art  und 
Weise,  wie  wir  uns  mit  den  Dingen  abgeben,  sondern  auf  die 
Art  und  Weise  ihrer  (objektiven)  Existenz  in  sich  selbst  (in  der 
Außenwelt)  (vgl.  dazu  Kap.  6  über  die  Art,  Ende).  Besäße 
femer  das  animal  eine  nur  mit  sinnlicher  Wahrnehmung  aus- 
gestattete anima  sensitiva,  dann  wäre  der  Umstand,  daß  das 
animal  ein  Körper  ist,  der  die  Fähigkeit  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung besitzt,  nicht  ein  Genus  ausschließlich  in  dem  Sinne 
der  körperlichen  und  sensitiven  Natur  unter  der  Voraussetzung, 
daß  diese  Natur  allein  dem  Gegenstande  zukommen  soll,  sondern 
in  dem  Sinne,  den  wir  erwähnt  haben.') 

Die  Vereinigung  der  Differenz  mit  dem  Genus  findet  nur 
auf  Grund  dessen  statt,  daß  die  Differenz  ein  Wirkliches  ist, 
das  das  Genus  der  Potenz  nach  (als  selbstverständliche  Voraus- 


*)  In  der  Fähigkeit  der  sinnlichen  Wahrnehmung  ist  das  Prinzip  der- 
selben, die  anima  sensitiva,  einbegriffen. 


Digitized  by 


Google 


346 

Setzung)  in  sich  enthält.  Die  Differenz  haftet  dem  Genus  nicht 
äußerlich  an,  der  Potenz  nach  oder  nach  Art  der  Vereinigung 
der  Materie  mit  der  Wesensform  oder  des  Teiles  mit  einem 
anderen  Teile  in  dem  zussammengesetzten  Dinge;  denn  dies  ist 
eine  Art  der  Vereinigung,  die  ein  reales  Ding  mit  einem  anderen 
außer  ihm  existierenden  realen  Dinge  verbindet,  so  daß  das 
eine  dem  anderen  als  notwendiges  oder  als  zufälliges  Akzidens 
anhaftet.  Daher  verhalten  sich  die  Dinge,  in  denen  eine  Ver- 
einigung von  Teilen  stattfindet,  in  verschiedener  Weise.  Die 
Dinge  können  sich  vereinigen  erstens  wie  die  Materie  und  Wesens- 
form. Dann  ist  die  Materie  ein  Ding,  das  für  sich  selbst  be- 
trachtet keine  reale  Existenz  in  irgend  einer  Weise  besitzt 
Sie  wird  aktuell  nur  durch  die  Wesensform  in  der  Weise,  daß 
die  Wesensform  ein  Wirkliches  ist,  das  sich  außerhalb  der 
ersten  Materie  befindet.  Das  eine  von  beiden  ist  nicht  identisch 
mit  dem  anderen.  Die  Summe  beider  ist  ebensowenig  eines  von 
beiden.  Die  zweite  Art  der  Vereinigung  von  Dingen  kann  so 
vor  sich  gehen,  daß  jedes  einzelne  der  Dinge  in  sich  selbst- 
ständig ist  und  unabhängig  in  seinem  Bestände  dem  anderen 
gegenüber;  jedoch  vereinigt  es  sich  mit  dem  anderen  und  aus 
ihrer  Vereinigung  entsteht  ein  Ding,  das  als  einheitliches  ent- 
standen ist  entweder  durch  Zusammensetzung  oder  durch  Ver- 
änderung des  einen  in  das  andere,  oder  durch  Mischung.  Eine 
andere  (dritte)  Art  der  Vereinigung  von  Dingen  kommt  dadurch 
zustande,  daß  der  eine  der  zusammensetzenden  Teile  nur  da- 
durch aktuell  besteht,  daß  ein  anderer  zu  ihm  hinzugefügt  wird. 
Der  andere  Teil  besteht  jedoch  zu  gleicher  Zeit  aktuell  Der 
erste  Teil  also,  der  nicht  in  Wirklichkeit  bestanden  hat,  erhält 
seinen  Bestand  durch  denjenigen,  der  aktueU  existiert  und  be- 
steht. Aus  der  Vereinigung  dieser  beiden  Teile  entsteht  eine 
einheitliche  Summe,  die  sich  verhält  wie  Körper  und  weiße 
Farbe  (also  wie  Substanz  und  Akzidens). 

Alle  diese  Arten  der  Vereinigung  von  Dingen  verhalten 
sich  nicht  so,  daß  die  aus  ihnen  entstandenen,  vereinigten  Dinge 
sich  so  zueinander  verhalten,  daß  das  eine  identisch  mit  dem 
anderen  wäre  oder  die  Summe  dasselbe  wie  ihre  Teile;  noch 
wird  das  eine  ausgesagt  von  dem  anderen  in  eindeutiger  Weise 
(und  de  toto).  Eine  andere  (vierte)  Art  der  Zusammensetzung 
von  Dingen  kommt  in  der  Weise  zustande,  daß  die  Potenz  des 
einen  von  beiden  (Genus)  darin  besteht,  daß  es  zu  jenem  anderen 


Digitized  by 


Googk 


347 

Dinge  wird  (der  Art),  nicht  so,  daß  es  dem  ersten  hinzugefügt 
würde.  In  dieser  Weise  ^  faßt  der  Verstand  manchmal  einen  Be- 
griff, der,  in  sich  selbst  betrachtet,  viele  Dinge  sein  kann,  so 
daß  ein  jedes  dieser  Dinge  diesen  Begriff  in  der  realen  Existenz 
darstellt  (das  Genus).  Dann  wird  zu  diesem  Begriffe  ein  anderer 
(die  Differenz)  hinzugefügt,  der  die  Existenz  des  ersten  indivi- 
dualisiert, 2)  indem  jener  universelle  Begriff  in  dem  ersten  (dem 
Genus)  enthalten  ist.  3)  Er  wird  nur  dadurch  ein  anderer,  daß 
die  Individualität  <)  (die  Determination)  hinzutritt  oder  die  Un- 
determiniertheit  und  zwar  nicht  in  der  realen  Existenz.^)  So 
verhält  sich  z.  B.  die  Ausdehnung.  Sie  ist  ein  Begriff,  der  zu- 
gleich Linie,  Fläche  und  Tiefendimension  (Körper)  sein  kann, 
nicht  in  der  Weise,  daß  sich  mit  ihm  ein  anderes  Ding  ver- 
bände, so  daß  dann  die  Verbindung  beider  (des  undeterminierten 
und  des  determinierten  Begriffes)  Linie,  Fläche  und  Tiefen- 
dimension würde.  Diese  Vereinigung  geht  vielmehr  in  der  Weise 
vor  sich,  daß  die  Linie  selbst  jener  Begriff  (die  Ausdehnung) 
ist  oder  die  Fläche  selbst  jener  (generische)  Begriff.  Dieses 
verhält  sich  in  der  Weise,  weil  der  Begriff  der  Ausdehnung 
etwas  ist,  das  z.  B.  die  Gleichheit  ^)  (quantitativer  Größen  als 
Eigenschaft  in  sich)  aufnehmen  kann,  ohne  daß  die  Bestimmung 
hinzugefügt  wird,  daß  (jene  Ausdehnung)  nur  dieser  bestimmte 
Begriff  (Linie  oder  Fläche)  werde;  denn  in  dieser  Weise  de- 
terminierte Begriffe  sind  nicht  Genera  wie  du  weißt,")  sondern 


')  Das  Folgende  ist  zitiert  von  dem  Kommentator  der  Ringsteine 
F&rabis  (Horten,  Das  Bnch  der  Ringsteine  Farabis,  S.  366). 

*)  Durch  die  Uinzofügung  der  Differenz  wird  das  Genus  in  seiner 
Existenz  determiniert.    VgL  Ringsteine  Ffir&bis,  Nr.  6. 

')  oder:  „indem  jener  Begriff  (das  Genus)  in  diesem  (der  Differenz) 
enthalten  ist".  Nach  den  vorausgehenden  Ausführungen  betrachtet  Avicenna 
die  Differenz  als  in  potentia  das  Genus  „enthaltend",  d.  h.  als  das  Genus 
voraussetzend. 

*)  Individualität  bezeichnet  die  Determination  des  Genus  durch  die 
Differenz. 

*)  oder:  „Der  Begriff  wird  ein  anderer  infolge  der  Determiniertheit 
oder  Indeterminiertheit,  nicht  etwa  in  der  realen  Existenz".  Die  Begriffe 
Genus  und  Differenz  bilden  eine  Zweiheit  nur  dadurch,  daß  der  eine  deter- 
miniert, der  andere  undeterminiert  ist,  nicht  etwa  dadurch,  daß  sie  zwei 
physisch  verschiedene  Dinge  wären. 

•)  Eventuell:  „Die  Indifferenz"  für  das  eine  oder  andere. 

')  Logik  I.  Teü  I,  9. 


Digitized  by 


Google 


348 

sie  sind  ohne  Zweifel  *)  etwas  anderes,  so  daß  es  möglich  ist, 
daß  dieses  Ding,  das  Aufnahmefähigkeit  besitzt  für  die  Gleich- 
heit quantitativer  Größen,  so  wie  es  ist,  jedes  Ding  sein  kann, 
nachdem  seine  Existenz  vermöge  seines  Wesens  (nicht  auf 
Grund  eines  fremden  Prinzipes)  diese  bestimmte  Seinsart  an- 
genommen hat,  d.  h.  das  Ding  (Genus)  kann  prädiziert  werden  von 
diesem  bestimmten  Individuum  auf  Grund  seines  Wesens,  näm- 
lich daß  es  dieses  bestimmte  ist,  sei  es  nun,  daß  dasselbe  sich 
in  einer  oder  zwei  oder  drei  Dimensionen  befindet.  Dabei  ist 
also  dieser  (generische)  Begiiff  (der  Ausdehnung),  sowie  er  real 
existiert,  nur  eine  von  allen  diesen  (drei)  Möglichkeiten.  Der 
Verstand  ist  jedoch  so  geartet, 2)  daß  er  eine  Existenzart  allein 
denken  kann.  Fügt  er  sodann  zu  dieser  Existenz  noch  ver- 
schiedene Bestimmungen  3)  hinzu,  so  fügt  er  dieselben  nicht 
hinzu,  insofern  sie  reale  Dinge  (rationes)  der  Außenwelt  sind,  die 
an  dem  Dinge  (dem  Genus)  haften,^)  das  Aufnahmefähigkeit  hat 
für  die  Gleichheit  der  Quantitäten,  so  daß  also  jenes,  in  sich 
selbst  betrachtet,  aufnahmefähig  wäre  für  die  Gleichheit,  und 
dieses  (das  Hinzugefügte)  ein  anderes  Ding  darstellte,  das  zum 
Ersten  (dem  Genus)  hinzukäme,  sich  aber  außerhalb  seines 
Wesens  befände.  Vielmehr  ist  jener  Vorgang  ein  Aktuellwerden 
auf  Grund  der  Aufnahmefähigkeit  (Potenzialität)  eines  Subjektes 
(des  Genus)  für  die  Gleichheit,^)  so  daß  es  also  in  einer  einzigen 
Ausdehnung  existiert  oder  in  mehr  als  einer.  Daher  ist  also 
das  für  die  Gleichheit  (d.  h.  für  verschiedene  Dimensionen)  auf- 
nahmefähige Prinzip,  das  entweder  nur  in  einer  einzigen  Aus- 
dehnung oder  in  mehr  als  einer  in  diesem  individuellen  Dinge 
existiert,  durchaus  identisch  mit  dem  aufnehmenden  Prinzipe 
selbst  (das  Genus),  so  daß  du  also  sagen  kannst:  jenes  Prinzip, 
das  aufnahmefähig  ist  für  die  Gleichheit,  ist  zugleich  dieses 
individuelle  Ding,  das  in  einer  Dimension  existiert  und  um- 
gekehrt. Dies  Verhältnis  ist  aber  nicht  das  gleiche  in  den  früher 
erwähnten  Beispielen  (der  Vereinigung  von  Dingen).  Existiert 
in  diesen  letzteren  eine  Vielheit,   wie  es  nicht  zweifelhaft  ist, 

>)  Wörtlich:  „ohne  Bedingung". 
*)  Arist.  Tiifpvxs. 

3)  Wörtlich:  „eine  Hinzufügung". 

*)  Genus  und  Differenz  sind  nicht  realiter  und  physisch  yerschieden. 
*)  d.  h.  für  Dimensionen  die  in  Proportion  stehen,  also  gleich  oder  un- 
gleich sein  können. 


Digitized  by 


Googk 


349 

so  ist  dieses  keine  Vielheit,  die  sich  aus  den  (physischen)  Teilen 
zusammensetzt,  sondern  eine  Vielheit,  die  dadurch  zustande 
kommt,  daß  ein  undeterminiertes  und  ein  determinierendes  Ding 
zusammentreten.  Denn  das  Ding,  das  in  sich  selbst  determiniert 
und  aktualisiert  ist  (das  Individuum),  kann  betrachtet  werden 
insofern  es  im  Verstände  undeterminiert  ist,  und  dann  tritt  dort 
(im  begrifflichen  Denken)  eine  Verschiedenheit  (von  logischen 
Bestandteilen  des  Dinges)  aut  Wird  das  Ding  jedoch  deter- 
miniert und  aktualisiert,  so  ist  dieses  (so  entstandene)  kein 
anderes  Ding  als  das  erste  selbst,  es  sei  denn  in  der  erwähnten 
logischen  Betrachtungsweise,  die  dem  Verstände  allein  eignet 
(ohne  daß  sie  in  der  Wirklichkeit  existiert).  Denn  das  Aktuell- 
werden (des  Genus  zur  Spezies  und  zum  Individuum)  geschieht 
nicht  durch  etwas,  das  (physisch)  verschieden  ist  von  dem 
Genus;  sondern  es  ist  nichts  anderes  als  das  Realwerden  des 
Genus  selbst. 

In  gleicher  Weise  mußt  du  denken  über  die  Einheit,  die 
aus  Genus  und  Differenz  entsteht;  denn  freilich  bergen  diese  eine 
Verschiedenheit  in  sich,  und  einige  Arten  bedeuten  in  ihrer 
Natur  eine  Zusammensetzung  (von  verschiedenen  Elementen). 
Zugleich  stammen  ihre  Differenzen  von  ih|-en  Wesensformen 
und  ihre  Gattungen  aus  den  Materien,  den  Substraten  der 
Wesensformen,0  selbst  wenn  weder  ihre  Gattungen  noch  ihre 
Differenzen  identisch  sind  mit  ihren  Stoffen  und  Wesensformen, 
insofern  sie  (physische)  Stoffe  und  Wesensformen  sind.  Andere 
Arten  enthalten  in  ihren  Naturen  keine  Zusammensetzung  von 
verschiedenen  Elementen,  vielmehr  verhält  es  sich  so,  daß,  wenn 
eine  Zusammensetzung  in  ihnen  dennoch  vorhanden  ist,  diese 
nur  in  der  von  uns  erwähnten  (rein  logischen)  Weise  stattfindet. 


*)  Vgl.  Thomas,  Sum.  theol.  I,  85,  5  ad  3:  Invenitur  duplex  compositio 
in  re  materiali:  prima  qnidem  formae  ad  materiam;  et  hui  respondet  compositio 
intellectus,  qua  totum  universale  (das  (}enus)  de  sua  parte  praedicatur.  Nam 
genus  sumitur  a  materia  communi,  differentia  vero  a  forma.  Arist.,  Metaph.: 
xcd  jaika  Uytxai,  tv  navza,  Sti  t6  yivog  %v  x6  vnoxsifievov  talQ  Sia^OQatq, 
olov  Jnnog  av^gamog  xvwv  sv  n,  Su  navxa  54^a  (generisch  eins)  xal  xgonov 
Sri  naQcmXtiaiov,  Sotcsq  ^  SAj/  ///«.  1024b  3:  xoiko  cf  laxl  x6  vnoxelfisvov 
xaXq  Sia^oQatg  (inoxel/ievov  =  Substrat  und  Materie),  hi  «fc  iv  xoTg  Xoyoig 
xo  TtQdjtov  iwnaQXOVf  8  Xiyexai  iv  x(p  xl  ioxt  xofno  yivog,  ov  SiatpOQal 
Xiyovxai  a\  noioxrjfiBg,  xo  fikv  ovv  yivog  xoaavxax<&g  )J:yexai,y  xo  /xhv  xaxa 
ykvsaiv ...  xo  Ö*  <ig  SXij  ov  y&Q  ^  öiaipoga  xal  ^  noioxrjg  iaxl,  xoX^x  ioxl 
-xo  vnoxelfisvov,  6  Hyofisv  VXrjv, 


Digitized  by 


Googk 


350 

Wenn  dieses  sich  nun  so  verhält,  dann  ist  eines  der  zwei  zu- 
sammentretenden Dinge  von  den  anderen  in  jeder  einzelnen 
Art  nur  dadurch  verschieden,  daß  dasselbe  manchmal  betrachtet 
wird,  ohneO  seine  Determination  (also  als  Genus),  sondern  nur, 
insofern  es  der  Potenz  nach  aktualisiert  ist,  ein  anderes  Mal, 
insofern  es  aktuell  determiniert  ist.  Diese  Potenzialität  haftet 
dem  Dinge  aber  nicht  an  zufolge  seiner  realen  Existenz  in  der 
Außenwelt,  sondern  nur  in  der  logischen  Betrachtung;  denn  in 
der  realen  Existenz  besitzt  das  Ding  (Genus)  keine  Aktualität 
einer  generischen  Natur,  die  erst  der  Potenz  nach  einp  aktuelle 
Art  wäre,  abgesehen  davon,  ob  die  Art  in  ihren  Naturen  eine 
Zusammensetzung  besäße  oder  nicht. 

Daher  ist  also  das  Genus  und  die  Differenz  auch  in  der 
Definition  enthalten,  insofern  jedes  einzelne  der  beiden  Momente 
ein  Teil  der  Definition  als  solcher  ist;  denn  der  Teil  (das  Gtenus 
oder  die  Differenz)  wird  nicht  ausgesagt  von  der  Definition, 
noch  auch  die  Definition  von  ihm.  Man  sagt  nämlich  nicht,  die 
Definition  sei  ausschließlich  ein  Genus,  noch  auch  eine  Differenz, 
noch  auch  umgekehrt.  So  sagt  man  z.  B.  betreffe  der  Definition 
des  animal  nicht,  sie  sei  ein  Körper,  noch  auch,  sie  sei  ein  sensi- 
tivum,  noch  auch  umgekehrt.  Insofern  aber  die  Gattungen  und 
Differenzen  Naturen  sind,  die  aus  einer  bestimmten  Natur  (die 
Prinzip  der  Differenz  ist)  sich  ergeben,  wie  du  eben  gesehen  hast, 
werden  sie  von  dem  definierten  Gegenstande  ausgesagt  Wir  sagen 
sogar;  die  Definition  bedeutet  nach  ihrem  eigentlichen  Sinne  eine 
einheitliche  Natur.  So  sagst  du  z.  B.:  animal  rationale.  Durch  diesen 
Ausdruck  wird  der  Begriff  eines  einheitlichen  Gegenstandes  im 
Denken  aktuell,  der  durch  sich  selbst  das  animal  bedeutet  und 
zwar  das  animal,  das  so  wie  es  wirklich  ist,  zugleich  rationale  ist 
Betrachtest  du  nun  dieses  einfache  Ding,  so  entsteht  keine  Vielheit 
im  Geiste.  Wenn  du  jedoch  die  Definition  betrachtest,  so  findest 
du,  daß  sie  zusammengesetzt  ist  aus  vielen  dieser  Begriffe,  Du 
betrachtest  sie  dann,  insofern  sich  jeder  einzelne  dieser  Begriffe 
in  der  genannten  Weise  verhält  und  ein  Begriff  für  sich  ist, 
verschieden  von  dem  anderen.  Dann  findest  du  in  derselben 
eine  Vielheit  nach  Art  der  (logischen)  Betrachtung  des  Geistes. 
Verstehst  du  nun  unter  Definition  den  Begriff,  der  im  denkenden 
Geiste  existiert  in  der  ersten  Betrachtungsweise  —  es  ist  das 


^)  Wörtlich:  „es  wird  genommen  (abstrahiert)  von  der  Determination" 


Digitized  by 


Googl( 


851 

einheitliche  Ding,  das  das  animal  darstellt  und  dieses  animal 
selbst  ist  (ohne  eine  weitere  physische  Verschiedenheit  zu  er- 
halten) das  rationale  —  dann  ist  die  Definition  so  wie  sie  ist, 
der  definierte  und  begrifOich  gefaßte  Gegenstand,  i)  Verstehst 
du  aber  unter  Definition  den  Begriff,  der  im  denkenden  Geiste 
existiert  nach  der  zweiten  Betrachtungsweise  und  der  sich  in 
Teile  zerlegt,  dann  ist  die  Definition  in  sich  selbst  nicht  gleich- 
bedeutend mit  dem  Inhalte  (ratio)  des  definierten  Gegenstandes. 
Sie  ist  vielmehr  etwas,  das  zu  ihm  hinleitet  und  die  Kenntnis 
des  Gegenstandes  uns  erwerben  hilft.  Darauf  folgt  sodann  (als 
Ziel)  die  andere  (die  erste)  Betrachtungsweise,  in  der  man  be- 
hauptet, daß  die  Definition  selbst  gleich  sei  dem  definierten 
Gegenstande. 

Das  rationale  und  das  animal  werden  von  uns  nicht  als  zwei 
Teile  der  Definition  bezeichnet,  sondern  als  zwei  Prädikate 
des  Dinges,  insofern  es  dieses  reale  Ding  ist,  nicht  insofern 
sie  zwei  Dinge,  entstanden  aus  irgend  einer  Wesenheit,  dar- 
stellen, die  von  einander  verschieden  sind  und  sich  ebenso  von 
dem  aus  ihnen  Zusammengesetzten  unterscheiden.  In  unserem 
Beispiel  verstehen  wir  vielmehr  das  Ding,  das  in  sich  selbst 
animal  ist,  und  dieses  selbige  animal  ist  in  seiner  tierischen 
Natur  vervollkommnet  und  aktualisiert  durch  das  rationale. 
Die  andere  Betrachtungsweise,  die  eine  Verschiedenheit  zwischen 
Definition  und  definiertem  Gegenstande  behauptet,  macht  es  un- 
möglich, daß  Genus  und  Differenz  zwei  Prädikate  seien,  die 
von  der  Definition  ausgesagt  werden.  Nach  ihr  sind  sie  viel- 
mehr zwei  Teile  derselben.  Deshalb  ist  auch  das  Genus  keine 
Definition,  noch  auch  die  Definition  ein  Genus.  Ebensowenig 
ist  die  Differenz  eines  von  beiden,  noch  auch  ist  der  ganze 
Begriff  animal  zusammengesetzt  mit  dem  rationale,  noch  auch 
ist  der  Begriff  des  animal  nicht  zusammengesetzt  und  ebenso- 
wenig ist  der  Begriff  des  rationale  nicht  zusammengesetzt.  Eben 
deshalb  versteht  man  unter  dem  Begriffe  der  Summe  von  animal 
und  rationale  nicht  dasselbe,  was  man  unter  einem  der  beiden 
Teile  versteht,  noch  auch  wird  der  eine  Teil  von  der  Summe 
ausgesagt  Daher  ist  auch  die  Summe  von  animal  und  rationale 
nicht  ein  animal  und  ein  rationale;  denn  die  Summe  von  zwei 


^)  Begriff  und  Gegenstand  sind  kongruent.     Das  Erkennen  ist  also 
ein  wahres. 


Digitized  by 


Google 


352 

Teilen  ist  verschieden  von  beiden,  Sie  ist  vielmehr  ein  drittes; 
denn  jedes  einzelne  der  zusammensetzenden  Momente  ist  ein 
Teil  der  Summe,  und  der  Teil  ist  nicht  gleich  dem  Ganzen, 
noch  das  Ganze  gleich  dem  Teile. 


Neuntes  Kapitel 

Die  Definition. 

Das,  was  uns  jetzt  obliegt,  besteht  darin,  daß  wir  klar- 
legen, wie  die  Dinge  definiert  werden  und  wie  sich  die  Definition 
zu  den  Dingen  verhält,  und  femer,  welcher  Unterschied  besteht 
zwischen  der  Wesenheit  eines  Dinges  und  der  Wesensform. 
Daher  lehren  wir:  wie  der  Begriff  des  Seienden  und  der  des 
Einen  zu  den  universellen  gehören,  die  einen  größeren  Umfang 
haben  als  die  Kategorien,  sich  aber  zu  ihnen  verhalten  nach 
Art  des  Früher  und  Später  (in  der  logischen  Ordnung  also 
analogice,  nicht  aequivoce  noch  univoce  von  ihnen  prädiziert 
werden),  ebenso  verhält  sich  auch  der  Begriff,  daß  die  Dinge 
Wesensformen  und  Definitionen  haben.  9  Daher  findet  sich 
dieser  Umstand  (Wesensform  und  Definition  zu  hab^),  nicht  in 
allen  Dingen  in  der  gleichen  Weise  (ebensowenig  wie  sich  der 
Begriff  des  Seins  und  der  der  Einheit  in  allen  Dingen  in  der 
gleichen  Weise  befindet).  Die  Substanz  ist  dasjenige  Objekt, 
das  die  Definition  in  erster  Linie  ^)  nach  seinem  realen  Wesen  be- 
zeichnet. Die  anderen  Dinge  werden  durch  die  Definition  insofern 
wiedergegeben,  als  ihre  Wesenheit  verbunden  ist  mit  der  Sub- 
stanz oder  mit  der  substanziellen  Wesensform  3)  in  der  Weise, 
wie  wir  es  bereits  definiert  haben.  Was  nun  die  Wesensformen 
der  Naturdinge  angeht,  so  hast  du  bereits  erfahren,  in  welcher 
Weise  sie  existieren  und  welche  Dimensionen  und  Gestalten  sie 
haben.  Alle  diese  Verhältnisse  habe  ich  bereits  dargelegt  Daher 
sind  also  diese  anderen  Dinge,  die  Akzidenzien,  in  gewisser  Weise 


>)  Diese  Bestünmung  kommt  allen  Kategorien  zu,  ist  also  ein  trans- 

cendentale. 

*)  Von  ihr  wird  auch  in  erster  Linie  das  Sein  und  die  Einheit  ausgesagt 
«)  Von  ihnen  wird  auch  das  Sein  und  das  Eine  in  sekundärer  Weise 

ausgesagt,  weil  sie  entia  entis  sind. 


Digitized  by 


Googl( 


353 

nicht  definierbar,  es  sei  denn  durch  die  Substanz.  Folglich  müssen 
dieselben  entweder  die  Akzidenzien  sein  (oder  die  zusammen- 
gesetzten Substanzen);  denn  in  den  Akzidenzien  findet  sich  bei 
ihrer  Definition  eine  Hinzufügung  zu  ihrem  eigentlichen  Wesen. 
Die  Wesenheit  der  Akzidenzien,  selbst  wenn  sie  Dinge  sind,  in 
denen  die  Substanz  durchaus  nicht  vorhanden  ist  nach  Art  eines 
Teiles,  enthält  dennoch  den  Begriff  der  Substanz  in  ihrer 
Definition.  Der  Grund  dafür  ist:  dasjenige,  dessen  Teil  eine 
Substanz  ist,  muß  auch  selbst  eine  Substanz  sein.  Die  Definition 
der  Akzidenzien  enthält  in  sich  insofern  den  Begriff  der  Substanz, 
als  sie  einen  Teil  der  Definition  bildet,  da  ja  die  Akzidenzien 
notwendiger  Weise  durch  die  Substanz  definiert  werden.  Was 
nun  die  zusammengesetzten  Gegenstände  angeht  (die  aus  einer 
Substanz  und  Akzidenzien  bestehen  und  die  auch  durch  die 
Substanz  definiert  werden  müssen),  so  findet  in  ihnen  die  Wieder- 
holung numerisch  eines  und  desselben  Dinges  statt  Denn  weil 
sich  in  ihnen  eine  Substanz  befindet,  so  muß  diese  auch  einen 
Teil  der  Definition  bilden.  Weil  nun  in  demselben  Dinge  auch 
ein  Akzidens  vorhanden  ist,  das  durch  die  Substanz  definiert 
wird,  so  muß  aus  diesem  Grunde  die  Substanz  in  die  Definition 
des  Akzidens  zum  zweiten  Male  eintreten,  und  daher  ist  also 
die  Summe  der  Definition  zusammengesetzt  aus  der  Definition 
der  Substanz  und  der  des  Akzidens,  wie  es  nicht  anders  sein 
kann,  und  daher  ergibt  sich  eine  Doppelsetzung  und  sogar  eine 
Vielheit. 

Analysiert  man  die  Definition  dieses  Akzidens  und  führt 
man  es  zurück  auf  die  Teile,  die  in  ihm  enthalten  sind,  so  wird 
die  Sachlage  klar.  In  der  Definition  dieses  zusammengesetzten 
Gegenstandes  (der  Substanz  mit  dem  Akzidens)  ist  also  die  Sub- 
stanz zweimal  enthalten.  In  dem  Wesen  des  zusammengesetzten 
Dinges  (so  wie  es  in  der  Außenwelt  existiert)  ist  sie  aber  nur 
einmal.  Daher  tritt  in  dieser  Definition  ein  Überfiüssiges  auf, 
das  mehr  enthält  als  der  Begriff  des  definierten  Gegenstandes 
in  sich  selbst.  Die  wahren,  eigentlichen  Definitionen  dürfen 
jedoch  in  sich  keine  überflüssigen  Bestimmungen  enthalten.  So 
verhält  sich  z.  B.  folgendes:    Wenn   Du  die  krumme  Nase*) 

0  Das  angeführte  ist  das  Schulbeispiel  des  Aristoteles  und  der  Scholastik. 

Vgl.  Metaph.  1025  b  30:  twv  cf  6QiC,0fdvtov  xal  xiSv  xl  iaxi  xä  fibv  o^wq 

vnaQx^i  (ig  xo  aifiov,  xä  ^  <iq  x6  xoiXov.    6ia<piQBi  6h  xaüxa  Sxi  x6  fikv 

aiiiov  avveiXrjfifjUvov  ioxl  fxsxa  xfjg  fAiyg*  IW  yäg  xo  fjtkv  oifiov  xoLXri  ^Ig, 

Horten,  Das  Buch  der  Otnenmg  der  Seele.  23 


Digitized  by 


Googk 


354 

definierst,  so  mußt  du  in  der  Definition  die  Nase  änsdrficken 
und  ebenso  die  Gebogenheit  derselben,  und  dann  hast  du  in  der 
Definition  die  des  Krummnasigen  gegeben.  Die  gebogene  Nase 
ist  jedoch  eine  krumme  Nase.  Nun  aber  darfet  Du  das  „Ge- 
bogene" nicht  für  sich  allein  nehmen;  denn  wenn  das  Gebogene 
für  sich  allein  schon  das  Krummnasige  bedeutete,  dann  wäre  der 
gebogene  Schenkel  auch  „krummnasig".  Notwendigerweise  mußt 
du  vielmehr  den  Begriff  der  Nase  in  die  Definition  des  Krumm- 
nasigen hineinnehmen.  Wenn  du  nun  den  Begriff  der  Nase  in 
die  Definition  des  Krummnasigen  aufgenommen  hast,  dann  hast 
du  die  Nase  zweimal  in  die  Definition  aufgenommen.  Solcher 
Art  Definitionen  sind  nun  in  zweifacher  Weise  zu  beurteilen. 
Entweder  sind  sie  keine  wirklichen  Definitionen;  dann  können 
nur  die  einfachen  Substanzen  definiert  werden  —  oder  man  kann 
sagen:  solcher  Art  Definitionen  sind  Definitionen  in  einer  anderen 
Bedeutung  des  Wortes.  Man  darf  von  einer  Definition  nicht 
verlangen,  daß  sie  nur  die  Bedeutung  des  Wortes  erklärt^  sodaß 
wir  solche  Erklärungen  (der  Worte)  als  reale  Definitionen  der 
Dinge  hinnehmen;  denn  die  Definition  soll  etwas  sein,  das  auf 
das  reale  Wesen  des  Dinges  hinweist  und  dasselbe  bedeutet 
Du  hast  dies  bereits  kennen  gelernt  Wenn  jeder  Ausdruck 
wiedergegeben  werden  könnte  durch  einen  festgesetzten  Terminus 
wie  durch  eine  Definition,  dann  wären  alle  Bücher  des  Öahiz*) 
Definitionen.  Wenn  nun  die  Dinge  so  liegen,  dann  ist  es  klar, 
daß  die  Definitionen  der  eben  genannten  zusammengesetzten 
Gegenstände  (die  aus  Akzidenzien  und  Substanzen  bestehen) 
Definitionen  sind  in  einer  anderen  Bedeutung  des  Wortes. 


^  Sh  xoiXottjg  avev  iXfjg  alo^t^g.  Ebenso  1030b 30:  ...  Sia  zo  aSvvatov 
Bivai  ehcelv  x6  aifiov  avsv  toi)  TCQoyiiaxoq  ov  ioti  naSi}g  xad-'  avro  (lari  yag 
10  öifiov  xoiXotijg  iv  ^ivl),  zo  ^Iva  öifxijv  ebtetv  §  ovx  foTiv  1^  dlg  zo  aizd 
eazai  BlQijfiivov,  ^Iq  ^Ig  xoÜLrj.  17  yotQ  ^Ig  ^  aifi^  ^Ig  ^Ig  xoiXtf  larat.  ib. 
1035  a  26  wird  als  ein  anderes  Beispiel  6  x^'^oi^  xvxXog  erwShnt  V^ 
Thomas,  Som.  th.  I— n  53, 2  ad  3:  Accidens  significatom  in  abstracto  importat 
babitadinem  ad  snbiectom,  qnae  indpit  ab  acddente  et  terminator  ad  sab- 
iectnm.  Et  ideo  in  definitione  acddentis  abstracti  non  ponitor  sabiectnm 
quasi  prima  pars  definitionis,  qnae  est  genns,  sed  qnasi  seconda,  qnae  est 
differentia;  dicimos  enim  qnod  simitas  est  corvitas  nasL  Sed  in  ooncretis 
incipit  babitado  a  snbiecto  et  terminatnr  ad  accidens.  Propter  qnod  in  de- 
finitione boinsmodi  acddentis  ponitor  snbiectnm  tanqnam  genns,  qnod  est 
prima  pars  definitionis;  didmns  enim  qnod  simnm  est  nasns  corvas. 

1)  Brockehn.  Gescb.  d.  a.  litter.  1, 152.    Cod.  c  GL:  „d.  b.  der  Sprache^ 


Digitized  by 


Googk 


355 


Der  Unterschied  zwischen  der  Wesenheit  und  der  Wesensform. 

Jedes  einfache  Ding  wird  durch  seine  Wesenheit  ganz 
ausgedrückt; ')  denn  in  ihm  existiert  kein  Wirkliches,  das  ein 
aufnehmendes  Prinzip  wäre  für  die  Wesenheit  (sondern  es  exi- 
stiert nur  die  Wesenheit  als  solche).  Wäre  in  diesen  einfachen 
Substanzen  etwas,  das  ihre  Wesenheit  aufnähme,  dann  wäre  die 
Wesenheit  jenes  Dinges  nicht  die  Wesenheit  des  Aufgenommenen. 
—  Auch  dieses  letztere  käme  dem  Dinge  aktuell  zu; 2)  —  denn 
dieses  Aufgenommene  ist  die  Wesensform  des  Aufiiehmenden. 
Die  Wesensform  dieses  Aufnehmenden  bildet  aber  nicht  das- 
jenige, dem  die  Definition  des  Dinges  „gegenübersteht".*)  Ferner 
sind  die  zusammengesetzten  Gegenstände  durch  die  Wesensform 
allein  nicht  das,  was  sie  sind;  denn  die  Definition  der  zusammen- 
gesetzten Gegenstände  besteht  nicht  in  der  Wesensform  allein. 
Die  Definition  eines  Dinges  muß  vielmehr  die  ganze  Fülle  dessen 
bedeuten,  wodurch  sein  Wesen  Bestand  hat,  und  daher  muß  also 
die  Definition  auch  in  gewisser  Weise  den  Begriff  der  Materie 
in  sich  enthalten.  Durch  diese  Auseinandersetzung  erkennst  du, 
welcher  Unterschied  besteht  zwischen  der  Wesenheit  der  zu- 
sammengesetzten Dinge  und  der  Wesensform.  Die  Wesensform 
ist  immer  ein  Teil  des  Wesens  in  den  zusammengesetzten  Dingen. 
Jede  einfache  Substanz  aber  ist  selbst  zugleich  ihre  eigene 
Wesensform;  denn  in  ihr  findet  keine  Zusammensetzung  statt. 
(Dies  gilt  von  den  reinen  Geistern.) 

Was  nun  aber  die  zusammengesetzten  Substanzen  angeht, 
so  sind  sie  nicht  ihre  eigene  Wesensform,  noch  auch  ist  ihre 
Wesenheit  sie  selbst  (d.  h.  die  ganze  Fülle  ihres  Seins).  Was 
nun  die  Wesensform  angeht,  so  ist  es  offenbar,  daß  sie  (nur)  ein 
Teil  dieser  Substanzen  ist  Die  Wesenheit  aber  ist  dasjenige, 
wodurch  das  Ding  das  ist,  was  es  ist.  Jene  Substanzen  sind 
nun  aber  das,  was  sie  sind,  dadurch,  daß  die  Wesensform  sich 
mit  der  Materie  verbindet  Dieses  (die  Zusammensetzung  beider) 
aber  enthält  mehr,  als  der  Begriff  der  Wesensform  (allein).  Das 
zusammengesetzte  Ding  ist  also  nicht  dieser  Begriff  (die  Wesens- 

0  Wörtlich:  „seine  Wesenheit  ist  es  selbst". 

^  Der  Gegenstand  besteht  aus  zwei  Teilen.  Seine  Wesenheit  ist  also 
nicht  das  Anfnehmende  aUein,  sondern  die  Vereinigung  dieses  mit  dem  Auf- 
genommenen, der  Form. 

')  Die  Definition  ist  dem  Dinge  paraUel,  gibt  seinen  Inhalt  ganz  wieder. 


Digitized  by 


Google 


S56 

form)  selbst,  sondern  die  Summe  der  Wesensform  und  der  Materie; 
denn  diese  Summe  ist  ihrem  ganzen  Inhalte  nach  dasjenige,  was 
das  zusammengesetzte  Ding  bedeutet  Die  Wesenheit  ist  diese 
Zusammensetzung.  Die  Wesensform  ist  daher  ein  Teil,  dem  die 
Zusammensetzung  hinzugefügt  wird  (i  h.  mit  dem  die  Tätigkeit 
des  Zusammensetzens  vorgenommen  wird).  Die  Wesenheit  aber 
ist  diese  Zusammensetzung  selbst,  die  die  Wesensform  und  die 
Materie  verbindet  Die  Einheit,  die  aus  diesen  beiden  Prinzi- 
pien entsteht,  haftet  dieser  einen  Substanz  an^  (die  definiert 
werden  soll). 

Daher  besitzt  also  das  Genus,  insofern  es  Genus  ist,  dae 
besondere  Wesenheit,  ebenso  die  Art,  insofern  sie  Art  ist  und 
das  Individuum,  das  Singulare,  insofern  es  ein  Individuum  ist 
Seine  Wesenheit  ist  zusammengesetzt  aus  den  notwendigen  Ak- 
zidenzien, wodurch  sie  ihren  Bestand  hat  Daher  verhält  äck 
die  Wesenheit,  wenn  man  sie  von  dem  Inhalte  der  G^attung  nnd 
der  Art  und  von  dem  des  Individuums,  des  Singulären,  ansagt 
wie  ein  universeller  Begriff,  der  nicht  univoce  (also  entweder 
analogice  oder  aequivoce)  prädiziert  wird.  Diese  Wesenheit  i^ 
nicht  trennbar  von  dem,  was  durch  sie  konstituiert  wird;  sonst 
könnte  es  nicht  seine  Wesenheit  bilden.  Das  Individuum  jedoch 
kann  man  in  keiner  Weise  definieren,  2)  selbst  wenn  man  auch  die 
zusammengesetzte  Substanz  in  irgendeiner  Definition  wiedergeben 
kann.  Der  Grund  daffir  ist  der,  daß  die  Definition  ein  Zusammen- 
gesetztes ist,  das  aus  Ausdrücken  besteht,  die  notwendigen^^ 
eine  Eigenschaft  bezeichnen  und  in  denen  kein  individueller 

^)  Wie  die  Einheit,  so  haftet  ihr  auch  das  Sein  an.  Wenn  nun  das 
habere  definitionem  ebenso  transcendent  und  nniversell  ist,  wie  die  Einkit 
nnd  das  Sein  (s.  Anf.  d.  Kap.)  so  mnfi  die  Definition  sich  auf  diese  ^nliät 
erstrecken  in  demselben  Sijine  wie  auf  ihr  Sein. 

•)  Dies  ist  eine  selbstverständliche  Gmndlehre  der  aristotelisch-scboU- 
stischen  Philosophie.  Erkannt  werden  kann  nnr  das  Abstrakte,  das  Geistige. 
Das  materielle  Einzelding  ist  nur  durch  die  Sinne  erreichbar;  definiert  m^ 
erkannt  werden  kann  es  nicht.  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  1 29, 1  ad  3:  Die  Objektion 
lautet:  NuUum  singulare  definitur.  Sed  persona  significat  quoddam  singulare. 
Ergo  persona  inconyenienter  definitur.  Antwort:  Ad  primum  eigo  dicendiin 
quod,  licet  hoc  singulare  vel  illud  definiri  non  possit,  tarnen  id  quod  pertinet 
ad  communem  rationem  singularitatis  definiri  potest,  et  sie  Philosophns  in 
libr.  Praedicamentorum  (Eateg.  la  20— b  9)  definit  substantiun  primaot 
YgL  Arist.,  Metaph.  1039  b  28:  Siä  roCfro  ^  xal  x&v  oiai^  t&y  aia^n^ 
xdiv  xaO^  Sxaara  oid-^  iQiOfAoq  oiV  änoSeiSi^  iati,  8x1  ^x^vctv  ^Xtjv  ^\ 
<pvai(i  xoiavtri  Sex  hd^BG^ai  xal  elvat  xal  (jh^,    Idem  1035  a  5, 


Digitized  by 


Googl( 


357 

Hinweis  auf  ein  singnläres  Ding  enthalten  ist.  Würde  man 
durch  einen  individuellen  Hinweis  ein  Ding  bezeichnen,  dann 
wäre  dies  nur  eine  Benennung  oder  ein  anderer  Hinweis  durch 
eine  Bewegung  (der  zeigenden  Hand)  oder  eine  Determinie- 
rung  u-  s.  w.  In  diesen  Bezeichnungen  des  Individuellen  ist  keine 
D^nition  des  Unbekannten  durch  eine  (universelle)  Eigenschaft 
enthalten.  Wenn  nun  jeder  Terminus,  der  in  der  einzelnen 
Definition  auftritt,  eine  Eigenschaft  bezeichnet,  und  wenn  die 
Eigenschaft  (weil  universell)  von  einer  Vielheit  von  Dingen  aus- 
gesagt werden  und  in  ihnen  vorhanden  sein  kann,  und  wenn 
zugleich  die  Zusammensetzung  der  Definition  aus  vielen  Eigen^ 
Schäften  diesen  nicht  die  Bestimmung  raubt,  daß  sie  universelle 
Natur  besitzen,  dann  muß  sich  folgendes  ergeben.  Wenn  A  ein 
universeller  Begriff  ist,  und  wenn  zu  ihm  B  hinzugefügt  wird, 
der  ebenfalls  ein  universeller  Begriff  ist,  dann  kann  in  der  Zu- 
sammensetzung beider  (der  Definition)  eine  bestimmte  Deter- 
minierung auftreten.  Wenn  dies  jedoch  eine  Determination 
eines  Universellen  durch  ein  anderes  Universelles  ist,  dann  bleibt 
nach  der  Definition  (und  trotz  der  Determinierung)  das  Ding, 
das  A  und  B  zugleich  ist,  ein  universelles,  und  in  der  Deter- 
mination kann  sich  eine  Allgemeinheit,  eine  Universalität,^  ein- 
stellen. So  verhält  sich  z.B.  „dieser" 2)  Sokrates.  Definierst  du  den 
Sokrat€s,  so  sagst  du,  daß  er  der  Philosoph  sei,  jedoch  bezeichnet 
dieser  Ausdruck  eine  Vielheit  von  Individuen.  Wenn  du  nun 
sagst,  er  sei  der  gottesgläubige  Philosoph,  so  bezeichnet  dies 
ebenfalls  eine  Vielheit;  wenn  du  weiter  sagst:  „er  ist  jener 
gottesförchtige  Philosoph,  der  in  frevelhafter  Weise  getötet 
wurde",  so  bezeichnet  dieses  immer  noch  eine  Vielheit  Wenn 
da  nun  sagst^  wo  jener  lebte,  so  kann  auch  dieses  noch  auf  eine 
Vielheit  von  Individuen  anwendbar  sein.  Wenn  nun  jener  eine 
Pctsou  ist^  die  definiert  wird,  so  wie  eine  Person  definiert  werden 
muß,  und  wenn  nun  diese  Person  durch  einen  individuellen  Hin- 
weis oder  durch  den  Namen  „definiert"  wird,  dann  ergibt  sich  die 
Bestimmung  eines  Individuums  durch  den  Hinweis  oder  den 
Namen.  Dann  hört  die  Definition  auf,  eine  Begriffsbestimmung 
zn  sein.     Ffigt  man  aber  noch  hinzu:  er  ist  derjenige,  der  in 


»)  Wörtlich:  „eme  Gemeinschaft",  d.  h.  eine  Übereinstimmung  vieler 
Dinge  is  einem  Begriffe. 
*)  Aristoteles  TO(^c  tu 


Digitized  by 


Googk 


358 

„dieser"  Stadt  an  „diesem"  Tage  getötet  wurde,  so  ist  diese  Be- 
stimmung trotzdem  sie  durch  die  Häufung  (von  Merkmalen)  in- 
dividuell ist  (und  auf  eine  individuelle  Person  hinweist)  univer- 
sell, und  kann  von  vielen  Individuen  ausgesagt  werden,  es  sei 
denn,  daß  sie  sich  stützt  und  fundiert  auf  ein  Individuum.  Wenn 
nun  dieses  Fundament  der  Aussage  irgend  ein  Individuum  aus 
der  Menge  der  Individua  irgend  einer  Art  ist,  dann  kann  die 
Erkenntnis  nur  durch  die  Vermittelung  der  äußeren  Sinneswahr- 
nehmung zu  ihm  hingelangen.  Der  Verstand  kann  sich  nicht 
auf  dieses  Objekt  mit  seiner  Tätigkeit  erstrecken,  ^)  es  sei  denn 
durch  Vermittelung  der  äußeren  Sinneswahmehmung.  Ist  nun 
das  Fundament  jener  Aussage  ein  Individuum  von  der  Art^  daß 
jedes  Einzelwesen  dieser  Kategorie  die  ganze  Fülle  seiner  Art 
in  sich  umfaßt,  dann  existiert  kein  (anderes)  Individuum  (der- 
selben Art),  was  diesem  ähnlich  wäre  (denn  es  existiert  in  diesem 
Falle  keine  Mitart  der  betreffenden  Art,  da  in  dem  ersten 
Individuum  die  ganze  Fülle  der  Art  erschppft  ist  Dieser  Ge- 
danke ist  zugleich  ein  bekannter  Beweis  für  die  Einzigkeit 
Gottes).  Manchmal  erfaßt  der  Verstand  diese  Art  in  ihrem 
Individuum.  Gründet  er  nun  die  Beschreibung  auf  dieses  Indi- 
vidium  (wie  auf  ein  Objekt  der  Definition),  dann  erstreckt  sich 
die  Tätigkeit  des  Verstandes  auf  dasselbe  und  verharrt  bei 
demselben.2)  Zugleich  aber  besteht  für  den  denkenden  Geist  keine 
Besorgnis,  das  Objekt  seines  Denkens  möchte  sich  verändern, 
(und  dadurch  sein  Erkennen  unwahr  werden),  weil  es  ja  möglich 
ist,  daß  jenes  bestimmte  Ding  zu  Grunde  geht  Diese  Besorg- 
nis besteht  nicht;  denn  solche  Individuen  (die  die  ganze  Fülle 
der  Art  in  sich  begreifen)  gehen  nicht  zu  Grunde.  Das  Objekt 
des  Erkennens,  das  nur  in  deskriptiver  Weise  wiedergegeben 
werden  kann  (also  die  materiellen  vergänglichen  Individuen) 
bieten  keine  Gewähr  für  ihr  Bestehen  und  dafür,  daß  die  Be- 
schreibung ihres  Wesens  immer 5)  auf  sie  anwendbar  ist  Manch- 
mal definiert  der  Geist  daher  eine  bestimmte  Zeit  ihres  Be- 
stehens, und  daher  ist  auch  diese  Art  der  Bezeichnung  und 
Wiedergabe  eines  Dinges  keine  eigentliche  Definition. 

*)  Wörtlich:  „Der  VerstÄnd  findet  in  ihm  kein  Stillestehen".  Der  Ver- 
stand „hält  ein",  d.  h.  ist  in  den  Besitz  seines  adäquaten  Objektes  gelangt, 
wenn  er  einen  universeUen  Begriff  erfaßt. 

>)  Wörtlich:  „Der  Verstand  hat  ein  Stillstehen  bei  demselben". 

')  Das  Objekt  des  Erkennens  ist  das  Ewige  und  UniverseUe. 


Digitized  by 


Googk 


359 

Daher  ist  es  klar,  daß  das  materielle  Individuum  (weil  es 
nicht  die  Eigenschaften  des  Wahren,  Dauernden  und  Ewigen 
hat,  die  der  Natur  der  Wahrheit  notwendig  anhaften  müssen) 
nicht  im  eigentlichen  Sinn  definiert  werden  kann.  Es  wird  nur 
definiert  durch  den  Namen  oder  einen  individuellen  Hinweis, 
oder  durch  eine  Beziehung  auf  ein  Bekanntes,  das  seinerseits 
auch  durch  einen  Namen  oder  ebenfalls  einen  Hinweis  bezeichnet 
wird.  Jede  Definition  ist  nun  aber  eine  geistige  Vorstellung, 
die  in  sich  wahr  ist,  indem  sie  von  dem  zu  definierenden  Gegen- 
stande und  dem  individuellen  Dinge  ausgesagt  werden  kann. 
Ein  Vergängliches  wird,  wenn  es  zu  Grunde  geht,  nicht  mehr 
durch  die  in  Frage  stehende  Definition  definiert  Dann  also  ist 
die  Definition,  die  von  ihm  ausgesagt  wird,  nur  für  eine  bestimmte 
Zeit  wahr;  für  andere  Zeiten  ist  sie  unwahr.  Die  Definition  wird 
demnach  in  der  Supposition  immer  von  dem  Individuum  ausgesagt; 
oder  man  müßte  annehmen,  daß  in  der  Geisterwelt,  abgesehen  von 
der  begrifflichen  Definition,  noch  ein  anderer  Hinweis  und  eine  an- 
dere Art  der  Wahrnehmung  hinzugefügt  werde,  damit  der  Gegen- 
stand durch  diesen  Hinweis  mit  seiner  Definition  definiert  würde.*) 
Da  dieses  sich  aber  nicht  so  verhält,  so  vermutet  man  und  denkt 
sich,  daß  dem  Gegenstande  die  Definition  schlechthin  zukommt 
Der  Gegenstand  aber,  der  im  eigentlichen  Sinne  definiert  werden 
kann,  enthält  seine  Definition  in  evidenter  Weise  (die  zugleich 
unvergänglich  und  universdl  ist).  Wer  daher  unternimmt  die 
vergänglichen  Dinge  zu  definieren  (der  gelangt  nicht  zu  seinem 
Ziel);  denn  dem  Gegenstande  der  Definition  haftet  die  Unbe- 
stän^keit  an. 


Zehntes  Kapitel. 

Die  Beziehung  der  Definition  zu  ihren  Teilen. 

Wir  lehren  daher:  häufig  finden  sich  in  den  Definitionen 
Teile,  die  die  Teile  des  Definierten  sind.  Wenn  wir  sagen,  Genus 


<)  Dami  könnte  die  Definition,  außer  betreffs  eines  vergänglichen  In- 
dividuums, ewig  wahr  sein,  selbst  nach  dem  Untergange  dieses  Einzeldinges. 
Ein  solcher  Hinweis  liegt  in  den  Ursachen  der  Dinge,  aus  denen  nach  Avicenna 
die  Gottheit  jedes  einzelne  der  zukünftigen  Individuen  vollständig  erkennt. 
Vgl.  Abb.  Vm,  6. 


Digitized  by 


Google 


360 

und  Differenz  bestehen  nicht  als  zwei  selbständige  Teile,  die 
der  Art  in  der  realen  Wirklichkeit  zukommen,  so  ist  dies  nicht 
gleichbedeutend  als  ob  wir  sagten,  die  Art  habe  überhaupt  keine 
Teile;  denn  die  Art  besitzt  manchmal  wirkliche  Teile,  und 
dieses  trifft  ein,  wenn  sie  zu  einer  der  beiden  Arten  der  Dinge 
gehört  Bei  den  Akzidenzien  trifft  dieses  ein,  wenn  die  Art 
eine  Quantität,  bei  den  Substanzen,  wenn  sie  eine  zusammen- 
gesetzte Substanz  ist.  Die  offenbare  Sachlage  weist  darauf 
hin,  daß  die  Teile  der  Definition  eher  sind,  als  das  Definierte. 
Jedoch  trifft  es  sich  manchmal,  daß  die  Sache  sich  in  einigen 
Materien  umgekehrt  verhält  Wenn  wir  z.  B.  einen  Kreisans- 
schnitt definieren  wollen,  so  definieren  wir  ihn  mit  dem  Kreise, 
und  wenn  wir  den  Finger  eines  Menschen  definieren  wollen,  so 
definieren  wir  ihn,  indem  wir  den  Begriff  Mensch  hinzunehmen. 
Ebenso  wenn  wir  einen  spitzen  Winkel,  nämlich  den  Teil  eines 
rechten  Winkels  definieren  wollen,  so  definieren  wir  ihn  mit 
dem  rechten  Winkel.  Wir  definieren  aber  durchaus  nicht  um- 
gekehrt den  rechten  Winkel  mit  dem  spitzen,  noch  den  Kreis 
mit  dem  Kreisausschnitt,  noch  den  Menschen  mit  dem  Finger. 

Wir  müssen  demnach  die  Ursache  dieser  Verhältnisse  be- 
stimmen und  lehren  daher:  alle  diese  Momente  (die  Teile  des 
konkreten  Gegenstandes)  sind  in  keiner  Weise  Teile  der  Art  in 
bezug  auf  ihre  Wesenheit  und  ihre  Wesensform.  Sodann  gehört 
es  nicht  zu  den  Bedingungen  des  Kreises,  daß  in  ihm  ein  Kreis- 
ausschnitt aktuell  existiere,  so  daß  dann  der  Kreis  und  die 
Wesensform  des  Kreises  zusammengesetzt  würde  aus  solchen 
Ausschnitten.  Es  ist  dies  keine  solche  Bedingung  für  den 
Kreis,  wie  es  für  ihn  in  der  Tat  eine  Bedingung  ist,  daß  er 
eine  Peripherie  habe.  Ebensowenig  ist  es  Bedingung  für  den 
Menschen  als  solchen  (abstrakt  genommen),  daß  er  aktuell  einen 
Finger  habe.  Ebensowenig  ist  es  femer  Bedingung  für  den 
rechten  Winkel,  daß  er  in  sich  einen  spitzen  Winkel  habe,  der 
Teil  von  ihm  seL  Denn  alle  diese  Momente  (die  eben  genannten 
Teile)  sind  nicht  Teile  des  Dinges  in  bezug  auf  seine  Wesenheit, 
sondern  sie  sind  Teile  desselben  in  bezug  auf  seine  Materie  und 
sein  Substrat  (also:  des  Individuums).  Dem  rechten  Winkel 
kommt  es  nur  in  akzidenteller  Weise  zu,  daß  sich  in  ihm 
ein  spitzer  Winkel  befindet  Dem  Kreise  kommt  es  daher  zu, 
daß  in  ihm  ein  Kreisausschnitt  ist,  weil  er  in  irgend  welcher 
Weise  vermöge  seiner  Materie  sich  passiv  verhält    Diese  „Pas- 


Digitized  by 


Googl( 


361 

sivität"  ist  nicht  so  beschaffen,  daß  von  ihr  die  Vollendung  der 
Materie  des  Kreises  durch  die  Wesensform  abhinge,  noch  auch 
die  Vollendung  der  Wesensform  in  sich  selbst  0 

Wisse  daher,  daß  die  (mathematische)  Fläche  eine  begriff- 
liche Materie  bildet  für  die  Wesensform  des  Kreises  (den  man 
sich  in  sie  eingezeichnet  denkt).  Auf  Grund  dieser  Fläche  be- 
sitzt der  Kreis  die  Teile.  Wenn  nun  von  diesen  Teilen  die 
Vollkommenheit  2)  seiner  Materie  abhinge,  dann  gehörten  dieselben 
zu  den  notwendigen  Akzidenzien  des  Kreises,  die  mit  dem  Dinge 
unzertrennlich  verbunden  sind.  Sie  würden  nicht  Bestandteile  3) 
desselben  bilden,  wie  es  früher  erklärt  wurde.  Die  Verhältnisse, 
mit  denen  wir  uns  hier  beschäftigen,  verhalten  sich  nicht  so. 
Der  Gegenstand  (der  Kreis)  kann  vielmehr  unter  Umständen 
ohne  dieselben  (die  erwähnten  Kreisausschnitte)  existieren.  Die 
Gegenstände,  die  sich  verhalten  wie  der  Finger  des  Menschen, 
verhalten  sich  in  folgender  Weise.  Der  Mensch  bedarf,  damit 
er  ein  animal  rationale  sei,  nicht  des  Fingers.  Derselbe  gehört 
vielmehr  zu  den  Teilen,  die  seiner  Materie  zukommen,  damit 
durch  diese  Teile  seine  Materie  vollendet  sei.  Die  Teile  kommen 
dem  Dinge  daher  auf  Grund  der  Materie  zu.  Die  Wesensform 
des  Dinges  bedarf  ihrer  nicht  notwendig.  Die  Teile  des  mate- 
riellen Dinges  sind  daher  nicht  Teile  der  Definition  in  irgend 
welcher  Weise.  Wenn  sie  Teile  der  Materie  sind  und  zugleich 
der  Materie  nicht  in  ihrer  allgemeinen  Bedeutung  als  Teile  zu- 
kommen, sondern  der  Materie  nur  zu  eigen  sind,  insofern  sie 
diese  eine  individuelle  Materie  ist  auf  Grund  dieser  indivi- 
duellen Wesensform,  dann  muß  in  der  Definition  der  Teile  diese 
bestimmte  Wesensform  und  diese  Art  vorhanden  sein.  Die  ge- 
nannten Teile  bestehen  femer  auch  mit  der  Materie  wie  z.  B.  der 
Finger  des  Menschen.  Er  ist  kein  Teil,  der  zu  dem  Körper  in 
seiner  allgemeinen  Bedeutung  (z.  B.  dem  Steine)  in  Beziehung 
stände.  Er  kommt  vielmehr  nur  dem  Körper  zu,  der  ein  animal 
oder  ein  Mensch  geworden  ist;  ebenso  liegt  das  Verhältnis  betreffs 
des  spitzen  Winkels  und  des  Kreisausschnittes.  Sie  sind  nicht 
Teile  der  Fläche,  wenn  sie  im  allgemeinen  Sinne  verstanden  wird, 

0  Der  Kreisausschnitt  ist  also  ein  zofäUiges  Akzidens  des  Kreises. 

^  VoUkommenheit,  ivtelixsict,  ist  gleichbedeutend  mit  Aktualität  und 
Wesenrform. 

•)  Bestandteile  des  Dinges  sind  die  Teile  der  Wesensform  oder  die 
Materie  8eU)8t.    Vgl.  Logik  L  Teil  1 13  und  14. 


Digitized  by 


Googk 


862 

sondern  einer  Fläche,  die  ein  rechter  Winkel  oder  ein  Kreis 
geworden  ist  Und  daher  ist  auch  die  Wesensfonn  dieser  uni- 
versellen Begriffe  (des  Kreises  und  des  rechten  Winkels)  in  den 
Definitionen  dieser  Teile  (des  spitzen  Winkels  und  des  Segmentes) 
enthalten. 

Nach  diesen  drei  Beispielen  sind  einige  Verschiedenheiten 
aufzustellen.  Der  Finger  des  Menschen  ist  ein  aktueller  Teil 
desselben.  Wird  der  Mensch  daher  definiert  oder  beschrieben, 
insofern  er  eine  vollkommene,  menschliche  Person  ist,  dann  ist 
es  erforderlich,  daß  der  Begriff  „Finger"  in  der  Beschreibung 
des  Menschen  enthalten  sei;  denn  er  ist  ein  wesentlicher  Teil 
desselben,  damit  der  Mensch  eine  Person  sei,  die  im  Vollbesitze 
ilirer  Akzidenzien  steht  Dieser  Teil  ist  aber  nicht  ein  wesent- 
licher Bestandteil  der  Natur  der  Art  des  Menschen.  Denn, 
wie  wir  häufig  aufgestellt  haben,  ist  dasjenige,  was  der  Person 
den  Bestand  verleiht  und  die  Vollendung  ihrer  Natur  gibt^  inso- 
feiTi  sie  ein  Individuum  ist,  verschieden  von  dem,  was  der 
Natur  der  Art  ihren  Bestand  verleiht  (Beide  sind  verschieden 
wie  das  Konkrete  und  Universelle.) 

Die  eben  genannte  Art  (des  Teiles)  ist  hergenommen  aus 
der  Summe  derjenigen  Dinge,  in  denen  der  Teil  aktuell  existiert. 
Die  beiden  anderen  Beispiele  (der  Kreisausschnitt  und  der  spitze 
Winkel)  verhalten  sich  so,  daß  der  Teil  in  ihnen  nicht  ein 
aktueller  Teil  ist  Es  ist  möglich,  daß,  wenn  der  Kreis  aktuell 
in  Kreisausschnitte  zerlegt  wird,  die  Einheit  seiner  Fläche 
zu  Grunde  geht  Er  hört  dann  auf,  ein  Kreis  zu  sein,  da  die 
Peripherie  nicht  mehr  eine  aktuell  einheitliche  Linie  darstellt 
Wahrlich  so  ist  es,  es  sei  denn,  daß  die  Teile  nur  in  der  Ein- 
bildung und  der  Supposition  des  Menschen,  nicht  aber  aktuell 
in  der  Wirklichkeit  und  durch  Ausführung  der  Teilung  existieren. 
Ebenso  liegt  das  Verhältnis  betreffs  des  rechten  Winkels. 

Der  rechte  Winkel  und  der  Kreis  sind  noch  in  einem  anderen 
Punkte  verschieden.  Der  Kreisausschnitt  kann  nur  von  einem 
Kreise  genommen  werden,  der  aktuell  existiert  Der  spitze  Winkel 
jedoch  setzt  nicht  als  notwendige  Bedingung  seiner  Existenz 
voraus,  daß  er  ein  Teil  eines  anderen  Winkels  seL  Derselbe 
ist  femer  nicht  nur  durch  sein  Verhältnis  zu  dem  stumpfen 
und  rechten  ein  spiteer.  Er  ist  vielmehr  ein  spitzer  Winkel 
in  sich  selbst  auf  Grund  der  Lage  einer  seiner  beiden  Seiten 
zur  anderen.    Jedoch  existiert  er  so,  daß  diese  Lage,  insofern 


Digitized  by 


Googk 


363 

sie  eine  bestimmte  Lage  ist,  in  Beziehung  (zu  einer  anderen) 
tritt;  denn  die  größere  oder  kleinere  Distanz')  zwischen  den 
Linien  oder  die  Entfernung  zwischen  ihnen  ist  ein  Ding,  mit 
dem  notwendigerweise  eine  Relation  verbunden  ist.  Diese  be- 
wirkt es  als  Akzidens,  daß  die  Erklärung  dieses  spitzen  Winkels 
sich  an  die  Relation  (zu  anderen  Winkeln)  halten  muß,  selbst 
dann,  wenn  die  Erklärung  auf  diese  Relation  nicht  in  aktueller 
Weise  hinweist,  weil  sie  eben  schwer  erkennbar  (und  definierbar) 
ist  Dieser  Hinweis  auf  die  Relation  ist  nur  der  Potenz  nach 
vorhanden,  indem  eine  andere,  beliebige  Relation  aktuell  in  der 
Darlegung  verwendet  wird. 

Weil  der  Winkel,  der  eine  Fläche  darstellt  (also  nicht  der 
sphärische  Winkel)  dadurch  entsteht,  daß  eine  Linie  auf  die 
andere  „gestellt"  wird,  so  ist  die  Entfernung  der  einen  Linie 
von  der  anderen  eine  Entfernung,  die  von  irgend  einem  mittleren 
Verhältnisse  (das  den  Maßstab  abgibt)  und  von  irgend  einer 
bestimmten  Seite  her  bestimmt  werden  muß.  Denn  wenn  wir 
die  Entfernung  (wörtlich:  die  Nähe)  einer  der  beiden  Linien 
von  der  anderen  im  allgemeinen  Sinne  nehmen  und  ebenso  ihre 
größere  oder  geringere  Annäherung  an  dieselbe,  ohne  daß  wir 
zugleich  die  Entfernung  derselben  von  einem  festen  Punkte 
weg  definieren,  so  entsteht  nur  eine  Entfernung,  die  ganz  un- 
bestimmt (wörtlich:  absolut)  bleibt  und  die  in  gleicher  Weise 
dem  spitzen,  dem  rechten  und  stumpfen  Winkel  zukommt;  denn 
die  Linien  auch  dieser  Winkel  besitzen  alle  eine  gewisse  Ent- 
fernung voneinander.  Betrachtet  man  die  Verbindung  zweier 
Linien  zu  einer  geraden,  so  wählt  man  einen  stumpfen  Winkel 
(um  die  gerade  Linie  herzustellen).  In  dem  stumpfen  Winkel 
ist  nun  aber  eine  gewisse  Neigung  (Annäherung)  der  einen  der 
beiden  Linien  zur  anderen  vorhanden.  Jedoch  ist  diese  Neigung 
und  Annäherung  im  allgemeinen  Sinne  zu  verstehen,  die  einem 
jeden  stumpfen  Winkel  zukommt  Daher  ist  es  notwendig,  daß 
diese  Entfernung  der  Linie  von  einem  gewissen  (feststehenden) 
Dinge  aus  bestimmt  werde.  Da  nun  dieses  Ding  eine  Linien- 
dimension darstellen  muß,  so  können  wir  uns  keine  (anderen) 
Linien  vorstellen,  von  denen  diese  Linie  (des  Winkels)  sich 
entfernt,  als  die  gerade  Linie,  die  die  zweite  berührt,  oder  die 
(mit  ihr)  einen  stumpfen  oder  einen  rechten  oder  einen  spitzen 


0  WörtUch:  „Das  Hinneigen  und  die  Nähe". 


Digitized  by 


Google 


364 

Winkel  bildet  (je  nach  der  Entfernung  von  dieser  Creraden,  die 
den  Maßstab  abgibt). 

Was  nun  die  Linie  angeht,  die  die  zweite  nicht  berührt, 
so  kann  durch  dieselbe  nichts  definiert  werden.  Daher  ist  die 
Betrachtung  der  Entfernung  einer  Linie  von  der  Geraden,  im 
allgemeinen  Sinne  des  Wortes  genommen  (einer  unbestimmten 
Geraden),  in  dieser  Frage  unrichtig.  Wenn  alle  Arten  des 
Winkels  durch  die  Entfernung  von  einer  unbestimmten  Geraden 
definiert  würden,  dann  wäre  der  stumpfe  und  rechte  Winkel 
auch  ein  spitzer  (denn  beide  können  von  dieser  Geraden  sich  in 
einem  spitzen  Winkel  entfernen). 

Ebenso  verhält  sich  die  Bestimmung  der  Entfernung  (der 
Linien)  in  Beziehung  zu  derjenigen  Linie,  die  einen  stumpfen 
Winkel  bildet  (nicht  eine  Gerade  ist);  denn  die  Entfernung 
einer  Linie  von  Linien,  die  einen  stumpfen  Winkel  bilden,  kann 
immer  noch  die  Stumpfheit  des  Winkels  belassen,*)  da  ja  ein 
stumpfer  Winkel  kleiner  sein  kann,  als  der  andere.  Ebenso 
ergibt  die  Bestimmung  des  spitzen  Winkels  (gemessen  an  einem 
spitzen  Winkel)  eventuell  diesen  spitzen  Winkel.  Der  spitze  Winkel 
darf  aber  nicht  durch  den  spitzen  Winkel  definiert  werden.') 
Nimmt  man  also  eine  Ungerade  (einen  stumpfen  oder  spitzen 
Winkel)  als  Maßstab  an,  dann  würde  man  ein  Unbekanntes 
durch  ein  anderes  Unbekanntes  definieren  (denn  der  Winkel,  den 
die  erste  Ungerade  bildet,  ist  nicht  definierbar,  da  kein  weiterer 
Maßstab  existiert).  So  bleibt  konsequenterweise  nur  die  eine 
Möglichkeit  übrig,  daß  man  die  Winkel  definiert  je  nach  ihrem 
Verhältnisse  zum  rechten  Winkel,  der  nicht  mehr  in  seiner 
Natur  bestehen  bleibt,  wenn  er  (einer  seiner  Schenkel)  sich  aus 
seiner  Lage  entfernt  (und  der  deshalb  eine  unumstößlich  feste 
Grenze  für  die  Bestimmung  der  Winkel  bilden  kann).  Es  ver- 
hält sich  demnach  so,  als  ob  wir  sagten:  der  spitze  Winkel  ist 
ein  solcher,  der  aus  zwei  Linien  entsteht,  von  denen  die  eine 
auf  der  anderen  senkrecht  stand.  Die  eine  neigte  sich  dann 
näher  (zu  dem  anderen  Schenkel)  hin,  als  wenn  sie  senkrecht 
bliebe,  so  daß  dann  also  ein  Winkel  entsteht,  der  kleiner  ist, 
als  der  rechte,  wenn  er  noch  existierte.    Damit  wollen  wir 


^)  Der  stampfe  Winkel  würde  durch  einen  anderen  stumpfen  Winkel 
definiert  werden. 

*)  Die  Definition  darf  nicht  das  definitnm  enthalten. 


Digitized  by 


Googl( 


865 

aber  nicht  sagen,  daß  der  (spitze)  Winkel  real  existierte  und  daß 
er  gemessen  würde  durch  einen  rechten  Winkel,  der  größer 
wäre,  als  ersterer.  Dann  wäre  die  Definition  unrichtig.  0  Sie 
wird  vielmehr  nur  gemessen  durch  einen  rechten  Winkel,  der 
diese  (angegebene)  Eigenschaft  besitzt  (daß  er  einen  festen 
Maßstab  darstellt)  und  diese  besagt,  daß  der  rechte  Winkel  nur 
der  Potenz  nach  existiere,  diese  Potenz  aber  sei  aktuell. 

Manchmal  jedoch  ist  auch  die  Potenz  wiederum  nur  in  der 
Potenz  vorhanden  und  diese  ist  die  potentia  remota,  die  von 
der  Aktualität  entfernt  ist  Sie  wird  dann  zunächst  in  der 
potentia  proxima  aktuell  So  ist  z.  B.  die  potentia  proxima  für 
das  Entstehen  des  Menschen  in  der  aufgenommenen  Nahrung 
ihrerseits  nur  der  Potenz^)  nach  enthalten.  Wird  diese  dann 
zum  Samen,  dann  wird  jene  potentia  proxima  real  und  aktuell, 
jedoch  ist  sie  noch  nicht  zur  Aktualität  der  Handlung  und  der 
Tatsache  geworden  (sondern  sie  bleibt  noch  Potenz),  Daher 
wird  also  der  spitze  Winkel  durch  den  rechten  definiert,  nicht 
etwa  aktuell  im  allgemeinen  Sinne  des  Wortes,  sondern  nur  der 
Potenz  nach  (indem  man  einen  rechten  Winkel  supponiert).  Der 
spitze  Winkel  wird  also  nicht  durch  einen  anderen  (wörtlich: 
ähnlichen)  spitzen  Winkel  definiert,  noch  auch  durch  etwas,  das 
keine  Aktualität  (als  Potenz)  besäße.  Denn  dasjenige,  wodurch 
derselbe  definiert  wird,  ist  der  in  der  Potenz  existierende  rechte 
Winkel.  Dieser  aber  (der  rechte  Winkel)  als  solcher  (d.  h.  als 
gedachter  Maßstab)  ist  für  den  spitzen  kein  aktuelles  Wirkliches.») 
(Auch  ohne  daß  sie  zur  Tat  wird,  ist  jedoch  die  Potenz  als 
solche  eine  Realität) 

Du  hast  also  dementsprechend  den  spitzen,  stumpfen  und 
rechten  Winkel  definiert.  Der  rechte  Winkel  wird  in  seinem 
realen  Wesen  bestimmt  durch  den  Begriff  der  Gleichheit,  Ähn- 
lichkeit und  Einheit  Die  beiden  anderen  Winkel  werden  da- 
durch bestimmt,  daß  sie  sich  entfernen  von  der  Gleichheit  Der 
rechte  Winkel  aber  ist  in  sich  selbst  (per  se)  vollständig  be- 
stimmt (sonst  würde  ein  circulus  vitiosus  in  der  Definition  auf- 
treten, wenn  er  wiederum  durch  den  spitzen  oder  stumpfen  er- 
klärt würde). 

>)  Denn  ihr  entspricht  kein  reales  Korrelat  in  der  Außenwelt. 
•)  Sie  ist  also  potentia  remota  (semen  est  residuum  nntrimenti). 
')  Ck>dd.  a,  b,  d:  Dieser  rechte  Winkel  besitzt  aber,  insofern  er  sich  so 
verhält  (d*  h.  Maßstab  ist),  keine  Aktnalit&t. 


Digitized  by 


Google 


366 

Sonach  können  wir  sagen:  der  spitze  Winkel  ist  der  kleinere 
von  zwei  verschiedenen  Winkeln,  die  aus  zwei  Linien  entstehen, 
die  aufeinander  senkrecht  gefällt  sind.  Der  stumpfe  Winkel 
dagegen  ist  der  größere  dieser  beiden.  Stellt  man  daher  das 
wirkliche  Wesen  dieser  beiden  Begriffe  fest,  so  weist  man  hin 
auf  den  rechten  Winkel  (Diese  Methode  ist  die  angebrachte), 
weil  das  Größere  das  Muster  abgeben  muß  und  ein  Mehr  ent- 
hält, das  Kleinere  aber  von  diesem  sich  abzweigt.  Daher  muß 
durch  das  Maß  (das  Muster)  der  Begriff  des  Kleinen  und  Großen 
bestimmt  werden.  Ebenso  wird  durch  das  Eine  und  Homogene 
das,  was  in  sich  eine  Vielheit  und  eine  Ungleichheit  und  Ver- 
schiedenheit enthält,  bestimmt  In  dieser  Weise  haben  wir  uns 
die  Verhältnisse  betreffs  der  Teile  der  definierten  G^enstände 
vorzustellen  (insofern  sie  den  Teilen  der  Definition  entsprechen 
oder  nicht).  Dabei  müssen  wir  noch  dessen  gedenken,  was  wir 
früher  erwähnten,  betreffs  der  Teile  der  Materie  und  ihrer 
Begleiterscheinungen  (der  materiellen  Akzidenzien). 


Digitized  by 


Google 


Sechste  Abhandlung. 

Erstes  Kapitel. 

Die  Arten  der  Ursachen  und  ihre  Verhältnisse. 

Wir  haben  bereits  gesprochen  über  die  Substanzen  (Zweite 
Abhandlung)  und  Akzidenzien  (Dritte  Abhandlung)  und  über  den 
Begriff  des  Früher  und  Später  in  beiden  (Vierte  Abhandlung), 
über  die  Kenntnis  der  Kongruenz  der  Definitionen  mit  den  de- 
finierten Gegenständen  (Fünfte  Abhandlung),  den  universellen 
wie  auch  den  individuellen.  Daher  ist  es  nun  erforderlich,  daß 
wir  über  die  Ursache  und  Wirkung  verhandeln.  Auch  diese 
beiden  gehören  zu  den  Akzidenzien,  die  dem  Seienden  als  solchem 
anhaften.  >) 

Daher  lehren  wir:  die  Ursachen  sind,  wie  bereits  früher*) 
dargelegt  wurde,  Wesensform,  Element  (Materie),  Wirkursache  und 
Zweck.  Wir  lehren  also  folgendes:  unter  formeller  Ursache  ver- 
stehen wir  die  Ursache,  die  Teil  des  Bestandes  des  Dinges  ist, 
durch  die  ein  Ding  aktuell  das  wird,  was  es  ist  (dies  ist  zu- 
gleich die  Definition  des  Dinges).  Unter  Element  verstehen 
wir  die  Ursache,  die  Teil  des  Bestandes  eines  Dinges  ist,  durch 
die  ein  Ding  das  ist,  was  es  ist,  jedoch  der  Potenz  nach,  und 
in  der  die  Möglichkeit  für  die  Existenz  des  Dinges  fundiert  ist 
Unter  wirkender  Ursache  verstehen  wir  die  Ursache,  die  eine 
Existenzart  verleiht,  die  sich  abtrennt  von  dem  Wesen  der 
Wirkursache,  d.  h.  das  Wesen  dieser  Ursache  ist  nicht  in  erster 

0  Deshalb  f&Ut  ihre  Betrachtung  in  den  Bereich  der  Metaphysik,  die 
das  Seiende  als  solches  betrachtet.  Die  Ursachen  sind  aber  unter  das  ens 
in  qnantnm  est  ens  zn  rechnen,  weil  sie  nicht  einer  bestimmten  Kategorie  des 
Seienden,  z.B.  dem  ens  mobile,  dem  Objekt  der  Naturwissenschaften,  ans- 
Bchliefllich  zukommen,  noch  auch  einer  bestimmten  Kategorie. 

*)  Cod.  c  Gl.:  „in  den  Naturwissenschaften",  I.  Teil  I,  9—11. 


Digitized  by 


Googk 


368 

Linie  ^)  ein  aufnehmendes  Prinzip  für  das,  was  von  ihr  die 
Existenz  eines  Dinges  entnimmt,  das  durch  dieselbe  begrifflich 
gefaßt  würde,')  so  daß  sie  also  in  sich  eine  Potenz  (zum  Wirken), 
einen  Zustand  (der  Aktualität)  und  einen  inneren  Reichtum  nur 
als  Akzidens  enthielte.  Trotzdem  muß  diese  Existenz  (die  Wirk- 
ursache) sich  nicht  so  verhalten,  daß  ihretwegen  die  Handlung 
geschieht,  insofern  sie  eine  causa  efficiens  ist^)  (sonst  wäre  sie 
Zweckursache).  Die  Sachlage  muß  vielmehr  eine  solche  sein, 
daß  diese  Ursache,  wenn  sie  nun  einmal  zugleich  Zweckursache 
sein  muß,  dieses  unter  einer  anderen  formellen  Hinsicht  ist 
Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  die  Metaphysiker  unter  Wirk- 
ursache nicht  das  Prinzip  der  Bewegung  allein  verstehen,  wie 
es  die  Naturwissenschaftler  festsetzen,  sondern  vielmehr  das 
Prinzip  der  Existenz  und  das  Prinzip,  das  die  Existenz  ver- 
leiht, wie  z.B.  den  Schöpfer  des  Weltalls.  Die  Wirkursache  im 
Bereiche  der  Natur  (also  für  die  naturwissenschaftliche  Be- 
trachtung) ^verleiht  nicht  die  Existenz,  sondern  nur  die 
Bewegung  nach  einer  der  Arten  der  Bewegungen.  Daher  ist  also 
dasjenige  Prinzip,  das  im  Bereiche  der  Naturdinge  „das  Sein" 


*)  Wörtlich:  „in  erster  Absicht".  Die  Wirkursache  strebt  nach  der 
Zwecknrsache  hin. 

^  Durch  das,  was  die  Wirkung  aus  der  Wirkursache  entnimmt,  wird 
sie  erkannt.  Es  ist  ihre  Form.  Daher  liest  Cod.  a:  „durch  das  Entnommene". 
Der  Satz  ist  eine  Demonstratio  ex  absurdo.  Nach  ihm  wäre  das  aufnehmende 
Prinzip  identisch  mit  dem  formeUen. 

•)  VgL  Arist.,  Phys.  198  a  16:  rj  yoQ  elq  to  xL  ioxiv  avayBxai  to  Sia 
xi  eoxaxov  iv  zoTg  ixiVTitoiq,  olov  iv  xolq  fiad^ijfiaaiv,  §  slq  xo  xivijaav  nQÖ^ 
xov,  olov  öia  xi  inoXifirjaav ;  8xi  iovXrjoav,  ^  xlvoq  Evexa;  «v  Rq^wolv'  ^ 
^v  xolq  yivofjUvoig  ^  Ski],  8ti  fikv  ovv  xa  aXxia  xafrra  xal  xoaaina,  ipavsQOVf 
und  194  b  23 — 195  a 3,  wo  unterschieden  werden:  1)  rj  iXri  xal  xo  inoxsifievov^ 
iS  ov  viyvsxai;  2)  xo  eUog,  xi  ioxt,  j}  ovaia  xal  xo  xi  tjv  sivai;  3)  to  xivoih^^ 
od-ev  fj  xivtjaiq;  4)  xo  xiXog,  xo  ov  evexa  xal  xaya^ov  et  passim.  VgL  Thomas, 
Sum.  th.  n — ^n  27,3  c:  Est  autem  quadrupler  genus  causae,  sdlicet  finalis, 
formalis,  efficiens  et  matenalis,  ad  quam  reducitur  etiam  materialis  dispositio, 
quae  non  est  causa  simpliciter,  sed  secundum  quid,  et  secundum  haec  quatuor 
genera  causarum  dicitur  aliquid  „propter  alterum"  düigendum.  Secundum 
quidem  genus  causae  finalis,  sicut  diligimus  medicinam  propter  sanitatem; 
secundum  autem  genus  causae  formalis,  sicut  diligimus  hominem  propter  vir- 
tutem,  quia  sdlicet  yirtute  formaliter  est  bonus  et  per  consequens  diligibilis; 
secundum  autem  causam  efficientem,  sicut  diligimus  aliquos,  inquantum  sunt 
filii  talis  patris;  secundum  autem  dispositionem,  quae  reducitur  ad  genus 
causae  materialis,  dicimur  aliquid  diligere  propter  id  quod  nos  disposuit  ad 
eins  dilectionem,  puta  propter  aliqua  benefida  suscepta. 


Digitized  by 


Googk 


369 

mitteilt,  Prinzip  der  Bewegung  (denn  das  „Sein",  das  die  Natur- 
wissenschaften betrachten,  ist  das  ens  „mobile").*)  Unter  Zweck- 
ursache verstehen  wir  die  Ursache,  wegen  der  die  Existenz 
eines  Dinges  wirklich  wird,  das  jedoch  von  dieser  Ursache  ver- 
schieden ist.  Nun  ist  also  klar,  daß  keine  Ursache  außer  diesen 
aufgezählten  Ursachen  existiert  (wie  im  folgenden  bewiesen  wird). 
Wir  lehren  demnach:  die  Ursache  irgend  eines  Dinges 
muß  entweder  in  den  Bestand  des  Dinges  selbst  eintreten  und 
ein  Teil  seiner  Existenz  sein  (Form  und  Materie)  oder  nicht 
(Wirk-  und  Zweckursache).  Wenn  sie  nun  ein  innerer  Bestand- 
teil des  Dinges  und  ein  Teil  seines  Daseins  ist,  dann  ist  die 
Ursache  entweder  der  Teil,  aus  dessen  Existenz  allein  sich 
noch  nicht  für  das  Ding  ergibt,  daß  es  in  Wirklichkeit  exi- 
stiert. Es  ergibt  sich  aus  der  Existenz  dieser  Ursache  vielmehr 
nur,  daß  das  Ding  der  Möglichkeit  nach  ist.  Diese  Ursache 
wird  erste  Materie  genannt.  Oder  die  Ursache  eines  Dinges 
(die  innerer  Bestandteil  ist)  verhält  sich  so,  daß  sie  der  Teil 
des  Dinges  ist,  aus  dessen  Existenz  sich  aktuell  das  Werden 
des  Dinges  selbst  ergibt,  und  dieses  ist  die  Wesensform.  Die 
Ursache  eines  Dinges  kann  femer  sich  so  verhalten,  daß  sie 
kein  Teil  der  Existenz  des  Gegenstandes  ist,  und  dann  verhält 
sie  sich  entweder  so  wie  dasjenige,  für  welches  ein  Ding  existiert 
(causa  finalis)  oder  nicht  (causa  efficiens).  Verhält  sie  sich  nun 
so  wie  dasjenige,  für  welches  ein  Ding  existiert,  so  ist  sie  der 
Zweck  desselben.  Verhält  sie  sich  aber  nicht  wie  der  Zweck, 
dann  muß  die  Existenz  des  Dinges  sich  aus  dieser  Ursache  in 
der  Weise  ergeben,  daß  diese  Ursache  nicht  in  dem  Dinge  vor- 
handen ist,  2)  es  sei  denn  nach  Art  eines  Akzidens,  und  dieses 
ist  die  Wirkursache  (die  mit  dem  Gegenstande  durch  ihr  Wirken, 
also  durch  ein  Akzidens  verbunden  ist;  beide  sind  dem  Wesen 
nach  verschieden),  oder  sie  verhält  sich  so,  daß  die  Existenz 
des  Dinges  sich  aus  dieser  Ursache  in  der  Weise  ergibt,  daß 
die  Wirkung  innerhalb  dieser  Ursache  existiert*,  und  dieses  ist 
auch»)  das  Element  oder  das  Substrat*)  des  Dinges. 


*)  Für  den  Naturwissenschaftier  ist  also  die  Wirkursache  nur  bewegende 
Ursache. 

')  Sonst  wäre  sie  entweder  causa  formalis  oder  materialis. 

^  Als  causa  materialis  wurde  bereits  ein  anderes  Element  angegeben. 

*)  Vgl.  dazu  Abb.  ü^  1  (Unterschied  von  primaerem  und  secundaerem 
Substrate)  und  Arist.  d.  coelo  270  a  15:  ...  diä  x6  ylyveod^ai  pihv  Snav  to  yiy* 
Horten,  Dm  Buch  der  Genofonf  d«r  Seelü.  24 


Digitized  by 


Google 


370 

Daher  sind  also  die  ersten  Prinzipien  in  ihrer  Summe  von 
einer  Seite  betrachtet  fünf  an  der  Zahl,  von  einer  anderen 
Seite  betrachtet  vier.  Denn  wenn  du  das  Element,  das  auf- 
nahmefähig ist  (für  die  Wesensform)  in  Eücksicht  ziehst  —  es 
ist  (in  dieser  Auffassungsweise)  kein  Teil  des  Dinges,  der  ver- 
schieden wäre  von  dem  Elemente,  welches  (zusammensetzender) 
Teil  ist*)  —  dann  sind  der  Ursachen  fünf.  Nimmt  man  aber 
beide  (erste  Materie  und  Element),  wie  ein  einziges  Ding  auf 
Grund  dessen,  daß  sie  beide  in  dem  Begriffe  der  Potenz  und  des 
Disponiertseins  übereinstimmen,  dann  sind  der  Ursachen  vier. 
Das  Element  darf  man  nicht  nehmen  in  dem  Sinne  des  Auf- 
nahmefähigen (der  Materie),  welches  zugleich  Teil  der  Ursache 
für  die  Wesensform  ist;  sondern  man  muß  es  nehmen  als  Teil 
des  zusammengesetzten  Körpers.  Das  aufnahmefähige  Prinzip 
wird  nur  akzidentell  zu  einem  ersten  Prinzip  für  das  Werden; 
denn  das  Ding  hat  in  erster  Linie  sein  Bestehen  durch  die 
Wesensform,  durch  die  es  aktuell  wird.  Sein  Wesen  ist  aber, 
wenn  man  es  nur  in  sich  betrachtet,  nur  der  Möglichkeit  nach. 
Dasjenige  Ding  aber,  welches  (nur)  in  der  Potenz  existiert,  kann 
als  potentielles  Sein  in  keiner  Weise  erstes  Prinzip  werden. 
Es  ist  nur  für  das  Akzidens  erstes  Prinzip;  denn  das  Akzidens 
bedarf  des  Substrates,  in  dem  es  ist,  und  zwar  des  Substrates, 
das  bereits  aktuell  existiert  Dann  erst  (nachdem  diese  Be- 
dingung erfüllt  ist),  wird  es  Ursache  für  den  Bestand  eines 
Dinges,  sei  es  nun,  daß  dieses  Akzidens  ein  notwendig  anhaften- 
des ist  —  dann  ist  das  Substrat  früher  als  das  ihm  Anhaftende 
nur  der  logischen  Ordnung  und  dem  Wesen  nach  —  oder  ein 
hinzukommendes.  Dann  findet  dieses  Frühersein  dem  Wesen  und 
zugleich  auch  der  Zeit  nach  statt  (indem  das  Substrat  sogar  der 
Zeit  nach  dem  äußeren  und  zufälligeren  Akzidens  vorausgeht). 

Dieses  sind  also  die  Arten  der  Ursachen.  Ist  nun  das 
Substrat  Ursache  für  ein  Akzidens,  dem  das  Substrat  den  Be- 
stand verleiht,  dann  ist  diese  Funktion  der  Ursache  des  Sub- 
strates nicht  in  der  Weise  zu  verstehen,  wie  das  Substrat 
Ursache  ist  für  den  zusammengesetzten  Körper,*)   sondern  in 

vofisvov  iS  havxlov  re  xal  vnoxeifiivov  xivog,  xal  (p^ÜQsa^at  waavtwg, 
vnoxBifdvov  ri  rivoq  xal  im  havzLov  xal  elq  ivavtiov. 

^)  Teil  des  Dinges  ist  auch  die  Form  und  die  Materie. 

*)  Der  Unterschied  liegt  darin,  dafl  die  Wesensfonn  nicht  Akzidens 
ihres  Substrates  ist. 


Digitized  by 


Googl( 


371 

einer  anderen  ArtJ)  Ist  nun  die  Wesensform  eine  Ursache  für 
die  Materie,  die  durch  die  Wesensform  ihren  Bestand  erhält, 
dann  verhält  sie  sich  nicht  nach  Art  derjenigen  Wesensform, 
die  Ursache  für  den  zusammengesetzten  Körper  ist  Wenn  nun 
beide  Arten  des  ursächlichen  Wirkens  (das  Substrat*)  als  Ursache 
des  Akzidens  und  die  Materie  als  Ursache  der  Form)  darin 
&bereinstimmen,  daß  jede  von  ihnen  Ursache  für  ein  Ding  ist, 
das  sich  in  seinem  Wesen  (seinem  Selbst)  nicht  von  der  Ursache 
unterscheidet  (so  daß  also  die  Wirkung  einen  Teil  der  Ursache 
bildet),  so  sind  beide  dennoch  verschieden.  Denn  beide,  selbst 
wenn  sie  darin  übereinstimmen,  verhalten  sich  so,  daß  in  einem 
der  beiden  Verhältnisse  die  Ursache  nicht  dem  anderen  Teile 
sein  Dasein  verleiht.^)  Das  Dasein  verleiht  dem  (verursachten) 
Dinge  vielmehr  eine  andere  Kraft  (wörtlich :  „Ding",  die  Wirk- 
ursache). Jedoch  befindet  sich  die  Wirkung  (das  Akzidens)  in 
dem  Dinge  selbst.  Das  zweite*)  (das  Substrat)  aber  ist  dadurch, 
daß  die  Ursache  in  ihm  vorhanden  ist,  das  nächste  Prinzip 
dafür,  daß  die  Wirkung  von  der  Ursache  ihre  Existenz  erhält. 
Jedoch  wirkt  diese  Ursache  nicht  für  sich  allein  genommen.  Sie 
tritt  vielmehr  mit  einem  anderen,  einer  zweiten  Ursache,  in  Ver- 
bindung und  diese  zweite  Ursache  bringt  die  erste  hervor,  d.  h. 
sie  bringt  die  Wesensform  hervor  und  verleiht  dem  anderen, 
der  Materie,  durch  dieses  (d.  h.  durch  Vermittelung  der  Wesens- 
formen 5)  den  Bestand.  Daher  ist  sie  (die  Wesensform)  eine 
vermittelnde  Ursache,  die  sich  verbindet  mit  einem  anderen,  um 
der  Wirkung  die  Existenz  aktuell  mitzuteilen.  Die  Wesensform 


^)  Im  folgenden  wül  Avicenna  die  Annahme  eines  Substrates  als  be« 
sonderer  Art  der  Ursachen  gegenüber  der  Form  und  der  Materie  rechtfertigen, 
zugleich  den  Unterschied  zwischen  Wesensform  und  Materie  hervorheben  und 
drittens  die  Notwendigkeit  und  das  Verhältnis  der  Wirkursache  zur  Form 
und  Materie  darlegen. 

')  Dem  (realen)  Substrate  entspricht  als  „Form^  das  Akzidens,  der  ersten 
Materie  als  causa  formalis  die  Wesensform.  Das  „Zusammengesetzte*'  bezeichnet 
sowohl  die  Substanz  in  Vereinigung  mit  dem  Akzidens  als  auch  die  Materie, 
verbunden  mit  der  Wesensform. 

*)  Das  Substrat  verleiht  seiner  „Wirkung",  dem  Akzidens,  nicht  die  reale 
Existenz,  sondern  nur  das  inhaerere  in  substrato  et  subsistere  per  substratum. 

*)  Dadurch,  dafl  die  Wesensform  in  dem  Substrate  vorhanden  ist,  kann 
letzteres  das  Akzidens  hervorbringen. 

*)  CJod.  a,  b,  d:  „Daher  verleiht  das  Substrat  dem  anderen  (der  Wirkung) 
durch  Vermittelung  jener  zweiten  Ursache  das  Bestehen." 

24* 


Digitized  by 


Googk 


372 

verhält  sich  deshalb  zur  Materie,  wie  ein  aktives  Prinzip.  Be- 
stände dieses  aktuell,  dann  müßte  von  ihm  allein  die  Wirkung 
ausgehen«  Die  Wesensform  kann  auch  (in  einem  anderen  Falle) 
Teil  der  Wirkursache  sein.  So  verhält  sich  z.  B.  das  eine  von 
zwei  bewegenden  Prinzipien  für  das  fahrende  Schiff,  wie  wir 
später  auseinandersetzen  werden.  Die  Wesensform  ist  nur  für 
den  zusammengesetzten  Körper  Ursache  nach  Art  der  Wesens- 
form, indem  das  Zusammengesetzte  aus  ihr  zugleich  mit  der 
Materie  besteht.  Daher  ist  die  Wesensform  nur  für  die  Materie 
Wesensform.  Jedoch  ist  sie  für  die  Materie  keine  Wesensform, 
die  der  Materie  selbst  ihre  Wesenheit  verleiht 

Die  Wirkursache  verleiht  einem  anderen  Dinge  eine  Art 
der  Existenz,  die  diesem  anderen  nicht  aus  sich  heraus  zukommt. 
Jene  Existenz  geht  von  diesem  Prinzipe,  das  Wirkursache  ist, 
in  der  Weise  hervor,  daß  das  Wesen  dieser  Wirkursache  nicht 
zugleich  aufnahmefähig  ist  für  die  Wesensform  jener  Existenz- 
art (die  die  Wirkursache  der  Wirkung  mitteilt)  noch  auch  so, 
daß  die  Wirkursache  sich  mit  der  Wirkung  wie  ein  Bestandteil 
derselben  verbände.  0     Vielmehr  verhält  es  sich  so,  daß  jedes 
dieser  beiden  Prinzipien,  (die  Wirkung  und  die  Wirkursache), 
von  dem  anderen  verschieden  ist   In  keinem  von  beiden  besteht 
die  Möglichkeit,  das  andere  (als  Teil)  in  sich  aufzunehmen.    Es 
ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  Wirkursache  die  Wirkung  her- 
vorbringt dort,  wo  die  Ursache  ist  und  indem  sie  mit  dem 
Wesen  der  Wirkung  in  Kontakt  tritt    So  ist  z.  B.  die  Natur- 
kraft, die  sich  im  Holze  zeigt,  wirkendes  Prinzip  für  die  Be- 
wegung; denn  die  Bewegung  wird  in  der  Materie,  die  Sitz  der 
Naturkraft  ist,  hervorgerufen  und  zwar  dort,  wo  das  Wesen  des 
Holzes  ist   Beide  verbinden  sich  jedoch  nicht  in  der  Weise,  daß 
das  eine  ein  Teil  der  Existenz  des  anderen  oder  seine  Materie 
wäre;    sondern  beide  Prinzipien    sind    im   Holze    voneinander 
getrennt  und  sie  bilden  zusammen  das  wirkende  Prinzip  für 
die  Bewegung. 2)     Wirkursache  ist  nur  das,  was  zu  einer  be- 
stimmten Zeit  sich  nicht  als  Wirkursache  betätigt,  wie  es  der 
Zufall  bringt,  und  deren  Objekt  dann  nicht  ihre  Wirkung  ist 


1)  Dadurch  unterscheidet  sie  sich  von  Materie  und  Form. 

')  Andere  Handschriften  lesen  „Beide  Prinzipien  sind  voneinander 
getrennt  in  den  Wesenheiten  der  Dinge.  Beide  haben  jedoch  ein  gemeinsames 
Substrat.^    Cod.  c  GL:  „n&mlich  den  Körper^. 


Digitized  by 


Googl( 


373 

Ihre  Wirkung  ist  vielmehr  dann  nicht  existierend.  Dem  wirkenden 
Prinzipe  treten  dann  die  Ursachen  zur  Seite,  durch  die  dasselbe 
aktuell  wirkend  wird,  wie  wir  es  früher  >)  auseinandergesetzt  haben. 
Dann  also  wird  die  Wirkursache  wirkend,  und  aus  ihr  geht  die 
Existenz  eines  Dinges  hervor,  nachdem  es  früher  nicht  existierte. 
Dieses  Ding  erhält  also  eine  Existenz.  Femer  ist  ihm  der  Um- 
stand eigen,  daß  es  früher  nicht  existierte.  Durch  die  Wirk- 
iirsache  kommt  nun  dem  Dinge  nicht  die  Bestimmung  zu,  daß  es 
früher  nicht  existierte,  noch  auch  die  andere  Bestimmung,  daß  es 
entstanden  ist,  „nachdem  es  nicht  war".  Von  der  Wirkursache 
kommt  dem  Dinge  vielmehr  ausschließlich  seine  Existenz  zu. 
Wenn  daher  dem  Dinge  aus  seinem  eigenen  Wesen  das  Nicht- 
existieren  zukommt,  dann  muß  also  seine  Existenz  ihm  zu  Teil 
werden,  nachdem  es  früher  nicht  vorhanden  war  und  dann  ein 
Werdendes  wurde,  nachdem  es  dieses  früher  nicht  war.  Dasjenige 
also,  das  dem  Gegenstande  per  se  von  der  Wirkursache  zukommt, 
ist  die  Existenz.  Die  Existenz  aber,  die  dem  Dinge  mitgeteilt 
wird,  tritt  nur  aus  dem  Grunde  auf,  weil  das  eine  (die  Ursache) 
sich  in  dem  Besitze  einer  Seinsfülle  befindet,  aus  der  sich  not- 
wendig ergibt,  daß  es  einem  anderen  Dinge,  das  sich  außerhalb 
seines  Wesens  befindet,  die  Existenz  von  seiner  eigenen  Existenz 
mitteilt    Die  eigene  Existenz  besitzt  es  aus  sich  selbst. 

Der  Umstand  nun,  daß  das  Ding  früher  nicht  existierte, 
stammt  also  nicht  von  einer  Wirkursache  her;  denn  der  Um- 
stand, daß  das  Ding  nicht  existiert,  wird  zurückgeführt  auf  eine 
Ursache,  die  gleichbedeutend  ist  mit  der  Nichtexistenz  seiner 
Ursache.  Daher  ist  also  der  Umstand,  daß  seine  Existenz  auf 
das  Nichtsein  folgt,  nicht  Wirkung  irgend  einer  positiven  Ur- 
sache. Denn  es  ist  in  keiner  Weise  anders  möglich,  als  daß 
die  Existenz  des  Dinges  auf  das  Nichtsein  folge.  Dasjenige,  was 
aber  nicht  möglich  ist,  erfordert  keine  Ursache^)  (daiür,  daß  es 
unmöglich  ist).  Freilich  ist  es  richtig,  zu  sagen,  daß  die  Exi- 
stenz des  Dinges  „sein"  oder  „nicht  sein"  kann,  und  daher  muß 
für  seine  tatsächliche  Existenz  eine  Ursache  existieren,  die  manch- 
mal wirklich  vorhanden  ist;  denn  die  Existenz  der  Ursache 
eines  Dinges  oder  ihre  Nichtexistenz  ist  manchmal  vorhanden 
und  manchmal  nicht.    Auch  für  ihre  Nichtexistenz  kann  deshalb 


»)  Natnrw.  I,  Teü  1, 6—12. 

')  Es  hat  das  Nichtsein  ans  sich  selbst. 


Digitized  by 


Google 


874 

eine  Ursache  existieren.  Der  Umstand  aber,  daß  das  Dasein 
des  Dinges  wirklich  wird,  nachdem  es  vorher  nicht  war,  erfordert 
keine  besondere  Ursache. 

Dagegen  könnte  jemand  den  Einwand  erheben:  in  dieser 
Weise  kann  man  sagen,  die  Existenz,  die  anf  das  Nichtsein 
folgt,  kann  entweder  sein  oder  auch  nicht  sein  (und  daher  setzt  sie 
für  jede  der  beiden  Möglichkeiten  eine  Ursache  voraus).  Darauf  ant- 
worten wir:  versteht  man  unter  dem  Ausdrucke  „die  Existenz  des 
Gegenstandes"  seine  Existenz,  insofern  sie  positiv  ist,  dann  hat  das 
Nichtsein  keinen  Teil  an  ihr;  denn  das  Dasein  des  Dinges  selbst 
ist  nicht  absolut  notwendig,  d.  h.  es  ist  möglich.')  Das  Dasein  des 
Dinges  ist  aber  nicht  aus  dem  Grunde  nur  möglich,  weil  es  auf 
das  Nichtsein  folgt.  Vielmehr  ist  der  Gegenstand,  der  nicht  unbe- 
dingt notwendig  ist,  in  seiner  individuellen  Existenz  das  be- 
stimmte Ding,  das  jetzt  wirklich  geworden  ist,  früher  aber  nicht 
existierte.  Verstehen  wir  aber  unter  Existenz  des  Gegenstandes 
eine  Existenz,  die  auf  das  Nichtsein  folgt,  so  betrachten  wir 
das  Sein  des  Gegenstandes,  insofern  es  später  ist,  als  das  Nicht- 
sein, nicht  das  Sein  desselben,  insofern  es  einfach  existiert,  wenn 
diese  Existenz  auch  später  ist,  als  das  Nichtsein  und  später  zur 
Wirklichkeit  gelangte.  Diese  letztere  Sachlage  setzt  nun  keine 
Ursache  voraus  und  daher  bedarf  der  Umstand,  daß  ein  Ding 
seine  Existenz  später,  als  das  Nichtsein  erhält^  keiner  besonderen 
Ursache,  selbst  wenn  eine  Ursache  für  die  positive  Existenz 
dieses  Dinges  vorhanden  ist,  die  nach  dem  Nichtsein  eintrat 
Daher  ist  es  richtig,  daß  die  Existenz  des  Dinges  sowohl  sein 
als  auch  nicht  sein  kann  nach  dem  tatsächlichen  Nichtsein. 
Jedoch  ist  es  nicht  richtig,  daß  die  Existenz  des  Dinges  auf 
das  Nichtsein  folgt,  insofern  das  Ding  wirklich  existiert  nach 
dem  Nichtsein  und  insofern  es  möglich  ist,  daß  es  später  als 
das  non  esse  existiert  oder  überhaupt  nicht.  Die  dargelegte 
Betrachtung  stützt  sich  also  auf  den  Begriff  der  Existenz. 

Manchmal  denkt  man,  die  Wirkursache  und  die  Ursache 
im  allgemeinen  sind  nur  dazu  erforderlich,  damit  das  Ding  die 
Existenz  erhalte,  nachdem  es  vordem  nicht  war.  Wenn  daher 
der  Gegenstand  existiert  und  wenn  dann  die  Ursache  in  das 
Nichtsein  zurücksinkt,  so  existiert  das  Ding  in  sich  selbst  und 


>)  Insofern  es  mdglich  ist,  hat  es  die  Ursache  seiner  Existenz  nicht  in 
sich  selbst,  sondern  mnß  yerursacht  sein. 


Digitized  by 


Googl( 


375 

kann  einer  Ursache  (für  die  Erhaltung  der  Existenz)  entbehren. 
Jemand  stellte  die  Ansicht  auf,  daß  ein  Ding  nur  auf  Grund 
des  zeitlichen  Entstehens  einer  Ursache  bedürfe.  Ist  es  aber 
entstanden  und  besteht  es  in  der  Außenwelt,  dann  bedarf  es 
keiner  weiteren  Ursache.  Für  denjenigen,  der  diese  Behauptung 
aufstellt,  sind  die  Ursachen  nur  Ursachen  des  Entstehens. 
Diese  aber  gehen  öen  Dingen  (zeitlich)  voraus;  sie  bestehen 
nicht  gleichzeitig  mit  ihm.  Die  genannte  Ansicht  ist  aber  un- 
richtig entsprechend  dem,  was  du  früher  kennen  gelernt  hast. 
Denn  die  Existenz,  die  auf  das  Entstehen  folgt,^  ist  entweder 
eine  notwendige  oder  eine  nicht  notwendige.  Ist  diese  Existenz 
nun  eine  notwendige,  dann  haftet  diese  Notwendigkeit  jener 
bestimmten,  individuellen  Wesenheit  an  entweder  in  der  Weise, 
daß  jene  Wesenheit  die  Notwendigkeit  des  Daseins  erfordert  — 
dann  ist  es  unmöglich,  daß  sie  zeitlich  entstehe  —  oder  die 
Notwendigkeit  haftet  jener  Wesenheit  an  unter  einer  bestimmten 
Bedingung.  Diese  Bedingung  ist  entweder  das  (zeitliche)  Ent- 
stehen der  Wesenheit  oder  irgend  eine  Eigenschaft  von  den 
Eigenschaften  dieses  Wesens,  oder  drittens  ein  von  dieser  Wesen- 
heit getrennt  existierendes  Ding.  Nun  aber  ist  es  nicht  mög- 
lich, daß  das  Notwendigsein  der  Wesenheit  anhafte  auf  Grund 
des  Entstehens;  denn  das  Dasein  des  Entstehens  selbst  ist  nicht 
notwendig  in  dem  Entstehen  selbst  begründet.  Wie  könnte 
infolgedessen  durch  dieses  Entstehen  das  Dasein  eines  anderen 
notwendig  erfolgen,  während  zugleich  das  Entstehen  des  Dinges 
vergeht  Wie  kann  da  das  Entstehen,  während  es  aufgehört  zu 
sein,  eine  Ursache  bilden  für  die  Notwendigkeit  eines  anderen 
Gegenstandes.  Man  müßte  denn  sagen,  daß  diese  Ursache  (die 
das  Notwendigsein  hervorbringt)  nicht  das  Entstehen  selbst  sei, 
sondern  vielmehr  der  Umstand,  daß  dem  Dinge  das  Entstehen 
bereits  früher  zugekommen  ist  (und  ihm  jetzt  die  Wirklichkeit 
eignet).  Dann  aber  ist  dieser  Umstand  eine  der  Eigenschaften, 
die  dem  entstehenden  Dinge  anhaften. 

Damit  tritt  sie  in  die  zweite  Gruppe  der  beiden  möglichen 
Fälle  ein,  die  wir  angenommen  haben.  Darauf  erwidern  wir: 
diese  Eigenschaften  haften  jener  (entstehenden)  Wesenheit  ent- 
weder an,  insofern  sie  „Wesenheit"  ist,  nicht  insofern  sie  bereits 
wirkliches  Dasein  erworben  hat.    Dann  ergibt  sich,  daß  alles, 


1)  Für  diese  existiert  in  der  genannten  Ansicht  keine  adaequate  Ursache. 


Digitized  by 


Googl( 


376 

was  der  Wesenheit  anhaftet,  ihr  notwendig  anhaftet  Also  haftet 
der  Wesenheit  die  notwendige  Existenz  an.  Eine  andere  Mög- 
lichkeit besagt,  daß  diese  Eigenschaften  gleichzeitig  mit  der 
realen  Existenz  (der  Wesenheit)  entstehen.  In  diesem  Falle 
aber  verhält  sich  die  Diskussion  über  die  notwendige  Existenz 
der  Wesenheit  wie  die  über  den  ersten  der  drei  erwähnten 
Punkte.  Ein  anderer  Fall  ist  der,  daß  .man  annimmt,  der 
Wesenheit  haften  zahllose  Eigenschaften  an,  und  alle  diese 
Eigenschaften  hätten  jene  Bestimmung  (gleichzeitig  mit  der 
Wesenheit  aufzutreten).  Sie  alle  müßten  folglich  mögliche,  nicht 
in  sich  notwendige  Dinge  (entia  possibilia)  sein;  (denn  weil  sie 
eine  unendliche  Zahl  bilden  oder  überhaupt  eine  Vielheit  dar- 
stellen, können  sie  nicht  notwendig  sein.  Das  Notwendige  ist 
nur  eines).  Eine  weitere  Annahme  ist  die,  daß  die  Eigen- 
schaften schließlich  zu  einer  bestimmten  Eigenschaft  hinführen, 
die  durch  ein  äußeres  Ding  notwendig  hervorgebracht  wird. 

Die  erste  der  angenonmienen  Möglichkeiten  besagt,  die 
Eigenschaften  seien  alle  in  sich  selbst  betrachtet  nur  mögliche 
Dinge.  Es  ist  nun  aber  klar,  daß  das  in  sich  Mögliche  seine 
Existenz  durch  ein  anderes  erhalten  muß.  Deshalb  müssen  alle 
Eigenschaften  dieser  Wesenheit  durch  eine  äußere  Ursache  ihr 
Dasein  notwendig  erhalten. 

Der  zweite  der  angenommenen  Fälle  besagt,  daß  die  ent- 
stehende Existenz  nur  auf  Grund  einer  äußeren  Ursache  als 
reale  Existenz  bestehen  bleibt.  Dieses  aber  ist  die  Ursache; 
denn  du  hast  bereits  erkannt,  daß  das  Entstehen  nur  be- 
deuten will,  daß  etwas  zur  Existenz  gelangt,  nachdem  es  früher 
nicht  war.  Dann  also  besteht  in  diesem  Vorgange  eine  reale 
Existenz  und  daneben  die  andere  Bestimmung,  daß  diese  Existenz 
eintritt,  nachdem  sie  früher  nicht  war.  Die  zeitlich  hervor- 
bringende Ursache  hat  nun  darauf  keinen  Einfluß  noch  auch 
eine  Bedeutung,*)  daß  das  Ding  entsteht,  „nachdem  es  früher 
nicht  war".  Die  Wirkung  und  Bedeutung  der  Ursache  erstreckt 
sich  vielmehr  nur  darauf,  daß  von  ihr  die  reale  Existenz  aus- 
geht. Dann  haftet  in  zweiter  Linie  dem  Dinge  akzidentell  an, 
daß  es  dieses  bestimmte  Ding  ist  und  in  dieser  bestimmten  Zeit 
wird,  „nachdem  es  früher  nicht  war".  Das  Akzidens,  das  in 
zufälliger  Weise  in   die   Existenz   tritt  und  der  Substanz  an- 


*)  Wörtlich:  „inneren  Reichtum". 


Digitized  by 


Googk 


377 

haftet,  hat  aber  keinen  Teil  an  dem  Bestände  des  Dinges,  und 
daher  besitzt  das  Nichtsein,  das  dem  werdenden  Dinge  voraus- 
geht, keinen  wesentlichen  Einfluß  (Anteil)  darauf,  daß  das 
werdende  Ding  eine  Ursache  habe.  Die  Sache  verhält  sich  viel- 
mehr so,  daß  diese  Art  der  (entstehenden)  Existenz,  insofern 
sie  jener  Art  der  Wesenheiten  zukommt,  eine  Ursache  be- 
ansprucht, selbst  wenn  sie  fortdauert  und.  bestehen  bleibt  Aus 
diesem  Grunde  ist  es  unrichtig  zu  sagen,  daß  etwas  die  Existenz 
des  Dinges  hervorbringt,  insofern  das  Ding  entsteht,  „nachdem 
es  früher  nicht  war".  Denn  dieses  (nämlich  der  Umstand,  daß 
das  Ding  früher  nicht  war)  ist  nicht  im  Bereiche  der  Wirkung 
einer  Ursache.  (Es  ist  vielmehr  eine  Bestimmung,  die  dem  ent- 
stehenden Dinge  zufällig  anhaftet);  denn  einige  reale  Dinge 
sind  dadurch  zu  bestimmen,  daß  sie  nicht  nach  dem  Nichtsein 
werden  können  (die  ewigen,  wenn  auch  geschaffenen  Dinge); 
für  andere  Dinge  ist  es  hingegen  unbedingt  notwendig,  daß  sie 
nach  dem  Nichtsein  entstehen. 

Die  Existenz,  insofern  sie  Existenz  dieser  bestimmten  Wesen- 
heit ist,  kann  daher  von  einer  Ursache  stammen.  Die  Eigen- 
schaft dieser  Existenz  aber,  nämlich  der  Umstand,  daß  das  Ding 
existiert,  „nachdem  es  früher  nicht  war",  kann  nicht  von  einer 
Ursache  herstammen.  Daher  ist  das  Ding  inbezug  auf  seine 
Existenz  ein  entstehendes,  d.  h.  es  ist  ein  solches,  insofern 
die  ihm  anhaftende  Existenz  bezeichnet  wird  als  eine,  die  auf- 
tritt nach  dem  Nichtsein,  und  in  dieser  Rücksicht  hat  das  Ding 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  keine  Ursache.  Eine  Ur- 
sache ist  vielmehr  für  das  entstehende  Ding  nur  insofern  not- 
wendig, als  dem  Dinge  die  reale  Existenz  anhaftet. 

Daher  verhält  sich  die  Sachlage  anders  und  umgekehrt 
als  jene  (die  Mutakallimün)  denken.  0  Die  Ursache  ist  aus- 
schließlich auf  die  Existenz  (als  ihr  formelles  Objekt,  nicht  auf 
ein  etwa  vorhergehendes  Nichtsein)  gerichtet.  Wenn  es  sich 
daher  zufällig  trifft,  daß  dem  Dinge  das  Nichtsein  vorausgeht. 


»)  Avicenna  führt  diese  Darlegungen  so  weit  aus,  um  sich  die  meta- 
physische Grundlage  zu  schaffen  für  die  Lehre  Ton  der  anfangslosen  Schöpfung. 
Dies  ist  zugleich  seine  Hauptthesis  gegen  die  Theologen.  Hat  das  Ding  eine 
Ursache,  „insofern  ihm  das  Nichtsein  vorausging",  dann  ist  eine  ewige  Wirkung 
eine  contradictio  in  adiecto.  Diese  hat  Avicenna  im  vorhergehenden  als  eine 
nur  scheinbare  nachgewiesen. 


Digitized  by 


Googk 


378 

dann  ist  es  ein  zeitlich  entstehendes.  Trifft  dieses  sich  aber 
nicht,  dann  ist  das  Ding  nicht  neu  entstehend  (obwohl  es  von 
einer  Ursache  stammt).  Die  Wirkursache,  die  man  gewöhnlich 
als  Wirkursache  bezeichnet,  ist  demnach  nicht  im  eigentlichen 
Sinne  eine  Ursache,  insofern  man  sie  gerade  als  Wirkursache^ 
bezeichnet;  denn  man  bezeichnet  sie  als  Wirkursache,  insofern 
man  als  notwendig  annimmt,  daß  sie  vorher  nicht  Wirkursache 
war.  Sie  ist  also  nicht  eine  Wirkursache,  insofeni  sie  Ursache 
ist;  (denn  in  diesem  Falle  müßte  sie  notwendig  und  immer  Wirk- 
ursache sein),  und  insofern  (das  esse  causam  efficientem)  etwas 
notwendig  mit  ihr  Verbundenes  ist.  Sie  ist  vielmehr  Wirk- 
ursache rücksichtlich  dessen,  auf  das  sie  einwirkt  (also  ihres 
Objektes),  indem  diese  Eücksicht  zugleich  verbunden  ist  mit  der 
Hinsicht  auf  das,  was  sie  nicht  bewirkt^)  (das  esse  effectum,  post^ 
quam  non  fuit).  So  kann  man  die  Ursache  betrachten  in  Bezug 
auf  das  Sein,  was  sie  verleiht,  indem  man  zugleich  dasjenige 
betrachtet,  was  sie  nicht  verleiht  (das  esse  post  nihilum)  und 
in  dieser  Eücksicht  wird  sie  Wirkursache  genannt.  Jedes  Ding, 
das  die  große  Menge  der  Philosophen  als  Wirkursache  bezeichnet, 
hat  deshalb  in  sich  notwendigerweise  die  Bestimmung,  daß  sie 
manchmal  nicht  Wirkursache  ist.  Dann  aber  tritt  ein  Willens- 
entschluß oder  ein  äußerer  Zwang  oder  irgend  ein  akzidenteller 
Zustand  auf,  der  früher  nicht  vorhanden  war.^)  Sobald  dieses 
Wirkliche  (das  zum  aktuellen  Tätigsein  führt)  sich  mit  ihr  ver- 
bindet, wird  das  Wesen  der  Ursache  in  Verbindung  mit  diesem 
anderen  zur  aktuell  wirkenden  Ursache.  Früher  als  dieses 
aktuelle  Wirken  war  jedoch  der  Zustand,  in  dem  die  Ursache 
dieses  zweite  Ding  (durch  welches  sie  zur  aktuell  wirkenden 
Ursache  wird)  entbehrte.  Und  daher  wird  die  Ursache  nach 
der  Ansicht  jener  aktuell  zur  Wirkursache,  nachdem  sie  der 
Möglichkeit  nach  Ursache  war,  nicht  insofern  sie  (ihrem  Wesen 
nach)  nichts  anderes,  als  aktuell  wirkende  Ursache  ist  (d.  h. 
nicht  auf  Grund  ihres  Wesens,  also  nicht  notwendig). 

I)  Das  esse  causam  efficientem  kommt  der  Ursache  nicht  auf  Grund 
ihres  Wesens  (des  esse  causam)  zu.  Es  verhält  sich  vielmehr  zu  ihr  immer 
wie  ein  Akzidens.    Dann  ist  sie  also  nicht  per  se  Wirk  Ursache. 

')  Fügt  man  diese  Hinsicht  hinzu,  dann  ist  die  Ursache  eine  nur  zeit- 
lich, nicht  von  Ewigkeit  wirkende. 

")  Dieser  soU  das  aktueUe  Wirken  einer  bisher  untätigen  Ursache  be- 
greiflich machen. 


Digitized  by 


Googk 


379 

Alles  was  demnach  die  große  Zahl  der  Philosophen  „Wirk- 
ursache" nennen,  muß  notwendig  zugleich  auch  das  sein,  was 
sie  leidendes  Prinzip  nennen J)  Denn  die  Philosophen  befreien 
die  Ursache  ((rott)  nicht  von  der  notwendigen  Bestimmung,  daß 
ihr  irgend  ein  anderes  Wirkliche  zukommen  muß,  nämlich  ein 
neu  entstehender  Zustand,  auf  Grund  dessen  die  Wirkung  sich 
aus  der  Ursache  ergibt  und  zwar  nach  dem  Nichtsein.  Es  ist 
daher  ersichtlich,  daß  die  Existenz  der  Wesenheit  abhängig  ist 
von  einem  anderen  (einer  Wirkursache),  insofern  sie  eine  reale 
Existenz  dieser  Wesenheit  ist,  nicht  auf  Grund  des  Umstandes, 
daß  sie  entsteht,  „nachdem  sie  früher  nicht  war".  Sonach  ist 
also  diese  reale  Existenz  als  Existenz  2)  verursacht,  so  lange 
sie  real  existierend  bleibt.  Ebenso  ist  sie  verursacht  und  steht 
zugleich  in  notwendiger  Abhängigkeit  von  dem  anderen,  der 
Wirkursache. 

So  ist  es  also  klar,  daß  das  Verursachte  ein  Prinzip 
voraussetzt,  das  ihm  die  Existenz  verleiht,  und  zwar  setzt  das 
Verursachte  dieses  Prinzip  (per  se)  voraus  auf  Grund  dieser 
Existenz. 3)  Daß  das  Ding  aber  zeitlich  entsteht  und  daß  es 
noch  weitere,  akzidentelle  Bestimmungen  hat,  dieses  sind  Dinge, 
die  dem  entstehenden  Gegenstande  wie  Akzidenzien  anhaften. 
Ferner  ist  klar,  daß  das  Verursachte  eines  Verleihers  der 
Existenz  immer  und  ohne  Aufhören  bedarf,  so  lange  es  real 
existierend  bleibt. 


')  Wenn  die  Theologen  also  nur  eine  zeitlich  entstehende  Wirkung 
als  möglich  annehmen,  so  begehen  sie  einen  circulus  vitiosus,  indem  sie  nur 
das  als  Wirkursache  bezeichnen,  was  zeitlich  wirkt.  Sie  setzen  das  voraus, 
was  zu  beweisen  wäre.  Der  Streit  ist  also  schließlich  ein  Wortstreit  um 
den  Terminus  Wirkursache.  Femer  ist  es  den  Theologen  nicht  gelungen, 
zu  beweisen,  daß  nach  ihrer  Ansicht  Gott  sich  nicht  passiv  verhalten  muß 
und  nicht  veränderlich  ist.    So  der  Gedankengang  Avicennas. 

•)  Wörtlich:  „in  dieser  Richtung".  Wenn  das  formelle  Objekt  der  Ur- 
sache die  Existenz  schlechthin  ist,  dann  kann  diese  Ursache  (Gott)  das  Sein 
im  absoluten  Sinne  bewirken,  also  von  Ewigkeit  ex  nihilo,  non  post  nihilum 
schaffen.  Aus  demselben  Grunde  ist  die  conservatio  rerum  in  esse  eine  creatio 
continuata. 

*)  Wenn  die  Existenz  in  den  kontingenten  Dingen  per  se  und  not- 
wendig Wirkung  ist,  dann  muß  sie  während  der  ganzen  Dauer  des  Bestehens 
der  Dinge  Wirkung  sein,  d.  h.  die  Dinge  werden  erhalten  durch  fortdauerndes 
Emanieren  der  Existenz  aus  dem  ersten  Seinsprinzipe. 


Digitized  by 


Google 


380 


Zweites  Kapitel. 

Die  Lösung  der  Schwierigkeiten  in  den  Ansichten  der  wahren  Philosophen, 

die  behaupten:  jede  Ursache  sei  gleichzeitig  mit  ihrer  Wirloing.    Die 

genaue  Bestimmung  der  Wirkursache. 

(Die  zu  verteidigende  Lehre  lautet:  die  Ursache  ist  gleich- 
zeitig mit  ihrer  Wirkung.  Sobald  die  Ursache  existiert,  existiert 
auch  die  Wirkung,  und  so  lange  die  Wirkung  da  ist,  ist  auch 
die  Ursache  vorhanden.)  Die  Schwierigkeit,  die  gegen  diese 
Lehre  vorgebracht  wird,  lautet:  der  Sohn  bleibt  bestehen  nach 
dem  Tode  des  Vaters,  und  das  Haus  bleibt  bestehen,  auch  wenn 
der  Baumeister  nicht  mehr  vorhanden  ist,  und  die  Hitze  bleibt^ 
nachdem  das  Feuer  entfernt  wurde.  Die  Ursache,  die  zu  dieser 
Schwierigkeit  führte,  liegt  in  einer  Unklarheit  und  Vermengung 
von  Begriffen  infolge  der  Unwissenheit  darüber,  was  Ursache  im 
eigentlichen  Sinne  des  Wortes  sei.  Denn  der  Baumeister,  der 
Vater  und  das  Feuer  sind  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes 
keine  Ursachen  für  den  Bestand  der  genannten  Wirkungen. 
Der  Baumeister,  der,  wie  gesagt,  das  Gebäude  bewirkt,  ist  nicht 
Ursache  für  den  Bestand  des  Hauses,  noch  auch  Ursache  für 
seine  Existenz.  Nur  die  Bewegung  des  Baumeisters  ist  Ursache 
für  eine  andere  Bewegung.  Sodann  ist  auch  der  Zustand  seiner 
Ruhe  und  der  Zustand,  wenn  er  die  Bewegung  nicht  ausführt 
und  der  Mangel  der  von  ihm  ausgehenden  Bewegung,  wie  auch 
seine  Entfernung  (vom  Orte  des  Gebäudes)  nach  jener  räum- 
lichen Bewegung!)  Ursache  für  die  Beendigung  jener  Bewegung. 
Jenes  Transportieren  (der  Materialien)  und  das  Endigen  jener 
Bewegung  (bei  ihrem  Endpunkte  d.  h.  das  Ausführen  der  Be- 
wegung) sind  selbst  Ursache  dafür,  daß  sich  verschiedene  Dinge 
zusammenfinden.  Dieses  Zusammenkommen  (von  Materialien)  ist 
wiederum  Ursache  für  das  Entstehen  einer  Grestalt  Jedes  einzelne 
dieser  beiden  Verhältnisse  ist  Ursache.  Diese  und  ihre  Wirkung 
bestehen  also  zu  gleicher  Zeit  Der  Vater  ist  z.  B.  Ursache  für 
die  Bewegung  des  Samens.  Diese  ist,  wenn  sie  zu  ihrem  End- 
punkte gelangt  ist,  Ursache  dafür,  daß  derselbe  in  das  für  ihn 
bestimmte  Organ  gelangt.  Dieses  Hineingelangen  ist  sodann 
Ursache  für  eine  andere  Wirkung.     Daß  aber  der  Same  die 


0  Wörtlich:  Transportieren. 


Digitized  by 


Googk 


381 

Wesensform  des  Tieres  annimmt,  und  daß  diese  sodann  bestehen 
bleibt  als  Tier,  dafür  ist  wiederum  eine  andere  Ursache  vor- 
handen. Wenn  sich  die  Ursache  nun  so  verhält,  dann  ist  es 
richtig,  daß  jede  Ursache  gleichzeitig  ist  mit  ihrer  Wirkung. 
Ebenso  ist  das  Feuer  Ursache  für  das  Erhitzen  des  Elementes 
des  Wassers.  Das  Erhitzen  ist  Ursache  dafür,  daß  die  voll- 
kommene Disposition,  die  das  Wasser  aktuell  besaß,  um  die 
Wesensform  des  Wassers  in  sich  aufzunehmen  und  zu  bewahren, 
vernichtet  wird.  Dieser  Umstand  oder  ein  anderes  Ding,  ist 
Ursache  dafür,  daß  eine  vollkommene  Disposition  in  diesem 
Zustande  des  Werdens  entsteht,  um  die  konträre  Form  in  sich 
aufzunehmen.  Dieses  ist  die  Form  des  Feuers.  Die  Ursache 
für  die  Wesensform  des  Feuers  bilden  jene  Ursachen,  die  den 
Elementen  ihre  Wesensformen  verleihen.  Es  sind  unkörperliche 
Substanzen.  Daher  bestehen  also  die  Ursachen  im  eigentlichen 
Sinne  gleichzeitig  mit  ihrer  Wirkung.  Die  ersten  Prinzipien  >) 
sind  Ursachen  entweder  per  accidens  oder  sie  sind  Ursachen, 
indem  sie  andere  Ursachen  unterstützen. 

Auf  Grund  dieser  Darlegungen  muß  man  annehmen  ^  daß 
die  Ursache  der  Gestalt  des  Gebäudes  das  Zusammentreten  (der 
Materialien)  ist.  Die  Ursache  dafür  (d.  h.  für  das  Bestehen  des 
Gebäudes)  sind  die  Naturen  der  zusammentretenden  Materialien 
und  der  Umstand,  daß  sie  in  der  Form  bestehen  bleiben,  zu  der 
sie  vereinigt  worden  sind.  Die  Ursache  für  diese  (Naturanlagen) 
ist  die  unkörperliche  Ursache,  die  die  Naturanlagen  hervorbringt. 
Die  Ursache  des  Kindes  ist  in  diesem  Sinne  das  Zusammentreten 
seiner  Wesensform  und  seiner  Materie  auf  Grund  derjenigen 
Ursache,  die  die  Wesensform  verleiht.  Die  Ursache  des  Feuers 
ist  die  Ursache,  die  die  Wesensformen  verleiht  und  ferner  zu 
gleicher  Zeit  das  Aufhören  der  vollkommenen  Disposition  (der 
aufnehmenden  Materie)  für  die  konträre  Form.  Folglich  finden 
wir,  daß  die  Ursachen  gleichzeitig  mit  ihren  Wirkungen 
existieren. 

Wenn  wir  nun  in  diesen  Problemen,  über  die  wir  jetzt 
verhandeln,  den  Satz  aufstellen,  daß  die  Ursachen  eine  endliche 
Zahl  bilden,  so  stellen  wir  diesen  Satz  nur  mit  Rücksicht  auf 
die  eben  erwähnten  Ursach,en  (die  primo  et  per  se  wirken)  auf. 


')  Wörtlich:  „die  Torausgehenden  Substanzen"  d.  h.  die  himmlischen 
Qeister,  besonders  der  aktive  Intellekt  der  Mondsphäre. 


Digitized  by 


Googk 


382 

Wir  leugnen  nicht,  daß  eine  Kette  von  Ursachen ')  bestehen  kann, 
die  „helfende"  und  die  Materie  „disponierende"  Ursachen  sind 
und  die  ohne  Ende  fortgeht,  indem  sich  die  eine  vor  der  anderen 
befindet.  Diese  unendliche  Kette  der  Ursachen  ist  sogar  absolut 
notwendig;  denn  jedes  entstehende  Ding  wurde  notwendig,  nach- 
dem es  nicht  den  Charakter  der  Notwendigkeit  hatte.  Es  wurde 
notwendig  auf  Grund  der  Notwendigkeit  seiner  Ursache,  wie 
wir  früher  auseinandersetzten.^)  Die  Ursache  dieses  Dinges  war 
notwendig,  so  lange  es  selbst  notwendig  existierte,  und  daher 
gehen  den  individuellen  Dingen  notwendigerweise  andere  Dinge 
voraus.  Durch  diese  vorausgehenden  Dinge  wird  in  den  existie- 
renden und  aktuellen  Ursachen  bewirkt,  daß  sie  aktuell  zur 
Ursache  für  die  Dinge  werden.  Daher  sind  die  dem  werdenden 
Dinge  vorausgehenden  Dinge  ohne  Ende  an  Zahl,  und  die  Frage 
nach  der  weiter  zurückliegenden  Ursache  derselben  gelahgt 
daher  durchaus  nicht  zu  einem  Endpunkte.  Die  Schwierigkeit^ 
die  betreffs  dieses  Problems  gemacht  wird,  besteht  in  folgendem. 
Diese  Kette  unendlicher  Ursachen  muß  sich  so  verhalten,  daß 
entweder  jedes  einzelne  Glied  von  ihr  einen  Augenblick  existiert, 
und  daß  die  Ursachen  dann  zu  anderen  Augenblicken,  die  an 
Stelle  des  ersten  treten,  übergehen,  ohne  daß  zwischen  den 
Augenblicken  eine  Zeit  verläuft.  Dies  jedoch  ist  unmöglich 
(denn  die  Verbindung  von  Augenblicken  wird  durch  die  Zeit 
hergestellt).  Die  Glieder  der  unendlichen  Kette  der  Ursachen 
verhalten  sich  im  anderen  Falle  so,  daß  jedes  einzelne  von  ihnen 
eine  Zeitlang  bestehen  bleibt.  Dann  muß  auch  sein  notwendiges 
Wirken  in  der  ganzen  Dauer  dieser  Zeit,  nicht  nur  in  einem 
Punkte  derselben  stattfinden.  Ferner  muß  der  Grund  (ratio), 
der  das  notwendige  Wirken  dieser  Ursache  hervorbringt,  seiner- 
seits gleichzeitig  mit  ihr  bestehen^)  und  zwar  in  dieser  (ganzen) 
Zeit  Daher  ist  die  Auseinandersetzung  über  den  Grund,  der 
diese  Ursache  zur  notwendig  wirkenden  macht,  identisch  mit 
der  Auseinandersetzung  über  die  notwendig  wirkende  Ursache 
selbst  (d.  h.  das  Problem  wird  nur  weiter  verschoben),  und  daher 
sind  Wirkursachen  in  unendlicher  Reihenfolge  gleichzeitig  vor- 
handen.   Dieses  aber  leugnen  wir. 


»)  Wörtlich:  „causae  causarum". 

>)  Diese  Abhandlung  Kap.  I,  vergl.  dazu  F&r&bi,  Ringsteine  Nr.  2  u.  9. 
^  Cod.  c  GL:  „dies  betrifft  die  Yerbindang  des  zeitlich  Entstehenden 
mit  dem  Ewigen". 


Digitized  by 


Googl( 


383 

Daher  lehren  wir,  wenn  die  Bewegung  nicht  bestände, 
dann  wäre  die  oben  erwähnte  Schwierigkeit  notwendig.  Jedoch 
verhindert  die  Bewegung,  daß  dasselbe  Ding  in  ein  und  dem- 
selben Zustand  verbleibe,  und  bewirkt,  daß  das  Ding  sich  immer 
von  einem  Zustande  in  den  anderen  und  von  einem  Augenblicke 
zum  nächstfolgenden  verändert,  der  mit  dem  vorhergehenden  in 
Berührung  steht.  Diese  Veränderung  findet  sogar  kontinuierlich 
statt.  Daher  bewirkt  das  Wesen  der  Ursache  nicht  so  sehr  die 
Existenz  der  Wirkung,  als  vielmehr  den  Zustand  der  Wirkung, 
zufolge  dessen  sie  sich  in  einer  gewissen  Beziehung  befindet. 
Die  Ursache  dieser  Beziehung  ist  nun  die  Bewegung  oder  ein 
anderes  Moment,  das  sich  mit  der  Ursache  der  Bewegung  ver- 
bindet Dasjenige  Moment  nun,  wodurch  die  Ursache  aktuell 
zur  Ursache  wird,  ist  die  Bewegung.  Die  Ursache  also  ist  nicht 
beständig  in  ein  und  demselben  Zustande.  Sie  ist  jedoch  auch 
nicht  vergänglich  im  Sein  noch  neu  entstehend  in  einem  einzigen 
Augenblicke.  Folglich  ist  es  notwendig,  daß  diejenige  Ursache, 
die  die  Ordnung  in  der  Kette  der  Ursachen  erhält,  und  sich  mit 
dieser  Ordnung  verbindet,  die  Bewegung  sei.  Durch  sie  lösen 
sich  die  bekannten  Schwierigkeiten.  Bei  einer  späteren  Gelegen- 
heit werden  wir  die  Diskussion  darüber  noch  deutlicher  ausführen 
und  sie  noch  wirksamer  darstellen. 

Es  ist  also  klar  und  einleuchtend,  daß  die  Ursachen,  die 
notwendig  und  aus  sich  wirken  und  durch  die  die  Existenz 
der  Wirkung  selbst  aktuell  hervorgebracht  wird,  gleichzeitig 
mit  der  Wirkung  existieren  müssen  und  ihr  im  Sein  nicht  in 
der  Weise  vorausgehen,  daß  das  Aufhören  der  Ursache  zugleich 
eintritt  mit  dem  Entstehen  der  Wirkung.  Dieses  letztere  ist 
nur  möglich  in  der  Kette  der  Ursachen,  die  nicht  aus  sich 
(per  se  und  notwendig)  wirken  oder  in  der  Kette  der  Ursachen, 
die  nicht  die  nächsten  Ursachen  sind.  Die  nicht  „wesentlich" 
wirkenden  Ursachen,  und  die  nicht  „nächsten"  Ursachen  können 
aber,  wie  wir  nicht  leugnen,  eine  unendliche  Kette  bilden.  Dieses 
behaupten  wir  sogar.i) 


>)  Vgl.  Thomas,  Snm.  th.  1 46, 2  ad  7:  In  cansis  efficientibns  impossibile 
est  procedere  in  infinitnm  per  se;  nt  pnta,  si  cansae  qaae  per  se  requirantur 
ad  aliquem  effectnin,  multiplicarentur  in  infinitnm;  sicnt  si  lapis  moveretnr 
a  baculo,  et  bacnlns  a  mann,  et  hoc  in  infinitnm.  Sed  per  accidens  in  in- 
finitnm procedere  in  causis  agentibns  non  repntatnr  impossibile;  ut  puta,  si 
omnes  cansae,  qnae  in  infinitnm  mnltiplicantor,  non  teneant  ordinem  nisi 


Digitized  by 


Google 


384 

Nachdem  dieses  nun  festgestellt  worden  ist  gilt  folgendes: 
wenn  irgend  ein  Ding  auf  Grund  seines  Wesens  Ursache  ist  für 
die  Existenz  eines  anderen  Dinges,  und  wenn  dieses  zugleich 
ohne  Aufhören  hervorgebracht  ist,  dann  ist  auch  die  Ursache 
des  Dinges  eine  ohne  Aufhören  wirkende  Ursache,  so  lange  sie 
selbst  bestehen  bleibt  Ist  die  Ursache  aber  ewig  bestehend, 
dann  ist  auch  ihre  Wirkung  ewig  bestehend  Solche  Ursachen, 
die  ewig  wirken,  haben  in  hervorragender  Weise  den  Charakter 
der  Ursache ;  denn  sie  hindern  und  vernichten  das  Nichtsein  des 
Dinges  im  allgemeinen  (d.  h.  in  der  ganzen  Dauer  der  anfangs- 
losen Zeit).  Eine  solche  (von  Ewigkeit  wirkende  Ursache)  ver- 
leiht dem  Dinge  das  volle  Dasein.  Diesen  Begriff  bezeichneten 
die  Gelehrten  mit  dem  Ausdrucke  „anfangslose  Schöpfung".')  Er 
bezeichnet  das  Hervorbringen  eines  Dinges  nach  dem  Nichtsein 
schlechthin;  denn  der  Wirkung  kommt  aus  sich  heraus  zu,  daß 
sie  nicht  existiert,  von  ihrer  Ursache  aber  kommt  es  ihr  zu, 
daß  sie  eine  tatsächliche  Existenz  hat  Dasjenige  nun,  das  dem 
Dinge  aus  sich  her  zukommt,  ist  begrifflich,  dem  Wesen  nach 
nicht  der  Zeit  nach,  eher  als  dasjenige,  was  dem  Dinge  von 
einem  anderen  her  zukommt  Daher  ist  jedes  Verursachte  ein 
Seiendes,  nachdem  es  ein  Nichtseiendes  war,  und  zwar  in  einem 
FrSher  nur  dem  Wesen  nach. 

Dehnt  man  nun  die  Bedeutung  des  Wortes  „entstehen" 
auf  alle  Dinge  aus,  die  ein  Seiendes  werden,  nachdem  sie  ein 
Nichtseiendes  waren,  selbst  wenn  dieses  Später  kein  Später  der 
Zeit  nach  ist,   dann  ist   jedes  Verursachte  (auch  das  Ewige) 


nnius  caosae,  sed  eamm  multiplicatio  sit  per  accidens;  sicnt  artifex  agit 
multis  martellis  per  accidens,  qoia  anns  post  anum  frangitur.  Aeddit  ergo 
hnic  marteUo  qnod  agat  post  actionem  alterios  niarteUi;  et  similiter  aeddit 
hnic  homini,  inqnantum  generat,  qnod  sit  generatos  ab  alio;  generat  enim 
inqoantnm  homo  et  non  inqnantnm  est  filios  alterios  hominis.  Omnes  enim 
homines  generantes  habent  gradnm  unom  in  causis  efficienübns,  sdlicet 
gradum  particnlaris  generantis.  Unde  non  est  impossibile  quod  homo  gene- 
retor  ab  homine  in  infinitum;  esset  autem  impossibile,  si  generatio  hnios 
hominis  dependeret  ab  hoc  homine  et  a  corpore  elementari  et  a  sole  et  sie 
infinitum.  I— n  1,4  c:  Per  se  loquendo  impossibile  est  in  finibos  procedere 
in  infinitom  ex  quacomque  parte.  In  omnibns  enim  quae  per  se  habent 
ordinem  ad  invicem,  oportet  quod,  remoto  primo,  removeantur  ea  quae  sunt 
ad  primum.    YgL  Arist,  Phys.  ^  4,  254bff. 

>)  Vgl  F&r&b!,  Bingsteine  Nr.  29  und  Buch  der  Ringsteine  F4r&b!s, 
S.  346. 


Digitized  by 


Googk 


385 

ein  „Entstandenes".  Dehnt  man  aber  die  Bedeutung  des  Aus- 
druckes „entstehen"  nicht  in  dieser  Weise  (auch  auf  das  anfangs- 
los Entstandene)  aus,  sondern  setzt  man  für  den  Begriff  des 
„Entstehenden"  die  Bedingung  voraus,  daß  eine  Zeit  und  Augen- 
blicke waren,  die  früher  sind  als  das  entstehende  Ding  und 
zwar  so,  daß  diese  Zeit  dadurch  aufhörte,  daß  das  Ding  in  die 
Erscheinung  trat  —  (das  Aufstellen  dieser  Bedingung  ist  not- 
wendig) da  dieses  Später  ein  Später  ist,  das  nicht  zugleich  mit 
dem  Früher  existiert,  sondern  das  sich  von  ihm  in  dem  Sein 
unterscheidet;  denn  es  ist  ein  zeitliches  Später  —  dann  ist 
nicht  jedes  Verursachte  auch  zugleich  ein  „Entstandenes". 
„Entstanden"  ist  vielmehr  nur  dasjenige  Verursachte,  dessen 
Existenz  eine  Zeit  vorausgeht,  und  dann  geht  der  Existenz  dieses 
Dinges  auch  notwendigerweise  eine  Bewegung  und  eine  Ver- 
änderung voraus,  wie  du  früher  gesehen  hast.  Über  die  Worte 
streiten  wir  nicht. 

Das  Entstehende  in  derjenigen  Bedeutung,  die  nicht  die 
Zeit  einschließt  und  erfordert,  kann  sich  femer  in  zweifacher 
Weise  verhalten.  Es  erhält  entweder  seine  Existenz  nach  dem 
Nichtsein  schlechthin  (so  daß  es  also,  wenn  es  entsteht,  anfangs- 
los entsteht,  ohne  daß  eine  Zeit  vorherging,  in  der  das  Ding 
nicht  war)  oder  seine  Existenz  tritt  auf  nach  dem  Nichtsein  im 
besonderen  Sinne  genommen,  ja  sogar  nach  dem  Nichtsein  des 
entgegenstehenden,  individuellen  Prinzipes,  das  in  einer  realen 
Materie  existierte,  wie  du  früher  gesehen  hast.  Tritt  daher  die 
Existenz  des  Gegenstandes  nach  dem  Nichtsein  schlechthin  auf, 
dann  ist  sein  Hervorgehen  aus  der  Ursache  in  jener  bestimmten 
Art  des  Hervorgehens  ein  anfangsloses  Geschaflenwerden.  Dies 
ist  die  hervorragendste  Art,  wie  das  Sein  mitgeteilt  wird.  Denn 
in  ihr  wird  das  Nichtsein  absolut  ausgeschlossen,  und  über  das 
Nichtsein  das  Sein  zum  „Herrscher"  gemacht.  Wenn  aber  das 
Nichtsein  Platz  greift  und  zwar  so,  daß  es  dem  Sein  vorausgeht, 
dann  ist  das  Werden  des  Dinges  unmöglich,  es  sei  denn,  daß 
das  Ding  aus  einer  Materie  entstehe,  und  dann  ist  das  Nicht- 
sein Herrscher  über  das  Geschaflenwerden,  d.  h.  die  Existenz 
des  Dinges,  die  von  einem  anderen  Dinge  stammt,  ist  gering, 
mangelhaft  und  sekundär  (wie  die  entia  possibilia). 

Viele  Philosophen  bezeichnen  nicht  jedes  in  dieser  Weise 
entstehende  Ding  als  ein  anfangslos  Geschaffenes.  Wir  sagen 
vielmehr:  stellen  wir  uns  ein  Ding  vor,  das  sein  Sein  von  einer 

Horten,  Dm  Buch  der  Genesung  der  Seele.  25 


Digitized  by 


Googk 


386 

ersten  Ursache  ableitet  durch  die  Vermittelung  einer  mittleren 
Ursache,  die  auch  Wirkursache  ist  Zugleich  soll,  so  nehmen 
wir  an,  dieses  Ding  nicht  aus  einer  Materie  entstehen,  femer 
sein  Nichtsein  keine  Macht  haben  über  das  Sein;  seine  Existenz 
jedoch  möge  hervorgehen  aus  der  ersten,  eigentlich  wahrhaften 
Ursache  und  zwar  nach  der  Existenz  eines  anderen  Dinges,  das 
ihm  vorausgeht  Wenn  diese  Annahmen  zutreffen,  dann  ist  das 
Geschaffenwerden  dieses  Dinges  nicht  nach  dem  absoluten  Nicht- 
sein, sondern  nach  einem  Seienden,  selbst  wenn  dieses  Seiende 
kein  Materielles  ist. 

Andere  Philosophen  sprechen  von  „anfangslosem  Werden" 
bei  jedem  als  reine  Form  Existierenden,  wie  es  auch  immer  sein 
möge.»)  Alles  Materielle,  selbst  dann,  wenn  die  Materie  dem 
Entstehen  dieses  Materiellen  nicht  vorausging,  wird  in  seiner 
Beziehung  zur  Ursache  bezeichnet  mit  dem  speziellen  Ausdrucke 
des  „Werdens".  Über  diese  Worte  streiten  wir  nicht,  nachdem 
die  Begriffe  deutlich  von  einander  unterschieden  wurden.  Einige 
Dinge  finden  wir,  die  aus  einer  Ursache  entstehend,  ewig  exi- 
stieren ohne  Materie.  Andere  Dinge  sehen  wir,  die  durch  eine 
Materie  existieren;  wiederum  andere  entstehen  durch  eine  ver- 
mittelnde Ursache,  andere  ohne  eine  solche.  Alles,  was  nun 
nicht  aus  einer  vorhergehenden  Materie  existiert,  wird  treffend 
als  „nicht  geworden",  als  „anfangslos  entstanden"  bezeichnet 
Es  ist  femer  zutreffend,  die  vorzüglichste  Art  des  Werdens,  das 
„anfangslose  Werden"  dasjenige  zu  nennen,  das  nicht  durch  eine 
vermittelnde  Ursache  aus  der  ersten  Ursache  entsteht,  sei  es 
nun,  daß  diese  vermittelnde  Ursache  eine  materielle  oder  eine 
wirkende  oder  irgend  eine  andere  Ursache  ist 

Somit  kehren  wir  zu  unserem  ersten  Probleme  zurück  und 
sagen:  die  Wirkursache,  der  es  nur  akzidentell  zukommt,  daß 
sie  wirkend  wird,  muß  notwendig  eine  Materie  zur  Verfügung 
haben,  in  der  sie  wirkt;  denn  jedes  neu  Entstehende,  wie  du 
früher  gesehen  hast,  bedarf  einer  Materie.  Häufig  wirkt  nun 
diese  Wirkursache  zugleich  und  mit  einem  Male,  manchmal 
wirkt  sie  durch  Vermittelung  der  Bewegung  (also  allmählich). 
Diese  Wirkursache  ist  dann  das  erste  Prinzip  der  Bewegung. 
Da  nun  die  Naturwissenschaftler  die  Wirkursache  bezeichnen 
als  das  erste  Prinzip  der  Bewegung,  so  wollen  sie  damit  aus- 


')  Als  reine  Form  exisüereü  nur  die  reinen  Geister  und  Qott 


Digitized  by 


Googk 


387 

drücken,  daß  sie  erstes  Prinzip  der  vier  Bewegungen*)  sei  Sie 
übersehen  damit  die  anderen  Möglichkeiten  und  so  bezeichneten 
sie  das  Werden  und  Vergehen  als  eine  Bewegung. 

Die  Wirkursache  ist  manchmal  durch  sich  selbst  wirkend; 
manchmal  befindet  sie  sich  in  der  Möglichkeit  zum  Wirken. 
Diejenige  Wirkursache  nun,  die  durch  sich  selbst  wirkt,  verhält 
sich  z.  B.  wie  die  Hitze.  Wenn  sie  als  reine  Hitze  (calidum 
per  se)  bestände,  dann  würde  sie  wirken.  Ihre  natürlichen 
Wirkungen  würden  dann  von  ihr  ausgehen,  weil  sie  das  Element 
des  Heißen  in  reiner  Form  wäre.  Diejenige  Wirkursache  aber, 
die  durch  eine  Fähigkeit  wirkt,  verhält  sich  wie  das  Feuer,  das 
durch  die  Vermittelung  der  Hitze  wirkt  An  einer  anderen 
Stelle  5)  haben  wir  die  Arten  der  Fähigkeiten  aufgezählt 


Drittes  Kapitel 

Die  Beziehungen  der  Wirkursachen  zu  ihren  Wirkungen. 

Wir  lehren:  die  Wirkursache  bewirkt  jede  Existenz  die 
sie  hervorbringt,  nicht  in  dem  gleichen  Maße  und  der  gleichen 
Art  5),  wie  sie  dieselbe  selbst  besitzt;  denn  manchmal  bewirkt  sie 
eine  Existenz,  die  der  eigenen  gleichkommt  (Ursache  und  Wirkung 
sind  dann  der  Seinsfülle  nach  gleichwertig),  manchmal  aber  auch 
eine  solche,  die  der  eigenen  nicht  gleich  steht*)    So  verhält 


»)  VgL  Arist,  Phys.  261a  27:  Sri  /mv  ovv  x<Sv  &XXa}v  xiviiaewv  ovSe- 
filav  ivSix^tai  awsx^  elvai  ix  x&vSs  tpavBQOv,  anaaai  y&Q  iS  dvzixeifiivwv 
elg  avxLxdfJLBva  daiv  al  xin^aeig  xal  fiBxaßoXal,  olov  ysviaei  fjihv  xal  <p&OQä 
ro  ov  xal  xi  firj  Sv  8qoi^  dXXoiciaei  6h  xavavxia  nad^i],  avS^asi  6h  xal  tpB^lcH 
7]  /ifye&og  xal  fiixgoxTjg  ^  xeXeioxtjg  fiByi^ovq  xal  axiXeia  und:  Sxi  fdv  xolwv 
T<Sv  xit^aewv  tj  ipd-oga  n^tiiri,  ipavsQov  ix  xovxcjv, 

«)  Siehe  Naturwissenschaften  VI.  Teil,  n,  Kap.  1;  IV,  Kap.  1. 

')  Alle  Naturdinge,  wie  z.  B.  die  schwarze  Farbe  und  Hitze  in  den 
obigen  Beispielen,  werden  als  Existenz  arten  bezeichnet.  Das  Dasein  im 
eigentlichen  Sinne  d.  h.  das  der  Substanz  verleiht  nur  die  Gottheit. 

*)  Cod.  a  tritt  dieser  Lehre  Ton  der  Verschiedenheit  zwischen  Ursache 
und  Wirkung  entgegen,  indem  er  statt  des  letzten  Satzes  in  den  Text  ein- 
schiebt: „Die  Ursache  verleiht  nur  eine  solche  Existenz  die  der  eigenen 
gleichsteht." 

25* 


Digitized  by 


Googk 


388 

sich  das  Feuer,  wenn  es  einen  Gegenstand  schwärzt,  und  die 
Bewegung,  wenn  sie  Hitze  hervorbringt  9  Die  Wirkursache, 
die  eine  der  eigenen  gleichgeartete  Existenz  schafft,  muß  nach 
allgemeiner  Lehre  diejenige  Natur,  die  sie  der  Wirkung  mitteilt, 
in  eminenterem  und  mächtigerem  Maße  besitzen,  als  die  Wirkung. 
Doch  ist  diese  allgemeine  Ansicht  nicht  durchaus  klar  noch  auch 
in  jeder  Beziehung  richtig,  abgesehen  von  dem  Falle,  daß  die 
Wirkursache  die  Existenz  selbst  im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes  2)  mitteilt.  In  diesem  Falle  ist  der  Verleiher  (des  Da- 
seins) in  vorzüglicherem  Sinne  mit  dem  ausgestattet,  was  er  ver- 
leiht, als  der  Empfänger. 

Wir  wollen  also  mit  dem  ersten  Probleme  beginnen  und 
lehren:  die  Ursachen  sind  Ursachen  ihrer  Wirkungen  entweder 
in  derselben  Art  der  Existenz,  wie  die  eigene  oder  in  einer 
anderen. 3)  Wie  das  erste  verhält  sich  das  Erhitzen,  das  von 
dem  Feuer  ausgeht,  und  wie  das  zweite  (in  dem  Ursache  und 
Wirkung  wesentlich  verschieden  sind)  das  Erhitzen  durch  Be- 
wegung, das  Sichverdünnen  des  Körpers  infolge  von  Hitze  und 
viele  Vorgänge,  die  diesen  Beispielen  ähnlich  sind. 

Wir  wollen  nun  von  den  Ursachen  und  Wirkungen  sprechen, 
die  in  die  erste  Kategorie  gehören  und  daher  die  Arten  anführen, 
die  nach  dem  ersten,  oberflächlichen  Urteile  für  Arten  dieser 
Kategorie  der  Ursachen  gehalten  werden.  Wir  lehren  daher: 
betreffs  der  ersten  Kategorie  wurde  bereits  die  Ansicht  aufge- 
stellt: die  Wirkung  sei  in  vielen  Fällen  betreffs  der  ratio  for- 


^)  Ursache  und  Wirkung  sollen  in  diesen  Beispielen  nicht  der  Quantität 
oder  Qualität,  sondern  dem  Wesen  nach  verschieden  sein.  Daß  eine  Wirkung 
graduell  oder  in  der  Intensität  einer  Eigenschaft  der  Ursache  nachstehe,  bietet 
keine  Bedenken ;  daß  sich  diese  Inkongruenz  auf  das  eigentliche  Wesen  selbst 
erstrecke,  bedarf  einer  besonderen  Erörterung. 

*)  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  HI  62,  4  c:  Multiplidter  aliquid  dicitur  esse 
in  alio:  uno  modo  sicut  in  signis,  alio  modo  sicut  in  causa,  nam  sacramentum 
novae  legis  est  Instrumentalis  gratiae  causa.  Unde  gratia  est  in  sacramento 
non  quidem  secundum  similitudinem  speciei,  sicut  efEectus  est  in  causa  uni- 
voca;  neque  etiam  secundum  aliquam  formam  propriam  et  permanentem  et 
proportionatam  ad  talem  effectum,  sicut  sunt  efEectus  in  causis  non  univocis, 
puta  res  generatae  in  sole,  sed  secundum  quandam  instrumentalem  virtutem, 
quae  est  fluens  et  incompleta  in  esse  naturae. 

^)  Avicenna  unterscheidet  hier  Ursachen,  die  notwendig  aus  sich  wirken 
und  Ursachen,  die  nur  per  Akzidens  ursächlich  wirkend  sind.  Nur  in  letzteren 
ist  die  Seinsart  in  Ursache  und  Wirkung  verschieden. 


Digitized  by 


Googk 


389 

malis  causandi  >)  von  geringerer  Seinsfülle  als  die  Ursache,  wenn 
überhaupt  jene  ratio  (indem  Ursache  und  Wirkung  zusammen- 
treten) eine  größere  oder  geringere  Intensität  zuläßt.  So  ver- 
hält sich  das  Wasser,  wenn  es  durch  Einwirkung  des  Feuers 
heiß  wird.  Dem  Augenscheine  nach  ist  es  manchmal  das  gleiche 
wie  auch  vor  der  Erhitzung  oder  mit  anderen  Worten,  es  nimmt 
die  Natur  des  Feuers  nicht  in  sich  auf,  (es  wird  nicht  selbst  zu 
Feuer).  Dem  Augenschein  nach  urteilen  und-  glauben  wir, 
betreffs  des  Feuers,  daß  es  einen  anderen  Gegenstand  zu  einem 
ebensolchen  Feuer  verwandele,  wie  es  selbst  ist,  (so  daß  es  so 
wird,  wie  die  Wirkursache  selbst  ist) 2).  Dies  gilt  jedoch  nur 
betreffs  der  äußeren  Erscheinung.  Dadurch  wird  dieses  ent- 
stehende Feuer  dem  ersten  Feuer  zunächst  ähnlich  inbezug  auf 
die  Wesensfonn  des  Feuers;  —  denn  diese  Wesensform  nimmt 
keine  größere  oder  geringere  Intensität  an,  3)  —  und  sodann  wird 
es  ihm  ähnlich  inbezug  auf  das  notwendige  Akzidens  (proprium), 
nämlich  die  sinnlich  wahrnehmbare  Hitze;  denn  das  Wirken 
geht  aus  von  der  Wesensform,*)  die  der  Wesensform  der  Wirkung 


1)  Der  arabische  Ausdruck  ma*iiä  bedeutet  Gedanke,  Begriff,  vielfach 
auch  begrifflich  faßbares,  reales  Wesen.  Als  Adjektiv  steht  er  dem  Quanti- 
tativen gegenüber  und  bezeichnet  das  Qualitative,  das  direkt  aus  der  un- 
körperlichen Wesensform  des  Dinges  resultiert.  Hier  bezeichnet  es  die  formeUe 
Hinsicht,  die  ratio  fonnalis,  in  der  die  Ursache  wirkend  ist.  Das  Schul- 
beispiel lautet:  der  Arzt,  der  zugleich  Musiker  ist,  heilt  den  Kranken  non  in- 
quantum  est  musicus,  sed  inquantum  est  medicus.  Das  esse  musicum  ist  causa 
per  accidens;  die  ratio  fonnalis  ist  das  esse  medicum. 

•)  Das  Holz  nimmt,  wenn  es  verbrennt,  nicht  nur  die  „Qualität",  sondern 
das  „Wesen"  des  Feuers  in  sich  auf;  es  wird  zu  Feuer.  Das  Wasser  nimmt 
aber  nur  die  Qualität  des  Feuers,  d.  h.  der  causa  efficiens  an  und  steht  daher 
der  „Seinsfülle"  nach  betreffs  der  ratio  fonnalis  causandi,  d.  h.  der  Hitze 
hinter  dem  Feuer  zurück.  In  der  Wirkung  ist  weniger  enthalten,  als  in  der 
Ursache. 

•)  Wenn  das  Feuer  daher  auch  in  geringerer  Intensität  in  der  Wirkung 
ist,  so  ist  es  dennoch  in  der  ganzen,  unverminderten  „Wesenheit"  des  Feuers 
in  derselben.  Essentiae  rerum  sunt  sicut  numeri.  Vermindert  oder  vermehrt 
man  daher  die  Wesenheit,  so  wird  sie  zu  einer  anderen.  Aus  dem  Feuer 
wird  dann  Luft  oder  Wasser.  Die  Wesenheiten  können,  ohne  ihre  Natur  zu 
verlieren,  nicht  vermehrt  oder  vermindert  werden.  Die  Qualitäten  lassen 
hingegen  eine  solche  Veränderung  intensio  vel  remissio  zu. 

*)  Wenn  das  Wirken  der  Ursache  ausgeht  von  der  Wesensform,  dann 
muß  es  auch  in  der  Wirkung  wiederum  die  Wesensform  und  mit  dieser  das 
proprium   derselben  hervorbringen.    Zur  Aufnahme  dieser  Wesensform  wird 


Digitized  by 


Googk 


390 

gleichsteht.  Infolge  dieses  Wirkens  (der  Form)  steht  auch  die 
Materie  der  Form  durch  ihre  Disposition  (für  dieselbe)  gleicL 

Was  aber  nun  die  Lehre  anbetrifft,  die  Wirkung  weise 
eine  größere  Intensität  in  der  ratio  formalis  auf,  die  sie  von 
der  Wirkung  empfängt,  so  ist  dies  etwas,  das  wir  schlechthin 
für  unmöglich  halten.  Ebensowenig  (wie  in  der  realen  Welt) 
existiert  auch  im  Bereiche  der  supponierten  Gegenstände  ein 
solches  Verhältnis  als  Ursache  und  Wirkung;  denn  dieses  Mehr 
(das  die  Wirkung  vor  der  Ursache  besitzen  soll)  kann  nicht  aus 
sich  selbst  entstehen.  Ebensowenig  kann  es  entstehen  durch 
eine  größere  Disposition  der  Materie,  so  daß  diese  (Disposition 
aus  sich  heraus)  schon  das  Hervorgehen  des  Dinges  zur  Aktua- 
lität zur  Folge  hätte.  Die  Disposition  (die  sich  nur  passiv 
verhält)  ist  bekanntlich  keine  Ursache,  die  etwas  positives 
hervorbringt.  Wenn  man  aber  (nach  Ausschluß  dieser  beiden 
Möglichkeiten)  zur  Ursache  dieses  Mehr  (das  die  Wirkung  vor 
der  Ursache  besitzen  soll),  die  Ursache  selbst  und  zugleich*) 
ihr  Einwirken  macht,  das  gleichzeitig  mit  der  Ursache,  von  ihr 
ausgehend,  existiert,  dann  ist  diese  größere  Fülle  des  Seins  in 
der  Wirkung  verursacht  durch  zwei  Dinge,  nicht  durch  ein 
einziges.  In  ihrer  Vereinigung  lassen  diese  beiden  Momente 
eine  größere  und  mächtigere  Intensität  zu,  als  die  Wirkung, 
nämlich  die  größere  FüUe  des  Seins. 

Wenn  wir  diese  Vorstellungen  zugeben,  damit  wir  uns 
freie  Bahn  schaffen  für  die  Diskussion,  dann  wird  es  uns  leicht 
zu  lehren:  wenn  die  ratio  formalis  causandi  in  der  Wirkung 
und  Ursache  sich  gleichsteht  inbezug  auf  Stärke  und  Schwäche, 
dann  muß  in  diesem  Verhältnisse  von  causa  und  effectus  die 
Ursache  des  logischen  Früher  (das  mit  jeder  Ursache  gegeben 
ist)  gerade  inbezug  auf  jene  ratio  formalis  statthaben.  Daher 
ist  also  das  logische  Früher,  das  für  das  Kausalverhältnis  in 
jener  ratio  formalis  enthalten  ist,  ein  (besonderer)  Begriff,  der 
zu  jener  ratio  formalis  selbst  (insofern  sie  sich  in  der  Ursache 


die  Materie  disponiert  und  auch  diese  Disponiernng  geht  von  det  zu  emp- 
fangenden Wesensform  z.  B.  der  des  Feuers  aus,  wenn  es  das  Wasser  all- 
mählich verwandelt,  die  Wesensform  des  Wassers  yerdrängend.  Durch  diese 
Disponierung  wird  das  Wasser  zu  Luft  und  dann  zu  Feuer. 

")  Die  Ursache  allein  kann  auf  Grund  des  Gesetzes  des  Widerspruches 
nicht  in  Frage  kommen. 


Digitized  by 


Googl( 


391 

vorfindet)  gehört,  ohne  daß  er  zu  gleicher  Zeit  dem  zweiten 
(der  Wirkung)  anhaftet,  i)  Daher  ist  also  dieser  erste  Begriff 
(das  „Früher"  der  ratio  formalis  in  der  Ursache),  wenn  man 
ihn  nach  der  Seite  der  Existenz «)  betrachtet  und  in  Beziehung 
auf  diejenigen  seiner  Verhältnisse,  die  ihm  von  selten  der  Existenz 
zukommen,  in  sich  selbst  früher  als  der  zweite  (d.  h.  die  ratio 
formalis  in  der  Wirkung).  Daher  besteht  also  keine  3)  absolute 
(uneingeschränkte)  Übereinstimmung  (zwischen  Ursache  und 
Wirkung);  denn  die  Übereinstimmung  bleibt  bestehen <)  in  der 
Definition,^)  indem  beide,  Ursache  und  Wirkung  sich  gleich- 
stehen, insofern  ihnen  diese  Definition  (nach  der  sie  beide  die- 
selbe bestimmte  Art  des  Wirklichen  sind)  zukommt.  In  diesem 
Sinne  ist  das  eine  nicht  eine  Ursache,  noch  das  andere  eine 
Wirkung.  Betrachtet  man  aber  beide,  insofern  das  eine  „Ur- 
sache" und  das  andere  „Wirkung"  ist,  dann  ist  es  klar,  daß 
die  „Existenz"«)  dieser  Definition  dem  einen  (der  Ursache)  in 
vorzüglicherem  Sinne  zukommt,  da  sie  diesem  ursprünglich  und 
unvermittelt  zu  eigen  ist,  nicht  von  der  zweiten  (der  Wirkung) 
herkommend;  dem  zweiten  aber  (der  Wirkung)  kommt  dieser 
Wesensinhalt  nur  zu  von  dem  ersten  (der  Ursache). 


1)  Die  ratio  des  kausalen  Wirkens  hat  zwei  Seiten,  die  eine  in  der 
Ursache,  die  andere  in  der  Wirkung.  So  ist  z.  B.  diese  ratio  für  die  Wirkung 
des  Feuers,  die  Hitze,  eine  „Form",  die  logisch  anders  im  Feuer  aufgefaßt 
wird,  als  in  dem  erhitzten  Gegenstande.  In  dem  ersten  ist  sie  wirkend,  in 
dem  zweiten  ist  sie  aufgenommen.  In  der  Ursache  ist  sie  also  früher,  in  der 
Wirkung  später.  Diesen  Begriff  des  Früher  bezeichnet  Avicenna  hier  als  ein 
Akzidens  der  ratio  formalis  cansandi. 

')  In  Bezug  auf  die  Eidstenz  und  die  Seinsordnung  ist  die  Ursache, 
das  aktive  Moment,  in  jedem  Falle  früher,  als  die  Wirkung,  das  passive 
Moment,  selbst  wenn  beide  der  Zeit  nach  zugleich  sind. 

«)  Wörtlich:  „schwindet". 

*)  Sie  bleibt  „bestehen",  trotzdem  die  Ursache  aktiv  und  die  Wirkung 
passiv  auftritt. 

*)  In  der  Definition,  d.  h.  der  Wesenheit,  sind  das  ursächlich  „wirkende" 
und  das  von  der  Ursache  „bewirkte"  Feuer  durchaus  gleich.  Nur  rücksichtlich 
der  Seinsordnung  ist  die  Verschiedenheit  vorhanden.  Betrachtet  man  also 
beide  Teile  nur  in  ihrer  Wesenheit,  so  kann  man  sie  nicht  als  Ursache  oder 
Wirkung  bezeichnen,  wie  Avicenna  im  folgenden  ausführt. 

•)  Wörtlich:  „die  Betrachtung  der  Definition".  Avicenna  betont  die 
Existenz;  denn  wenn  auch  beide  in  der  Wesenheit  übereinstimmen,  so  sind 
sie  dennoch  in  dieser  selben  Wesenheit  verschieden,  wenn  man  dieselbe  auf- 
faßt formaliter  inquantum  habet  (dat  aut  redpit)  „existentiam". 


Digitized  by 


Googk 


392 

Daher  ist  es  klar,  daß  in  dieser  ratio  formalis,  wenn  sie 
die  Existenz  selbst  ist  (die  die  Ursache  der  Wirkung  mitteilt),') 
beide  durchaus  in  keiner  Weise  gleichstehen,  da  beide  nur  in 
dem  Begriffe  der  Definition  gleichgeordnet  sind.  Die  Ursache 
aber  hat  vor  der  Wirkung  den  Vorzug  rücksichtlich  ihrer  Hin- 
ordnung 2)  auf  die  Existenz.  Nun  aber  trifft  es  sich  (z.  B.  im 
Schöpfungsakte),  daß  die  Hinordnung  zur  Existenz  die  Definition 
selbst  ist.3)  Denn  die  ratio  formalis  causandi  wurde  bereits  (im 
obigen  Beispiele)  aufgefaßt  als  das  Dasein  selbst.  Daher  ist  es 
also  klar,  daß  die  Ursache  der  Wirkung  nicht  gleichstehen  kann, 
wenn  die  ratio  formalis  die  Existenz  selbst  ist  (d.  h.  selbst  wenn 
sie  die  Definition  der  Wirkung  ist).  Dasjenige  Prinzip  also,  das 
dem  Gegenstande  die  Existenz  verleiht,  ist  als  „Existierendes" 
(nicht  insofern  es  eine  bestimmte  Wesenheit  darstellt)  in  vorzüg- 
licherem Sinne  mit  der  Existenz  ausgestattet  als  seine  Wirkung. 

In  diesen  Kausalverhältnissen  ist  jedoch  noch  eine  andere 
Einteilung  und  zugleich  eine  (andere)  Art  des  konkreten  Vor- 
kommens (der  Ursachen)  in  der  Außenwelt*)  gegeben,  die  du 


*)  Nur  im  Schöpf nngsakte,  der  das  Sein  mitteilt,  ist  die  ratio  formalis 
causandi  das  Dasein  selbst.  Die  Tendenz  dieser  Ausführungen  ist  also  die, 
ein  metaphysisches  Fundament  für  die  Lehre  zu  schaffen,  daß  die  Geschöpfe 
der  Gottheit  nicht  gleichstehen,  selbst  wenn  die  Schöpfung  eine  anfangslose  ist. 
*)  Wörtlich:  „durch  die  Beziehung  ihres  Anspruches  auf  die  Existenz". 
')  Wörtlich:  „wenn  sie  ein  Begriff  ist  wie  die  Definition  (von  der 
Gattung  der  Defin.)".  Daraus  ließe  sich  ableiten:  causa  und  effectus  stehen 
sich  in  der  Definition  gleich.  Diese  Definition  ist  nun  aber  im  Schöpfungs- 
akte die  Existenz  selbst.  Also  müssen  sie  sich  auch  in  der  Existenz  gleich- 
stehen; die  Geschöpfe  wären  also  Gott  gleichgeordnet.  Doch  Avicenna 
schließt:  In  der  Existenz  kann  niemals  eine  Gleichordnung  stattfinden.  Die 
Existenz  ist  nun  aber  manchmal  die  Definition  selbst,  für  die  eine  Gleich- 
ordnung zugegeben  wurde.  In  diesem  Falle  (dem  Schöpfungsakte)  ist  also 
auch  für  die  Definition  die  Gleichstellung  auszuschließen. 

*)  Wörtlich:  „eine  gewisse  Weise  der  Bestätigung"  oder  „Ergründung 
des  Wesens".    Im  folgenden  werden  die  Ursachen  eingeteilt: 
I.  in  Ursachen,  die  als  Wirkung  eine  Art  hervorbringen.  —  Es  soU  also  in 
ihnen  die  Ursache  einer  bestimmten  „Art"  gesucht  werden,  und  daher 
muß  die  Ursache  selbst  verschieden  sein  von  dieser  Art.  — 
n.  Ursachen,  die  das  Individuum  hervorbringen. 

A.  Ursachen,  die  in  derselben  Art  und  Weise  disponiert  sind,  wie  die 
aufnehmende  Materie.     . 

a)  Diese  Disposition  ist  eine  vollkommene,  indem 

1.   der   aufnehmende   Teil    eine  das  Wirken   unterstützende 
Kraft  in  sich  hat, 


Digitized  by 


Googl( 


393 

nicht  übersehen  darfst.  Es  ist  folgende:  die  Ursachen  und 
Wirkungen  werden  „sogleich"  bei  der  erstmaligen  Betrachtung 
von  dem  Verstände  in  zwei  Klassen  eingeteilt.  Die  erste  Klasse 
wird  gebildet  durch  solche  Ursachen  und  Wirkungen,  in  denen 
die  natürliche  Beschaffenheit  der  Wirkung,  wie  auch  ihre  Art 
und  ihre  Wesenheit  zur  realen  Existenz  gebracht  wird  auf 
Grund  einer  bestimmten  Natur  oder  bestimmter  Naturkräfte. 
Daher  sind  die  Ursachen  notwendigerweise  ihrer  „Art"  nach  ver- 
schieden von  der  Wirkung,  da  sie  Ursachen  für  den  Gegenstand 
sind  inbezug  auf  seine  „Art",  nicht  inbezug  auf  sein  Individuum.^) 
Wenn  die  Sache  sich  nun  so  verhält,  dann  sind  beide  Arten 
(die  der  Ursache  und  Wirkung)  nicht  ein  und  dieselbe;  denn 
dasjenige,  was  man  in  der  Untersuchung  finden  will,  ist  eben 
die  Ursache  jener  „Art".  Die  Wirkungen  stammen  vielmehr  in 
notwendiger  Folge  her  von  einer  anderen  „Art",  und  dem- 
entsprechend bewirken  die  Ursachen  in  notwendiger  Weise  eine 
von  ihnen  verschiedene  „Art".  Daher  handelt  es  sich  also  in 
dieser  Klasse  um  Ursachen  für  eine  Wirkung,  die  aus  sich 
heraus  (per  se)  wirken  und  hingeordnet  sind  auf  die  „Art"  der 
Wirkung  im  allgemeinen  (nicht  auf  die  konkrete  Erscheinungs- 
form der  Art  im  Individuum). 

Die  zweite  Klasse  der  Ursachen  und  Wirkungen  verhält 
sich  so,  daß  die  Wirkung  nicht  die  Wirkung  der  Ursache  und 
dann  auch  die  Ursache  ebensowenig  Ursache  für  die  Wirkung 
ist  durch  ihre  „Art".  Die  Ursache  ist  vielmehr  Ursache  für 
ihre  Wirkung  inbezug  auf  das  „Individuum"  (der  Wirkung). 

Wir  wollen  diese  Klassifizierung  in  dem  Sinne  auffassen, 
wie  es  der  Verstand  für  eine  richtige  Einteilung  verlangt  und 
wie  es  offenkundige  Beispiele  erläutern,  ohne  mit  den  Worten 
zu  kargen,  damit  wir  die  wahren  und  sich  notwendig  ergebenden 
Verhältnisse  auseinandersetzen  entsprechend  unserer  Meinung  über 


2.  oder  eine  dieses  hindernde, 

3.  oder  sich  zu  ihm  indifferent  verhält, 

b)  oder  die  Disposition  ist  eine  unvollkommene. 
B.  Ursache  und  Wirkung  können  sich  in  Bezug  auf  die  Disposition 

ihrer  Materie  verschiedenartig  verhalten. 
*)  Es  handelt  sich  also  hier  um  Ursachen  für  die  Art.    Da  nun  die 
Ursache  verschieden  sein  muß  von  ihrer  Wirkung,  so  muß  sie  also  in  vor- 
liegendem Falle  der  „Art"  nach  verschieden  sein  von  ihrer  Wirkung. 


Digitized  by 


Google 


394 

die  Ursache,  die  jedem  Körper,  dem  eine  Wesensform  zukommt,*) 
eine  solche  verleiht  Beispiel  der  ersten  Kategorie  der  Ur- 
sachen (die  eine  von  ihnen  wesentlich  verschiedene  Wirkung 
hervorbringen)  ist  die  Seele  als  Ursache  für  die  freigewollte 
Bewegung.  Beispiel  für  die  zweite  Kategorie  ist  dieses  indi- 
viduelle Feuer  als  Ursache  für  jenes  andere  Feuer.  Der  Unter- 
schied zwischen  beiden  Beispielen  ist  bekannt  Dieses  Feuer 
ist  nicht  Ursache  für  jenes  individuelle  Feuer,  insofern  es  Ur- 
sache für  seine  Artbeschaffenheit ^)  wäre,  sondern  insofern  es 
Ursache  für  ein  bestimmtes  Feuer  ist  Betrachtet  man  da^elbe 
daher  rücksichtlich  seiner  Artbeschaffenheit,  so  ist  dieses  ursach- 
lich wirkende,  individuelle  Feuer  (nur)  per  accidens  Ursache 
für  die  Art  jenes  anderen  Feuers.  Ebenso  gründet  sich  das 
Kausal  Verhältnis  zwischen  Vater  und  Sohn  nicht  darauf,  daß 
der  eine  Vater  und  der  andere  Sohn  ist,  sondern  auf  die  mensch- 
liche Natur,  die  (in  ihnen)  real  existiert  Diese  Kategorie  der 
Ursache  kann  nun  nach  zwei  Richtungen  hin  betrachtet  werden. 
Die  eine  besagt,  daß  die  Ursache  und  die  Wirkung  überein- 
stimmen 3)  in  der  Disposition  der  Materie  (für  die  Aufnahme 
der  Wesensform).  So  verhält  sich  das  Feuer  (als  Ursache)  zu 
dem  Feuer  (als  Wirkung).  Die  zweite  besagt,  daß  beide  in  der 
Disposition  der  Materie  nicht  übereinstimmen.  So  verhält  sich 
das  Licht  der  Sonne,  das  sich  in  der  Substanz  der  Sonne  selbst 
befindet  und  Wirkursache  ist,  zu  dem  Lichte  hier  auf  Erden 
oder  im  Monde.  Denn  die  Disposition  der  beiden  Materien  (der 
Sonne  auf  der  einen  Seite  und  der  Erde  und  des  Mondes  auf 
der  anderen  Seite)  ist  nicht  die  gleiche;*)  ebensowenig  sind  die 
beiden  Materien  selbst  (die  Substrate  der  Dispositionen)  zu  einer 
und  derselben  Art  zu  rechnen.  Daher  ist  es  selbstverständlich, 
daß  auch  die  beiden  (aus  diesen  Dispositionen  und  der  auf- 
genommenen Form  entstehenden)  Individua,  nämlich  das  Licht 

*)  Der  Ausdruck  bezeichnet  die  aus  der  Form  und  einem  aufnehmenden 
Prinzipe  zusammengesetzten  Dinge  im  Gegensatze  zu  den  reinen  Formen, 
den  Greistem. 

')  Der  arabische  Ausdruck  bezeichnet  nicht  die  Art  schlechthin,  sondern 
die  Eigentümlichkeit  derselben  im  Gegensatz  zum  Individuum  und  zum  Genus. 

•)  Der  arabische  Ausdruck  besagt,  daß  beide  Dispositionen  Individua 
derselben  Art  sind.  Dieses  trifft  zu  in  den  Beziehungen  der  himmliyhen  und 
irdischen  Körper  unter  sich,  nicht  aber  in  den  Beziehungen  der  ersten  zu  den 
letzteren. 

*)  Weder  gleich  intensiv  noch  auch  vom  gleichen  Wesen. 


Digitized  by 


Googk 


395 

Sonne  auf  der  einen  und  das  aus  diesem  entstehende  (des  Mondes 
oder  der  Erde  auf  der  anderen  Seite)  nicht  übereinstimmen. 
Daher  (d.  h.  weil  die  Dispositionen  wesentlich  verschieden  sind) 
fehlt  sogar  nicht  viel  daran,  daß  die  beiden  Erscheinungsweisen 
des  Lichtes  nicht  zu  einer  und  derselben  Art  gehören.  Be- 
sonders ist  dies  im  Sinne  desjenigen,  der  für  das  Zustande- 
kommen der  Gleichheit  in  der  Artbeschaffenheit  der  Qualitäten 
die  Anforderung  stellt,  daß  die  eine  Qualität  nicht  weniger,  die 
andere  mehr  intensiv  seL  So  hast  du  es  am  geeigneten  Orte*) 
inbezug  auf  die  Qualität  kennen  gelernt.  Beide  Arten  des 
Lichtes  bilden  jedoch  nur  eine  einzige  Spezies  im  Sinne  des- 
jenigen, der  die  Verschiedenheit  zweier  Qualitäten  nach  der 
größeren  oder  geringeren  Intensität  als  eine  Verschiedenheit  auf 
Grund  von  Akzidenzien  und  individuellen  Bestimmungen  be- 
zeichnet (die  also  keine  neue  Art  begründet). 

Die  erste  Kategorie  besagt,  daß  beide  Gegenstände-)  in 
der  Disposition  der  Materie  übereinstimmen.  Sie  wird  in  zwei 
Teile  geteilt;  denn  diese  Bereitschaft  (der  Materie)  ist  in  dem 
leidenden  3)  Teile  entweder  eine  vollkommene  oder  eine  unvoll- 
kommene. Die  vollkommene  Disposition  besteht  darin,  daß  in 
der  Natur  des  Dinges  (z.  B.  des  heißen  Wassers)  nichts  ist,  was 
(dem  Wirken  oder  dem  physischen  Vorgange)  feindlich  gegen- 
übersteht und  dasjenige  hindert,  was  der  Potenz*)  nach  in  dem 
Dinge  enthalten  ist.  So  verhält  sich  die  Disposition  des  Wassers, 
das  erhitzt  wurde,  zur  Kälte,  denn  in  dem  Wasser  selbst  be- 
findet sich,  wie  wir  dir  in  dem  naturwissenschaftlichen  Teil  der 
Philosophie^)  auseinandergesetzt  haben,  eine  natürliche  Kraft, 


0  Logik  I.  TeU,  1, 10—12;  H.  Teü,  V,  1—3  und  Naturw.  IV.  Teü. 

*)  Ursache  und  Wirkung  oder,  wie  das  folgende  Beispiel  zeigt,  die  beiden 
Phasen  eines  physikalischen  Vorganges  „stimmen  überein",  d.  h.  weisen  eine 
innere  Verwandtschaft  auf,  indem  z.  B.  das  heiße  Wasser  aus  sich  heraus 
ohne  äußeres  Zutun  erkaltet,  während  das  kalte  Wasser  nur  unter  Einwirkung 
eines  äußeren  Agens  heiß  wird.  Das  heiße  und  kalte  Wasser  stimmen  in  der 
„Disposition  der  Materie"  überein,  indem  beide  die  Hitze  ausschließen:  das 
heiße  Wasser  scheidet  die  Hitze  aus  und  das  kalte  Wasser  nimmt  sie  nicht 
an.  Die  Materie  verhält  sich  also  in  beiden  Fällen  zur  Hitze  in  derselben 
Weise. 

^)  Der  leidende  Teil  ist  nicht  nur  die  Materie  der  Wirkung,  sondern 
unter  Umständen  die  Materie,  die  Träger  der  Phasen  der  Veränderung  ist. 

*)  Der  Potenz  nach  ist  in  dem  heißen  Wasser  die  Kälte  enthalten. 

*)  Naturwissenschaften  lY.  Teil,  I,  2—3. 


Digitized  by 


Google 


396 

die  die  von  außen  wirkende  und  Kälte  zuführende  Kraft  unter- 
stützt oder  dieselbe  wenigstens  nicht  hindert  Die  unvollkommene 
Disposition  der  Materie  verhält  sich  wie  die  Disposition  des 
Wassers  zum  Erhitzen.  Denn  in  dem  Wasser  ist  eine  Kraft 
vorhanden,  die  das  Erhitzen  hindert,  das  durch  Einwirkung 
eines  äußeren  Agens  in  dem  Wasser  auftreten  soll.  Diese  Kraft 
bleibt  gleichzeitig  mit  dem  Vorgange  des  Erhitzens  und  trotz 
desselben  in  dem  Wasser  bestehen,  ohne  veniichtet  zu  werden. 
(Sie  hindert  also  ununterbrochen  die  Wirkung  des  äußeren  Agens.) 

Die  erste  Art  der  aufgezählten  Ursachen  zerfällt  wiederum 
in  drei  Klassen.  Denn  diese  Disposition  der  Materie  verhält 
sich  entweder  so,  daß  sich  in  dem  Disponierten  eine  unter- 
stützende Kraft  befindet,  die  dort  bestehen  bleibt  und  eine 
unterstützende  Wirkung  ausübt  (auf  die  Tätigkeit  der  Ursache). 
So  verhält  sich  (die  Kraft)  im  Wasser,  wenn  es  kalt  wird  und 
seine  Hitze  verliert.  Oder  (zweitens)  es  besteht  in  der  dis- 
ponierten Materie  eine  Kraft,  die  der  Einwirkung  der  Ursache 
konträr  gegenübersteht;  jedoch  verhält  sie  sich  so,  daß  sie  mit 
dem  Eintreten  der  Einwirkung  der  Ursache  und  dem  Auftreten 
der  Wirkung  >)  vernichtet  wird.  So  ist  das  Verhältnis,  wenn 
das  Haar  seine  schwarze  Farbe  verliert  und  weiß  wird.  Oder, 
drittens,  die  disponierte  Materie  verhält  sich  so,  daß  in  ihr 
keines  von  diesen  beiden  Dingen,  weder  ein  Hinderndes  noch 
ein  die  Wirkung  der  Ursache  Unterstützendes,  vorhanden  ist 
Sie  ist  vielmehr  frei  von  beiden,  und  ihr  kommt  nur  die  Dis- 
position für  die  Aufnahme  der  Wirkung  zu.  So  verhält  sich  die 
geschmacklose  Nahrung  bezüglich  der  Aufnahme  (irgend  einer 
Art)  des  Geschmackes  und  das  Geruchlose  inbezug  auf  die  Auf- 
nahme (irgend  einer  Art)  des  Geruches. 

Stellt  man  nun  an  uns  die  Frage,  welcher  Art  die  Dis- 
position des  Wassers  sei,  damit  dieses  zu  Feuer  werde,  und  zu 
welcher  Art  der  fünf  aufgezählten  Gruppen  von  Ursachen  es 
gehöre,  so  ist  es  uns  nicht  zweifelhaft,  daß  es  zu  der  Gruppe 
gehört,  in  der  die  Disposition  der  Materie  und  der  Wirkung  eine 
vollkommene  und  der  Ursache  verwandte  ist  Jedoch  findet 
sich  in  der  Materie  das  Kontrarium  der  Wirkung  vor.  Deshalb 
könnte  jemand  die  Schwierigkeit  erheben:  eine  besondere  Art 
der  Ursache  habt  ihr  übersehen,  nämlich  eine  solche  Gruppe 


»)  WörtUch:  „des  Dinges". 


Digitized  by 


Googk 


397 

Ton  Ursachen,  deren  Materie  in  keiner  Weise  übereinstimmt 
(mit  der  Ursache),  da  diese  Ursache  überhaupt  keine  Materie 
besitzt.  Dagegen  ist  zu  antworten:  in  den  Einwirkungen  von 
dort  (den  Einwirkungen,  die  von  den  himmlischen  Körpern 
ausgehen)  kann  keine  Übereinstimmung  in  der  Art  irgendwie 
bestehen  (mit  den  irdischen  Dingen).  Denn  die  Dinge,  die  der 
Art  nach  übereinstimmen  und  frei  sind  von  jeder  Materie,  be- 
sitzen, das  ist  evident,  ihre  Existenz  in  nur  einem  einzigen 
Individuum.  Der  Wesensbegriff  des  einen  von  diesen  Dingen 
kann  unmöglich  von  vielen  ausgesagt  werden.  0 

Da  wir  auf  diese  Einteilung  der  Ursachen,  die  in  ihrer 
Summe  fünf  ausmachen,  hingewiesen  haben  (S.  370),  so  wollen  wir 
nun  die  einzelnen  Teile  nacheinander  besprechen.  Wir  lehren  also: 
was  nun  diejenige  Art  der  Ursachen  angeht,  in  der  die  Materie 
nicht  in  der  Wirkung  in  verwandter  Weise  disponiert  ist,^)  weder 
die  nächste  noch  die  entferntere  Materie,  so  ist  es  nicht  erforder- 
lich in  diesem  Verhältnisse  zwischen  Ursache  und  Wirkung,  daß 
dasjenige,  was  die  Wirkursache  an  Wirkungen,  die  ein  Mehr 
oder  Weniger  annehmen  können,  hervorbringt,  gleich  sei  dem, 
was  die  Wirkursache  in  sich  selbst  besitzt;^)  denn  es  ist  möglich, 


*)  Dieses  bildet  die  Grundlage  für  die  Lehre  von  den  Engeln,  die  in 
sich  subsistierende,  reine  Ideen  sind,  so  daß  ein  jeder  Engel  eine  Art  in  seiner 
Individualität  darstellt.  Seine  „Individualität^^  ist  also  nicht  eine  solche  im 
eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  da  sie  nicht  durch  eine  Materie  hergestellt 
wird.  Vgl.  Thomas,  Sum.  theol.  I  50,  4  c:  Si  angeli  non  sunt  compositi  ex 
materia  et  forma,  ut  dictum  est  supra  (ib.  art.  1  und  2),  sequitur  quod  im- 
possibile  sit  esse  duos  angelos  unius  speciei;  sicut  etiam  impossibile  est  dicere 
quod  essent  plures  albedines  separatas  aut  plures  humanitates,  cum  albedines 
non  sint  plures,  nisi  secundum  quod  sunt  in  pluribus  substantiis.  Si  tamen 
angeli  haberent  materiam,  nee  sie  possent  esse  plures  angeli  unius  speciei. 
Sic  enim  oporteret,  quod  principium  distinctionis  unius  ab  alio  esset  materia, 
non  quidem  secundum  divisionem  quantitatls,  cum  sint  incorporei,  sed  secun- 
dum diversitatem  potentiarum:  quae  quidem  diversitas  materiae  causat  diver- 
sitatem  non  solum  speciei,  sed  generis.  Vgl.  ferner  ib.  47,2  c;  62,  6  ad  3; 
75,  7  c;  76,  2  ad  1;  m  69,  8  ad  3.  I  3,  2  ad  3:  formae  quae  sunt  receptibiles 
in  materia,  individuantur  per  materiam,  quae  non  potest  esse  in  alio,  cum  sit 
primum  subiectum  . . .  Sed  illa  forma  quae  non  est  receptibilis  in  materia, 
sed  est  per  se  subsistens,  ex  hoc  ipso  individuatur,  quod  non  potest  recipi  in 
alio.    ib.  3  c;  13,  9  c;  HI  77,  2. 

*)  Wörtlich:  „in  der  keine  Gemeinsamkeit  in  der  Disposition  der  Materie 
besteht". 

*)  In  diesem  Sinne  gilt:  causa  est  nobilior  suo  effectu.  Vgl.  Thomas, 
Sum.  th.  I — n  66,  6  ad  3:  causa  perficiens  est  potior  suo  effectu,  non  autem 


Digitized  by 


Googk 


898 

daß  beide  in  der  Disposition  für  die  Anfnahme  der  Wirkung 
verschieden  sind,  um  so  viel,  als  sie  beide  verschieden  sind  in 
der  Substanz  der  Materie  und  infolge  derselben.  Daher  nehmen 
sie  beide  (Ursache  und  Wirkung)  nicht  in  gleicher  Weise  das 
formelle  Prinzip  in  sich  auf.  Ebensowenig  ist  es  erforderlich, 
daß  sie  beide  in  Bezug  auf  diesen  Begriff  sich  gleichstehen.^ 
Beide  können  sich  vielmehr  so  verhalten,  wie  die  Fläche  der 
Sphäre  des  Äthers,  die  die  Fläche  der  Sphäre  des  Mondes  bewegt 
(wörtlich:  folgen  läßt)  in  Bezug  auf  die  Bewegung,  die  per 
Akzidens  erfolgt.  Der  Grund  dafür  ist  der,  weil  es  möglich  ist, 
daß  in  dieser  Wirkung  kein  Hindernis  besteht,  das  die  Wirkung 
abhält,  die  Wirkung  der  Ursache  in  sich  aufzunehmen,  und  zwar 
so,  daß  diese  Einwirkung  demjenigen  gleichsteht,  was  die  Wirk- 
ursache bewirkt.  In  der  vorliegenden  Materie  bedeutet  dieses 
das  Hervorrufen  einer  Wirkung,  die  ebenso  beschaffen  ist  wie 
die  Ursache. 

Was  nun  die  zweite  Art  der  Ursachen  in  diesem  Kapitel 
angeht,  nämlich  die  Ursachen,  bei  denen  die  Materie  in  voll- 
kommener Weise  disponiert  ist,  wie  dies  auch  immer  sein  möge, 
so  ist  das  Verhältnis  klar.  Das  passive  Element  kann  sich  dem 
wirkenden  in  vollkommener  Weise  ähnlich  gestalten.  So  ge- 
schieht es,  wenn  das  Feuer  das  Wasser  in  Feuer  verwandelt^ 
oder  das  Salz  den  Honig  salzig  macht  und  in  ähnlichen  Vor- 
gängen. Das  passive  Element  kann  in  manchen  Fällen  die 
Wirkursache  in  dem,  was  dem  Augenschein  sich  darbietet,  so- 
gar übertreffen  und  ihre  Intensität  noch  steigern.  Dies  jedoch 
bestätigt  sich  nicht  (der  eingehenden  Prüfung).  So  verhält  sich 
das  Wasser,  welches  durch  die  Luft  zum  Gefrieren  gebracht 
wird.  Die  Kälte  der  Luft  ist  nicht  intensiver  als  die  Kälte  des 
gefrorenen  Wassers.  Wenn  du  jedoch  den  Vorgang  untersuchst, 
so  findest  du,  daß  die  Wirkursache  nicht  allein  die  Kälte  ist> 
die  in  der  Luft  sich  vorfindet,  sondern  es  ist  hinzunehmen  die 
Kälte,  die  in  dem  die  Kälte  bewirkenden  Prinzipe  vorhanden 
ist,  die  in  der  (Wesensform  und)  Substanz  des  Wassers  sich 
befindet   In  den  Naturwissenschaften  haben  wir  auf  diesen  Vor- 


causa  disponens;  sie  enim  calor  ignis  esset  potior  quam  anima,  ad  quam  dis- 
ponit  materiam.  (Die  Wärme  disponiert  die  Materie  des  entstehenden  Lebe- 
wesens f&r  die  Anfnahme  der  Seele.)    Vgl.  auch  ibi  n~n  58,  6  c 

')  Ursache  nnd  Wirkung  können  gleich  sein,  wenn  im  anfnehmenden 
Prinzipe  kein  Hindernis  besteht. 


Digitized  by 


Googk 


399 

gang  bereits  hingewiesen  0,  der  eintritt,  wenn  diese  Kraft  die 
Wirkung  der  Ursache  unterstützt  oder  wenigstens  die  Kälte  der 
Luft  nicht  in  ihrer  Betätigung  hindert. 

Was  nun  die  dritte  Kategorie  der  Ursachen,  die  in  diesem 
Kapitel  besprochen  werden,  angeht,  in  der  die  Disposition  des 
leidenden  Prinzips  unvollkommen  ist,  so  kann  bei  dieser  Art 
der  Ursachen  das  passive  Prinzip  in  keiner  Weise  sich  mit  dem 
wirkenden  Prinzipe,  das  eine  vollendete. Potenz  besitzt,  verähn- 
lichen noch  ihm  gleichstehen.  Denn  das  entstehende  Ding  kann 
im  angenommenen  Falle  nur  zustande  kommen  in  der  Aufnahme- 
fähigkeit eines  Gegenstandes,  die  die  Wirkung  hindert,  indem 
in  diesem  Falle  die  Wirkung  eintritt  in  einer  anderen  Potenz 
(als  Substrat).  In  dieser  ist  ein  feindliches  Prinzip  vorhanden, 
das  das  sich  Gleichstehen  von  Ursache  und  Wirkung  verhindert; 
es  müßte  denn  sein,  daß  das  hindernde  Prinzip  vernichtet  wird. 
Aus  diesem  Grunde  ist  es  nicht  möglich,  daß  etwas  anderes  als 
das  Feuer  durch  das  Feuer  Hitze  annehme,  so  daß  zugleich 
seine  Hitze  geradeso  intensiv  werde,  wie  die  Hitze  jenes  Feuers. 
Es  ist  femer  unmöglich,  daß  ein  Ding,  das  nicht  das  Wasser 
ist,  durch  das  Wasser  gefriert,  so  daß  die  Kälte  des  Gefrierenden 
intensiver  sei  als  die  Kälte  des  Wassers.  Denn  die  Disposition 
des  Feuers  für  die  Hitze  und  die  des  Wassers  für  das  Kalt- 
werden sind  Zustände,  die  kein  ihnen  feindliches  Prinzip  in  der 
betreffenden  Substanz  (dem  Feuer  oder  Wasser)  vorfinden.  Die 
aktiv  wirkende  Kraft  dringt  ein  in  die  Substanz,  der  die  Kraft 
nicht  wie  ein  fremdes  Prinzip  gegenübersteht.  In  dem  passiven 
Prinzipe  beider  2)  jedoch  befindet  sich  ein  die  Wirkung  hinderndes 
Moment,  das  ausgestattet  ist  mit  einer  konträren  Kraft  Die 
erste  Ursache  für  die  Wirkung  (wörtlich:  das  Leiden)  befindet 
sich  außerhalb  der  Substanz  des  passiven  Prinzips  und  wirkt 
auf  dasselbe  durch  Berührung  und  durch  Vermittlung  irgend  eines 
Gegenstandes,  wie  z.  B.  der  sinnlich  wahrnehmbaren  Hitze  im 
Feuer,  das  einen  Gegenstand  erhitzt,  und  wie  z.  B.  durch  Ver- 
mittlung der  sinnlich  wahrnehmbaren  Kälte  im  Wasser,  das 
einen  Gegenstand  gefrieren  macht.  Die  Wirkung  kann  bei 
diesen  Vorgängen  der  Wirkursache  nicht  gleichstehen. 

Dagegen  könnte  jemand  eine  Schwierigkeit  machen:  das 
Feuer  macht  die  Substanzen  vielfach  flüssig,  und  dadurch  be- 

>)  Naturwissenschaft  IV.  Teil,  I,  9. 

')  d.  h.  in  den  Objekten,  auf  die  das  Feuer  und  das  Wasser  wirken. 


Digitized  by 


Googk 


400 

wirkt  es,  daß  dieselben  heißer  werden,  als  das  Feuer  selbst! 
Dieses  können  wir  durch  folgendes  Experiment  beweisen.  Führen 
wir  unsere  Hand  durch  das  Feuer  und  bewegen  wir  dieselbe 
in  der  Flamme  schnell  hin  und  her,  so  wird  die  Hand  nicht 
verbrannt  in  derselben  Weise,  wie  sie  verbrennt  in  flüssigem 
Metall,  wenn  wir  dort  genau  dasselbe  ausführten.  Daraus  er- 
kennen wir  klar,  daß  die  flüssigen  Metalle  heißer  sind  als  das 
Feuer,  und  trotzdem  sie  heißer  sind,  wurden  sie  durch  das  Feuer 
erhitzt  (die  Wirkung  scheint  also  in  diesem  Falle  größer  zu 
sein,  als  die  Ursache).  Ebenso  verhält  sich  das  Wasser.  Darauf 
erwidern  wir:  dieser  Vorgang  ist  nicht  darauf  zurückzuführen^ 
daß  die  flüssigen  Metalle  heißer  waren  (als  das  Feuer),  Die 
Erklärungsgründe  für  diesen  Vorgang  sind  jedoch  drei,  die  teil- 
weise einleuchtender  sind  (als  der  angeführte,  aber  unrichtige 
Grund).  Der  erste  ist  in  den  flüssigen  Metallen  zu  suchen,  der 
zweite  auf  selten  des  Feuers  und  der  dritte  auf  selten  des 
Tastenden.  Alle  Gründe  unterstützen  sich  gegenseitig  und  sind 
nahe  verwandt 

Was  nun  den  Erklärungsgrund  angeht,  der  auf  Seiten  der 
flüssigen  Metalle  zu  suchen  ist,  so  ist  er  folgender:  diese  Metalle 
sind  massig,  dickflüssig,  haften  leicht  an  und  trennen  sich  schwer. 
Werden  sie  nun  berührt,  dann  heftet  sich  an  den  Berührenden 
ein  Teil  an,  und  dieser  Teil  kann  nur  nach  Verlauf  einer  ge- 
wissen Zeit  wiederum  (von  der  Hand)  getrennt  werden.  Es  muß 
eine  verhältnismäßig  große  Zeit  verlaufen  im  Vergleich  zu  der 
Zeit,  in  der  das  Feuer  sich  trennt  von  der  Hand,  die  in  die 
Flamme  gehalten  wird.  Freilich  kann  der  Sinn  diese  (überaus 
geringe)  verschiedene  Länge  der  Zeit  nicht  wahrnehmen.  Jedoch 
erkennen  diesen  Unterschied  der  Verstand  und  der  denkende 
Geist.  Die  natürliche  Wirkursache  wirkt  auf  das  passive  Element 
in  einer  größeren  Zeit  eine  bedeutendere  und  intensivere  Wir- 
kung, und  die  schwache  Naturkraft  wirkt  in  einer  längeren  Zeit 
dasjenige,  was  die  intensivere  Kraft  in  einer  kleinen  Zeit  nicht 
hervorbringt  (und  daher  kann  die  geringere  Hitze  in  den  flüssigen 
Metallen  in  einer  längeren  Zeit  eine  größere  Wirkung  hervor- 
bringen als  die  intensivere  Hitze  der  offenen  Flamme  in  einer 
kleineren  Zeit).. 

Was  nun  den  Erklärungsgrund  angeht,  der  auf  selten  des 
Feuers  zu  suchen  ist,  so  besteht  er  darin,  daß  das  sinnlich 
wahrnehmbare  Feuer  nur  aus  Teilen  des   eigentlichen  Feuers 


Digitized  by 


Googk 


401 

besteht  (das  reine  Element  des  Feuers,  das  der  Hochwelt  an- 
gehört), und  diese  Teile  sind  vermischt  mit  Teilen  der  Erde,  die 
aus  der  Erde  aufsteigen  und  sich  schnell  bewegen.  Die  Ver- 
mischung dieser  beiden  Arten  von  Teilen  findet  statt,  indem 
sich  beide  nahe  treten,*)  nicht  in  der  Weise,  daß  sich  beide  zu 
einem  Kontinuum  verbinden.  Diese  Teile  sind  vielmehr  von- 
einander getrennt,  so  daß  die  Luft  von  allen  Seiten  immer 
wieder  von  neuem  eindringt.  Daher  brechen  die  eindringenden 
Teile  (die  Kraft  des  Feuers  und  vernichten)  seine  Reinheit; 
denn  die  Luft  ist  kälter  als  das  Feuer.  (Das  Feuer  verbrennt 
nun  nicht  in  gleicher  Weise  die  Hand,  wie  die  flüssigen  Metalle), 
weil  nichts  bei  so  schneller  Bewegung  (wie  die  der  Hand)  irgend 
eine  Wirkung  in  sich  aufnimmt  (erleidet),  durch  die  reines 
Feuer  entstehen*)  kann  (indem  die  Hand  verbrennt).  Trotzdem 
(das  Feuer  nicht  ein  reines  Feuer,  sondern  mit  Teilen  der  Erde 
vermischt  ist)  ist  die  Flamme  schnell  beweglich,  so  daß  kaum 
ein  Teil  derselben  einen  Teil  der  Hand  in  einer  auch  noch  so 
geringen  Zeitdauer  berührt,  in  der  sie  eine  sinnlich  wahrnehmbare 
Wirkung  hervorbringen  könnte.  Das  Berühren  verändert  und 
erneuert  sich  vielmehr  fortwährend.  So  lange  aber  viele  Ein- 
wirkungen des  Feuers  nicht  zusammenkommen,  die  (jede  für 
sich  betrachtet)  sinnlich  nicht  wahrnehmbar  sind,  wird  keine 
solche  Intensität  der  Wirkung  erreicht,  die  sinnlich  wahrnehmbar 
wäre,  selbst  in  einer  Zeitdauer,  die  eine  gewisse  Größe  hat. 

Was  nun  den  Erklärungsgrund  angeht,  der  in  den  flüssigen 
Metallen  selbst  zu  suchen  ist,  so  liegt  er  darin,  daß  die  Sub- 
stanz dieser  Metalle  kondensiert,  eng  vereinigt  und  in  sich  fest- 
geschlossen ist  zu  einem  Kontinuum.  Wenn  dieses  sich  nun  so 
verhält,  dann  legt  sich  (beim  Hineintauchen)  in  die  Fläche  der 
Hand  eine  Fläche  des  flüssigen  Metalls  hinein,  die  sich  in  ihrer 
ganzen  Ausdehnung  an  die  Hand  anschmiegt.  Was  im  Vergleich 
dazu  von  dem  sinnlich  wahrnehmbaren  Feuer  sich  an  die  Hand 
anschmiegt,  sind  viele  kleine  Flächen,  die  zugleich  vermischt 
sind  mit  Elementen,  die  im  Vergleich  zum  Feuer  kalt  sind,  und 
daher  ist  die  Wirkung  beider  verschieden;  es  müßte  denn  sein, 
daß  die  Berührung  eine  Zeit  hindurch  bestehen  bliebe  in  der 


")  Wörtlich:  „sich  benachbart  sind". 

*)  Der  Gegenstand,  der  verbrennt,  wird  zu  Feuer;  aus  ihm  „entsteht" 
also  reines  Feuer. 

Horttn.  Dm  Bnoh  dar  QenMang  der  Seele.  26 


Digitized  by 


Google 


402 

eine  große  Zahl  von  Berührungen  aufeinander  folgen.  Jede  Fläche 
wirkt  nun  auf  dasjenige  ein,  was  sie  berührt.  Sodann  wird  diese 
Einwirkung  mächtig  und  wirkt  in  der  Weise,  wie  die  Verände- 
rungen von  Elementen  vor  sich  gehen.  Was  nun  dasjenige  Feuer 
angeht,  das  zusammengepreßt  ist  in  dem  Tiegel  der  Schmiede, 
so  ist  dieses  intensiver  inbezug  auf  seine  Wirkung  auf  dasjenige, 
was  mit  ihm  in  Berührung  tritt,  als  die  flüssigen  Metalle  und 
ähnliche  Gegenstände.  Dieses  Feuer  wirkt  zudem  schneller, 
weil  es  konzentrierter  ist  und  reines  Feuer  darstellt  Was 
nun  den  Erklärungsgrund  für  den  oben  genannten  Vorgang  an- 
geht, der  in  der  Hand  liegt,  so  besteht  er  darin,  daß  die  Hand 
die  Luft  und  das  Feuer  zerteilen  kann.  In  den  leichten  Körpern 
bewegt  sie  sich  femer  mit  größerer  Schnelligkeit;  jedoch  kann 
sie  die  flüssigen  Metalle,  die  dicht  sind,  nicht  in  schneller  Be- 
wegung zerteilen;  denn  die  Kraft,  die  dem  eindringenden  Körper 
sich  entgegenstellt  und  die  Zerteilung  hindert,  ist  in  den  leichten 
Körpern  gering,  in  den  dichteren  Körpern  bedeutend.  Dieses 
ist  vielleicht  dasjenige,  was  mit  „dicht"  bezeichnet  wird  und 
jenes  mit  „dünn"  auf  Grund  der  Verschiedenheit  der  beiden 
Körper  in  dieser  Beziehung  (ratio,  zum  eindringenden  G^en- 
stande).  Wenn  das  flüssige  Metall  nicht  größere  Adhäsion  hätte 
und  sich  nicht  so  leicht  an  andere  Körper  anschlösse,  noch  auch 
so  fest  in  sich  geschlossen  wäre,  und  wenn  dann  das  Zerteüen 
dieses  flüssigen  Körpers  in  einer  längeren  Zeit  stattfindet  wegen 
der  dem  eindringenden  Körper  entgegenstehenden  Kraft,  und 
wenn  zugleich  der  flüssige  Körper  in  sich  fest  bestehend  und 
zusammenhängend  wäre,  ohne  daß  er  vor  dem  eindringenden 
Körper  entweichen  würde,  dann  genügte  der  letzte  Grund  allein 
(die  Dichtigkeit),  um  eine  mächtigere  Wirkung  auszuüben,  als 
die  des  leichten  Körpers  auf  Grund  der  Proportion  der  Zeiten, 
in  denen  der  eine  oder  der  andere  Körper  wirkt  Die  Ursache 
ist  folgende.  Wirkt  das  flüssige  Metall  in  einer  ebenso  kurzen 
Zeitdauer  als  die,  in  der  der  leichte  Körper  (die  Hand)  berührt^ 
so  bringt  es  eine  gewiße  Wirkung  hervor.  Verdoppelt  man  nun 
die  5^it,  dann  kann  die  Wirkung  des  flüssigen  Körpers  der  des 
leichten  bei  einem  gewissen  Vielfachen  der  ersten  Zeit  gleich- 
kommen. Vermehrt  man  die  Anzahl  dieser  Zeitteile,  dann  kann 
das  flüssige  Metall  in  seiner  Wirkung  das  andere  (die  Flamme) 
sogar  übertreffen.  Manchmal  ist  die  vermehrte  (wörtlich:  ver- 
doppelte) Zeit  der  Einwirkung  des  flüssigen  Körpers  trotz  der 


Digitized  by 


Googk 


403 

Größe  der  Proportion  0  inbezug  auf  ihre  Dauer  nicht  sinnlich 
wahrnehmbar,  wie  du  gesehen  hast. 

Das  hier  behandelte  Problem  verdient  es,  daß  wir  es  noch 
weiter  ausführen,  als  wir  bereits  taten;  jedoch  gehört  es  eher 
zur  „Kunst"  der  Naturwissenschaft  (vgl.  Naturwissenschaft 
rv.  Teil).  Wir  müssen  dasselbe  hier  nur  insoweit  erwähnen,  als 
durch  diese  Erwähnung  die  vorgebrachte  Schwierigkeit  gelöst 
und  das  angeregte  metaphysische  Problem  klar  wird.  Wenn 
jemand  nun  eine  eindringende  Auseinandersetzung  von  uns 
wünscht,  so  gehört  diese  zu  den  Auseinandersetzungen  des 
naturwissenschaftlichen  Teiles  und  besonders  zu  dem,  was 
wir  selbst  als  Lösung  der  Schwierigkeit  gefunden  haben.  Aus 
allen  diesen  einzelnen  Darlegungen  ist  femer  zugleich  die  Art 
und  Weise  klar  geworden,  in  der  die  Wirkursache  und  der 
passive  Teil  sich  gleichstehen  können,  die  Art  (der  Ort),  in 
der  die  Wirkung  größer  (intensiver)  sein  kann,  als  die  Ur- 
sache, und  schließlich  auch  die,  in  der  sie  nur  in  geringerem 
Maße  in  der  Wirkung  vorhanden  sein  kann.  Im  Verlaufe  der 
Darlegung  wurde  femer  deutlich,  daß,  auch  wenn  obiges  richtig 
ist,  die  Existenz  der  ratio  causandi,  wenn  man  sie  rücksichtlich 
der  Existenz  selbst  aufstellt, 2)  in  der  Wirkursache  und  der 
Wirkung  nicht  gleichsteht.  Daher  bewirkt  die  Wirkursache 
das  formelle  Objekt  nicht,  insofem  sie  nur  akzidentell  die  ratio 
causandi  bedeutet  (wörtlich:  „ist"), 5)  wie  wir  es  gezeigt  haben. 
Die  Wirkursache  und  das  erste  Prinzip,  dem  das  aufnehmende 
Prinzip  (das  Objekt)  nicht  der  Art  noch  auch  der  Materie  nach 
gleichsteht,  dem  es  vielmehr  nur  gleichsteht  in  irgend  einer  un- 
bestimmten Weise  betreffs  des  Begriffes  (ratio)  der  Existenz,  können 
nicht  betrachtet  werden  rücksichtlich  der  ratio  causandi,  der  die 
Existenz  zukommt^);  denn  beide  sind  in  diesem  Begriffe  nicht 

>)  Trotzdem  die  letzte  Zeitgröße  die  Dauer  der  Einwirkung  der  Flamme 
um  ein  Bedeutendes  übertrifft,  bleibt  sie  so  klein,  dafi  sie  sinnlich  nicht  wahr- 
nehmbar ist. 

*)  Das  formelle  Objekt  der  Ursache  ist  in  diesem  Falle  das  Dasein;  oder 
man  betrachtet  wenigstens  Ursache  und  Wirkung  in  dieser  formellen  Hinsicht. 

')  Das  bekannte  Beispiel  lautet:  Der  Musiker  besitzt  als  solcher  nicht 
die  Fähigkeit,  die  ärztliche  Tätigkeit  auszuüben.  Als  Musiker  ist  er  also 
nicht  „Wirkursache^  der  Behandlung  des  Kranken. 

*)  Sie  sind  nicht  gleichstehend  in  dem  Momente,  das  in  der  Wirkung 
hervorgerufen  werden  soll,  also  dem  obiectum  formale.  In  dieser  Weise  sind 
die  himmlischen  Agenzien  von  den  sublunarischen  verschieden. 

26* 


Digitized  by 


Googk 


404 

gleichstehend.  Daher  erübrigt  in  diesem  VerhÜtnisse  nur,  die 
Existenz «)  selbst  zu  betrachten.  In  allen  übrigen  Ursachen  ist 
das  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  vielfach  das  des  Gleich- 
seins und  des  Größerseins  als  die  Wirkung. 

Betrachtet  man  die  Existenz  2)  (in  dem  Verhältnis  von  Ur- 
sache und  Wirkung),  dann  ist  die  Wirkursache  der  Wirkung 
nicht  gleichstehend;  denn  die  Existenz  des  ursächlichen  Prinzipes 
ist  in  ihm  selbst  begründet  und  besteht  durch  sich  selbst  Die 
Existenz  der  Wirkung  aber  als  Wirkung  ist  von  der  Ursache 
entlehnt  Die  Existenz  als  solche  ist  femer  nicht  verschieden 
inbezug  auf  größere  oder  geringere  Intensität  Sie  nimmt  daher 
auch  nicht  den  Begriff  des  Größeren  oder  Geringeren  an.  Sie 
läßt  eine  Verschiedenheit  zu  nur  inbezug  auf  drei  Verhältnisse 
und  diese  sind:  1)  das  Früher  und  Später,  2)  die  Selbständigkeit 
und  das  Bedürfnis  nach  einer  Ursache,  3)  die  Möglichkeit  und 
Notwendigkeit 

Betrachtet  man  das  Früher  und  Später  (in  dem  Verhältnis 
von  Ursache  und  Wirkung),  dann  ist,  wie  du  gesehen  hast,  die 
Existenz  in  der  Ursache  in  ursprünglicher  Weise  enthalten,  in 
der  Wirkung  aber  in  sekundärer.  Betrachtet  man  die  Selbst- 
ständigkeit des  Seienden  oder  sein  Bedürfnis  nach  einer  Ursache, 
so  hast  du  gesehen,  daß  die  Ursache  zu  ihrer  Existenz  nicht  der 
Wirkung  bedarf.  Sie  ist  vielmehr  durch  sich  selbst  oder  durch 
eine  andere  Ursache  existierend.  Dieser  Begriff  ist  dem  soeben 
genannten  sehr  verwandt,  selbst  wenn  er  sich  auch  in  gewisser 
Hinsicht  von  ihm  unterscheidet  Betrachtet  man  in  dem  Ver- 
hältnisse von  Ursache  und  Wirkung  (drittens)  die  Notwendigkeit 
und  die  Möglichkeit,  so  weißt  du,  daß  eine  Ursache,  wenn  sie 
Ursache  für  jede  (ihr  entsprechende)  Wirkung  ist,  notwendig 
existieren  muß  inbezug  auf  die  Gesamtheit  der  Wirkungen,  im 
allgemeinen  genommen.  Nimmt  man  aber  die  Ursache  einer 
bestimmten  einzelnen  Wirkung,  so  ist  diese  notwendig  existierend 
inbezug  auf  diese  bestimmte  Wirkung.  Letztere  aber,  wie  man 
sie  auch  immer  betrachten  mag,  ist  in  sich  selbst  nur  möglich 
im  Sein.  Die  Erklärung  dieser  Gredanken  liegt  darin,  daß  die 
Wirkung  in  sich  selbst  so  beschaffen  ist,  daß  ihr  die  Existenz 


^)  Das  Dasein  im  absoluten  Sinne  ist  nnr  Wirkung  der  Gottheit    Die 
geschOpflichen  Ursachen  bewirken  nur  bestimmte  Arten  des  Seins. 

')  Wörtlich:  „Kehrt  man  zur&ck  sur  Art  der  Betrachtung  der  Existens". 


Digitized  by 


Googk 


405 

nicht  notwendig  zukommt;  sonst  müßte  sie  auch  ohne  ihre  Ursache 
notwendig  existieren,  da  sie  ja  dann  als  per  se  und  a  se  notwendig 
seiend  vorausgesetzt  werden  müßte.  Die  Wirkung  verhält  sich 
femer  so,  daß  eine  Existenzart  für  sie  nicht  unmöglich  ist;  sonst 
könnte  sie  nicht  durch  die  Ursache  existieren.  Daher  ist  also 
das  Wesen  der  Wirkung  in  sich  selbst  betrachtet,  indem  man 
als  Bedingung  weder  das  Sein  noch  auch  das  Nichtsein  einer») 
Ursache  voraussetzt,  inbezug  auf  die  Existenz  ein  Mögliches. 
Sie  ist  selbstverständlich  nur  notwendig  durch  die  Ursache. 

Die  Ursache  aber,  wie  bereits  klar  gestellt  wurde,  ist  nicht 
notwendig  durch  die  Wirkung.  Sie  ist  vielmehr  notwendig  ent- 
weder durch  sich  selbst  oder  auf  Grund  eines  anderen  Dinges 
(einer  weiter  zurückliegenden  Ursache).  Besitzt  nun  die  erste 
Ursache  die  Notwendigkeit  durch  dieses  andere  (die  weiter  zurück 
liegende  Ursache),  dann  (erst)  ist  es  richtig  (und  möglich),  daß 
von  der  ersten  Ursache  die  Notwendigkeit  eines  anderen,  einer 
Wirkung,  stamme.  Die  Wirkung  aber  ist  also  rücksichtlich  ihres 
eigenen  Wesens  ein  ens  possibile.  Die  Ursache  hingegen  ist,  in  sich 
selbst  betrachtet,  entweder  notwendig  oder  möglich.  Ist  sie  nun 
notwendig,  dann  ist  ihre  Existenz  realer  und  wahrhafter^)  als  die 
Existenz  des  Möglichen.  Ist  die  Ursache  aber  ein  Mögliches  und  ist 
sie  zugleich  nicht  notwendig  durch  ihre  Wirkung,  und  ist  im  Gegen- 
teil die  Wirkung  notwendig  durch  diese  Ursache  und  später  als  das 
Notwendigsein  der  Ursache,  dann  tritt  folgendes  ein.  Ist  die  Ursache 
(ab  alio)  notwendig  geworden,  so  besitzt  sie  diese  Eigenschaft 
nicht  rücksichtlich  der  Wirkung.  Auf  der  anderen  Seite  ist  die 
Wirkung  aber  notwendig  nur  durch  die  Beziehung  auf  die  Ursache. 

Eine  weitere  Betrachtungsweise  schließt  sich  an  den  Begriff 
der  Ursache  an,  nach  der  die  Ursache  notwendig  ist,  ohne  daß 


^)  Im  ersteren  FaUe  wäre  sie  notwendig,  im  zweiten  unmöglich;  denn 
nach  Abh.  I,  6  bestimmen  sich  Notwendigkeit  und  Unmöglichkeit  nach  der 
Beziehung  des  Dinges  zur  Ursache.   Vgl.  F&r&bi,  Bingstein  Nr.  2. 

•)  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  I  4,  2  c:  Quidquid  perfectionis  est  in  effectu, 
oportet  inveniri  in  causa  ef  ectiya  vel  secundum  eandem  rationem,  si  sit  agens 
univocum,  ut  homo  generat  hominem;  vel  eminentiori  modo,  si  sit  agens 
aequivocum,  sicut  in  sole  est  similitudo  eorum  quae  generantur  per  virtutem 
solis.  Manifestum  est  enim  quod  ef ectus  praeexistit  virtute  in  causa  agente. 
Praeeiistere  autem  in  virtute  causae  agentis  non  est  praeexistere  imper- 
fectiori  modo,  sedperfectiori,  licet  praeexistere  in  potentia  causae  materialis 
sit  praeexistere  imperfectiori  modo,  eo  quod  materia  inquantum  huius  modi, 
est  imperfecta,  agens  vero,  inquantum  huiusmodi  est  perfectum. 


Digitized  by 


Google 


406 

in  diesem  Begriffe  die  Wirkung  in  Rücksicht  gezogen  würde. 
Es  ist  eine  Betrachtungsweise,  nach  der  die  Ursache  als  notr 
wendig  aufgestellt  wird,  ohne  daß  man  die  Wirkung  mitdenkt 
Das  Wesen  der  Wirkung  aber  ist  nur  ein  mögliches  und  kann 
nur  betrachtet  werden  in  der  Beziehung  zur  Ursache.  Die  Ur- 
sache besitzt  also  ihre  eigentümliche  Bestimmung  durch  das 
„Notwendigsein",  die  Wirkung  aber  besitzt  nur  die  Bestimmung 
des  „Möglichen".  Besitzt  nun  aber  die  Wirkung  selbst  den 
Charakter  des  Notwendigen,  so  erfolgt  dieses  auf  Grund  der 
Ursache  in  erster  Linie.  Sonst  mußte  die  Ursache  selbst  nur 
ein  ens  possibile  sein,  dessen  Existenz  noch  nicht  (ab  alio)  not- 
wendig wäre.  Zugleich  wäre  aber  (nach  der  Annahme)  die 
Existenz  der  Wirkung  notwendig.  Dann  also  entstände  die  Not- 
wendigkeit nicht  aus  der  Ursache.  Dies  aber  ist  ein  Wider- 
spruch. 

Daher  besitzt  die  Ursache  den  Charakter  des  Notwendigen 
mit  Rücksicht  auf  sich  selbst,  und  ohne  daß  sie  in  Beziehung 
gesetzt  wird  zur  Wirkung.  Die  Wirkung  hingegen  ist  (vor  dem 
Eintreten  der  Tätigkeit  der  Ursache)  noch  bestehend  und  be- 
haftet mit  der  ihr  notwendig  anhaftenden  Bestimmung  des 
Möglichseins,  weil  die  Ursache  nicht  durch  die  Wirkung  not- 
wendig ist,  sondern  durch  sich  selbst  oder  mit  Rücksicht  auf 
ihre  Beziehung  zu  einer  weiter  zurückliegenden  Ursache,  nicht 
zur  Wirkung. 

Insofern  nun  die  Ursache  nicht  in  Relation  steht  zur 
Wirkung,  ist  auch  die  Existenz  der  Wirkung  noch  nicht  not- 
wendig. Die  Existenz  der  Wirkung  ist  vielmehr  nur  notwendig 
auf  Grund  der  Relation,  die  die  Ursache  zur  Wirkung  eingeht 
Infolge  dieser  drei  Gründe  ist  also  die  Ursache  in  vorzüglicherem 
Sinne  ausgestattet  mit  der  Bestimmung  des  Seienden,  als  die 
Wirkung.  Die  Ursache  ist  also  wahrer,  als  die  Wirkung;  denn 
die  Existenz,  im  allgemeinen  Sinne  aufgefaßt,  ist  eine  wahre, 
wenn  sie  die  Existenz  eines  bestimmten  Dinges  wird.')  Daher 
ist  es  einleuchtend,  daß  die  erste  Ursache,  die  den  universellen 
Charakter  des  Wahren  ihren  Wirkungen  verleiht,  in  hervor- 
ragendem Sinne  den  Charakter  des  Wahren  besitzt,  und  femer 
ist  es  richtig,  daß  eine  erste  Ursache  existieren  muß,  die  allem 


*)  Wahr  ist  das,   was  in  den  Dingen  der  Außenwelt  existiert.    Vgl 
Abb.  I,  8. 


Digitized  by 


Googk 


407 

anderen  Seienden  den  Charakter  des  Wahren  verleiht.  Dann 
ist  es  folglich  ebenfalls  richtig,  daß  Gott  die  Wahrheit  in  sich 
selbst  ist.  Ebenso  ist  es  klar,  daß  die  Wissenschaft,  die  sich 
mit  Gott  befaßt,  die  Wissenschaft  ist,  die  sich  mit  der  univer- 
sellen Wahrheit  befaßt.  Gelangt  diese  Wissenschaft  zur  Wirk- 
lichkeit, dann  ist  dieselbe  die  Wahrheit  im  allgemeinen  Sinne 
des  Wortes,  insofern  man  das  Wissen  ein  wahres  nennen  kann.^) 
Die  Benennung  erfolgt  mit  Rücksicht  auf  das  gewußte  Objekt 


Viertes  Kapitel. 

Die  anderen  Ursachen:  die  materielle,  die  formelle 
und  die  Zweck -Ursache. 

1.   Die  materielle  Ursache. 

Das  Dargelegte  enthält  unsere  Lehre  über  die  Wirkursache. 
Nun  wollen  wir  die  Darlegung  beginnen  über  die  anderen  ur- 
sächlichen Prinzipien.  Was  nun  die  materielle  Ursache  angeht, 
so  ist  es  diejenige,  in  der  die  Potenz  für  die  Existenz  eines 
Dinges  besteht.  Wir  lehren  deshalb:  ein  Ding  kann  sich  in 
diesem,  eben  genannten  Zustande  in  Beziehung  auf  (wörtlich:  in 
Verbindung  mit)  einen  anderen  (der  Wesensform)  befinden  in 
verschiedenen  Arten  und  Weisen.  2)    Manchmal  verhält  sich  die 

0  Bas  Wissen  ist  wahr  in  Beziehung  zum  Ohjekte.  Die  Dinge  sind 
in  sich  und  „zuerst"  wahr,  weil  sie  Ursache  der  logischen,  suhjektiven  Wahr- 
heit sind. 

»)  Avicenna  setzt  in  folgendem  die  Arten  der  materiellen  Ursachen 
auseinander. 

Die  materielle  Ursache  kann  sein: 
I.   eine  Suhstanz,  die  sich  nicht  verändert; 
n.   eine  Suhstanz,  die  sich  durch  die  Bewegung  inhezug  auf  ihr  Volumen 

verändert; 
IQ.  eine  Materie,  die  in  dem  Werdeprozesse  Bestandteile  verliert  oder 
IV.  ihre  Qualität  verändert; 

V.   ihr  Wesen  selbst  geht  zu  Grunde  beim  Aufnehmen  der  Form; 
VI.   sie  verliert  eine  unvollkommene  Wesensform; 
Vn.  sie  erhält  erst  durch  die  Aufnahme  der  Wesensform  ihren  Bestand; 
Vin.   sie  besteht  aus  vielen  Komponenten,  aus  denen  ein  Kompositum  ge- 
bildet wird; 
IX.  sie  besteht  aus  ungeordneten  Bestandteilen. 


Digitized  by 


Google 


408 

Materie  so  wie  die  Tafel  zur  Sclirift;  sie  ist  dann  disponiert 
für  die  Aufnahme  eines  Dinges,  das  ihr  wie  ein  Akzidens  zu- 
kommt, ohne  daß  sich  die  Materie  bei  der  Aufnahme  dieses 
Dinges  verändert  und  ohne  daß  sie  irgend  etwas  einbüßt  auf 
Grund  dessen,  was  ihr  von  der  Ursache  zukommt  Manchmal 
verhält  sich  die  Materie  so  wie  das  Wachs  zum  Bildnis  und  der 
Knabe  zum  Mann.  Sie  ist  dann  disponiert,  die  Wesensform 
eines  Dinges  in  sich  aufzunehmen,  die  ihr  wie  ein  Akzidens 
zukommt,  ohne  daß  sie  sich  in  ihren  Zuständen  verändert,  es 
sei  denn  höchstens  durch  die  Bewegung  inbezug  auf  den  Raum, 
die  Quantität  und  andere  Kategorien. 

Manchmal  verhält  sich  die  causa  materialis  wie  das  Holz 
zum  Ruhebett.  Von  ihm  werden  Bestandteile  durch  die  Schreiner- 
arbeit entfernt  (so  daß  es  von  seiner  Substanz  etwas  verliert). 
Manchmal  verhält  sie  sich  wie  das,  was  vom  Schwarzen  zum 
Weißen  übergeht.  Dieses  wird  verändert  und  verliert  eine 
Qualität,  die  es  früher  besaß,  ohne  daß  jedoch  seine  Substanz 
vernichtet  wird.  Manchmal  verhält  sie  sich  wie  das  Wasser 
zur  Luft.  Das  Wasser  entsteht  nur  in  der  Weise  aus  der  Luft, 
daß  es  in  seinem  Wesen  vernichtet  wird.  Manchmal  verhält  sie 
sich  wie  der  Same  zum  Tier.  Der  Same  muß  seine  Wesens- 
formen vollständig  verlieren,  so  daß  er  disponiert  wird,  die 
Wesensform  des  Tieres  in  sich  aufzunehmen.  Ebenso  verhalten 
sich  die  Herlinge  zum  Wein.  Manchmal  verhält  sich  die  causa 
materialis  wie  die  erst«  Materie  zur  Wesensform.  Sie  ist  dis- 
poniert, dieselbe  in  sich  aufzunehmen  und  besteht  aktuell  durch 
dieselbe.  Ein  anderes  Mal  verhält  sie  sich  wie  die  Myrobalanen 
zum  Teige.  Der  Teig  entsteht  nicht  aus  dieser  Frucht  allein, 
sondern  aus  ihr  zugleich  in  Verbindung  mit  einer  anderen  Speise. 
Vor  der  Mischung  ist  er  nur  ein  Teil  von  den  vielen  Teilen 
des  Teiges  und  verhält  sich  zu  ihm  wie  die  Potenz.  Manchmal 
verhält  sich  die  causa  materialis  wie  das  Holz  und  die  Steine 
zum  Gebäude.  Diese  Art  und  Weise  ist  der  eben  genannten 
verwandt;  jedoch  entsteht  in  der  eben  genannten  Art  der  Teig 
aus  (der  Mischung  mit)  der  genannten  Frucht,  indem  diese  sich  in 
ihrer  Substanz  verändert.  In  der  hier  besprochenen  Art  erleiden 
aber  die  Elemente  des  Gebäudes  keine  Veränderung.  Sie  setzen 
dasselbe  nur  zusammen. 

Zu  dieser  Art  der  Ursachen  (der  materiellen  Ursachen)  ge- 
hören auch  die  Einheiten  in  Beziehung  zur  Zahl   Andere  Philo- 


Digitized  by 


Googl( 


409 

sophen  machen  auch  die  Prämissen  zu  Materialursachen  für  die 
Schlußfolgerungen.  Jedoch  ist  dieses  ein  Irrtum.  Die  Prämissen 
verhalten  sich  vielmehr  wie  die  Materialursachen  zu  der  Figur 
des  Syllogismus.  Die  Schlußfolgerung  aber  ist  keine  Wesens- 
form, die  in  den  Prämissen  vorhanden  wäre,  sondern  ist  nur 
etwas,  das  sich  aus  ihnen  notwendig  ergibt,  und  zwar  so,  daß 
die  Prämissen  die  conclusio  in  der  Seele  hervorbringen.  (Sie 
sind  also  causae  efflcientes.) 


2.  Das  Substrat  als  Ursache. 
In  den  eben  angegebenen  Arten  und  Weisen  finden  wir  die 
Dinge,  die  Substrate  sind  für  die  Potenz.  Sie  sind  entweder 
Substrat  für  dieselbe  in  ihrer  Individualität  allein  (mit  Aus- 
schluß anderer  Dinge)  oder  in  Verbindung  mit  anderen.  Sind 
sie  nun  in  ihrer  Individualität  Träger  der  Potenz,  so  verhalten 
sie  sich  entweder  so,  daß  sie,  um  eine  Wirkung  hervorzubringen, 
nur  des  aktuellen  Hervorgehens  der  Handlung  bedürfen.  Eine 
solche  Ursache  wird  in  vorzüglichem  Sinne  Substrat  genannt 
im  Verhältnis  zu  dem,  was  in  ihr  vorhanden  ist  Solche  Wir- 
kungen haben  notwendigerweise  in  sich  selbst  ein  aktuelles  Be- 
stehen (es  sind  also  Substrate  gemeint,  die  selbst  Substanzen 
sind,  d.  h.  nicht  das  absolut  erste  Substrat,  die  materia  prima). 
Wenn  jedoch  das  Substrat  in  sich  keinen  selbständigen  Bestand 
hat,  dann  kann  es  nicht  disponiert  sein  zur  Aufnahme  (wört- 
lich: zum  Aktuellwerden)  des  formellen  Prinzips.  Es  muß  viel- 
mehr zuerst  in  sich  selbst  aktuell  bestehen.  Wenn  es  sich 
jedoch  so  verhält,  daß  es  nur  durch  das  formelle  Prinzip,  das 
in  das  Substrat  eintritt,  zum  selbständigen  Bestände  gelangt, 
dann  war  vor  dem  Auftreten  dieses  zweiten,  formellen  Prin- 
zipes  in  dem  Substrate  etwas  anderes  vorhanden,  und  dieses 
verlieh  ihm  den  Bestand.  Eine  andere  Möglichkeit  ist  die,  daß 
das  zweite,  das  formelle  Prinzip,  dem  Substrate  nicht  den  Be- 
stand verleiht,  sondern  zu  ihm  (wenn  es  bereits  in  seiner  fertigen 
Natur  besteht)  hinzugefügt  wird.  Oder  es  kann  sich  so  ver- 
halten, daß  die  Hinzuftigung  des  formellen  Prinzipes  dasjenige 
aus  dem  Substrate  entfernt,  was  ihm  vordem  den  Bestand  ver- 
lieh; dann  verändert  es  sich  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes. 
Wir  hatten  jedoch  vorausgesetzt,  daß  das  Substrat  sich  nicht 
veränderte. 


Digitized  by 


Google 


410 

Diese  Art  der  materiellen  Ursachen  bildet  also  eine  Gruppe 
für  sich.  Sie  bedarf  entweder  (um  die  Wirkung  herzustellen) 
der  Hinzufügung  eines  Dinges  oder  sie  ist  eine  Bewegung,  sei 
es  eine  räumliche  oder  eine  auf  die  Qualität,  Quantität,  Lage 
und  Substanz  sich  erstreckende,  oder,  drittens,  das  Substrat  ist 
Ursache  dafür,  daß  aus  ihm  ein  nicht  substanzielles  Ding,  sei  es 
nun  ein  quantitatives,  qualitatives  oder  ähnliches  entfernt  werde. 
Die  Materialursache,  die  in  Verbindung  steht  mit  anderen  Dingen, 
geht  notwendigerweise  eine  Verbindung  mit  anderen  Substanzen 
und  eine  Zusammensetzung  ein.  Es  ensteht  dann  entweder  nur 
eine  Zusammensetzung  nach  der  Art  einer  Juxtaposition,  oder  es 
tritt  neben  diesem  noch  eine  Veränderung  in  der  Qualität  ein. 
Alles  aber,  was  sich  verändert,  gelangt  durch  eine  einzige  oder 
durch  mehrere  Veränderungen  zu  dem  letzten  Endpunkte  (und 
daher  hat  jeder  Veränderungsprozeß  eine  oder  mehrere  Phasen). 

Die  Gewohnheit  bringt  es  mit  sich,  daß  dasjenige,  aus 
dem  nach  Art  von  Zusammensetzungen  ein  Ding  entsteht  und 
das  zugleich  selbst  in  dem  entstandenen  Dinge  vorhanden  ist, 
Stoicheion  genannt  wird.  Dieses  ist  dasjenige  Element,  zu  dem 
die  Analyse  der  Körper  letzthin  gelangt  Ist  dieses  Element 
ein  körperliches,  dann  ist  es  der  kleinste  Bestandteil,  zu  dem 
der  den  Körper  zerlegende  gelangt,  wenn  er  den  Körper  in 
Teile  zerlegt^  die  der  Wesensform  nach  verschieden  sind  und  real 
in  dem  (zusammengesetzten)  Körper  bestehen.  Das  Stoicheion 
wird  demnach  definiert  als  Teil,  aus  dem  in  Verbindung  mit 
einem  anderen  Teile  und  Elemente  die  Zusammensetzung  eines 
Dinges  vor  sich  geht  Es  selbst  besteht  in  dem  zusammen- 
gesetzten Dinge  seinem  Wesen  entsprechend  (per  se).  Es  wird 
nicht  zerlegt  durch  die  Wesensform  (des  Kompositums).  Wer  die 
Ansicht  aufstellte,  die  Körper  entständen  nur  aus  den  Gattungen 
und  spezifischen  Differenzen,  der  bezeichnete  diese  (logischen) 
Bestandteile  der  Dinge  als  erste  Stoicheia,  und  besonders  be- 
zeichnet er  als  solche  das  Eine  und  die  Individualität  Er  be- 
zeichnete diese  (beiden)  als  absolut  erste  Prinzipien  des  Seins; 
denn  sie  sind  in  höchstem  Maße  universell  und  generisch.  Würden 
jene  Philosophen  nach  Gerechtigkeit  die  Verteilung  vorgenommen 
haben,  dann  hätten  sie  erkannt,  daß  das  „in  sich  Bestehen" 
nur  den  Individuen  0  zukommt.     Das,  was  den  Individuen 

0  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1045  b  29:  ticqI  fjihv  ovv  roC  nQwtwq  Svzoq  xal 


Digitized  by 


Googk 


411 

nahe  steht,  ist  daher  in  höherem  Maße  Substanz  und  per  se 
Bestehendes,  und  dieses  ist  ebenfalls  in  höherem  Maße  aus- 
gestattet mit  der  Bestimmung  der  Einheit. 

So  kehren  wir  also  zurück  zu  dem  Begriff  der  materiellen 
Ursache  (wörtlich:  des  Elementes)  und  lehren:  die  philosophische 
Gewohnheit  der  Schulen  ist  es,  zu  lehren,  daß  in  verschieden- 
artigen Materien  das  Ding  entstehe  aus  der  materiellen  Ur- 
sache, daß  dies  in  anderen  Materien  jedoch  nicht  zulässig  sei. , 
So  sagt  man:  eine  Tür  entsteht  aus  dem  Holze;  jedoch  sagt 
man  nicht,  aus  dem  Menschen  entsteht  einer,  der  der  Schreib- 
kunst kundig  ist.  Man  lehrt  femer:  das  entstehende  Ding  steht 
in  bestimmter  Beziehung  i)  zu  seinem  Substrate  in  bestimmten 
Materien.  In  anderen  stehe  es  aber  nicht  zu  ihm  in  Beziehung. 
So  sagt  man  manchmal:  dieses  ist  eine  „hölzerne"  Tür;  jedoch 
sagt  man  nicht,  dieser  ist  ein  „menschlicher"  Schreiber. 2)  Be- 
treffs der  ersten  Art  gilt:  als  man  fand,  daß  das  Substrat  sich 
in  keiner  Weise  bewegt,  noch  sich  bei  der  Aufnahme  des  formellen 
Prinzipes  verändert,  so  lehrte  man  nicht,  daß  es  aus  diesem 
Substrate  entstehe.  Man  lehrte  vielmehr  immer  nur,  daß  es 
aus  der  Privation  3)  entstehe.  So  lehrte  man,  der  gewandte 
Schreiber  entstehe  aus  dem  im  Schreiben  Ungewandten.  Ist 
das  Substrat  aber  selbst  der  Veränderung  unterworfen,  besonders 
in  Materien,  in  denen  die  Privation  nicht  vorkommt  (gefunden 
wird),*)  so  lehrten  diese  Philosophen:  das  Ding  entstehe  aus 
dem  Substrate*    Die  Beziehung  des  Dinges  zum  Substrate  wird 


ovaiag,  1028  a  31:  Säte  to  Ttgcitatg  iv  xal  ov  xl  Sv  aX)!  dv  anl<Sg  ^  ovola 
&v  eifj.  noXXax<Sq  fxhv  ovv  Xiyezai  xo  nQdixov  S/iwq  6h  navxwv  ^  ovola 
TiQditov  xal  X6y<i>  xal  yvdoei  xal  XpoV^i,  x(Bv  fjikv  yoQ  aXXwv  xaxr^ogtifiaxwv 
ov^lv  xfOQioxov,  aixri  6b  /xovrj  u.  s.  w.  Deshalb  wül  die  Wissenschaft  haupt- 
sächlich die  ersten  Substanzen  erkennen.  1042  a  5:  eUgr^xai  6fj  8xi  x<Bv  ovoiatv 
T^TjxBlxai  xa  aXxia  xal  aX  oQXfil  ^«i  ^«  oxoix'^la, 

')  Die  Beziehung  ist  dadurch  gekennzeichnet,  daß  das  Ding  nach  seinem 
Substrate  adjektivisch  benannt  werden  kann. 

')  Sein  Substrat  ist  die  menschliche  Natur;  jedoch  wird  die  Person 
nicht  nach  demselben  benannt. 

')  Vgl.  Arist.,  Phys.  191b  13:  jj^t/ff«  6h  xal  avxoi  (pafiev  ylyveo&ai  fiev 
ovd^hv  anl<5g  ^x  fi^  ovxog,  Zfimg  fiivxoi  yiyveod-ai  ix  fitj  ovxog,  olov  xaxa 
ovfißeßjjxog '  ix  ydg  x^g  oxsQriOBiog,  S  ioxt  xa^*  avxo  fzrj  ov,  ovx  iwnag- 
Xovxog  yiyvExai  xi,  ^avfiäQExai  61  xo^o  xal  a6vvaxov  o^fo  6oxei,  yiyveod^al 
XI  ix  firj  Svxog. 

*)  Wörtlich:  „in  dem,  worin  sie  für  die  Privation  keinen  Namen  fanden". 


Digitized  by 


Googk 


412 

am  meisten  nur  dann  (adjektivisch)  gebraucht,  wenn  ein  anderer 
dasselbe  zur  Aufnahme  der  Wesensform  ^  disponiert  (wie  der 
Künstler  den  Stein).  Auf  die  Wesensform  aber  wird  umgekehrt 
das  Substrat  nicht  bezogen  (so  daß  das  Ding  nach  der  Wesens- 
form benannt  würde.  Man  sagt  nicht  ein  türemes  Holz,  sondern 
eine  hölzerne  Tür);  noch  sagt  man,  daß  das  Ding  aus  ihr  ent- 
stehe. Aus  der  Wesensform  wird  vielmehr  nur  der  substantivische 
Name  abgeleitet  (z.  B.  dieses  ist  eine  Tür).  Das  Substrat  ist 
entweder  ein  solches,  das  für  alle  Dinge  gemeinsam  ist,  oder 
ein  solches,  das  für  eine  große  Anzahl  derselben  das  gleiche 
ist.  So  verhält  sich  der  ausgepreßte  Saft  zum  Essig,  zum  Weine, 
zum  Speichel  und  dem  ausgekochten  Pflanzensafte  und  anderen 
Dingen.  Jede  materielle  Ursache  als  solche  wird  nur  dadurch 
bestimmt,  daß  sie  fähig  ist,  die  Wesensform  in  sich  aufzu- 
nehmen. Daß  nun  die  Wesensform  in  dem  Substrate  auftritt, 
kommt  ihm  auf  Grund  einer  anderen  Wirkursache  zu.  Alles, 
was  von  den  Materialursachen  oder  den  aufnehmenden  Prin- 
zipien Ursprung  für  die  Bewegung,  die  zum  Wirken  führt,  ist^ 
und  was  in  sich  real  existiert,  wird  betrachtet,  als  ob  es  sich 
aus  sich  selbst  hinbewegte  zu  der  Wesensform;  jedoch  verhält 
es  sich  anders. 

An  anderen  Stellen  wurde  bereits  auseinandergesetzt,  daß 
dasselbe  Ding  sich  nicht  zugleich  aktiv  und  passiv  in  Beziehung 
auf  ein  und  denselben  Gegenstand  verhalten  kann,  ohne  daß 
sein  Wesen  geteilt  wird  (sei  es  in  reale  Teile  oder  in  logische 
Beziehungen).  Ist  jedoch  in  der  Materialursache  das  Prinzip 
ihrer  Bewegung  und  zwar  per  se,  dann  bewegt  sie  sich  auf 
Grund  der  Naturkraft.^)  Dasjenige,  was  aus  ihr  entsteht,  ist 
ein  Naturding.  Stammt  aber  die  Bewegung  und  das  Prinzip 
der  Bewegung  in  dem  Substrate  von  einer  äußeren  Ursache 
und  kommt  es  dem  Substrate  selbst  nicht  zu,  daß  es  sich  zu 
jener  Vollkommenheit  (der  Form  als  Ziel  des  Werdeganges)  aus 
inneren  Bedingungen  (aus  eigener  Kraft)  hinbewegt,  dann  ist 
dasjenige,  was  aus  dem  Substrate  entsteht,  ein  durch  Kunst 
geschaffenes  oder  ein  auf  ähnliche  Weise  entstandenes  Wert 


1)  Der  Text  scheint  fehlerhaft  zu  sein.    Er  lautet:  wenn  das  Substrat 
noch  einen  anderen  (Gegenstand  für  die  Wesensform  disponiert. 

*)  Dies  ist  zugleich  die  Definition  der  Naturkraft,  s.  Naturw.  I.  Teil  1, 5. 


Digitized  by 


Googk 


413 


8.   Die  formelle  Ursache,  d.  h.  die  WeBensform. 


Dies  ist  in  kurzer  Zusammenfassung  das,  was  wir  über 
die  materielle  Ursache  lehren.  Was  nun  die  formelle  Ursache 
angeht,  so  wird  dieser  Ausdruck  verwendet  für  jede  ratio  (Wesens- 
begriff), die  aktuell  existiert  und  begrifflich  gefaßt  werden  kann. 
Daher  sind  die  unkörperlichen  Substanzen,  die  von  der  Materie 
getrennt  sind,  „Wesensformen"  in  diesem  Sinne.  Der  Ausdruck 
Wesensform  wird  femer  gebraucht  für  jede  Wesenheit  und  jede 
Aktualität,  die  in  einem  aufnehmenden,  in  sich  einheitlichen 
und  homogenen  Prinzipe  auftritt,  oder  die  durch  Zusammen- 
setzung entsteht,  so  daß  also  die  Bewegungen  und  die  Akzi- 
denzien „Wesensformen"  sind.  Femer  wird  der  Ausdruck  Wesens- 
form für  alles  gebraucht,  wodurch  die  Materie  zur  aktuellen 
Existenz  gelangt  In  diesem  Sinne  sind  also  die  geistigen  Sub- 
stanzen und  die  Akzidenzien  keine  Wesensformen.  Sodann  wird 
der  Ausdrack  Wesensform  gebraucht  für  dasjenige,  wodurch  die 
Materie  zu  ihrer  Vollendung  gelangt,  selbst  dann,  wenn  sie 
durch  dieses  Prinzip  nicht  zum  aktuellen  Bestehen  gebracht  ist. 
So  verhält  sich  die  Gesundheit  und  alles,  wohin  die  Naturkraft 
strebt  Wesensform  wird  femer  gebraucht  im  prägnanten  Sinne 
für  das,  was  durch  künstlerisches  Schaffen  in  den  Materien  an 
Gestalten  und  anderen  Formen  hervorgebracht  wird.  Der  Aus- 
drack Wesensform  wird  schließlich  verwandt  für  die  Art  eines 
Dinges,  sodann  für  sein  Genus,*  seine  Differenz  und  alle  diese 
Begriffe  (die  logischen  Kategorien).  Die  universelle  Natur  des 
Ganzen  ist  Wesensform  in  den  Teilen.  Die  Wesensform  ist 
manchmal  eine  im  Sein  unvollständige  und  mangelhafte,  wie  die 
Bewegung,  manchmal  eine  im  Sein  vollendete,  wie  die  Quadratur 
und  die  Form  des  Kreises. 

Du  hast  bereits  gesehen,  daß  ein  und  dasselbe  Ding  Wesens- 
form, Endziel  und  erstes  Prinzip  der  Bewegung  je  nach  ver- 
schiedenen Auffassungen  seines  Wesens  sein  kann.  Ebenso  ver- 
hält es  sich  im  künstlerischen  Schaffen.  Das  Kunstwerk  ist  die 
Wesensform  des  Objektes  der  Kunst,  die  im  Geiste  des  Künstlers 
vorhanden  ist  Der  Baumeister  hat  in  seiner  Seele  die  Wesens- 
form der  Bewegung,  die  zu  dem  Gebäude  hinführt  (und  das 
Gebäude  gestaltet).  Diese  Wesensform  ist  das  erste  Prinzip, 
von  dem  aus  die  Form  in  die  Materie  des  Hauses  aktuell  ein- 
geführt wird.    Ebenso  verhält  sich  die  Gesundheit    Sie  ist  die 


Digitized  by 


Googk 


414 

Wesensform  der  Genesung.  So  verhält  sich  femer  die  Wissen- 
schaft von  der  Behandlung  des  Kranken.  Die  Wirkursache,  die 
in  ihrem  Sein  unvollständig  ist,  bedarf  der  Bewegung  einer  be- 
wegenden Ursache  und  vieler  Instrumente,  so  daß  dasjenige, 
was  sie  in  sich  enthält,  aktuell  in  die  Materie  übertragen 
werde.  Die  in  ihrem  Sein  vollkommene  Wirkursache  aber  ver- 
hält sich  so,  daß  die  in  ihr  vorhandene  Form  aus  sich  heraus 
(ohne  andere  Hilfe)  die  Existenz  der  Wesensform  in  der  Materie 
erfolgen  läßt. 

Es  ist  möglich,  daß  die  Wesensformen  der  Naturdinge  ent- 
halten sind  in  den  der  Natur  vorausgehenden  Ursachen  in  einer 
gewissen  Weise,  und  in  der  Naturkraft  selbst  in  der  Weise, 
daß  sie  ihr  dienlich  sind,  (also)  in  einer  anderen  Weise.  In 
den  folgenden  Auseinandersetzungen  wirst  du  dies  erkennen. 


4«  Die  Zweokorsaohe. 

Die  Zweckursache  ist  dasjenige,  für  das  ein  Ding  (ge- 
schaffen) wird  (und  ist).  In  den  früheren  Auseinandersetzungen 
hast  du  ihren  Begriff  bereits  erkannt.  In  einigen  Dingen  findet 
sich  die  Zweckursache  nur  in  dem  Handelnden  selbst,  wie  die 
Freude  über  den  Sieg  (der  das  Ziel  des  Kampfes  ist).  Manchmal 
befindet  sich  die  Zweckursache  in  einigen  Gegenständen  in  einem 
anderen  Dinge,  als  in  der  Wirkursache,  und  dann  befindet  sie 
sich  entweder  in  dem  Substrate,  wie  die  Vollkommenheiten  (die 
Ziele)  der  Bewegungen,  die  erfolgen  auf  Grund  einer  Wahr- 
nehmung (also  eines  psychischen  Prinzips)  oder  einer  Naturkraft 
Manchmal  befindet  sich  die  Zweckursache  in  einem  dritten 
Dinge  wie  jemand,  der  etwas  vollführt,  damit  er  dadurch  das 
Wohlgefallen  des  anderen  erwerba  Das  Wohlgefallen  dieses 
anderen  ist  der  für  den  Handelnden  und  das  aufnehmende 
Prinzip  äußere  Zweck  selbst  dann,  wenn  die  Freude  über 
dieses  Wohlgefallen  des  anderen  ebenfalls  ein  anderes  Ziel 
des  Handelnden  ist.  Zu  den  Zweckursachen  gehört  diejenige, 
die  darin  besteht^  daß  der  Handelnde  sich  verähnlicht  mit 
einem  anderen  Dinga  Dasjenige  nun,  mit  dem  sich  der  Han- 
delnde verähnlicht,  insofern  er  zu  diesem  Dinge  hinstrebt,  ist 
das  Ziel  seines  Handelns.  Das  Sichverähnlichen  mit  diesem 
Ziel  ist  ebenfalls  ein  Ziel. 


Digitized  by 


Googk 


415 


Fünftes  Kapitel. 

Der  Beweis,  daB  es  ein  letztes  Ziel  gibt  und  die  Lösung  von  Schwierig- 
keiten in  diesem  Probleme.  Der  Unterschied  zwischen  dem  Endziele 
und  dem  mit  Notwendigkeit  Erfolgenden.  Die  Definition  der  Art  und 
Weise,  wie  das  letzte  Ziel  den  übrigen  Ursachen  vorausgeht  oder 

ihnen  folgt. 

In  dem,  was  wir  bisher  ausgeführt  haben,  ist  es  klar  ge- 
worden, daß  jede  Ursache  ein  erstes  Prinzip  haben  muß  und 
jedes  (zeitlich)  entstehende  Ding  eine  Materie  und  eine  Wesens- 
form. Bisher  ist  also  noch  nicht  klar  geworden,  daß  jede  Be- 
wegung zugleich  ein  letztes  Ziel  besitzen  muß.  In  der  Welt 
bestehen  Vorgänge,  die  zwecklos  sich  ereignen,  und  andere,  die 
durch  Zufall  entstehen.  Andere  Vorgänge  verhalten  sich  wie 
die  Bewegung  der  himmlischen  Sphäre.  Diese  hat,  nach  dem 
Augenschein  zu  urteilen,  keinen  Endzweck  (denn  sie  bewegt 
sich  kreisförmig,  und  die  kreisförmige  Bewegung  gelangt  nicht 
zu  einem  Ruhepunkt,  d.  h.  nicht  zu  einem  Endziele).  Eben- 
sowenig hat  das  Entstehen  und  Vergehen  einen  Endzweck, 
wenigstens  nach  oberflächlicher  Ansicht. 

Jemand  könnte  dagegen  die  Schwierigkeiten  erheben:  jedes 
Endziel  kann  wiederum  ein  weiter  hinausliegendes  Endziel  haben, 
wie  auch  jeder  Anfang  einen  weiter  zurückliegenden  Anfang 
haben  kann.  Daher  besteht  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes 
kein  letztes  Endziel  und  keine  Endvollkommenheit  Denn 
das  Endziel  im  wahren  Sinne  des  Wortes  ist  dasjenige,  bei  dem 
die  Bewegung  zur  Ruhe  gelangt.  Wir  finden  femer  manchmal 
Dinge,  die  viele  Endzwecke  haben.  Diesen  kommen  wiederum 
andere  Endzwecke  zu,  die  eine  endlose  Reihe  bilden;  denn  es 
gibt  Dinge,  von  denen  man  glaubt,  daß  sie  selbst  Endzwecke 
sind,  ohne  daß  diese  jedoch  selbst  zu  einem  Endpunkte  gelangen, 
wie  z.  B.  die  Konklusionen,  die  aus  Prämissen  erfolgen,  die  end- 
los an  Zahl  sind. 

Eine  weitere  Schwierigkeit  könnte  man  in  folgender  Weise 
machen.  Es  mag  gleichgültig  sein,  ob  es  wahr  oder  falsch  ist, 
daß  das  letzte  Endziel  für  eine  jede  Handlung  real  existiere. 
Weshalb  aber  bezeichnet  man  die  Zweckursache  als  eine  voraus- 
gehende Ursache,  während  doch  das  Endziel  die  letzte  Wirkung 
aller  Ursachen  ist?    Das  Problem,  mit  dem  wir  uns  nun  be- 


Digitized  by 


Googk 


416 

schäftigen  müssen,  nachdem  wir  die  genannten  Schwierigkeiten 
gelöst  haben,  ist  die  Frage,  ob  das  letzte  Endziel  und  das  Gute 
ein  und  dasselbe  Ding  oder  verschiedene  Dinge  seien,  femer: 
welcher  Unterschied  bestehe  zwischen  der  selbstlosen  Freigebig- 
keit und  der  Güte. 

Wir  lehren  also:  was  nun  die  erste  Schwierigkeit  angeht, 
die  (gegen  die  Existenz  des  letzten  Zweckes)  den  Zufall  und 
die  Zwecklosigkeit >)  anführt,  so  lösen  wir  dieselben,  indem 
wir  nunmehr  lehren:  über  den  Zufall 2)  und  die  Thesis,  dafi  er 
eine  Art  Zweck  ist,  haben  wir  in  den  Naturwissenschaften 
bereits  abschließend  gehandelt.^)  Was  nun  das  Verständnis  der 
zwecklosen  Handlung  angeht,  so  muß  man  wissen,  daß  jede  auf 
Grund  eines  freien  Willens  erfolgende  Handlung  ein  pnncipium 
proximum  und  ein  principium  remotum  besitzt  Die  zun&chst 
liegende  Ursaqhe  ist  die  bewegende  Kraft,  die  in  den  Muskeln 
des  Gliedes  ist.  Die  Ursache,  die  dieser  nahe  steht,  ist  der 
Entschluß  zur  Ausführung,  der  hervorgeht  aus  der  begehrenden 
Kraft.  Das  weiter  zurückliegende  Prinzip  der  Handlung  ist  die 
Vorstellung  der  Phantasie  und  der  Cogitativa.  Bildet  sich  in 
der  Phantasie  und  der  Cogitativa  rationalis*)  eine  Erkenntnis- 
form ab,  dann  regt  die  begehrende  Kraft  die  Impulse  der 
Glieder  an  zur  Ausführung  der  Handlung.  Ihr  dient  dann  die 
bewegende  Kraft,  die  in  den  Gliedern  ist  Das  in  der  Phantasie 
und  der  Cogitativa  eingezeichnete  Erkenntnisbild  ist  vielfach 


*)  VgL  Arist.,  Phys.  197  a  8:  aogioxa  fjkv  ovv  t«  atxia  ävayx^  elvai^ 
afp  wv  av  yivoizo  ro  and  tvxijQ.  Sd^Bv  xal  iy  rvxfi  toC  dogiatov  elvai  doxel 
xal  aÖTiXoq  ai^pionc^^  xal  Jeoxiv  wg  ovöhv  and  tvxfig  So^etev  av  ylyvead^ai^ 
navxa  yoQ  taina  OQd^dk;  Xiyetai  foi  BvXiyttK;.  toxi  fikv  yoQ  «^  yivexai  ano 
xvxijg  *  xaxa  ovfißsßrjxog  yitQ  ylvexai,  xal  %axiv  alxiov  wq  avfißeßtixoi  ^  n^i?, 
dfq  (f  anXdig  ovöevog,  olov  obclag  olxoSofiog  fikv  atxiog,  xaxa  ov/ißeßfixog  6k 
av^ijxrjg,  de  genes.  333  b  5:  xa  yoQ  yivofieva  g>vo6i  navxa  ylyvexai  ?  dsl  dSl 
(naturgesetzmäßig)  ^  &g  irU  xo  ;roAt;  (sicnt  in  ploribns),  xa  6h  TutQa  xo  äel 
xal  wg  irU  xo  tioXv  ano  xavxofiaxov  xal  and  xvxfjg»  Thomas,  Metaph. 
XI  lec.  8fi.:  Fortana  non  est  prima  causa  renun.  Nnllom  enim  per  acddens 
est  prios  bis  qoae  sunt  secondam  se.  Unde  neque  causa  per  accidens  est 
prior  eis  quae  sunt  per  se.  Et  sie  si  fortuna  et  casus,  quae  sunt  causae 
per  accidens,  sint  causae  coeli,  oportet  quod  per  prius  sint  causae  inteUectus 
et  natura,  quae  sunt  causae  per  se. 

«)  Wörtlich:  „Der  Zustand  des  ZufaUes«. 

*)  Naturwissenschaften  I.  Teil,  1, 12  und  18. 

*)  Sie  wird  so  bezeichnet,  weil  sie  unter  dem  Einflüsse  der  Vernunft 
steht.    Ihr  entspricht  im  Tiere  die  kombinierende  Phantasie. 


Digitized  by 


Googl( 


■^ 


41? 

das  Endziel  selbst,  bei  dem  die  Bewegung  endigt.  Manchmal 
ist  es  ein  anderes  Ding,  jedoch  verhält  es  sich  so,  daß  man  nur 
durch  die  Bewegung  zu  ihm  hin  gelangt,  d.  h.  zu  dem  Punkte, 
wo  die  Bewegung  ruht  oder  auf  Grund')  dessen  die  Bewegung 
in  eine  beständige  Bewegung  übergeht.  Beispiel  für  das  erste 
ist  der  Mensch.  Manchmal  empfindet  er  Überdruß  am  Verweilen 
an  einem  Orte,  Dann  bildet  er  sich  die  Phantasievorstellung 
eines  anderen  Ortes.  Sodann  verlangt  er  an  jenem  Orte  zu  sein 
und  bewegt*)  sich  zu  ihm  hin.  Seine  Bewegung  endigt  dann 
an  jenem  Orte.  Es  verhält  sich  dann  so,  daß  dasjenige,  was  er 
verlangt,  dasselbe  ist  wie  das,  bei  dem  die  Bewegung  der  die 
Muskeln  bewegenden  Kräfte  zur  Ruhe  kommt.^) 

Beispiel  für  das  zweite  ist  ebenfalls  der  Mensch.  Er  bildet 
sich  z.  B.  die  Phantasievorstellung  „seinen  Freund  zu  treffen". 
Er  sehnt  sich  dann  nach  ihm  und  bewegt  sich  hin  zu  dem  Orte, 
an  dem  das  Zusammentreffen  verabredet  war.  Seine  Bewegung 
endigt  dann  an  jenem  Orte.  Dasjenige  jedoch,  an  dem  seine 
Bewegung  endigt,  ist  nicht  dasselbe  wie  dasjenige,  was  er  ur- 
sprünglich begehrte  und  was  ihn  antrieb  (das  intendierte  Ziel). 
Dies  ist  vielmehr  etwas  anderes.  Es  verhält  sich  jedoch  so, 
daß  das  ursprünglich  Erstrebte  auf  das  Endziel  der  Bewegung 
folgt  oder  sich  nach  demselben  ereignet,  nämlich  die  Begegnung 
mit  seinem  Freunde. 

Diese  beiden  Arten  hast  du  nunmehr  erkannt  und  somit 
ist  es  selbst  bei  der  geringsten  Betrachtung  klar,  daß  das  End- 
ziel das  ist,  bei  dem  die  Bewegung  in  jedem  Zustande  zur  Euhe 
gelangt  Insofern  es  nun  Endziel  einer  Bewegung  ist,  ist  es 
ein  erstes  Endziel  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  für  die- 
jenige Kraft,  die  die  Bewegung  hervorbringt  und  die  in  den 
Gliedern  ihren  Sitz  hat.  Die  bewegende  Kraft  der  Glieder  hat 
kein  anderes  Endziel  als  dieses.  Manchmal  jedoch  hat  eine 
Fähigkeit,  die  weiter  zurückliegt  (und  umfassender  ist  als  die 
bewegende  Kraft,  also  die  höheren  Fähigkeiten  der  inneren 
Wahrnehmung  und  des  Verstandes)  ein  anderes  Ziel,  das  ver- 
schieden ist  von  dem  Ziele  der  bewegenden  Kraft   Dieses  Ding 

')  Der  Aosdrnck  bezeiclmet  den  festen  Punkt  um  den  die  Ereisbewegang 
stattfindet^  also  das  Zentnun. 

*)  Die  Reihenfolge  ist  also:  innere  Vorstellung,  Begehren,  Bewegung 
der  Glieder. 

')  Das  intendierte  Ziel  ist  auch  das  erreichte,  reale. 

Horte  Hl  Dm  Bnoh  der  Geneiuiig  der  Seele.  27 


Digitized  by 


Google 


418 

ist  nicht  notwendigerweise  immer  ein  erstes  Ziel  für  die  be- 
gehrende Fähigkeit,  sei  es  die  der  Phantasie  oder  die  der 
Cogitativa,  noch  ist  es  erforderlich,  daß  dieses  letzte  Endziel 
immer  verschieden  von  dem  ersten  sein  mnß.  Manchmal  stinunen 
vielmehr  beide  überein,  manchmal  auch  nicht,  wie  es  bereits  in 
den  beiden  Beispielen  dargestellt  ist.  In  dem  ersten  Beispiele 
ist  das  Endziel  nur  eines;  in  dem  zweiten  ist  es  vielfältig.  Die 
bewegende  Kraft,  die  in  den  Gliedern  ihren  Sitz  hat,  ist  not- 
wendigerweise Prinzip  der  Bewegung.  Die  begehrende  Kraft 
ist  ebenfalls  erstes  Prinzip  für  jene  Bewegung  (der  Glieder); 
denn  es  ist  nicht  möglich,  daß  eine  seelische  0  Bewegung  erfolge, 
ohne  daß  sie  irgendwie  aus  einem  Verlangen  hervorginge.  Denn 
das  Objekt,  das  die  Kraft  (zuerst)  nicht  erstrebt,  und  das  sie 
dann  erstrebt  in  einer  Weise,  wie  es  dem  seelischen  Prinzipe 
entspricht,  muß  auf  Grund  eines  seelischen  Verlangens  erstrebt 
werden,  und  dieses  Verlangen  tritt  auf  nachdem  es  früher  nicht 
vorhanden  war.  (Es  muß  also  eine  Wirkursache  für  dasselbe 
postuliert  werden.) 

Jede  seelische  Bewegung  muß  also  als  ihr  nächstes  Prinzip 
eine  bewegende  Kraft  haben,  die  in  den  Nerven  der  Glieder  ist, 
und  als  ihr  (zweites)  Prinzip,  das  mit  diesem  verbunden  ist,  eine 
Begierde.  Die  Begierde  folgt  aber  wie  es  in  der  Psychologie 
dargelegt  wurde,^)  notwendigerweise  einer  Phantasievorstellung 
oder  einer  Vorstellung  der  Cogitativa.  Das  am  weitesten  zurück- 
liegende Prinzip  ist  also  eine  Vorstellung  der  Phantasie  oder 
eine  der  Cogitativa.  Daher  existieren  also  in  diesem  Vorgange 
viele  Prinzipien  der  seelischen  Bewegung.  Einige  von  ihnen 
sind  in  ihrem  individuellen  Sein  unumgänglich  notwendig  zum 
Zustandekommen  der  Bewegung,  andere  Prinzipien  sind  es  nicht 
Die  Prinzipien,  die  unumgänglich  notwendig  vorhanden  sein 
müssen,  sind  die  bewegenden  Kräfte  in  den  Gliedern  und  die 
begehrenden  Fälligkeiten.  Diejenigen  Prinzipien,  die  nicht  not- 
wendig erforderlich  sind,  sind  die  Phantasievorstellung  und  die 
Cogitativa;  denn  es  ist  nicht  notwendig,  daß  eine  Vorstellung 
der  kombinierenden  Phantasie  vorhanden  sei,  ohne  eine  solche 
der  Cogitativa,  oder  eine  der  Cogitativa  ohne  eine  solche  der 
kombinierenden  Phantasie.    Jedes  Prinzip  der  Bewegung  besitzt 


<)  „Seele''  bezeichnet  hier  die  anima  sensitiTa. 
^  Naturw.  VL  Teil,  I,  4  und  5. 


Digitized  by 


Googk 


419 

aber  notwendig  ein  letztes  Ziel.  Daher  hat  also  auch  dasjenige 
Prinzip  y  das  unumgänglich  notwendig  ist  zum  Zustandekommen 
des  (freien)  Willensentschlusses,  notwendigerweise  ein  letztes 
Ziel  Auf  der  anderen  Seite  entbehrt  dasjenige  Prinzip,  das 
für  das  Zustandekommen  der  Bewegung  nicht  unumgänglich 
notwendig  ist,  manchmal  des  ihm  zukommenden  letzten  Endzieles 
der  Bewegung.  Trifft  es  sich  nun,  daß  das  nächste  Prinzip, 
nämlich  die  bewegende  Kraft,  und  die  beiden  Prinzipien,  die 
auf  diese  Kraft  folgen,  d.  h.  die  höher  stehenden  Prinzipien  der 
begehrenden  Kraft  in  Verbindung  mit  der  kombinierenden 
Phantasie  oder  der  begehrenden  Kraft  in  Verbindung  mit  der 
Cogitativa,  übereinstimmen,  dann  ist  der  Endpunkt  der  Bewegung 
zugleich  identisch  mit  dem  allgemeinen  letzten  Ziele  für  alle 
bewegenden  Prinzipien.  Diese  Bewegung  erfolgt  konsequenter- 
weise nicht  zwecklos.  Trifft  es  sich  nun,  daß  die  Prinzipien 
nicht  übereinstimmen  d.  h.  daß  dasjenige,  was  das  letzte,  not- 
wendige (per  se)  Ziel  der  bewegenden  Kraft  ist,  nicht  auch 
zugleich  das  letzte  und  notwendige  Ziel  der  begehrenden  Kraft 
darstellt,  dann  ergibt  sich  notwendig,  daß  die  begehrende  Kraft 
ein  anderes  letztes  Ziel  hat,  das  auf  das  letzte  Ziel  der  die  Glieder 
bewegenden  Kraft  erst  folgt.  Denn,  wie  wir  bereits  dargelegt 
haben,  geht  die  auf  Grund  eines  Willensentschlusses  (volunta- 
rium)^)  erfolgende  Handlung  nicht  ohne  eine  Begierde  vor  sich. 
Jede  Begierde  aber  ist  eine  Begierde,  die  sich  auf  einen  Gegen- 
stand richtet.  Richtet  sich  nun  die  Begierde  nicht  auf  das 
Endziel  der  Bewegung  selbst,  dann  richtet  sie  sich  notwendiger- 
weise auf  ein  anderes  von  diesem  verschiedenes  Ding.  Verhält 
dieses  Ding  sich  nun  so,  daß  seinetwegen  die  Bewegung  in  Szene 
gesetzt  wird,  dann  muß  dasselbe  (in  ordine  executionis)  später 
auftreten,  als  das  Aufhören  und  der  Endpunkt  der  Bewegung. 
Nun  aber  ist  jeder  Endpunkt,  zu  dem  die  Bewegung  letzthin 
gelangt,  oder  der  nach  beendigter  Bewegung  eintritt  und  der 
sich  so  verhält,  daß  die  Begierde,  die  der  kombinierenden 
Phantasie  und  der  Cogitativa  folgt,  in  ihm  übereinstimmen,  dann 
ist  es  klar,  daß  dieses  das  Ziel  der  gewollten  Handlung  (des 
voluntarium)  ist.    Sie  erfolgt  also  nicht  zwecklos. 

Jedes  Endziel,  auf  das  eine  Bewegung  ausläuft  und  das 
sich  so  verhält,  daß  es  in  sich  selbst  das  Ziel  der  begehrenden 


*)  Efl  ist  der  animalische  WiUe  der  anima  sensitiva  geraeint. 

27* 


Digitized  by 


Googk 


420 

und  phantasiemäßig  sich  vorstellenden  Kraft  ist,  ohne  zugleich 
das  der  auf  Grund  der  Cogitativa»)  begehrenden  Kraft  zu 
sein,  wird  „Zwecklosigkeit"  genannt.  Jedes  Ziel,  das  nicht 
Endpunkt  der  Bewegung  ist,  und  dessen  Prinzip  eine  Begierde 
auf  Grund  einer  Vorstellung  der  kombinierenden  Phantasie  mit 
Ausschluß  der  Cogitativa  ist,  verhält  sich  so,  daß  entweder  die 
kombinierende  Phantasie  aUein  das  erste  Prinzip  für  die  Be- 
wegung der  begehrenden  Kraft  ist,  oder  die  kombinierende 
Phantasie  zugleich  im  Bunde  mit  einer  Naturkraft  oder  einer 
körperlichen  Komplexion  wie  z.  B.  das  Atmen  oder  die  Be- 
wegungen des  Kranken,  oder  (drittens)  das  Prinzip  der  Handlung 
ist  die  kombinierende  Phantasie  zugleich  mit  einer  Charakter- 
anlage und  einer  Gewohnheit,  die  der  Seele  anhaftet  und  die 
zu  jener  Handlung  ohne  vorhergegangene  äußere  Wahrnehmung 
hintreibt.  Ist  nun  die  kombinierende  Phantasie  allein  dieses 
erste  Prinzip  der  Handlung  für  die  Begierde,  dann  wird  diese 
Handlung  „zufällig  auftretende  Handlung"  genannt,  sie  heißt 
aber  nicht  „zwecklose"  Handlung.  Ist  nun  das  Prinzip  die  kom- 
binierende Phantasie,  zugleich  im  Bunde  mit  einer  Naturkraft, 
wie  es  beim  Atmen  der  Fall  ist,  so  wird  diese  Handlung  eine 
zweckmäßige,  jedoch  natumotwendig  erfolgende  oder  naturge- 
mäße Handlung  genannt.  Ist  nun  das  Prinzip  der  Handlung 
eine  Vorstellung  der  kombinierenden  Phantasie  zugleich  ver- 
bunden mit  einer  Charaktereigenschaft  oder  einer  Gtewohnheit 
der  anima  sensitiva,  so  wird  diese  Handlung  Gewohnheit  genannt 
Denn  die  Charaktereigenschaft  besteht  in  einer  häufigen  Voll- 
ziehung von  Handlungen,  und  das,  was  auf  diese  Charakter- 
eigenschaften^) folgt  und  diese  näher  bestimmt,  ist  folgerichtig 
die  Gewohnheit  (die  eine  Verstärkung  der  Disposition  des  Cha- 
rakters darstellt).  Ist  nun  das  Ziel,  das  der  bewegenden  Kraft 
vorschwebt  —  dieses  ist  zugleich  der  Endpunkt  der  Bewegung 


>)  Die  cogitativa  oder  ratio  particnlaris  enthält  das  inteUektueUe 
Moment  und  daher  bestimmt  sie  das  intendierte  ZieL  Weil  dieses  Ziel  ein 
konkretes  Ding  ist,  kann  es  nicht  vom  abstrakt  denkenden  Verstände,  der 
nur  das  Universelle  erfaßt,  erkannt  und  als  Ziel  hingesteUt  werden.  Daher 
ist  die  Sapposition  einer  anderen,  verstandesähnlichen,  aber  doch  nidit  rein 
geistigen  Fähigkeit,  der  cogitativa,  erforderlich. 

*)  Die  erste  Stufe,  die  seelischen  Dispositionen,  werden  durch  Wieder- 
holung der  Handlung  su  festen  Gewohnheiten.  Es  liegt  der  spätere  scho- 
lastische Unterschied  zwischen  dispositio  und  habitus  vor. 


Digitized  by 


Googk 


421 

—  real  existierend,  und  existiert  zugleich  kein  weiteres  Ziel, 
das  auf  dieses  folgt,  und  auf  welches  sich  die  Begierde  hin 
richten  würde,  so  daß  dieses  das  Ziel  der  Begierde  wäre,  dann 
wird  diese  Handlung  „resultatlos"  genannt  Sie  verhält  sich  z.  B. 
wie  die  Handlung  desjenigen,  der  zu  einem  Orte  gelangt,  an  dem 
die  Begegnung  mit  einem  Freunde  verabredet  war,  ohne  daß 
er  dort  den  Freund  trifft  Sie  wird  resultatlose,  vergebliche 
Handlung  genannt  in  Beziehung  zu  der  begehrenden  Kraft,  mit 
Hintansetzung  der  bewegenden  und  femer  wird  sie  so  genannt 
im  Vergleich  zum  ursprünglichen  Ziele  (dem  der  Cogitativa), 
abgesehen  von  einem  sekundären  Ziele. 

Nachdem  diese  Prämissen  festgestellt  sind,  lehren  wir:  die 
Schwierigkeit  des  Objizienten,  daß  die  zwecklose  Handlung  eine 
Tätigkeit  sei  ohne  jedes  Ziel,^)  ist  eine  unrichtige  Behauptung. 
Femer  ist  die  Behauptung,  die  zwecklose  Handlung  sei  eine 
Handlung  ohne  ein  solches  Ziel,  das  ein  reales  oder  wenigstens 
ein  imaginäres  Gut  sei,  ebenfalls  unrichtig.  Was  nun  die  erste 
Behauptung  angeht,  so  tritt  eine  Handlung  ohne  Ziel  deshalb 
nur  auf,  weil  sie  kein  Ziel  hat  im  Vergleich  zu  dem,  was  als 
erstes  Prinzip  ihrer  Bewegung  gilt,  nicht  im  Vergleich  zu  dem, 
was  nicht  Prinzip  der  Bewegung  ist  (so  daß  also  das  Ziel  der 
kombinierenden  Phantasie  und  der  Cogitativa  noch  möglich 
bleibt)*)  und  im  Vergleich  zu  irgendwelchem  anderen  Dinge, 
Die  Beispiele,  die  zur  Begründung  dieses  Zweifels  aufgestellt 
werden  betreffs  der  zwecklosen  Handlung,  nämlich  das  fricare 
barbam  u.s.  w.,^)  so  ist  das  Prinzip  der  Bewegung  dieser  Handlung, 
nämlich  das  nächste  Prinzip,  die  Fähigkeit,  die  in  den  Muskeln 


"*)  Wenn  Avicenna  die  Existenz  eines  Zieles  in  jeder  menschlichen 
Handlang  nachweisen  will,  so  bewegt  er  sich  in  einer  rein  metaphysischen 
Diskussion,  die  das  ens  inqnantum  est  ens  betrachtet  und  die  Voraussetzungen 
der  Naturwissenschaften  begründen  will. 

')  In  dieser  Hinsicht  ist  in  intentione  ein  Ziel  vorhanden. 

')  Dasselbe  Beispiel  der  Handlung  ohne  bewußten  Zweck  führt  Thomas 
(Sum.  th.  I— n  1, 1  ad  3)  an.  Die  Objectio  lautet:  tunc  videtur  homo  agere 
propter  finem,  quando  deliberat.  Sed  multa  homo  agit  absque  deliberatione, 
de  quibus  etiam  quandoque  nihil  cogitat;  sicut  cum  aliquis  movet  pedem  vel 
manum  aliis  intentus,  Tel  fricat  barbam.  Non  ergo  omnia  agit  propter  finem. 
Ad  (hoc)  dicendum,  quod  huiusmodi  actiones  non  sunt  proprie  humanae,  quia 
non  procedunt  ex  deliberatione  rationis,  quae  est  proprium  principium  huma- 
norum  actuum;  et  ideo  habent  finem  imaginatum,  non  autem  perrationem 
praestitutum. 


Digitized  by 


Googk 


422 

ihren  Sitz  hat,  das  Prinzip  der  Handlung,  das  weiter  zurück- 
liegt wie  dieses,  ist  ein  Verlangen  und  eine  Vorstellung  der 
kombinierenden  Phantasie  ohne  eine  solche  der  Cogitativa.  Das 
(da  die  Handlung  ohne  bewußten  Zweck  erfolgt)  Prinzip  dieser 
(unbewußten)  Handlung  ist  (ein  Gedanke  oder)  eine  Tätigkeit 
der  Cogitativa.  Daher  hat  diese  Handlung  kein  Ziel,  das  die 
Cogitativa  ihr  vorsteckt;  jedoch  besitzt  dieselbe  ein  Ziel,  das 
der  begehrenden  Kraft  mit  der  kombinierenden  Phantasie  eigen 
ist^  und  ebenso  der  bewegenden  Kraft  allein  zukommt 

Es  ist  also  klar,  daß  diese  Handlung  inbezug  auf  das  be- 
wegende Prinzip,  von  dem  sie  ausgeht,  auf  ein  (gewisses)  Ziel 
gerichtet  ist,  und  daß  sie  nur  in  dem  Sinne  nicht  auf  ein  Ziel 
hinstrebt,  als  sie  Momente  in  sich  hat  (oder  haben  konnte), 
deren  ^rste  Ui-sache  nicht  das  bewegende  Prinzip  ist,  (sondern 
die  von  einem  psychischen  Prinzipe  ausgehen).  Es  ist  deshalb 
nicht  erforderlich,  anzunehmen,  daß  diese  Handlung  in  keiner 
Hinsicht  von  einem  auf  Grund  einer  Voi^stellung  der  kom- 
binierenden Phantasie  erregtem  Verlangen  ausgehen  könne;  denn 
jede  seelische  Handlung,  die  entsteht,  nachdem  sie  früher  nicht 
war,  setzt  notwendigerweise  eine  Begierde  und  ein  seelisches 
Streben  voraus.  Dieses  ist  verbunden  mit  einer  Vorstellung  der 
kombinierenden  Phantasie.  Freilich  ist  diese  Vorstellung  häufig 
nicht  beständig,  sondern  rasch  vergänglich,  oder  sie  ist  vielleicht 
beständig,  jedoch  sind  wir  uns  derselben  nicht  bewußt;  denn 
jeder,  der  sich  mit  der  kombinierenden  Phantasie  ein  Ding  vor- 
stellt, ist  sich  deshalb  noch  nicht  dieser  Vorstellung  bewußt, 
noch  urteilt  er,  daß  er  eine  solche  Vorstellung  habe.  Der  Grund 
dafür  ist  der,  daß  die  kombinierende  Phantasie  verschieden  ist 
von  dem  Bewußtsein,  daß  wir  uns  Vorstellungen  bilden.  Dieses 
ist  einleuchtend.  Wenn  jede  Vorstellung  der  kombinierenden 
Phantasie  verbunden  wäre  mit  einfm  Bewußtsein  von  dieser 
Vorstellung,  das  der  Phantasie  folgte,  dann  müßte  diese  Kette 
psychischer  Tätigkeiten  ohne  Ende  weiter  gehen;  (denn  für  dieses 
Bewußtsein  müßte  abermals  ein  neues  Bewußtsein  und  so  weiter 
gesucht  werden). 

Was  nun  die  zweite  Schwierigkeit  angeht,  so  ist  die 
Behauptung  deshalb  unrichtig,  weil  für  (die  Bewegung  und)  den 
Antrieb  dieser  Begierde  notwendigerweise  eine  Ursache  bestehen 
muß,  und  diese  ist  entweder  eine  Gewohnheit  oder  ein  Wider- 
wille gegen  irgendwelches  Verhältnis  oder  der  Wille  zu  anderen 


Digitized  by 


Googk 


423 

Verhältnissen  überzugehen  oder  ein  heftiges  Streben,  das  von 
der  bewegenden  Kraft  oder  der  sinnlich  wahrnehmbaren  Fähig- 
keit ausgeht  und  danach  strebt,  eine  neue  Bewegung  oder  eine 
neue  sinnliche  Wahrnehmung  zu  vollführen.  Die  gewohnheits- 
mäßige Tätigkeit  ist  angenehm.  Das  Sichentfemen  von  dem, 
dessen  man  überdrüssig,  ist  ebenfalls  angenehm.  Das  Streben 
nach  einer  neuen  Tätigkeit  ist  gleichfalls  befi-iedigend  d.  h.  in- 
bezug  auf  die  animalische  Tätigkeit  und  die  Kraft  der  kombi- 
nierenden Phantasie. 

Die  Lust  ist  ein  sinnliches»)  oder  phantasiemäßiges  oder 
animalisches  Gut  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes.  Dies  ist 
jedoch  nur  ein  Scheingut  im  Vergleich  zu  dem,  was  für  die  edle, 
menschliche  Natur  ein  Gut  bedeutet.  Ist  daher  das  Prinzip  der 
Handlung  eine  Vorstellung  der  kombinierenden  Phantasie  und 
der  tierischen  Seele,  dann  ist  das  Gut,  das  diese  Handlung 
erstrebt,  notwendigerweise  ein  Gut,  das  der  tierischen  Seele  und 
der  kombinierenden  Phantasie  konform  ist.  Diese  Handlung  ist 
deshalb  nicht  frei  von  irgendwelchem  Gute  (d.  h.  einem  Ziele), 
daß  ihr  entspricht,  selbst  wenn  dieses  Gut  kein  wahrhaftes  Gut 
ist,  d.  h.  kein  wahrhaftes  im  Vergleich  zum  Verstände. 

Hinter  diesen  Prinzipien  der  Handlungen  gibt  es  Ursachen, 
die  eine  bestimmte,  individuelle  Art  der  Bewegung  mit  Ausschluß 
einer  anderen  determinieren  und  die  nicht  bestehen  bleiben. 

Was  nun  den  Zweifel  angeht,  der  sich  an  den  oben 
genannten  anschließt,  so  wird  er  dadurch  klargelegt,  daß  der 
Unterschied  zwischen  dem,  was  notwendig  und  dem  Wesen  nach 
„Ziel"  einer  Handlung  ist,  und  dem,  was  nur  konsequenterweise 
ein  resultierendes  Ziel  ist,  definiert  wird.  Das  notwendig  sich 
Ergebende  ist  auch  eine  Art  von  Ziel,  das  per  Akzidens  erfolgt. 
Der  Unterschied  zwischen  dem  finis  per  se  und  dem  natur- 
notwendig erfolgenden  Ziele  ist  der,  daß  ersteres  dasjenige  ist, 
das  (per  se)  seinetwegen  erstrebt  wird.  Das  natumotwendige 
aber  ist  eines  von  drei  Dingen.  Entweder  verhält  es  sich  so, 
daß  es  unabwendbar  existieren  muß,  so  daß  das  Ziel  existiert, 
indem  eine  natumotwendig  wirkende  Ursache  für  das  Ziel  in 
irgendwelcher  Weise  besteht  wie  z.  B.  die  Härte  des  Eisens,  so 
daß  durch  dasselbe  das  Schneiden  möglich  wird.  Oder  (zweitens) 
das  Ding  verhält  sich  so,  daß  seine  Existenz  unabwendbar  ist, 


1)  d.h.  eiu  Gut,  das  die  äußere  Siuneswahmehmang  auffaßt. 


Digitized  by 


Googk 


424 

so  daß  das  eigentliche  Ziel  existiert  nicht  etwa  ans  dem  Grunde, 
weil  eine  notwendig  wirkende  Ursache  für  dieses  Ziel  bestände, 
sondern  in  dem  Sinne,  daß  das  Ziel  ein  notwendiges  Akzidens 
der  Ursache  ist.  So  ist  es  z.  B.  unabwendbar  notwendig,  daß 
ein  Körper  scharf  sei,  so  daß  man  mit  ihm  schneiden  kann.  Es 
ist  aber  nicht  erforderlich,  daß  man  einen  scharfen  Körper  besitze, 
wegen  seiner  grauen  Farbe.  Die  Farbe  verhält  sich  jedoch  so, 
daß  sie  ein  notwendiges  Akzidens  des  Eisens  ist,  das  man  für 
die  betreffende  Handlung  nicht  entbehren  kann.  Oder,  drittens 
verhält  sich  das  natumotwendige  so,  daß  es  etwas  ist,  das  unab- 
wendbar notwendig  existiert  und  zugleich  eine  notwendige  Eigen- 
schaft der  Zweckursache  selbst  darstellt.  So  ist  z.  B.  die  Zweck- 
ursache der  Verehelichung  die  Erzeugung  von  Kindern.  Auf 
die  Erzeugung  folgt  die  Liebe  des  Kindes  und  haftet  ihr  not- 
wendig an;  denn  die  Verehelichung  ist  auf  diesen  Zweck  (die 
Erzeugung  der  Nachkommenschaft)  gerichtet.  >) 

Alles  dieses  sind  Ziele,  die  sich  notwendig  ergeben  und 
akzidentell  sind;  es  sind  nicht  solche,  die  nur  zufällig  erfolgen, 
wie  klar  gelegt  wurde.  Die  bewußten  und  bewußt  erstrebten  und 
die  zufälligen  Ziele  hast  du  an  einem  anderen  Orte  kennen 
gelernt  (Naturw.  I.  Teil,  1, 12  und  VI.  Teil,  I,  4  und  5). 

Wisse,  daß  die  Existenz  der  ersten  Prinzipien  des  Übels 
in  der  Natur  zu  der  zweiten  Kategorie  der  hier  aufgezählten 
Ursachen  gehört  (nämlich  zu  der  Kategorie  der  per  accidens 
erfolgenden  Wirkungen).  In  der  göttlichen  Vorsehung,  die  ein 
selbstloses  Geben  bedeutet,  ist  es  notwendig,  daß  jedes  der  Mög- 
lichkeit nach  Existierende  und  Gute  die  Existenz  erhalte,  die 
für  das  Ding  ein  Gut  bedeutet,  und  femer  gehört  es  ebenso  in 
den  Bereich  der  Vorsehung,  daß  durch  sie  die  Existenz  der  zu- 
sammengesetzten und  aus  Elementen  bestehenden  Körper  erfolgt 
Weil  es  nun  nicht  anders  möglich  ist,  als  daß  die  zusammen- 
gesetzten Körper  aus  Elementen  bestehen,  so  ist  es  unabwendbar, 
daß  diese  Körper  die  bekannten  Elemente  besitzen,  nämlich 
Erde,  Wasser,  Feuer  und  Luft.  Es  ist  sodann  nicht  möglich, 
daß  das  Feuer  zu  dem  guten  Ziele  hinwirkt,  auf  das  es  ge- 
richtet ist,  wenn  es  nicht  die  Körper  verbrennt  und  zerteilt 
Wenn  dieses  nun  vorausgesetzt  wird,  dann  Ist  es  absolut  not- 


»)  Cod.  b,  d:  „das  Verhältnis  liegt  nicht  etwa  so,  daß  die  Heirat  erfolgt 
der  Liebe  zum  Kinde  wegen". 


Digitized  by 


Googk 


425 

wendig,  daß  das  Feuer  den  gesunden  Körper  schädigt  und  viele 
zusammengesetzte  Körper  vernichtet. 

Damit  sind  wir  bereits  aus  dem  Bereiche  der  vorliegenden 
Abhandlung  herausgetreten,  und  so  wollen  wir  zu  unserem 
Probleme  zurückkehren,  um  auf  die  Schwierigkeiten  zu  antworten 
(siehe  Anfang  dieses  Kapitels).  Was  die  Individuen  angeht,  die 
in  unendlicher  Reihe  entstehen  sollen,  so  sind  diese  nicht  fines 
per  se  in  Bezug  auf  die  Naturkraft.  Die  fines  per  se  sind  viel- 
mehr z.  B.,  daß  eine  Substanz  existiert,  die  einen  Menschen  oder 
ein  Pferd  oder  eine  Palme  darstellt, i)  und  daß  diese  Existenzweise 
(die  bestimmten  Arten)  immer  bestehen  bleibe.  Die  ewige  Dauer 
ist  nun  aber  in  der  einzelnen  Person  und  dem  einzelnen  Indivi- 
duum unmöglich;  denn  jedes  entstehende  Ding  ist  notwendiger- 
weise mit  Vergänglichkeit  behaftet,  d.  h.  alle  Dinge,  die  aus 
der  körperlichen  Materie  bestehen,  sind  vergänglich.  Weil  nun 
das  ewige  Bestehen  in  dem  „Individuum"  unmöglich  ist,  so 
verlangt  die  Natur,  daß  dasselbe  in  seiner  Art  weiter  bestehe. 
Der  ursprüngliche  Zweck  der  Natur  ist  also  das  Bestehen  der 
menschlichen  Natur  oder  einer  anderen  oder  das  Bestehen  eines 
Individuums,  das  eine  allgemeine  Natur  besitzt  2)  und  nicht  im 
eigentlichen  Sinne  ein  materielles  Individuum  ist.  Dieses  ist 
das  Gute  und  Vollkommene,  das  die  Tätigkeit  der  universellen 
Natur  erstrebt,  und  diese  ist  in  ihrer  Handlung  eine  einheitliche. 
Damit  jedoch  dieses  einheitliche  Ziel  wirklich  erreicht  werde 
und  bestehen  bleibe,  müssen  viele  Individuen  aufeinander  ohne 
Ende  folgen,  und  muß  in  ihnen  sich  dieses  Ziel  verwirklichen. 
Daher  ist  die  unendliche  Kette  der  Individuen  per  accidens 
ein  erstrebtes  Ziel  in  dem  Sinne,  daß  es  notwendigerweise  aus 
dem  ersten  (aus  dem  per  se  erstrebten)  Ziele  erfolgt,  nicht 
insofern  die  unendliche  Kette  der  Individuen  in  sich  als  Ziel 
erstrebt  wäre.  Denn,  wäre  es  möglich,  daß  ein  Mensch  ewig 
bestehen  bliebe,  wie  z.  B.  die  Sonne  und  die  Himmelsphäre 
ewig  dauert,  dann  wäre  das  Erzeugen  und  das  Auftreten  einer 
großen  Vielheit  von  Individuen  durch  die  Erzeugung  nicht  er- 
forderlich (damit  dieses  Ziel  erreicht  würde).    Selbst  wenn  wir 

*)  Zweck  der  Naturkraft  ist  das  Vorhandensein  der  Spezies  nicht  die 
des  Individaums. 

*)  Wörtlich:  „das  ausgebreitet  ist".  Es  erfüllt  die  ganze,  seiner  Art 
zukommende  Materie.  Dies  gilt  von  Sonne  und  Mond  u.  s.  w.  Daher  ist  kein 
zweites  Individuum  dieser  Arten  möglich. 


Digitized  by 


Googk 


426 

zugeben,  daß  das  Ziel  (der  Naturkraft)  die  unendliche  Anzahl 
der  Individuen  ist^  so  ist  doch  der  Begriff  der  unendlichen  Anzahl 
der  Individuen  verschieden  von  dem  Begriffe  (der  ratio,  der 
Art)  jedes  einzelnen  Individuums;  denn  in  unendlicher  Folge 
löst  nur  ein  Individuum  das  andere  ab,  nicht  eine  Unendlichkeit 
die  andere.  Das  eigentliche  Ziel  ist  also  in  diesem  Prozesse 
real  existierend.  Es  ist  die  Existenz  eines  die  ganze  Art  re- 
präsentierenden (wörtlich:  ausgebreiteten)  Individuums  (z.  B.  der 
Sonne  u.  s.  w.)  oder  die  endlose  Anzahl  der  realen  Einzeldinge. 
Femer,  das  Individuum,  das  zu  einem  anderen  hinführt,  so  daß 
dieses  zu  einem  dritten  und  vierten  hinleitet,  ist  nicht  in  sich 
selbst  das  Ziel  der  universellen  Natur,  sondern  das  Ziel  der 
individuellen.  Weil  nun  dieses  das  Ziel  der  individuellen  Natur  ist, 
so  besteht  abgesehen  von  diesem  Ziele  „nach"  ihm  kein  anderes, 
weder  ein  bewußtes  Ziel,  noch  irgend  ein  erstrebtes  Objekt  für 
diese  individuelle  Natur,  deren  letztes  Ziel  (nur)  dieses  (das 
Einzelding)  ist.  Unter  individueller  Natur  verstehe  ich  die  be- 
stimmte Kraft  für  die  Leitung  des  einzelnen  Individuums  und 
unter  universeller  Natur  die  Kraft  die  aus  den  himmlischen 
Substanzen  emaniert  in  Form  eines  sich  gleichbleibenden  Dinges.^ 
Jene  himmlischen  Substanzen  sind  dagegen  die  universellen 
Leiter  des  Weltalls  und  alles  dessen,  was  im  Bereiche  des 
Werdens  ist  Im  folgenden  wirst  du  alle  diese  Gedanken  kennen 
lernen.^) 

Was  nun  die  Bewegung  anbetrifft,  die  ohne  Ende  weiter 
geht,  so  ist  dieselbe  in  Bezug  auf  ihre  Kontinuität  nur  eine 
einzige,  wie  du  in  den  Naturwissenschaften  kennen  gelernt  hast*) 
Ferner:  das  in  dieser  Handlung  erstrebte  Objekt  ist  nicht  die 
Handlung  selbst,  insofern  sie  diese  individuelle  Handlung  ist; 
sondern  der  Zweck  dieser  himmlischen  Bewegung  ist  das  ewige 
Bestehen,  das  wir  sogleich  besprechen  werden.*)    Dieses  ewige 

")  Jede  Ursache  wirkt  per  se  nur  eine  sich  immer  gleichbleibende 
Wirkung.  Die  himmlischen  lassen  aus  ihrem  Wesen  die  Formen  der  sublu- 
narischen  Dinge  emanieren.  Jeder  Geist  bewirkt  eine  Form,  die  sich  immer 
wiederum  von  neuem  in  der  sublunarischen  Materie  als  ein  und  dieselbe  Art 
verwirklicht.  Jeder  Geist  ist  inhaltsgleich  mit  einer  Idee  nach  Art  der  snb- 
siatierenden  Ideen  Piatos.  Vgl.  dazu  Horten,  Buch  der  Bingsteine  F&r&bis, 
Nr.  32  und  S.  64. 

«)  Abh.  IX,  4. 

»)  Naturwissenschaften  n.  Teil,  I.  Kap.  2,  4  und  6. 

*)  Abh.  IX,  4,  5. 


Digitized  by 


Googk 


427 

Bestellen  ist  ein  einheitlicher  und  einziger  Begriff  (ratio,  Wesen- 
heit). Er  ist  jedoch  inbezug  auf  seine  Existenz  abhängig  von 
vielen  Dingen  und  betreffs  dieser  kann  man  zugeben,  daß  sie  an 
Zahl  unendlich  sind. 

Was  nun  die  Darlegung  der  Schwierigkeit  betreffs  der 
Konklusion  angeht  (die  besagt,  daß  die  Konklusion  aus  einer 
unendlich  großen  Anzahl  von  Prämissen  erfolgen  kann),  so  ist 
es  erforderlich  zu  wissen,  daß  der  Ausdruck,  „die  Zweckursache 
läuft  auf  einen  letzten  Endpunkt  aus  und  gelangt  dort  zum 
Stillstande",  bedeute,  daß  die  Zweckursache  eines  einzigen 
Handelnden  und  einer  einzigen  Handlung  auf  einen  letzten 
Endpunkt  ausläuft.  Keine  natürliche  Wirkursache  oder  eine 
aus  freiem  Willen  wirkende  Ursache  bewirkt  eine  individuelle 
Handlung,  durch  die  sie  immer  ein  Ziel  nach  einem  anderen 
Ziele  erstrebte,  ohne  daß  die  Kette  der  aufeinander  folgenden 
Ziele  bei  einem  Endpunkte  anlangte.  Nimmt  man  aber  ein 
erstes  Prinzip  der  Handlung  und  zwar  ein  einheitliches  Prinzip 
an,  das  immerfort  eine  Handlung  nach  der  anderen  bewirkt, 
und  das  inbezug  auf  jede  einzelne  Handlung  ein  kausal 
wirkendes  ist  und  sich  (formell)  unterscheidet  von  sich  selbst, 
insofern  es  inbezug  auf  die  andere  Handlung  wirkend  war, 
und  nimmt  man  an,  das  wirkende  Prinzip  werde  seinem  Wesen 
und  seinem  Substrate  nach  nicht  zu  einem  anderen  (bei  der 
Vielheit  seiner  Handlungen),  dann  ist  es  möglich,  daß  auch 
die  Ziele  dieses  wirkenden  Prinzipes  selbst  eine  Vielheit  dar- 
stellen. Inbezug  auf  jede  Handlung,^)  diu-ch  die  das  Prinzip 
wirkend  wird,  hat  es  ein  neues  Ziel.  Kann  man  nun  dieses 
Prinzip  betrachten,  insofern  es  tätig  ist  (inbezug  auf  diese 
oder  jene  Handlung),  nachdem  es  tätig  war  bezüglich  einer 
anderen  Handlung,  die  alle  eine  endlose  Kette  bilden,  dann  sind 
auch  die  Ziele  dieses  tätigen  Prinzipes  Ziele  ohne  Ende  an  Zahl. 

Die  Konklusion  ist  die  Zweckursache  und  die  Vollendung, 
auf  die  der  Syllogismus  hingeordnet  ist,  der  ein  bestimmtes 
Problem  erforschen  will.  Jeder  geordnete  Syllogismus  stellt  eine 
psychische  Tätigkeit  dar,  die  einen  Anfangspunkt  hat.  Ent- 
sprechend jedem  Syllogismus  ist  in  der  Seele  eine  Voraussetzung 


*)  Wörtlich:  „jedes  von  ihm  ausgehende  Werden".  Es  handelt  sich 
um  das  Werden  der  suhlunarischen  Dinge  unter  dem  Einflüsse  der  Seelen  der 
Gestirne. 


Digitized  by 


Google 


428 

(Prämisse)  vorhanden,  auf  Grund  deren  man  berechtigt  ist  zu 
sagen:  die  Seele  besitzt  ein  dem  Syllogismus  vorausgehendes, 
ihn  bewirkendes  Prinzip.  In  jedem  einzelnen  Male,  wo  nun  das 
wirkende  Prinzip  tätig  ist,  hat  es  ein  bestimmtes,  individuelles 
Ziel  Inbezug  auf  diese  Ziele  in  der  einzelnen  Handlung  kann 
die  intentio  des  Handelnden  nicht  ins  Unendliche  fortgehen,  da 
für  jeden  einzelnen  Syllogismus  notwendigerweise  eine  Kon- 
klusion sich  ergibt  (und  die  Konklusion  ist  das  Ziel  desselben). 
Was  nun  die  Schwierigkeit  angeht,  die  mit  dieser  sich 
verbindet,  so  wird  sie  dadurch  gelöst,  daß  man  sich  klar  macht: 
der  Begriff  Ziel  setzt  ein  Ding  voraus  und  ein  Existierendes.  (Er 
bedeutet  ein  ens  und  eine  Existenz.)  Es  ist  nun  aber  ein  Unter- 
schied vorhanden  zwischen  dem  Begriff  res  und  Existenz,  selbst 
wenn  die  res  nur  sein  kann,  wenn  sie  eine  Existenz  ist.  Ebenso 
ist  das  Verhältnis  zwischen  dem  Dinge  und  seinem  notwendigen 
Akzidens.^)  Diesen  Unterschied  hast  du  bereits  kennen  gelernt 
und  erfaßt.  2)  Wirf  nun  wieder  deinen  Blick  zurück  auf  die 
Beispiele  betreffs  des  Menschen.  Der  Mensch  stellt  ein  reales 
Wesen  dar,  das  seine  Definition  und  seine  Wesenheit  ausmacht^ 
ohne  daß  darin  schon  die  Bedingung  seiner  individuellen  oder 
universellen  Existenz  in  den  realen  Individuen  oder  der  denkenden 
Seele  ausgesprochen  läge,  sei  es  nun,  daß  er  der  Möglichkeit 
oder  der  .Wirklichkeit  nach  in  dieser  Form  existiert  Jede  Ur- 
sache hat,  insofern  sie  Ursache  ist,  ein  reales  Wesen  und  eine 


*)  Wesenheit  und  Dasein  (vgl.  Färabi,  Bingsteine  Nr.  1  und  den  ent- 
sprechenden Kommentar  Hoseinis,  üb.  c.  S.  313 — 364)  sind  also  verschieden  wie 
Wesenheit  und  notwendiges  Akzidens.  Thomas  Sum.  th.  I  3,  4  c:  Si  ipsum  esse 
rei  Sit  aliud  ab  eins  essentia,  necesse  est  quod  ipsum  esse  illius  rei  sit  causatum 
ab  aliquo  exteriori  vel  a  principüs  essentialibus  eiusdem  rei.  Impossibile  est 
autem  quod  esse  sit  causatum  a  principüs  tantum  essentiaUbus  rei;  quia  nulla 
res  sufficit  (arab.  jakfi,  die  Ausdrucksweise  ist  wohl  aus  den  lateinischen 
Übersetzungen  arabischer  Texte  entlehnt)  quod  sit  sibi  causa  essendi.  Si  habeat 
esse  causatum,  oportet  ergo  quod  iUud,  cuius  esse  est  aliud  ab  essentia  sua, 
habeat  esse  causatum  ab  alio.  Hoc  autem  non  potest  dici  de  Deo,  quia  Deum 
dicimus  esse  primam  causam  efficientem  . . .  Esse  est  actualitas  omnis  formae 
vel  naturae.  Oportet  igitur  quod  ipsum  esse  comparetur  ad  esssentiam  quae 
est  aliud  ab  ipso,  sicut  actus  ad  potentiam.  Sicut  iUud  quod  habet  ignem 
et  non  est  ignis,  est  ignitum  per  participationem,  ita  iUud  quod  habet  esse 
et  non  est  esse,  est  ens  per  participationem.  Die  Weltdinge  sind  also  entia 
per  participationem  a  Deo,  weil  in  ihnen  Wesenheit  und  Dasein  real  ver- 
schieden sind. 

»)  Vgl.  auch  Logik  I.  Teü,  1, 14j  H.  Teü,  I,  4. 


Digitized  by 


Googk 


429 

essentia.J)  Die  Zweckursache  ist  in  ihrer  essentia  Ursache 
daffir,  daß  die  übrigen  Ursachen  aktuell  und  real  existieren  als 
Ursachen  (in  bestimmten  Arten,  essentiis).  Die  Zweckursache 
in  ihrer  realen  existentia  ist  aber  verursacht^)  durch  die  Existenz 
der  übrigen  Ursachen,  insofern  sie  aktuell  Ursachen  sind.  Daher 
ist  also  die  essentia  der  Zweckursache  (in  intentione)  Ursache 
für  eine  andere  Ursache  (die  causa  intermedia,  fines  intermedii), 
die  ihrerseits  die  reale  Existenz  der  Zweckursache  (finis  in 
executione)  bewirkt.  Die  Existenz  der  Zweckursache  ist  also 
die  Wirkung  einer  Wirkung  (der  fines  intermedii),  nämlich  der 
Wirkung  der  ersten  Zweckursache,  insofern  sie  die  essentia  (in 
intentione)  ist  Ihre  essentia  (in  intentione)  ist  jedoch  nicht 
Ursache,  so  lange  der  Zweck  nicht  in  einer  denkenden  Seele 
oder  einem  anderen  ähnlichen  Subjekte  vorgestellt  ist.  Daher 
existiert  keine  Ursache  für  die  Zweckursache,  insofern  sie  eine 
essentia  (in  intentione)  darstellt,  es  sei  denn  eine  andere  Ur- 
sache, die  verschieden  ist  von  der  Ursache,  auf  die  die  Zweck- 
ursache (die  instrumenta)  hinbewegt  oder  sich  selbst  hinbewegt. 
Wisse,  daß  das  Ding  verursacht  ist,  insofern  es  eine  essentia 
darstellt,  und  auch  insofern  es  real  existiert  (also  eine  existentia 
besitzt).  Es  ist  verursacht  insofern  es  eine  essentia  darstellt 
wie  z.  B.  die  Zweiheit.  In  ihrer  Definition  als  Zweiheit  ist  sie 
verursacht  von  der  Einheit.  Was  es  bedeutet,  daß  das  Ding 
verursacht  ist  in  seiner  realen  Existenz,  ist  begrifflich  klar, 
und  ebenso  ist  es  klar,  daß  die  essentia  eine  aktuelle  Realität 
empfängt,  die  in  der  Wesenheit  des  Dinges  existiert  wie  z.  B. 
das  Wesen  der  Zahl  (das  Genus)  in  der  Zweiheit  Daneben 
existiert  eine  Realität,  die  zu  der  Wesenheit  des  Dinges  hinzu- 
kommt, wie  die  Quadratur,  die  (in  der  Außenwelt)  im  Holze 
oder  im  Steine  existiert  Die  natürlichen  Körper  sind  Ursache 
für  die  Wesenheit  vieler  Wesensformen  und  Akzidenzien,  d.  h. 
für  solche  Wesensformen  und  Akzidenzien,  die  nur  durch  diese 
natürlichen  Körper  erneuert  werden  können  (nachdem  sie  zu 
Grunde  gegangen  waren).  Die  natürlichen  Körper  sind  femer 
Ursache  für  die  reale  Existenz  einer  anderen  Gruppe  von 
Dingen,  auch  abgesehen  von  ihrer  Wesenheit    So  denkt  man 

*)  Wörtlich:  „Dingheit"  reitas  (re8)  =  8ailja. 

*)  Der  finis  in  executione  ist  ein  oltimnm  und  yenirsacht  von  aUen 
finibus  intermedüs.  Der  finis  in  intentione,  also  als  begrifflich  gefaßte  Wesen- 
heit, ist  aber  Ursache  für  die  Existenz  aUer  übrigen  secnndären  Ziele. 


Digitized  by 


Google 


430 

sich  das  Verhältnis  bei  den  mathematischen  Begriffen  (wenn  sie 
in  physischen  Körpern  existieren). 

Es  ist  dir  jetzt  leicht  zu  erkennen,  daß  die  Zweckursache 
inbezug  auf  die  Wesenheit  des  Dinges  früher  ist  als  die  Wirk- 
ursachen (die  sich  auf  die  Existenz  des  Zweckes  erstrecken) 
und  als  das  aufnehmende  Prinzip,  die  Materialursache.  Sie  ist 
deshalb  auch  früher  als  die  Wesensform  insofern,  als  die  Wesens- 
form eine  formelle  Ursache  ist  (in  den  fines  intermedii),  die 
zum  Endzwecke  des  Dinges  hinführt.  Ebenso  verhält  sich  die 
Zweckursache  auch  bezüglich  der  Existenz  der  Wesensform  in  der 
denkenden  Seele.  Sie  ist  in  diesem  Sinne  früher  als  die  übrigen 
Ursachen.  Sie  besteht  entweder  in  der  denkenden  Seele  des 
Handelnden.  Dort  ist  sie  früher,  weil  sie  zuerst  in  ihm  besteht 
Sodann  bildet  sich  in  dem  Handelnden  die  begriffliche  Vor- 
stellung von  der  Ausführung  der  Handlung  und  dem  Verlangen 
nach  dem  aufnehmenden  Prinzipe  (um  die  Form  in  dieses  ein- 
zuführen) und  die  von  der  Qualität  der  Form  (die  der  Materie 
mitgeteilt  werden  soll).  Oder,  zweitens,  die  Zweckursache  be- 
steht in  den  Seelen  anderer  als  der  des  Handelnden.  Dann 
haben  die  einen  im  Verhältnis  zu  den  anderen  keine  notwendige 
Ordnung  der  Aufeinanderfolge.  Daher  basteht  in  Rücksicht  auf 
die  Wesenheit  des  Zweckes  und  in  Rücksicht  auf  die  Existenz 
der  Zweckursache  im  Verstände  selbst  keine  Ursache,  die  früher 
wäre  als  die  Zweckursache.  Sie  ist  vielmehr  die  Ursache  dafür, 
daß  alle  übrigen  Ursachen  (fines  intermedii)  ihren  Charakter 
als  Ursachen  erhalten.  Dagegen  ist  die  aktuelle  Existenz 
der  übrigen  Ursachen  (also  in  ordine  executionis)  Ursache  für 
die  Existenz  der  Zweckursache  (nicht  für  ihre  Wesenheit,  die 
im  Geist  des  Handelnden  ist).  Die  Zweckursache  ist  jedoch 
nicht  insofern  als  Ursache  zu  bestimmen,  als  sie  real  existiert, 
sondern  insofern  als  sie  eine  Wesenheit*)  darstellt  Insofern 
sie  nun  Ursache  ist,  ist  sie  die  Ursache  der  anderen  Ursachen, 
und  in  der  anderen  Rücksicht  ist  sie  die  Wirkung  der  anderen 
Ursachen. 

Dieses  trifft  zu,  wenn  die  Zweckursache  sich  im  Werde- 
gange des  Dinges  befindet.    Wenn  sie  sich  aber  nicht  in  dem 

^)  Die  Zweckursache  wirkt,  insofern  sie  eine  ideeUe  Existenz  im 
Geiste  hat,  nicht  insofern  sie  real  in  der  Außenwelt  vorhanden  ist  Im 
letzteren  Sinne  ist  sie  Wirkung:  und  später,  im  ersteren  Sinne  prima  causa 
und  frtther  als  aUe  Übrigen  Ursachen. 


Digitized  by 


Googl( 


431 

Werdegange  des  Dinges  befindet,  und  wenn  vielmehr  ihre  Existenz 
erhaben  ist  über  das  Werden,  wie  wir  es  später  darlegen  werden 
(siehe  Metaphysik,  Achte  Abhandlung,  Theologie),  dann  ist  keine 
der  übrigen  Ursachen  Ursache  für  die  Zweckursache,  ebenso- 
wenig in  den  übrigen  Bestimmungen  wie  auch  in  dem  des 
Einen,  das  selbst  das  Aktuellsein  und  die  Existenz  istJ)  Daher 
ist  also  die  Zweckursache  nicht  die  Wirkung  der  übrigen  Ur- 
sachen, weil  sie  Zweckursache  ist;  sondern  sie  ist  Wirkung 
der  übrigen  Ursachen,  weil  sie  ein  Ding  ist,  das  (in  der  realen 
Außenwelt)  entsteht  Wenn  sie  nicht  ein  werdendes  Wirk- 
liches wäre,  dann  wäre  sie  durchaus  nicht  verursacht.  Be- 
trachtest du  nun  die  Zweckursache  insofern  sie  Zweckursache 
ist,  dann  findest  du,  daß  sie  Ursache  ist  für  die  übrigen  Ur- 
sachen, die  bewirkt,  daß  diese  ihre  Eigenschaft  als  Ursachen 
erhalten.  So  bewirkt  sie,  daß  die  Wirkursache  eine  Wirkursache 
und  die  Materialursache  eine  Materialursache  und  die  Wesens- 
form eine  formelle  Ursache  wird.  Sie  bewirkt  in  den  finibus 
intermediis  nicht,  daß  sie  in  sich  werden  oder  Existenz  er- 
halten (sondern  nur,  daß  sie  ursächlich  wirken  und  sich  auf 
den  letzten  Zweck  richten).  Die  Wesensbestimmung,  die  der 
Zweckursache  per  se  zukommt  (insofern  sie  Zweckursache 
ist),  ist  die,  daß  sie  Ursache  für  die  übrigen  Ursachen  ist. 
Insofern  als  ihre  ratio  (ihr  Wesen)  sich  aber  manchmal  im 
Werdeprozesse  befindet,  haftet  es  ihr  in  akzidenteller  Weise  an, 
daß  sie  rücksichtlich  ihres  Werdeganges  verursacht  ist. 

Dadurch  ist  dir  klar  geworden,  wie  ein  Ding  Ursache  und 
Wirkung  sein  kann,  insofern  es  Wirkendes  und  Zweckursache 
ist  Diese  Wahrheit  ist  eines  der  Prinzipien  der  Naturwissen- 
schaftler. Die  Untersuchung  aber,  die  auf  diese  folgt,  wird  er- 
klärt durch  das,  was  wir  an  dieser  Stelle  darlegen,  daß  näm- 
lich die  Zweckursache,  die  sich  in  der  Tätigkeit  des  Wirkenden 
befindet,  in  zwei  Kategorien  zu  zerlegen  ist,  nämlich  eine  Zweck- 
ursache, welche  Wesensform  (oder  Erkenntnisform)  oder  Akzidens 
in  einem  passiven  oder  die  Handlung  aufnehmenden  Prinzipe  ist 
und  eine  andere  Zweckursache,  die  keineswegs  Wesensform  noch 
Akzidens  in  einem  passiven  und  aufnehmenden  Prinzipe  ist 
Daher  liegt  sie  notwendigerweise  in  dem  wirkenden  Prinzipe 


^)  Die  metaphysischen  Begriffe  der  Einheit,   der  Aktualität  und  des 
Seins  werden  hier  identifiziert 


Digitized  by 


Google 


432 

begrandet;  denn  wenn  sie  nicht  in  der  Wirkursache  wäre  noch 
auch  in  dem  passiven  Prinzipe,  und  wenn  sie  zugleich  nicht  so 
beschaffen  ist,  daß  sie  in  sich  selbst  als  Substanz  besteht,  die 
also  weder  aus  einer  Materie  hervorgeht,')  noch  (als  Form)  in 
eine  Materie  hineintritt,  dann  hat  die  Zweckursache  in  keiner 
Weise  eine  Existenz  in  der  Außenwelt  Beispiel  für  die  erste 
Art  der  Zweckursache  ist  die  Wesensform  des  Menschen,  die  in 
der  Materie  des  Menschen  sich  befindet  Sie  ist  Zweckursache 
für  die  wirkende  Kraft,  die  die  Wesensform  in  die  Materie  des 
Menschen  hineinbildet  Auf  diese  Wesensform  hin  richtet  sich 
die  Tätigkeit  und  die  Bewegung  dieser  Kraft  Beispiel  für  die 
zweite  Art  der  Zweckursache  ist  die  Herstellung  einer  Wohnung. 
Diese  ist  Zweck  desjenigen,  der  sich  eine  Wohnung  bauen  will, 
und  dieser  ist  zugleich  erstes  Prinzip  für  die  Bewegung  des 
Entstehens  der  Wohnung.  Dieser  Zweck  ist  keineswegs  zugleich 
Wesensform  im  Hause.  Der  Zweck  des  Wirkenden,  der  nächste, 
der  mit  der  Bewegung  der  Materie  in  direkter  Verbindung  steht, 
kann  freilich  die  in  die  Materie  hineinzubildende  Wesensform 
sein.  Femer  ist  es  möglich,  daß  auch  dasjenige,  was  nicht 
letzter  Zweck  ist,  Wesensform  in  der  Materie  sei  Es  ist  dann 
nicht  nächstes  Prinzip  für  die  Bewegung  als  solche.  Der  End- 
zweck, der  zugleich  Wesensform  in  der  Materie  ist,  die  ihre 
Formen  beliebig  wechselt,  und  der  Endzweck,  der  einen  Inhalt 
(ratio)  darstellt,  der  nicht  die  Wesensform  in  dieser  Materie  ist, 
können  eventuell  beide  ein  einziges  Ding  darstellen.  Die  Ein- 
heit ist  dann  freilich  nur  per  accidens,  wie  die  Einheit  des 
Menschen,  der  ein  Haus  baut,  damit  er  in  demselben  wohne 
(diese  Einheit  besteht  in  einer  Substanz,  der  des  Menschen,  die 
in  Verbindung  steht  mit  einem  Akzidens,  seiner  Tätigkeit). 
Insofern  er  die  Wohnung  als  Zweck  erstrebt,  ist  er  antreibende 
Ursache  und  erstes  Prinzip  für  das  Bauen;  insofern  er  aber 
Baumeister  ist,  ist  er  gleichsam  Wirkung  für  denjenigen,  der 
sich  2)  eine  Wohnung  bauen  will  (und  den  Baumeister  beauftragt). 
Daher  ist  der  Endzweck,  der  die  Wohnung  bauen  will,  ver- 
schieden von  dem  Endzwecke  desjenigen,  der  baut  Wenn  es 
sich  nun  so  verhält,  dann  kann  auch  in  dem  gleichen  Individuum 
des  Menschen,  der  sich  eine  Wohnung  bauen  will  und  der  sie 


>)  oder:  „sich  (als  Kompositam)  mit  einer  Materie  SEnsammensetzt''. 
*)  Wörtlich:  „für  das  was  eine  Wohnung:  sucht". 


Digitized  by 


Googk 


433 

zugleich  selbst  baut,  sein  Zweck,  insofern  er  sich  die  Wohnung 
bauen  will,  verschieden  sein  von  seinem  Zwecke,  insofern  er  die- 
selbe baut  (der  erste  Zweck  ist  umfassender,  der  zweite  partikulärer). 

Nachdem  dieses  feststeht,  lehren  wir  betreffs  der  ersten 
Kategorie  der  Zweckursache:  die  Zweckursache  hat  einige  Be- 
ziehungen zu  vielen  Dingen  (den  fines  intermedii),  die  ihr  in  der 
aktuellen  Exekution  wie  auch  in  der  realen  Existenz  voraus- 
liegen; denn  die  Zweckursache  hat  eine  Beziehung  zum  wirkenden 
und  eine  Beziehung  zum  aufnehmenden  Prinzipe.  Sie  selbst  be- 
steht (in  diesem)  nur  der  Potenz  nach.  Sie  hat  femer  eine  andere 
Beziehung  zum  aufnehmenden  Prinzipe,  wenn  sie  aktuell  existiert, 
und  eine  Beziehung  zu  der  Bewegung.  Sie  ist  in  ihrer  Beziehung 
zu  dem  Handelnden  „Endzweck",  und  in  ihrer  Beziehung  zu  der 
Bewegung  Endpunkt  der  Bewegung.  Sie  ist  aber  nicht  „End- 
zweck" für  die  Bewegung;  denn  der  Endzweck,  auf  den  ein 
Ding  gerichtet  ist,  und  zu  dem  das  Ding  hinstrebt,  hört  nicht 
auf  mit  der  Existenz  des  Endzweckes.  Er  vervollkommnet  viel- 
mehr das  Ding.  Die  Bewegung  aber  geht  mit  Erreichung  ihres 
Endpunktes  zu  Grunde.  Das  Endziel  ist  also  in  der  Beziehung 
zu  dem  aufnehmenden  Prinzipe,  das  durch  die  causa  finalis  ver- 
vollkommnet wird,  während  es  selbst  (das  aufnehmende  Prinzip) 
in  der  Potenz  existiert,  ein  Gut,^  das  dem  passiven  Prinzipe 
zusagt.  Denn  das  Böse  ist  die  Privation  der  Vollkommenheit 
des  Dinges;  das  Gute  aber,  das  dem  Bösen  gegenübersteht,  ist 
die  Existenz  und  das  Aktuellsein.  Inbezug  auf  das  aufnehmende 
Prinzip  ist  es,  wenn  dieses  aktuell  existiert,  die  Wesensform. 

Was  nun  die  Zweckursache  angeht,  die  in  der  zweiten 
Kategorie  erwähnt  wurde,  so  ist  es  klar,  daß  sie  nicht  die  Wesens- 
form der  passiv  sich  verhaltenden  Materie  ist,  noch  ist  sie  End- 
punkt der  Bewegung  selbst   Es  wurde  nun  bereits  klar  gemacht, 

')  Das  Gute  ist  identisch  mit  dem  Endzwecke.  Vgl.  Arist.,  Ethik 
1097  a  18:  xi  ovv  kxetaTtjg  xaya^ov;  ^  oi  xoQiv  xa  Xoina  Ti^ixxsxai;  xoirco 
S*iv  laxQuc§  fihv  vyleia,  iv  oxQaxtiyixf  61  vixri,  iv  olxoSofiuef  ^olxia,  iv 
&XX(p  ö*  äXXo,  iv  anaay  6h  n^a^H  xal  n^oaigiaei  xo  xiXoQ,  xovxov  yoQ  tvexa 
xa  Xoina  TiQotxovoi  nivxeg.  Vgl.  Thomas,  Snm.  th.  I  5,  2  ad  1 :  Bonom,  cum 
habeat  rationem  appetibilis,  importat  habitudinem  causae  finalis,  cuius  causa- 
litas  prima  est,  quia  agens  non  agit  nisi  propter  finem  et  ab  agente  materia 
movetur  ad  formam.  Unde  didtur,  quod  finis  est  causa  causamm.  Et  sie  in 
caosando  bonum  est  prius  quam  ens,  sicut  finis  (prius)  quam  forma.  Ib.  ad  2: 
bonum  habet  rationem  finis  in  quo  non  solum  quiescunt,  quae  sunt  in  actu^ 
sed  ad  ipsum  moventur  quae  in  actu  non  sunt,  sed  in  potentia  tantum. 
Horitn,  Dm  Buch  der  OenMong  d«r  Seele.  28 


Digitized  by 


Googk 


434 

daß  sie  Wesensform  oder  Akzidens  im  Handelnden  ist  Not- 
wendigerweise geht  dann  auf  Grund  dieser  Form  die  Handlung 
aus  dem  Handelnden  hervor,  d.  h.  aus  dem  Zustande  der  Potenz  in 
den  der  Aktualität.  Dasjenige,  was  der  Potenz  nach  vorhanden 
ist,  ist  wegen  der  Privation,  die  mit  dieser  Potenz  verbunden 
ist,  ein  Böses.  Dasjenige,  das  aktuell  vorhanden  ist,  ist  das 
Gute,  das  zu  dem  Bösen  in  Opposition  steht.  Dieser  Zweck  ist 
daher  ein  Gut  im  Verhältnisse  zu  dem  Handelnden,  nicht  in 
Beziehung  zu  dem  aufnehmenden  Prinzipe.  Stellt  man  nun  die 
Beziehung  zum  Handelnden  her,  insofern  er  erstes  Prinzip  für 
die  Bewegung  und  Wirkursache  ist,  dann  ist  der  Zweck  im 
eigentlichen  Sinne  eine  Zweckursache  (da  er  in  intentione  existiert). 
Stellt  man  nun  die  Beziehung  zu  dem  Handelnden  her  insofern 
die  Handlung  durch  die  Zweckursache  aus  ihm  von  der  Potenz 
zum  Akte  übergeht  und  ihn  vervollkommnet,  dann  ist  die  Zweck- 
ursache ein  Gut.  Dies  tritt  dann  ein,  wenn  das  Hervorgehen  aus 
der  Potenz  zum  Akte  in  die  Kategorie  des  bonum  utile  in  Be- 
ziehung auf  die  Existenz  oder  auf  das  Erhaltenbleiben  der 
Existenz  gehört,  und  wenn  die  Bewegung  eine  natumotwendige 
oder  eine  freigewollte  und  vernünftige  ist.  Ist  sie  aber  eine 
solche,  die  von  der  kombinierenden  Phantasie  ausgeht,  so  ist 
die  Zweckursache  nicht  im  eigentlichen  Sinne  ein  Gut,  sondern 
in  diesem  Falle  ist  sie  ein  Scheingut.  0 

Daher  ist  jede  Zweckursache  in  der  einen  Beziehung  Zweck- 
ursache, in  der  anderen  Beziehung  ein  Gut,  und  zwar  entweder 
ein  wahrhaftes  Gut  oder  ein  Scheingut.  Dieses  ist  der  Zustand 
des  Guten  und  der  Ursache,  die  die  Vollkommenheit  des  Dinges 
bedeutet. 

Ober  das  selbstlose  Geben. 

Was  nun  die  Selbstlosigkeit  im  Geben  und  das  Gute  angeht, 
so  mußt  du  wissen,  daß  ein  und  dasselbe  Ding  betrachtet  werden 
kann  in  Beziehung  zum  aufnehmenden  Prinzipe,  das  durch  das 
aufgenommene  vervollkommnet  werden  soll,  und  in  Beziehung 
zum  Handelnden,  von  dem  die  Handlung  ausgeht.  Bezieht  man 
das  Ding  zum  Handelnden,  von  dem  die  Bewegung  ausgeht,  in- 


^)  Ygl.  dazu  Arist,  Psych.  433  a  26:  Sge^ig  dh  xal  ipawaoia  xal  ig^ 
xal  ovx  6q^.  6i6  dsl  xivel  fuhv  to  oqextov,  akXä  xoüt  icxlv  ^  to  dyad^ov 
^  TO  (paivoixBvov  äya^ov,    ov  n&v  6i,  äkXd  rd  TtQoxxov  dyad^ov. 


Digitized  by 


Googl( 


43S 

sofern  man  von  ihm  nicht  aussagen  kann,  daß  er  sich  zugleich 
passiv  zu  seiner  Handlung  verhalte  oder  zu  einem  Dinge,  das 
auf  seine  Handlung  folgt,  dann  ist  die  Zweckursache  in  Beziehung 
zu  diesem  Handelnden  ein  selbstloses  Geben',  in  Beziehung  zum 
aufnehmenden  Prinzipe  ein  Gut.  Der  Ausdruck  „selbstloses 
Geben"  und  ähnliche  Ausdrücke  bedeuten  0  ursprünglich  in  den 
Sprachen  das  Verleihen  des  Gebers,  der  einen  anderen  irgend 
einen  Nutzen  mitteilt,  ohne  daß  er  einem  Entgelt  erwartet. 
Erhält  er  aber  von  dem  anderen  einen  Entgelt,  so  nennt  man 
diese  Handlung  Kauf  und  Verkauf,  Tausch  oder  kurz  Geschäfte. 
Nun  aber  ist  der  Dank,  die  Belohnung,  der  gute  Ruf  und  die 
übrigen  erstrebenswerten  Verhältnisse  von  der  großen  Masse 
nicht  als  Entgelt  für  geleistete  Dienste  geschätzt.  Sie  schätzen 
nur  reale  Substanzen  selbst  oder  Arten  des  Entgeltes,  die  sie 
in  den  Objekten  konstatieren.  Man  ist  der  Meinung,  daß  der- 
jenige, der  einem  anderen  einen  Nutzen  mitteilt,  von  dem  er 
selbst  wiederum  Dank  gewinnt,  ein  selbstlos  Gebender  sei.  Er 
strebt  durch  seine  Handlung  keinen  Kauf  noch  einen  Tausch 
zu  machen.  In  Wahrheit  ist  er  jedoch  ein  solcher,  der  einen 
Tausch  eingeht;  denn  er  gab  ein  Gut  und  erhielt  dafür  ein 
anderes,  und  es  ist  gleichgültig,  ob  er  einen  Ersatz  erhielt,  der 
in  materiellen  Werten  besteht  und  der  die  gleiche  Gattung  be- 
sitzt, wie  das  Gute,  das  er  mitteilte,  oder  eine  andere,  oder  Dank 
und  Belohnung,  an  der  er  sich  erfreut  Er  erhielt  (als  ein- 
getauschtes Gut)  den  guten  Ruf,  daß  er  als  tugendhaft  und  des 
Lobes  würdig  gilt,  indem  er  eine  Handlung  vollzog,  die  edel 
und  des  Ruhmes  wert  ist,  und  besser,  als  wenn  er  sie  nicht 
vollführte.  Er  hätte  dann  das  Lob  für  seine  Tugend  nicht  ver- 
dient. Die  große  Menge  jedoch  schätzt  diese  geistigen  Güter 
(wörtlich:  rationes)  nicht  als  Entgelt,  und  daher  lassen  sie  sich 
nicht  hindern,  denjenigen,  der  einem  anderen  mit  irgend  einer 
Sache,  sei  es  mit  einem  dieser  irdischen  Scheingüter  oder  mit 
einem  wirklichen  Gute  eine  Wohltat  erweist,  —  durch  diese 
Handlung  erwirbt  er  ein  (geistiges)  wahres  Gut,  —  einen  selbst- 
losen Geber  zu  nennen.  Verständen  sie  die  dargelegten  Gedanken, 
dann  würden  sie  ihn  nicht  einen  selbstlosen  Geber  nennen.  Denn 
wenn  der  Eine  dem  Anderen  eine  Wohltat  erweist,  dann  erstrebt 
er  damit  einen  bestimmten  Zweck,  selbst  wenn  dieser  Zweck 


1)  Wörtlich:  „sein  Substrat  ist". 

28* 


Digitized  by 


Google 


436 

etwas  anderes  war  als  materieller  Besitz.  Derjenige  aber,  der 
diese  Gedanken  versteht,  weist  den  Dank  ab  und  verleugnet  ihn 
und  er  weigert  sich,  den,  der  einem  anderen  Wohltaten  erweist, 
einen  selbstlosen  Geber  zu  nennen;  denn  seine  Handlung  ge- 
schieht wegen  einer  bestimmten  Ursache.  Bestätigt  und  be- 
wahrheitet sich  nun  der  Begriff  des  selbstlosen  Grebens  (in 
ihm),  dann  erfolgt  seine  Handlung,  in  der  er  dem  anderen  eine 
Wohltat  entweder  in  seiner  Person  selbst  oder  in  seinen  Verhält- 
nissen erweist,  ohne  daß  er  durch  seine  Handlung  in  irgendwelcher 
Weise  einen  Ersatz  erlangt.  Jeder  Handelnde  aber,  der  eine 
Handlung  verrichtet,  um  einen  Entgelt  zu  erlangen,  der  wenig- 
stens zu  etwas  führt,  das  einem  Entgelte  ähnlich  sieht,  ist  kein 
selbstloser  Geber.  Jeder,  der  einem  aufnehmenden  Prinzipe  eine 
Wesensform  oder  ein  Akzidens  mitteilt,  und  der  dabei  einen 
anderen  Zweck  verfolgt,  der  durch  das  Gute,  das  er  dem  Anderen 
mitteilt,  erreicht  wird,  ist  nicht  selbstlos  gebend. 

Wir  lehren  vielmehr,  daß  der  intendierte  Gegenstand  und 
das,  was  man  mit  seiner  Absicht  erreichen  will,  nur  für  einen 
solchen  Handelnden  besteht,  der  in  seinem  Wesen  unvollkommen») 
ist;  denn  der  Handelnde  erstrebt  einen  Gegenstand  auf  Grund 
seiner  selbst  oder,  weil  er  seinen  Zustand  verbessern  will,  oder 
zwecks  eines  anderen  Dinges,  sei  es  in  sich  selbst  oder  in  seinen 
Verhältnissen.  Es  ist  nun  bekannt,  daß  jemand,  der  einen  (Gegen- 
stand seiner  selbst  wegen,  (d.  h.  des  Handelnden  wegen)  erstrebt 
oder,  um  seinen  Zustand  aufzubessern,  oder  eines  anderen  Dinges 
wegen,  für  sich  selbst  oder  für  sein  Gedeihen,  kurz,  daß  jeder, 
der  ein  Ding  erstrebt,  das  ihm  selbst  wiederum  Vorteil  einbringt, 
in  seinem  Wesen  unvollkommen  ist  inbezug  auf  sein  Dasein  oder 
seine  Vollkommenheiten. 

Erstrebt  der  Handelnde  einen  Gegenstand  wegen  eines 
anderen  Dinges,  dann  geht  diese  (Handlung  und  die)  ratio  agendi 
von  ihm  zum  anderen  über,  insofern  die  Vollziehung  der  Hand- 
lung (ratio),  die  von  ihm  ausgeht  und  ihm  zu  eigen  ist,*)  und 
das  Nichtvollziehen  derselben  gleichwertig  sind.  Wenn  dieses 
Gute  nicht  von  ihm  ausginge,  das  rücksichtlich  eines  anderen 
ein  Gut  bedeutet,  dann  wäre  sein  Zustand  in  jeder  Beziehung 


')  In  sich  selbst  besitzt  der  Handehide  noch  nicht  das  Güte,  das  er 
durch  seine  Handlung  erlangen  wiU.    Er  ist  also  unvoUkommen. 
«)  oder:  „für  ihn  etwas  bewirkt". 


Digitized  by 


Googl( 


437 

derselbe,  wie  wenn  die  Handlung  und  das  Gute  von  ihm  aus- 
gegangen wären.  ^)  Daher  ist  dann  dieser  Zustand  durch  die 
Handlung  weder  vollkommener  noch  vollendeter  geworden,  noch 
auch  des  Lobes  oder  einer  anderen  erstrebenswerten  besonderen 
Belohnung  würdiger.  Das  Gegenteil  dieser  Handlung  ist  eben- 
sowenig unvollkommener,  noch  auch  ohne  Anspruch  auf  Lob  oder 
andere  erstrebte  und  nützliche  Güter.  2)  Es  ergibt  sich  also,  daß 
er,  wenn  er  jene  Handlung  nicht  vollführt  hätte,  nicht  dasjenige 
unterlassen  hätte,  das  seiner  würdiger  und  in  jedem  Falle  edler 
wäre.  Daher  gibt  es  für  diesen  Handelnden  kein  bewegendes 
Prinzip  für  die  Handlung,  noch  auch  ein  Prinzip,  das  ihn  be- 
wog8)  dieses  Gute  aus  sich  hervorzubringen  und  es  einem  anderen 
mitzuteilen  auf  Grund  des  Entgegenstehenden  (d.  h.  auf  Grund 
eines  gleichwertigen  Ersatzes).  Ebenso  verhält  es  sich,  wenn 
das  mitgeteilte  Gute  der  Handlung  kein  Ding  ist^  das  aus  einer 
Naturanlage  oder  einem  Willen  (Voluntarium)  hervorgeht,*) 
d.  h.  einem  Willen,  der  nicht  auf  Grund  eines  äußeren  Impulses, 
sondern  einer  anderen  Weise  (auf  Grund  innerer  Antriebe,  inner- 
göttlicher Vorgänge)  wirkt  In  dieser  Handlung  ruht  der 
Handelnde  in  dem  inneren  Antriebe  (die  Handlung  tritt  nicht 
aus  ihm  heraus).  Dieses  Prinzip  ist  nicht  Ausgangspunkt  für 
irgend  ein  Ding,  das  aus  einer  beliebigen  Ursache  hervorgeht. 
Dasjenige,  was  für  diesen  Handelnden,  der  den  genannten  Zweck 
(das  selbstlose  Gute)  erstrebt,  am  entsprechendsten  ist,  muß  viel- 
mehr darin  bestehen,  daß  er  ein  Gut  einem  anderen  mitteilt, 
weil  dieses  sich  so  für  ihn  am  meisten  geziemt  und  weil  das 
Gegenteil  dieser  Handlung  seiner  weniger  würdig  ist. 

So  gelangt  er  schließlich  zu  einem  (letzten)  Zwecke  zurück, 
der  mit  dem  Wesen  des  Handelnden  verbunden  ist  und  der 
wiederum  zurückführt  zu  dem  Handelnden  selbst  (Er  erwirbt 
also  durch  sein  Handeln  eine  Vollkommenheit.)  Die  Existenz 
dieser  Absicht  oder  die  Nichtexistenz  derselben  sind  sich  also 
inbezug  auf  das  Wesen  des  Handelnden,  die  Vollkommenheiten 


0  Der  Handelnde  erhält  für  das  abgegebene  Gute  einen  Entgelt,  so  daß  er 
keine  Einbuße  erleidet.    Seine  Handlang  ist  dann  nicht  das  selbstlose  Geben. 

')  Nehmen  nnd  Geben  gleichen  sich  yollkommen  ans. 

')  Wörtlich:  „etwas,  das  das  Übergewicht  verleiht". 

^  Das  Gute  dieser  Handlung  ist  also  nichts,  das  der  Handelnde  abgibt, 
gleichsam  verliert.  So  verhält  sich  die  Tätigkeit  Gottes  im  Erschaffen  der 
Welt.    Diese  Darlegungen  bereiten  die  Theologie  Avicennas  vor. 


Digitized  by 


Google 


438 

seines  Wesens  oder  ihr  Gedeihen  nicht  gleich.  Es  ist  vielmehr 
der  Umstand,  daß  dieses  Ziel  von  ihm  erstrebt  wird,  gleichbedeu- 
tend mit  den  Zielen,  die  seinem  Wesen  notwendig  zukommen,  und 
so  ergibt  sich,  daß  sein  Wesen  durch  diese  Handlungen  eine 
Vollendung  und  ein  ihm  eigentümliches  Gut  erwirbt  Aus 
diesem  Grunde  bleibt  die  Frage,  welches  das  Ziel  einer  Hand- 
lung ist,i)  bestehen  und  sie  kehrt  immer  wieder  zurück,  bis  daß 
man  zu  einem  Endpunkte  gelangt,  der  auf  den  Handelnden  selbst 
wieder  zurückweist.  So  fragt  man  z.  B.  den  Handelnden,  wes- 
halb hast  du  dieses  getan?  Er  antwortet:  damit  jener  Mensch 
ein  bestimmtes  Ziel  erreiche.  Sodann  stellt  man  an  ihn  die 
Frage,  weshalb  erstrebst  du,  daß  jener  andere  ein  gewisses  Ziel 
erreiche?  so  sagt  er,  weil,  das  Gute  zu  tun,  eine  edle  Handlung 
ist.  Damit  aber  hört  das  Fragen  nicht  auf,  sondern  man  stellt 
von  neuem  die  Frage:  weshalb  erstrebst  du  das,  was  eine  edle 
Handlung  ist?  Dann  antwortet  er:  weil  sie  ein  Gut  ist,  das 
dem  Handelnden  selbst  wiederum  zukommt,  oder  weil  dadurch 
ein  Böses  von  ihm  abgewehrt  wird.  Mit  dieser  Antwort  unter- 
bleibt die  weitere  Frage;  denn  das  Erlangen  eines  Gutes  für 
jedes  Ding  und  das  Entfernen  des  Bösen  ist  das  per  se  letzthin 
und  schlechthin  Erstrebte.  Das  Mitleid  aber,  die  Barmherzigkeit, 
die  Liebe  zum  Nächsten  und  die  Freude,  anderen  Gutes  zu  tun, 
die  Traurigkeit  über  den  Verlust,  den  andere  erleiden,  und  ähn- 
liches sind  Güter,  die  der  Handelnde  je  nach  seiner  Individu- 
alität erstrebt.  Sie  treiben  ihn  zum  Handeln  an  und  verhalten 
sich  so,  daß  jeder  der  ihnen  widerstrebt,  des  Tadels  würdig  ist, 
(es  sind  also  Endzwecke,  die  für  den  selbstlos  Handelnden  gelten) 
und  bedeuten  die  Vollendung  des  Handelnden. 

Daher  ist  also  das  selbstlose  Geben  das  Mitteilen  eines 
Gutes  von  selten  desjenigen,  der  auf  Grund  seines  inneren 
Reichtums  nicht  darauf  angewiesen  ist,  Güter  zu  geben  (um  da- 
für andere  zu  erhalten,  die  er  also  mitteilt  aus  dem  einfachen 
Zwecke,  um  eine  Wohltat  zu  erweisen).  Dieser  Vorgang  (ratio) 
ist  inbezug  auf  den  Empfangenden  ein  Gut,  und  inbezug  auf  den 
Handelnden  ein  selbstloses  Geben.  Jedes  Mitteilen  eines  Gutes  ist 
daher  inbezug  auf  den  Empfangenden  ein  Gut,  sei  es  daß  dieses 
Mitteilen  eines  Gutes  geschieht  wegen  eines  einzutauschenden 
Ersatzes   oder  nicht  in  der  Erwartung  eines  Entgeltes.     Die 


*)  Wörtlich:  „die  Frage  des  weshalb". 


Digitized  by 


Googl( 


439 

Handlung  des  Mitteilens  eines  Gutes  ist  jedoch  inbezug  auf  den 
Handelnden  nur  dann  ein  selbstloses  Geben,  wenn  sie  nicht  des- 
wegen vollzogen  wird,  um  einen  Ersatz  zu  erlangen.  Dieses  ist  die 
Darlegung  des  Begriffes  von  Gut  und  Selbstlosigkeit  im  Geben. 
Wir  haben  nun  über  die  Ursachen  und  ihre  Verhältnisse 
gesprochen,  und  so  bleibt  noch  übrig,  daß  wir  die  Lehre  über 
die  Ursachen  kurz  zusammenfassen.  Daher  sagen  wir:  dies 
sind  die  vier  Ursachen.  Wenn  man  nun  der  Ansicht  ist,  sie 
fänden  sich  nicht  zusammen  in  vielen  Dingen,  die  Teile  der 
Wissenschaften  bilden,  0  so  gilt  folgendes.  Diejenigen  Dinge, 
die  sich  nicht  bewegen  (die  geistigen  Inhalte,  entia  immobilia) 
und  die  mathematischen  Gegenstände  können  nicht  als  aus- 
gestattet mit  einer  Wirkursache  oder  einem  Prinzipe  der 
Bewegung  gedacht  werden,  noch  auch  kann  man  sich  in  ihnen 
einen  Endzweck  denken.  Denn  der  Endzweck  ist  nur  vorstell- 
bar und  denkbar  für  eine  Bewegung.  Sie  haben  ebensowenig 
eine  Materie.  Bei  ihnen  untersucht  man  vielmehr  nur  ihre 
Wesensformen,  und  daher  haben  die  übrigen  Ursachen  mit  Aus- 
nahme der  Wesensformen  für  sie  keine  Bedeutung,  wie  es  der 
Objizient  darlegte,  indem  er  jene  Ursachen  geringschätzte,  da 
diese  nicht  etwas  bedeuteten,  was  die  Vollkommenheit  des  Dinges 
begründet  Deshalb  kommt  die  Untersuchung  über  die  vier 
Ursachen  (weil  sie  keiner  der  einzelnen  Wissenschaften  zugehört) 
der  Metaphysik  zu,  nicht  etwa  aus  dem  Grunde,  weil  es  eine 
einzige  Wissenschaft  geben  müsse,  die  sich  mit  ihnen  allen  be- 
faßt, als  entgegenstehenden  Begriffen; 2)  denn  die  Ursachen  ver- 
halten sich  nicht  wie  Opposita.  Die  Metaphysik  muß  sich  viel- 
mehr mit  ihnen  befassen,  weil  ein  und  dieselbe  Wissenschaft  in 
der  Hinsicht,  in  der  die  Metaphysik  eine  einheitliche  Wissen- 
schaft ist,  die  Ursachen  erklärt.  Der  Grund  dafür  ist  folgender: 
wenn  wir  auch  zugeben,  daß  die  Ursachen  sich  nicht  in  allen 
Wissenschaften  vereinigt  finden,  so  daß  sie  also  in  diesem  Falle 
zu  den  Universalia  gehörten,  die  in  den  verschiedenen  Objekten 
der  Wissenschaften  vorhanden  sind,  so  finden  sich  doch  die  Ur- 
sachen zerstreut  in  vielen  und  verschiedenen  Wissenschaften,  und 
selbst  wenn  alle  Ursa<5hen  sich  zusammen  in  einer  Wissenschaft 


*)  Codd.  a,  c:  „die  in  den  Wissenschaften  die  Ordnung  bedeuten". 

')  Ein  und  dieselbe  Wissenschaft  befaßt  sich  mit  den'entgegenstehenden, 
ja  sogar  konträren  Begriffen  innerhalb  eines  Genus.  Contrariorum  eadem 
est  ratio. 


Digitized  by 


Googk 


440 

befänden,  so  gehörte  es  dennoch  nicht  znr  Kompetenz  dessen, 
der  sich  mit  dieser  einen  Wissenschaft  befaßt  —  z.  B.  des  Natur- 
wissenschaftlers, in  dessen  „Knnst"  sich  Prinzipien  vorfinden, 
daß  er  alle  diese  Ursachen  als  existierend  nachweise  nnd  aber 
dieselben  diskutiere  bezüglich  einer  Bestimmung,  die  ihnen  zu- 
kommt; denn  die  Verhältnisse  liegen  anders.  Jeder  Handelnde 
ist  nicht  ein  erstes  Prinzip  der  Bewegung»),  wie  auseinander- 
gesetzt wurde.  Denn  die  Gegenstände  der  Mathematik  erhalten 
notwendigerweise  entsprechend  ihrer  Natur  nur  durch  andere 
Prinzipien  ihre  Existenz,  und  ihre  Naturen  lassen  sich  nicht 
trennen  von  der  Materie  selbst.  Wenn  sie  durch  die  innere 
Vorstellung  abstrahiert  werden,  so  haftet  ihnen  doch  in  der 
inneren  Vorstellung  eine  Teilbarkeit  und  Gestalt  an,  die  sich 
nur  auf  die  Materie  begründet  Daher  sind  die  Dimensionen 
nahezu  materielle  Gegenstände,  die  mit  den  ausgedehnten, 
räumlichen  Gestalten  sich  verbinden.  Die  Einheiten  sind  ebenso 
materielle  Elemente  für  die  Zahl,  die  Zahl  ihrerseits  wiederum 
für  die  Proprietäten  der  Zahl 

Alle  diese  Gegenstände  haben  eine  Wirkursache  und  eine 
materielle  Ursache.  Wenn  diese  beiden  Prinzipien  (Form  und 
Materie)  existieren,  dann  existiert  auch  ii^end  eine  Vollendung 
eines  Dinges.  Die  Vollendung  ist  der  Ausgleich,  die  Umgrenzung 
und  die  Ordnung,  durch  die  einem  Gegenstande  dasjenige  zu- 
kommt, was  ihm  an  Eigenschaften  gehört  Die  materiellen 
Gegenstände  existieren  nur  zu  dem  Zwecke,  daß  sie  dasjenige 
besitzen,  was  ihnen  inbezug  auf  Ordnung,  Ausgleich  der  Ver- 
hältnisse und  Umgrenzung  zukommt  Wenn  es  nun  unmöglich 
ist,  daß  dieses  die  Vollendung  eines  Dinges  bedeutet,  d.  h.  das 
Endziel  einer  (physischen)  Bewegung  (die  in  den  mathematischen 
Gegenständen  nicht  denkbar  ist),  dann  ist  es  jedoch  noch  nicht 
ausgeschlossen,  daß  dieses  zugleich  ein  Gut  ist,  und  daß  es  eine 
Ursache  2)  bedeutet,  insofern  es  ein  Gut  ist  In  diesen  Verhält- 
nissen besteht  also  eine  Ursache  (Cod.  a  Zweckursache)  nur 
insofern,  als  sie  ein  Gut  bedeutet     Dieses  Gut  ist  dwin  in 


*)  Es  gibt  erste  Prinzipia  der  Bewegung,  die  über  den  Bereich  der 
Naturwissenschaften  hinansgehen,  nnd  im  Vergleich  zu  denen  die  physischen 
Prinzipien  sekundäre  sind. 

*)  Cod.  a:  „Endzweck"'.  Man  ist  also  berechtigt  von  Zwecklirsachen 
zu  reden  auch  bei  (jegenst&nden,  die  nicht  durch  physische  Bewegung  ent- 
stehen. 


Digitized  by 


Googl( 


441 

zweiter  Linie  und  zufälligerweise  manchmal  Vollendung  einer 
Bewegung,  weil  der  Werdegang,  der  zum  Entstehen  des  Dinges 
führt,  eine  Bewegung  darstellt.  Wenn  die  Eigentümlichkeiten 
und  die  Akzidenzien,  die  diesen  Dingen  zukommen,  nicht  End- 
zwecke wären,  zu  denen  die  Formen  der  Dinge  hingeordnet 
sind,  dann  würde  der  Handelnde,  der  diese  Dinge  erstrebt  und 
hervorbringen  will,  sie  nicht  wegen  dieser  Endzwecke  in  den 
Stoffen  hervorbringen.  Der  Wirkende  bewegt  die  Materie,  damit 
sie  einen  Kreislauf  vollende.  Jedoch  ist  diese  kreisförmige  Be- 
wegung in  sich  selbst  nicht  das  letzte  Ziel  Das  letzte  Ziel  ist 
vielmehr  etwas  anderes,  nämlich  Eigentümlichkeiten  und  Akzi- 
denzien dieser  Bewegung.  Zu  dem  Zwecke,  um  diese  Eigen- 
tümlichkeiten hervorzubringen,  wird  demnach  die  kreisförmige 
Bewegung  erstrebt 

Die  genannten  Ursachen  sind  also  auch  universell  (für  alle 
Wissenschaften),  und  daher  muß  der  Metaphysiker  über  die- 
selben verhandeln;  jedoch  betrachtet  er  (in  den  Ursachen)  nicht 
das  (allen  Wissenschaften)  Gemeinsame  allein,  sondern  dasjenige, 
was  jeder  einzelnen  Wissenschaft  zukommt.  Denn  dieses  ist 
erstes  Prinzip  für  die  betreffende  Wissenschaft*)  und  zugleich 
Akzidens  für  dasjenige,  was  allen  Wissenschaften  gemeinsam  ist. 
Die  Metaphysik  betrachtet  manchmal  nämlich  die  Akzidenzien, 
die  die  partikulären  Dinge  determinieren,  wenn  sie  diesen  Dingen 
(per  se)  notwendig  und  in  erster  Linie  zukommen,  und  wenn 
sie  noch  nicht  dazu  gelangt  (d.  h.  dazu  determiniert)  sind,  not- 
wendige Akzidenzien  für  die  Objekte  der  partikulären  Wissen- 
schaften zu  sein.  (Dann  gehört  die  Untersuchung  nur  in  die 
partikulären  Wissenschaften,  nicht  in  die  Metaphysik.) 

Wenn  die  Untersuchung  über  die  vier  Ursachen  einzelne 
Wissenschaften  darstellte,  dann  wäre  die  vorzüglichste  dieser 
vier  Wissenschaften  die  Wissenschaft  des  Endzweckes,  und  dieses 
wäre  dann  die  „Weisheit"  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes. 
Nun  aber  (da  die  Untersuchung  über  die  Ursachen  sich  nicht 
in  vier  Wissenschaften  zerlegt)  ist  diese  Untersuchung  ebenfalls 
die  vorzüglichste,  jedoch  nur  von  den  Teilen  der  Metaphysik, 
d.  h.  diejenige  Wissenschaft  ist  die  vorzüglichste,  die  die  Zweck- 
ursache der  Dinge  betrachtet. 

^)  Der  Metaphysiker  hat  die  Aufgabe,  die  Prinzipien  der  einzelnen 
Wissenschaften  zu  begründen. 


Digitized  by 


Google 


Siebente  Abhandlung. 


Erstes  Kapitel 

Die  Akzidenzien  der  Einheit,  nämlich  die  Identität  und  ihre  Arten.    Die 

Akzidenzien  der  Vielheit,  nämlich  das  Andere,  die  Verschiedenheit  und 

die  Arten  der  bekannten  Opposita. 

Die  Diskussion  haben  wir  entsprechend  dieser»)  unserer 
Absicht  fast  zu  p]nde  geführt  bezüglich  der  Dinge,  die  als 
individua-)  im  eigentlichen  Sinne  bezeichnet  werden,  oder  denen 
die  Individualität  anhaftet.  Das  Eine  und  das  Existierende  sind 
sich  femer  gleichstehend,  insofern  sie  von  den  Dingen  ausgesagt 
werden  (ens  et  unum  convertuntur),  so  daß  jedes  Ding,  von 
dem  wir  in  einer  gewissen  Weise  aussagen,  daß  es  existiert, 
in  einer  anderen  Weise  als  eines  richtig  bezeichnet  werden 
kann.  Jedes  Ding  hat  also  eine  einzige  Existenz  und  daher 
stellte  man  vielfach  die  Ansicht  auf,  daß  der  eigentliche  Begriff 
beider  der  gleiche  sei  Jedoch  verhält  es  sich  nicht  so,  sondern 
beide,  das  Seiende  und  das  Eine  sind  Eines  durch  ihr  Substrat, 
d.h.  jedes  Ding,  das  mit  dem  einen  bezeichnet  wird,  wird  auch 
mit  dem  anderen  benannt  (das  Substrat  ist  also  für  beide  Be- 
griffe ein  und  dasselbe).  Wäre  der  Begriff  des  Einen  in  jeder 
Beziehung  gleich  dem  Begriffe  des  Seienden,  dann  wäre  das 
Viele  als  solches  nicht  ein  Existierendes,  weil  es  nicht  eine 
Einheit  darstellt  (da  nur  das,  was  Einheit  darstellte,  existieren 
könnte).  Wenn  dem  Dinge  nun  auch  der  Begriff  des  Einen 
(neben  dem  des  Seienden)  wie  ein  Akzidens  zukommt,  dann 
kann  man  die  Vielheit  damit  bezeichnen,  daß  sie  eine  Vielheit 


*)  „Diese"  Absicht  ist  die  in  der  Metaphysik  verfolgte. 

*)  Abh.  m,  2—6  wurde  über  die  £inheit  gehandelt.   Vgl.  Abh.  I,  4  Ende. 


Digitized  by 


Googk 


443 

in  Form  einer  Einheit  ist,  jedoch  nicht  insofern  sie  eine  Viel- 
heit von  Einzeldingen  darstellt. 

Es  liegt  uns  nun  ob,  auch  über  die  Dinge  zu  verhandeln, 
die  mit  dem  Begiiffe  der  Einheit  besonders  bezeichnet»)  werden 
und  ebenso  mit  den  opposita  der  Einheit,  i  h.  der  Vielheit. 
Solche  Begriffe  sind  die  Identität,  die  Übereinstimmung  im  Genus, 
in  den  Eigenschaften,  in  der  Art,  in  den  Akzidenzien,  besonders 
der  Quantität,  und  die  opposita  dieser  Begriffe.  Die  Diskussion 
über  die  opposita  wird  sogar  einen  größeren  Raum  einnehmen; 
denn  die  Einheit  ist  etwas  Homogenes  (daher  ist  ihre  Darlegung 
kurz  zusammenfaßbar).  Das,  was  ihr  aber  als  oppositum  gegen- 
übersteht, zerfällt  in  verschiedene  Klassen  und  Arten.  Die  Iden- 
tität') besteht  darin,  daß  dem  Vielen  in  gewisser  Weise  eine  Ein- 
heit^)  zukonmit  und  in  anderer  Weise  etwas  anderes  (die  Vielheit). 
Zu  diesem  Begriffe  gehört  auch  das  akzidentell  Identische.  Es 
verhält  sich  wie  das  Eine,  das  per  accidens  ausgesagt  wird. 
In  gleicher  Weise  wie  von  dem  Dinge  ausgesagt  wird,  daß  es 
eines  ist,  wird  von  ihm  ausgesagt,  daß  es  dieses  Bestimmte 
mit  sich  Identische  ist.  Das  Ding,  das  nun  in  der  Qualität 
mit  einem  anderen  identisch  ist,  ist  das  „Ähnliche",  das  in  der 
Quantität  einem  anderen  identisch  ist,  das  „Gleichgroße",  was 
ihm  in  der  Relation  gleichsteht,  das  Proportionale.  Was  sich 
in  den  Dingen  per  se  befindet,  ist  in  denjenigen  Dingen  vor- 
handen, die  per  se  (als  Substanzen)  existieren.  Daher  gilt:  was 
mit  einem  anderen  Dinge  identisch  ist  im  Genus,  wird  als 
der  Gattung  nach  verwandt  bezeichnet,  was  in  der  Art  ihm 
identisch  ist,  wird  als  vom  gleichen  Typus  bezeichnet  Ferner, 
was  einem  anderen  in  seinen  propria  identisch  ist,  wird  als 
gleichgestaltet  bezeichnet. 

Die  opposita  dieser  Begriffe  sind  bekannt  durch  die  Kennt- 
nis dieser  Begriffe  selbst  (denen  sie  gegenüberstehen).  Das,  was 
der  Identität  im  aUgemeinen  gegenübersteht,  ist  das  Andere. 
Das  Andere  ist  entweder  ein  anderes  im  Gtenus,  oder  ein  anderes 
tnbezug  auf  die  Art,  und  dieses  ist  gleichbedeutend  mit  dem 


0  Die  propria  des  „Einen"  werden  hier  behandelt,  nachdem  Abh.  ni,2 
da3  Wesen  derselben  klargestellt  wurde. 

•)  Cod.  c,  b:  „die  Individualität". 

')  Individuum  est  id  quod  est  indivisum  in  se  et  divisum  a  quolibet 
aüo.  Die  Einheit  bewirkt,  dafi  die  Vielheit  keine  aktuelle,  sondern  nur  eine 
potentieUe  ist 


Digitized  by 


Google 


444 

anderen  inbezug  auf  die  Differenz,  oder  es  ist  ein  anderes 
inbezug  auf  das  Akzidens.  Dieses  letztere  kann  ein  und  dasselbe 
Ding  sein,  das  inbezug  auf  sich  selbst  je  nach  den  verschiedenen 
Hinsichten  verschieden  ist.  Der  Andere  (äharu)  ist  eine  be- 
sondere Bezeichnung  aus  der  Terminologie  der  Philosophen  und 
bezeichnet  das  der  Zahl  nach  verschiedene.  Das  Andere  (ger) 
ist  nicht  dasselbe  wie  der  Begriff  des  Verschiedenen,  insofern 
das  Verschiedene  sich  durch  etwas  bestimmtes  unterscheidet. 
Das  Andere  aber  ist  im  Verhältnis  zu  einem  anderen  ein  Anderes 
durch  seine  Substanz  und  duixh  sich  selbst.  Das  Verschiedene 
bedeutet  etwas  partikuläreres  als  das  Andere.  Ebenso  verhält 
sich  der  Begriff  des  alius  (äharu).  Die  Dinge,  die  sich  dem 
höchsten  Genus  nach  unterscheiden,  können,  wenn  sie  in  Materien 
sich  verwirklichen  (also  zur  Kategorie  der  materiellen  Dinge 
gehören),  trotz  ihrer  Verschiedenheit  in  dem  höchsten  (Jenus 
sehr  wohl  in  einer  und  dei-selben  Materie  vorhanden  sein.  Die 
verschiedenen  Dinge  aber,  die  sich  der  Art  nach  unterscheiden 
unter  den  nächsthöheren  Genera  —  diese  stehen  ihrerseits  unter 
den  höchsten  —  können  unmöglicherweise  in  einem  und  dem- 
selben Substrate  vereinigt  sein.  Alle  Dinge,  die  nicht  in  einem 
und  demselben  Substrate  und  zwar  in  einer  und  derselben  Hin- 
sicht und  zu  gleicher  Zeit  vereinigt  sein  können,  werden  opposita 
genannt  In  der  Logik*)  hast  du  bereits  ihre  Zahl  und  ihre 
Eigentümlichkeiten  kennen  gelernt  Das  habere  und  die  Privation 
(t^cc  xal  oriQrjöiQ)  gehören  zu  ihnen  und  sind  in  gewisser  Weise 
zu  den  contradictoria  zu  rechnen.  Die  contraria  gehören  aber 
in  gewisser  Hinsicht  unter  den  Begriff  der  Privation  und  des 
habere.  Die  Art  und  Weise  wie  die  Privation  unter  den  Be- 
griff des  kontradiktorischen  Gegenteils,  des  Negativen,  gerechnet 
wird,  ist  verschieden  von  der  Art  und  Weise,  wie  das  contrarium 
unter  den  Begriff  der  Privation  gehört. 

Du  mußt  wissen,  daß  die  Privation  in  verschiedener  Weise 
ausgesagt  wird.  Man  sagt  sie  aus  von  dem,  das  einem  realen 
Dinge  zukommen  muß,  jedoch  nicht  in  ihm  vorhanden  ist;  denn 
es  ist  in  diesem  Zustande  nicht  so  beschaffen,  daß  jenes  Ding 
in  ihm  vorhanden  sein  kann,  selbst  wenn  dasselbe  einem  anderen 
zukommen  muß.  So  verhält  sich  die  Fähigkeit  zu  sehen  und 
gesehen  zu  werden.    Sie  kommt  irgend  einem  Dinge  zu,  jedoch 


0  Logik  n.  Teü,  Vn.  und  Vm.  Teil,  1, 10,  n,  Iff. 


Digitized  by 


Googk 


445 

Terhindert  die  Mauer  das  Sehen.  Die  Privation  wird  femer 
ausgesagt  von  demjenigen,  das  der  Gattung  eines  bestimmten 
Dinges  zukommen  kann,  jedoch  nicht  dem  Dinge  selbst  zukommt, 
noch  ihm  zukommen  kann,  sei  es  nun,  daß  diese  betreffende 
Gattung  eine  nähere  oder  eine  entferntere  ist.  Die  Privation 
wird  femer  ausgesagt  von  dem,  was  der  Art  eines  Dinges  zu- 
kommen mOßte,  jedoch  nicht  seinem  Individuum,  wie  z.  B.  das 
weibliche  Geschlecht.  Femer  wird  sie  ausgesagt  von  dem,  was 
dem  Dinge  zukommen  müßte,  jedoch  nicht  im  allgemeinen  Sinne 
in  ihm  vorhanden  ist,  noch  in  einer  bestimmten  Zeit  oder  weil 
die  bestimmte  Zeit,  in  der  es  dem  Dinge  anhaften  soll,  noch 
nicht  eingetreten  ist.  So  verhält  sich  das  erstrebte  Ding;  oder 
weil  seine  Zeit  bereits  vergangen  ist,  wie  die  Privation  der 
Zahnlosigkeit.  Die  erste  Art  ist  gleichbedeutend  mit  dem  nega- 
tiven Teile  des  kontradiktorischen  Gegensatzes,  und  deckt  sich 
mit  ihm  vollständig.  Die  anderen  Arten  sind  von  diesem  ver- 
schieden. Die  Privation  wird  ausgesagt  von  jeder  Art  Verlust, 
die  auf  Grand  äußerer  widerstrebender  Einwirkungen  erfolgt, 
ferner:  von  allem,  was  ein  Ding  nicht  seiner  ganzen  Voll- 
kommenheit nach  (sondem  nur  teilweise)  verloren  hat.  Der 
Einäugige  wird  nicht  blind  genannt,  noch  auch  sehend  im  vollen 
Sinne  des  Wortes.  Diese  Prädikation  erfolgt  jedoch  nur  inbezug 
auf  das  entfemtere  Substrat,  d.  h.  den  Menschen,  nicht  inbezug 
auf  das  Auge.») 

Die  Privation  wird  als  Negation  bezeichnet,  jedoch  kann 
man  beide  Begriffe  nicht  konvertieren."^)  Die  Privation  wird 
nicht  ausgesagt  von  dem  konträren  Gegenteile;  denn  die  Bitter- 
keit ist  nicht  gleichbedeutend  mit  der  Privation  des  süßen  Ge- 
schmackes; sondem  sie  ist  etwas  Reales  und  ein  Anderes,  das 
existiert,  behaftet  mit  der  Privation  des  süßen  Geschmackes. 
Daher  ist  also  die  Privation  eine  Einheit  (und  damit  auch  ein 
„Seiendes",  quia  ens  et  unum  convertuntur),  die  sich  in  einer 
Materie  befindet.  Manchmal  ist  sie  verbunden  mit  einem  Dinge, 
das  sich  in  einer  Materie  befindet  und  das  die  Nichtexistenz 
eines  anderen  Dinges  bedeutet,  da  das  erste  nur  verbunden  mit 
dieser  Privation  existiert  3) 

0  Das  betreffende  Auge  ist  blind,  der  Mensch  aber  „einftngig". 
')  Die  Privation  hat  einen  geringeren  Umfang  als  die  Negation. 
*)  VgL  Arist.,  Metaph.  1046  a  32:  yj  6h  ax^griaiq  Xiyezai  nokXaxä»^.  xal 
y&Q  x6  (irl  %i^v  xal  x6  ns^vxog  &v  fiTj  ?XJ7>  V  ^^^^  ?  ^^^  ni^vxsv,  xal  y 


Digitized  by 


Google 


446 

Dieses  sind  die  Opposita,  und  die  Ursache  dafür,  daß  sie 
Opposita  sind,  ist  nicht  die  Verschiedenheit  ihrer  Gattungen. 
Wir  haben  dieses  bereits  auseinandergesetzt.  Die  Ursache  für 
ihre  Opposition  ist  viehnehr  die,  daß  ihre  Substanzen  selbst  in 
ihren  Definitionen  und  Differenzen  sich  gegenseitig  hindern  und 
nicht  zusammen  existieren  können,  indem  sie  sich  gegenseitig 
vernichten.  Weil  nun  keines  der  höheren  Genera  in  Opposition 
steht  so  müssen  die  eigentlichen  contraria  innerhalb  einer  be- 
stimmten Gattung  vorhanden  sein,  und  zudem  muß  ihre  Gattung 
eine  einzige  sein.  Daher  ist  es  erforderlich,  daß  die  contraria  *) 
sich  durch  die  Differenzen  unterscheiden.  Sie  sind  also  unter 
den  Begriff  des  „Anderen"  zu  rechnen  und  zwar  inbezug  auf 
die  Wesensformen,  wie  z.  B.  das  Schwarze  und  Weiße  unter  den 
Begriff  der  Farbe  einzureihen  sind  und  der  süße  und  bittere 
Geschmack  unter  den  Begriff  des  Geschmackes. 

Das  Gute  und  Böse  sind  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes 
nicht  höchste  Genera  noch  bedeutet  der  Begriff  des  Guten  etwas, 
das  univoce^)  von  vielen  Dingen  ausgesagt  wird-  Ebensowenig 
gilt  dieses  von  dem  Begriff  des  Bösen.  Trotzdem  bedeutet  das 
Böse  in  jedem  Dinge  in  gewisser  Weise  die  Privation  einer 


(iSl,  olov  navteXöM;  §  xh^  otkoooCv,  in  iviwv  6i,  av  TiBpvxoxa  exuv  fi^ 
k/jg  ßla,  iaxBQTJad^ai  tavxa  Xiyofjiev, 

*)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1018  a  25:  ivavtia  Uystai  xi  xb  fi^  6vvccxa 
Sfia  X(p  avx(p  naQBlvai  xtSv  öiafpegovxwv  xaxa  y^vog,  xal  xä  nXsXcxov  Sia- 
<phQ0vxa  x(öv  iv  X(p  avxS  yivei,  xal  xa  tiXbXüxov  ÖLa<piQ0vxa  Xfßv  iv  xccvxiS 
dexxix^,  xal  xa  nXelaxov  öiaipigovxa  x<5v  vno  xijv  avx^v  övvafiiv,  xal  ofv  ij 
6ia(poQa  fuyioxrjf  ^  oTiXiSig  ^  xaxa  ytvog  ?  xaxa  slöoq.  xa  d*  aXXa  ivavxia 
Uyexai  xa  (ilv  x<p  xa  xoiaCxa  ^exeiv,  xa  6h  xw  öaxxixa  elvai  xwv  xoiovxwv, 
xä  6h  x<p  noirjxixä  rj  nad^ijxtxä  elvai  xdfv  xoiovxatv,  ijf  noioCvxa  y  ndo/ovxa, 
§  anoßoXal  ^  ki^rpeigf  ^  ?^eig  fj  oxsQijoeig  elvai  xdiv  xoiovx<ov. 

•)  Färüq!  definiert  (Dictionary  ü,  1440):  „Die  praedicatio  nnivoca  be- 
steht darin,  dafi  ein  Terminus  zur  Bezeichnung  eines  universale  gebraucht 
wird  (wörtlich:  gesetzt  ist),  das  vielen  Einzeldingen  gemeinsam  ist  Der 
Terminus  wird  ein  univocus  genannt.  So  verhält  sich  der  Terminus  homo. 
Dieser  Praedication  steht  gegenüber  die  Praedikation  in  verschiedenem,  un- 
bestimmtem Sinne".  Vgl  Arist.,  Ethik  1096  a 20:  xo  d*  äyad^ov  Uytxai  xal 
iv  Xfp  XI  iaxi  xal  iv  x^  noup  xal  iv  ry  7i(»o$  xi,  xo  6lh  xa9^  ai^  xal  17 
ovaia  UQOxtQOv  rg  (piati  xoC  Tigog  xi.  naQa<pva6e  yoQ  xovx  ioixe  xal  ovfji' 
ßeßfjxoxi  xoC  Svxog,  Sc^  oix  av  ffty  xoivri  xig  inl  xovxcdv  i6ia.  fr«  iitel 
xayad-ov  laax^  Xiysxai  x<p  Svxi,  6fikov  dg  oix  &v  sJifj  xoivov  xi  xad^oXov 
xal  ^v,  Ethic.  Eudem.  1217  b  85:  ov6h  xa  Sfioioaxfifiovatg  (Arist.  binovifiwq, 
aequivoce)  Xeyofieva  äyaO-a  fiiäg  (intaxijfiijg)  iaxl  ^eof^^oat. 


Digitized  by 


Googk 


447 

Vollendung,  die  einem  bestimmten  Dinge  zukommen  müßte.  Das 
Gute  bezeichnet  (im  Gegensatz  dazu)  die  Existenz  dieser  Voll- 
kommenheit. Daher  besteht  zwischen  den  Begriffen  des  Guten 
und  Bösen  eine  Verschiedenheit  wie  die  der  Privation  und  der 
realen  Existenz.  Das  Wohlbefinden  und  der  Schmerz  und  ähn- 
liche Gegenstände  stimmen  nicht  überein  in  dem  Genus  des 
Guten  und  Bösen;  sie  stimmen  überein  in  dem  Begriffe  des 
sinnlich  Wahrnehmbaren  oder  des  in  der  kombinierenden 
Phantasie  vorstellbaren  oder  in  ähnlichen  Begriffen.  Daher 
sind  die  Begriffe  des  Wohlbefindens  und  des  Schmerzes  nicht 
Arten  der  Begriffe  gut  und  böse  (als  Gattungen). 

Die  oberflächlichen  Philosophen  beriefen  sich,  so  scheint 
es  (um  zu  beweisen,  daß  das  Gute  und  Böse  eigentliche  Genera 
seien),  nur  auf  die  Dinge,  die  in  konträrer  Opposition  stehen 
und  die  gemeinsame  nächste  Genera  haben,  innerhalb  deren  sie  sich 
befinden.  Eine  Gruppe  dieser  Dinge  entsprechen  sich  inbezug 
auf  die  sinnliche  Wahrnehmung  oder  den  Verstand,  eine  andere 
Gruppe  derselben  ist  in  beiden  Hinsichten  verschieden,  daher 
wählten  diese  Philosophen  aus  jenen  Dingen  den  Begriff  des 
Übereinstimmenden  und  den  des  Verschiedenen  und  machten 
den  einen  zu  einem  Genus  für  die  eine  Gruppe  und  den 
anderen  zu  einem  Genus  für  die  andere  Gruppe.  Jedoch  ist 
das  richtige  Verhältnis  nicht  dieses;  sondern  der  Begriff  des 
Übereinstimmenden  und  des  Verschiedenen  bedeutet  notwendig 
anhaftende  Akzidenzien  der  Dinge.  Denn  die  genannten  zwei 
Eigenschaften  kommen  den  Dingen  nicht  in  sich  selbst  zu  (wie 
die  Genera,  die  Bestandteile  des  Dinges)  sondern  nur  insofern 
sie  in  Relation  stehen  zu  anderen.  Femer  besitzen  die  überein- 
stimmenden und  verschiedenen  Dinge,  wenn  sie  wie  zwei  Naturen 
betrachtet  werden,  auch  selbst  in  sich  mannigfache  Bestimmungen 
(wörtlich:  „Dinge"),  die,  wenn  sie  in  verschiedenen  Beziehungen 
aufgefaßt  werden,  sich  verhalten  wie  die  Genera  der  in  Frage 
stehenden  Dinge.  Daher  gehören  diese  Begriffe  in  die  Kategorie 
des  agere  und  pati  in  einer  Beziehung,  zu  den  Qualitäten  in 
einer  anderen  Beziehung,  zu  der  Kategorie  der  Relation  in  anderen 
Betrachtungsweisen.  Denn  insofern  sie  hervorgehen  aus  realen 
Dingen,  sind  sie  Tätigkeiten,  insofern  sie  aus  realen  Dingen 
in  andere  übergehen  und  in  ihnen  wirklich  werden,  sind  sie 
passive  Zustände,  insofern  aus  ihnen  bleibende  Gestalten  her- 
gestellt werden,  die  in  realen  Trägem  vorhanden  sind,  sind  sie 


Digitized  by 


Googk 


448 

Qualitäten  und  insofern  das  Übereinstimmende  mit  einem  anderen 
übereinstimmt,  ist  es  eine  Relation.  Wenn  der  Terminus  Über- 
einstimmung und  Verschiedenheit  für  einen  dieser  eben  ge- 
nannten Begriffe  in  spezieller  Weise  verwendet  würde,  dann 
müßte  er  in  das  spezielle  Genus  dieses  Dinges  eintreten  und 
einen  Teil  von  ihm  bilden.  Damit  will  ich  nicht  sagen,  daß 
ein  und  dasselbe  Ding  in  verschiedenen  Genera  zugleich  sein 
könne.  Dieses  leugnen  wir  sogar.  Vielmehr  ist  jede  Hinsicht, 
unter  der  man  ein  Ding  betrachtet,  selbst  wiederum  ein  reales 
Ding  und  inbezug  auf  diese  Rücksicht  ist  es  jedesmal  zu  einem 
anderen  Genus  zu  rechnen.^)  Im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes 
sind  also  diese  Dinge  nicht  Genera.  Sie  verhalten  sich  vielmehr 
nur  wie  Genera;  denn  sie  sind  in  realer  Weise  zusammengesetzte 
Dinge,  die  aus  einem  begrifflich  faßbaren  Inhalte  (einer  ratio) 
und  einer  Tätigkeit  bestehen  oder  einem  leidenden  Zustande 
oder  einer  Relation  oder  anderen  Begriffen. 

In  sich  selbst  könnten  die  genannten  Begriffe  (des  Über- 
einstimmenden und  Verschiedenen)  vielleicht  Qualitäten  sein; 
dann  würden  die  anderen  Hinsichten  (agere,  pati,  relatio),  unter 
denen  man  dieselben  betrachtet,  diesen  notwendigerweise  an- 
haften. Trotz  aller  Bemühungen,  den  Begriff  des  Überein- 
stimmenden und  Verschiedenen  zu  den  höchsten  Genera  zu 
machen,  besitzen  diese  Naturen  konträre  Gegensätze,  und  diese 
machten  die  Naturwissenschaftler  zu  Genera  im  eigentlichen 
Sinne,  ohne  den  Begriff  des  Übereinstimmenden  und  Verschie- 
denen zu  berücksichtigen.  Letztere  sind  nun  Teile  und  Arten 
dieser  Genera  (also  nicht  selbst  höchste  Gattungen).  Du  hast 
dieses  bereits  an  einem  anderen  Orte  kennen  gelernt*) 

Was  nun  die  Lehre  anbetrifft,  daß  zwei  Kontraria  zu  zwei 
konträren  Genera  gehören  müßten,  wie  z.  B.  der  Mut  und  die 
Tollkühnheit,  so  ist  auch  dies  eine  Lehre,  die  bereits  breit  dar- 
gestellt wurde.  Der  Mut  ist  in  sich  selbst  eine  Qualität  und 
diese  ist  in  gewisser  Beziehung  eine  Tugend.  Das  gleiche  gilt 
von  der  Tollkühnheit  Wenn  man  sie  in  sich  betrachtet,  ist 
sie  eine  Tugend,  in  anderer  Hinsicht  ist  sie  eine  Untugend. 
Tugend  und  Untugend  sind  jedoch  keine  Genera  für  diese 
Qualitäten,  wie  ebensowenig  das  Wohlriechende  und  das  nicht 


^)  Wörtlich:  „und  dieses  ist  das  in  ein  anderes  Genus  Eintretende**. 
•)  Logik:  Loc.  cit. 


Digitized  by 


Googl( 


449 

Wohlriechende  Genera  für  die  Gerftche  sind  oder  das  gut  und 
schlecht  Schmeckende  für  die  Geschmacksarten,  sondern  sie  bilden 
nur  notwendige  Akzidenzien  dieser  Begriffe.  Sie  ergeben  sich  aus 
den  verschiedenen  Hinsichten,  unter  denen  man  sie  betrachtet. 
Wenn  man  den  Mut  in  sich  selbst  betrachtet,  steht  er  nicht  im 
konträren  Gegensatze  zur  Tollkühnheit,  noch  auch  zur  Feigheit. 
In  konträrem  Gegensatze  stehen  vielmehr  nur  die  Tollkühnheit 
und  die  Feigheit,  die  in  die  Kategorie  des  habitus  (moralis) 
innerhalb  des  Bereiches  der  Qualität»)  gehören.  In  konträrem 
Gegesatze  zu  dem  Begriff  des  Mutes  (fortitudo)  steht  der  Begriff 
der  non- fortitudo,  wie  wir  es  betreffs  des  Gleichen  und  dessen 
was  zu  ihm  in  Opposition  steht  (des  Ungleichen)  am  Ende  des 
sechsten  Kapitels  der  dritten  Abhandlung  gelehrt  haben.  Die  non- 
fortitudo  verhält  sich  sodann  wie  ein  Genus  zur  Tollkühnheit 
und  zur  Feigheit  Stände  der  Mut  in  konträrem  Gegensatze 
zur  Tollkühnheit,  dann  gründete  sich  diese  Kontrarietät  nicht 
auf  die  Natur  des  Mutes  selbst,  sondern  beide  würden  in  kon- 
trärem Gegensatze  stehen  auf  Grund  eines  Akzidens  dieser 
Natur,  nämlich  des  Umstandes,  daß  der  eine  Lob  verdient  und 
eine  Tugend  und  nützlich  ist,  der  andere  Tadel  verdient,  eine 
Untugend  ist  und  Schaden  bringt. 

Die  Kontraria  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  sind 
solche  Opposita,  die  in  einem  Genus  zusammenkommen,  und 
ebenso  zusammentreffen  in  einem  Substrate.  Diese  Opposita  zer- 
fallen in  verschiedene  Arten.  Die  eine  verhält  sich  so,  daß  ein 
und  dasselbe  Substrat  beide  Kontraria  zu  gleicher  Zeit  in  sich 
aufnehmen  kann,  ohne  daß  sich  das  eine  in  das  andere  ver- 
wandelt Eine  andere  Gruppe  verhält  sich  so,  daß  das  Substrat 
in  ursprünglicher,  direkter  Weise  in  das  andere  der  beiden 
Opposita  verwandelt  wird,  so  daß  dem  Substrate  also  (nur) 
eines  von  beiden  zukommt  So  verhält  sich  eine  bestimmte 
Mischung  von  Substanzen,  durch  die  ein  Ding  als  süß  bezeichnet 
wird.  Soll  das  Ding  einen  bitteren  Geschmack  annehmen,  dann 
sind  andere  Substanzen  als  Elemente  der  Mischung  notwendig. 
So  verhält  es  sich  aber  nicht,  wenn  das  Heiße  sich  in  das  Kalte 


')  Die  vier  Arten  der  Qualität  sind:  1)  e^u;  xal  öia^eoiq  (zur  ersten 
Art  gehören  die  ethischen  Tagenden),  2)  6vvafxiq  <pvaixri  xal  ädwa/xla, 
3)  na^Tixixal  Ttoiotrjxegf  4)  oxfIfJtci  xal  fJiOQ<pTJ.  Vgl.  Arist.,  Kat.  8  b  27,  9  a  14, 
28;  10  all. 

Horten,  Dm  Baoh  der  Oeoesang  (tot  S«el«.  29 


Digitized  by 


Google 


450 

verwandeln  soll  Weil  nun  die  beiden  Kontraria  in  dem  Genus 
zusammenkommen,  so  kann  die  Privation  jedes  einzelnen  von 
beiden  sich  entweder  so  verhalten,  daß  ihr  innerhalb  der  Natur 
des  Genus  in  notwendiger  Weise  nur  das  andere  Kontrarium  an- 
haften kann  —  dann  besteht  zwischen  beiden  kein  Mittelglied  — , 
oder  das  Verhältnis  ist  so,  daß  das  andere  Kontrarium  nicht 
notwendig  gegeben  ist  mit  der  Nichtexistenz  des  ersten.  Dann 
können  zwei  Fälle  eintreten.  Entweder  ist  die  Verschiedenheit 
dieser  Vielheit  von  Opposita  (nämlich  des  einen  der  beiden  Kon- 
traria und  der  vermittelnden  Naturen)  von  dem  einen  von  ihnen 
eine  solche,  die  für  alle  eine  und  dieselbe  ist,  nicht  etwa  so,  daß 
das  eine  vom  anderen  mehr  oder  weniger  verschieden  wäre,  oder 
das  Verhältnis  ist  ein  vielfältiges  (nicht  ein  und  dasselbe).  Ist 
nun  die  Verschiedenheit  eine  vielfältige,  dann  stehen  einige  der 
Opposita  dem  mittleren  Zustande  und  der  Ähnlichkeit  näher. 
Dasjenige,  was  nun  dem  mittleren  Zustande  näher  verwandt  ist, 
hat  in  sich  etwas  von  der  Wesensform  dieses  Zustandes  (es 
partizipiert  an  ihm).  Andere  Opposita  befinden  sich  in  der 
größten  Verschiedenheit  von  dem  ursprünglichen  Begriffe  (z.  B. 
die  schwarze  von  der  weißen  Farbe).  Das  Kontrarium  ist  dieses 0 
(d.  h.  das  in  der  größten  Opposition  stehende).  Die  konträre 
Opposition  ist  also  die  höchste  Form  der  Verschiedenheit  von 
Dingen,  die  in  Opposition  stehen,  dabei  aber  im  Q^nus  und  in 
der  Materie  übereinstimmen.  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  es 
richtig  ist  von  einer  höchsten  Verschiedenheit  zu  sprechen,  sowohl 
wenn  ein  Vermittelndes  vorhanden  ist,  als  auch  wenn  keines 
vorhanden  ist.  Denn  wenn  der  Opposita  nur  zwei  sind,  so  be- 
findet jedes  der  beiden  sich  in  der  größten  Entfernung  von 
dem  anderen.  Daher  ist  also  die  Kontrarietät  eine  vollkommene 
Opposition. 

Daher  ist  das  Kontrarium  eines  Dinges  nur  eines.  Man 
könnte  nun  die  größte  Verschiedenheit  und  Entfernung  annehmen, 
die  manchmal  zwischen  dem  einen  und  zwischen  zwei  anderen 
eintritt,  die  wiederum  ihrerseits  unter  sich  von  einander  ver- 
schieden sind.2)  Dieses  ist  jedoch  nicht  möglich;  denn  die  Ver- 
schiedenheit, die  zwischen  dem  einen  auf  der  einen  und  den 
beiden  anderen  auf  der  anderen  Seite  besteht^  gründet  äch  in  dem 


»)  Vgl.  Arißt.,  Metaph.  1018  a  27:  „^  tj  öiatpoga  fieylaxrf* 
')  Dann  h&tte  ein  und  dasselbe  Ding  zwei  Kontraria. 


Digitized  by 


Googk 


45i 

einen  Falle  auf  einen  einheitlichen  Begriff  und  eine  einzige  formelle 
Hinsicht.  Dann  kommen  die  Verschiedenheiten  dem  einen  und 
einzigen  Dinge  in  nur  einer  Hinsicht  zu,  indem  sie  also  in  dem 
Begriffe,  in  dem  sie  verschieden  sind,  übereinstimmen.  Sie  bilden 
also  ein  und  dieselbe  Art,  nicht  viele  Arten.  Der  andere  Fall 
wäre  der,  daß  beide  sich  in  konträrer  Opposition  befinden  in  ver- 
schiedenen Hinsichten,  und  dann  bilden  diese  Hinsichten  ver- 
schiedene Arten  und  Weisen  der  konträren  Opposition,  nicht  ein 
und  dieselbe  Art  und  Weise.  Diese  gründet  sich  also  nicht 
auf  die  Differenz.  Wenn  diese  dem  Genus  anhaftet,  dann  bildet 
sie  diese  bestimmte  Art  der  konträren  Opposition,  ohne  daß  zur 
Bildung  der  bestimmten  Art  noch  ein  anderes  determinierendes 
Ding  erforderlich  wäre.  Besonders  gilt  dies  von  den  einfachen 
Gegenständen.  Du  hast  dieses  bereits  an  einem  anderen  Orte») 
gesehen.  Diese  Opposition  gründet  sich  vielmehr  auf  Akzidenzien 
und  Zustände,  die  der  Art  in  notwendiger  Weise  anhaften. 

Unsere  Diskussion  erstreckt  sich  aber  auf  nur  eine  Art 
der  Opposition  und  auf  die  Opposition,  die  zwei  Dinge  per  se  in 
Gegensatz  bringt.  Es  ist  nun  schon  klar  geworden,  daß  das 
Kontrarium  eines  und  desselben  Dinges  selbst  nur  eines  ist.  Das- 
jenige, was  zwischen  zwei  Kontraria  die  Vermittelung  bildet, 
verhält  sich  so,  daß  es  trotz  seiner  Verschiedenheit  in  gewissem 
Sinne  dem  Kontrarium  gleicht  Dann  aber  muß  der  Über- 
gang der  Veränderung  QisraßoXri)  von  dem  einen  zum  anderen 
Kontrarium  zunächst  zu  diesem  Mitteldinge  kommen;  denn  das 
Schwarze  wird  aus  diesem  Grunde  zunächst  grau  oder  grün  oder 
rot;  sodann  wird  es  in  zweiter  Linie  erst  weiß.  Die  vermitteln- 
den Begriffe  kommen  den  Kontraria  manchmal  als  Akzidenzien 
zu  durch  die  Negation  der  beiden  Extreme.  Häufig  finden  diese 
Verhältnisse  statt,  weil  für  den  Mittelbegriff  kein  besonderer 
Name  vorhanden  ist.  Unter  Mittelbegriff  verstehe  ich  einen 
Mittelbegriff  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  wie  z.  B.  nicht 
heiß  und  nicht  kalt,  wenn  (in  einer  Sprache)  das  Laue  keinen 
besonderen  Namen  haben  sollte.  Ebenso  ist  das  Verhältnis  im 
Genus.  Verläßt  man  den  Umfang  des  Genus,  wie  es  die  Aus- 
drücke tun:  „nicht  schwer"  und  „nicht  leicht",  so  geschieht 
dieses  nicht  durch  die  Vermittelung  des  eigentlichen  Mittelbegriffs. 
Die  genannten  sind  Ausdrücke,  die  nur  den  Worten  nach  einen 


»)  Logik  n.  Teil  VE. 

29* 


Digitized  by 


Google 


452 

Mittelbegriflf  bezeichnen.')  Der  habitus  und  die  Privation  haben 
in  ihrem  realen  Substrate  keinen  Mittelbegriff;  denn  sie  ver- 
halten sich  ^' wie  die  Position  nnd  die  Negation,  die  in  sich  deter- 
miniert ist  durch  ein  Genus  oder  ein  Substrat*)  oder  auch  durch 
eine  Zeit  und  einen  Zustand.  Die  Beziehung  des  Habitus  und 
der  Privation  zu  diesem  positiven  Dinge  (dem  Substrate)  und 
dem  Zustande  verhält  sich  wie  die  Proportion  zweier  kontra- 
diktorischen Gegensätze  zu  dem  real  Existierenden  im  aUgemeinen 
(wie  Sein  und  Nichtsein).  Weil  nun  zwischen  zwei  kontra- 
diktorischen Gegensätzen  kein  tertium  vorhanden  ist,  so  gibt  es 
also  auch  keinen  Zwischenbegriff  zwischen  dem  Habitus  und  der 
Privation. 


Zweites  Kapitel 

Die  Aufzählung  der  Lehrmeinungen  der  ältesten  Philosophen  über  die 
Ideen  und  die  mathematischen  Gegenstände.  Der  Grund,  der  zu  dieser 
Ansicht  hinführte  und  die  Darlegung  der  Quelle  des  Irrtums,  der  den 
alten  Philosophen  unterlief,  so  daB  sie  vom  richtigen  Wege  abirrten. 

Es  ist  nun  an  der  Zeit,  daß  wir  unsere  Mühe  auf  die 
Polemik  verwenden  gegen  die  Ansichten,  die  über  die  Wesens- 
formen und  die  mathematischen  Begriffe,  wie  auch  die  ersten 
unkörperlichen  Prinzipien  des  Seins  und  die  Universalia  auf- 
gestellt wurden  im  Gegensatz  zu  unseren  Grundsätzen,  die  wir 
anfangs  aufgestellt  haben,  (in  denen  wir  sagten,  daß  wir  keine 
Polemik  aufnehmen  wollten).  Selbst  wenn  es  richtig  ist,  was 
wir  aufgestellt  haben,  und  wenn  die  Grundsätze  klar  sind,  die 
wir  dargelegt  haben,  indem  wir  den  aufmerksamen  Betrachter 
auf  die  Lösung  aller  Schwierigkeiten  der  Philosophen  hinwiesen 
und  auf  die  Widerlegung  der  Objektionen  und  die  Bekämpfung 
ihrer  Lehren,  so  wollen  wir  doch  in  dieser  Arbeit  uns  auf  uns 
selbst  verlassen,  5)  weil  wir  hoffen,  daß  dadurch  Vorteile  für  die 

>)  Sie  sind  äogiata  und  kontradiktorische  Gegensätze. 

')  Sie  sind  also  kontradiktorische,  nicht  konträre  Gegensätze.  Zwischen 
ihnen  gibt  es  kein  tertium.   Vgl.  Arist.  Kateg.  11  b  17. 

*)  Nach  den  gegebenen  „  Hinweisen  **  kann  der  Leser  nach  eigener 
Einsicht  die  Platoniker  und  Pythagoräer  widerlegen.  Doch  wiU  Avicenna 
seine  eigene  Widerlegung  noch  besonders  hinzufügen. 


Digitized  by 


Googk 


453 

Wissenschaft  erwachsen.  Diese  Vorteile  werden  wir  anführen, 
während  wir  diesen  Ansichten  entgegentreten.  Sie  sind  uns 
bereits  erwachsen  in  früheren  Ausführungen  und  Erläute- 
rungen. 

Wir  behaupten  also:  jede  Kunst  hat  eine  Periode  des  An- 
fangs und  des  Wachsens,  in  der  sie  noch  unreif  und  roh  ist  Nach 
Verlauf  einer  Zeit  wird  sie  reifer  und  noch  später  vermehrt 
sie  sich  und  wird  nach  einer  weiteren  Zeit  vollkommen.  Ebenso 
war  die  Stellung  der  Philosophie  im  Altertum,  so  lange  sich 
die  Griechen  mit  ihr  beschäftigten.  Sie  verfiel  in  Irrtümer  und 
nahm  irrige  Lehrmeinungen  und  (sophistische)  Disputationen  in 
sich  auf.  Das  was  von  dieser  Wissenschaft  zuerst  zu  der  großen 
Menge  der  Philosophen  gelangte  war  die  Naturwissenschaft 
Später  wurden  die  Philosophen  aufmerksam  auf  die  mathe- 
matischen Gegenstände  und  späterhin  auf  die  Metaphysik  (Theo- 
logie). Sie  gingen  von  dem  einen  Objekte  zum  anderen  über, 
ohne  zu  fester  Methode  zu  kommen.  Zunächst  gelangten  sie  von 
der  sinnlichen  Wahrnehmung  zu  den  Begriffen  und  stellten 
unrichtige  Ansichten  auf.  Die  Einen  glaubten,  daß  die  Einteilung 
eines  Dinges  (in  ein  Konkretes  und  ein  Universelles)  notwendig 
die  Existenz  zweier  Dinge  erforderte,  so  z.  B.  seien  zwei  Menschen 
in  dem  Begriffe  „Mensch".  Ein  Mensch  ist  der  vergängliche, 
sinnlich  wahrnehmbare  und  ein  Mensch  ist  der  begrifflich  auf- 
faßbare, unkörperliche,  ewige,  der  sich  nicht  verändert  Jedem 
einzelnen  dieser  zwei  Teile  legten  sie  eine  gewisse  selbständige 
Existenz  bei  und  nannten  diese  Existenz,  die  von  der  sinnlichen 
Welt  „getrennte"  die  „typische"  (ideale).  Für  jedes  einzelne 
Ding  der  Naturdinge  stellten  sie  eine  für  sich  bestehende,  von 
der  Materie  getrennte  Wesensform  (die  Idee)  auf,  die  den  geistigen 
Begriff  darstellt  Diesen  erfaßt  der  Verstand;  denn  die  Idee  ist 
etwas  Unvergängliches.  Jedes  sinnlich  wahrnehmbare  in  dieser 
sublunarischen  Welt  ist  aber  vergänglich.  Nach  ihrer  Meinung 
streben  die  Wissenschaften  und  Demonstrationen  zu  diesen 
Ideen  hin  und  erfassen  dieselben.  Plato  und  sein  Lehrer 
Sokrates  zeichneten  sich  in  der  Aufstellung  dieser  Lehrmeinung 
aus.  Sie  lehrten:  der  Mensch  besitze  einen  realen,  existierenden 
Wesensinhalt  (ratio),  an  dem  alle  Individuen  teilnehmen  und  der 
selbst  bei  Vernichtung  der  Individuen  noch  bestehen  bleibt  Dieser 
Inhalt  ist  nicht  der  sinnlich  wahrnehmbare,  der  sich  in  einer 
Vielheit  von  Individuen  darstellt  und  vergänglich  ist    Er  ist 


Digitized  by 


Googk 


454 

also  der  begrifflich  erfaßbare  und  von  der  Materie  getrennte 
{tä  xG>()£<Jr«). 

Eine  andere  Gruppe  von  Philosophen  hatte  nicht  die  An- 
sicht, daß  diese  Ideen  von  der  Materie  getrennt  seien.  Sie 
stellten  vielmehr  die  Lehre  auf,  daß  die  Prinzipien  dieser 
Idee  unkörperlich  und  von  der  Materie  getrennt  seien.  Sie 
lehrten  also,  daß  die  Gegenstände  der  Mathematik,  die  sich  durch 
die  Definitionen  „trennen"  (d.  h.  unkörperliche  Dinge  bezeichnen), 
eine  von  der  Materie  getrennte  Existenz  beanspruchen.  Die 
Ideen  der  Naturdinge,  die  sich  nicht  durch  die  Definition  (von 
der  sinnlichen  Materie)  trennen,  ließen  sie  auch  nicht  als  Idee 
für  sich  bestehen.  Nach  ihrer  Lehre  entstehen  (wörtlich:  werden 
geboren)  die  Wesensformen  der  Naturdinge  durch  die  Verbindung 
dieser  mathematischen  Ideen  mit  der  Materie.  So  entsteht  das 
Konvexe.  Es  ist  ein  mathematischer  Begriff.  Verbindet  dieser 
sich  mit  der  Materie,  dann  entsteht  z.  B.  die  KrummnasigkeitO 
und  dadurch  wird  er  ein  physischer  Gegenstand.  Dem  Konvexen 
als  mathematischem  Begriffe,  kommt  es  zu,  daß  er  sich  mit  der 
Materie  verbindet  Insofern  er  jedoch  ein  physischer  Gegen- 
stand ist,  kommt  es  ihm  nicht  zu,  daß  er  sich  mit  einer  Materie 
verbindet. 2)  Plato  strebte  hauptsächlich  darnach,  zu  beweisen, 
die  Ideen  (der  physischen  Dinge)  seien  getrennte  und  un- 
körperliche Substanzen.  Was  nun  die  mathematischen  Begriffe 
angeht,  so  lehrte  er,  sie  seien  Inhalte  und  Ideen,  die  zwischen 
den  eigentlichen  Ideen  und  den  körperlichen  Dingen  existierten; 
denn,  selbst  wenn  diese  mathematischen  Ideen  der  Definition 
nach  sich  von  der  Materie  trennen  (also  geistig  sind),  so  kann 
doch  nach  seiner  Lehre  außer  den  Ideen  der  Wesenheiten  der 
physischen  Dinge  nichts  wirklich  als  Substanz  existieren,  das 
nicht  in  einer  Materie  wäre  (die  mathematischen  Inhalte  können 
nach  dieser  Lehre  also  nicht  für  sich  existieren),  weil  alles,  was 
so  existiert,  entweder  endlich  oder  unendlich  ist.  Ist  es  nun  unendlich 
—  die  Unendlichkeit  müßte  der  Idee  anhaften,  weil  sie  die  Abstrak- 
tion eines  physischen  Gegenstandes  ist')  —  dann  ist  also  jede 


*)  Arist  ^  aifiOTTfg,  simitas  nad. 

')  Das  physisch  IndiridneUe  kann  nicht  in  einer  anderen  Materie 
existieren,  weil  die  prindpia  individnantia  nicht  kommonikahel  sind. 

*)  Unendlichkeit  bezeichnet  hier  die  Eigenschaft  der  Idee,  nach  der  sie 
in  unbestimmt  vielen  Individuen  vorhanden  sein  kann. 


Digitized  by 


Googk 


455 

Dimension  unendliche)  Wenn  dem  Gegenstande  nun  die  Un- 
endlichkeit anhaftet,  weil  er  aus  der  Materie  abstrahiert  ist, 
dann  ist  also  die  Materie  dasjenige  Prinzip,  das  die  Einengung 
(des  Unendlichen  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Individuen) 
und  die  Wesensform  mitteilt.  2)  Beides  aber  ist  unmöglich. 
Auch  die  Existenz  einer  (aktuellen  und)  unendlichen  Ausdehnung 
ist  nicht  zugegeben.  Ist  nun  die  für  sich  existierende  Idee 
endlich,  so  findet  ihre  Umgrenzung  und  Einengung  statt  in  einer 
bestimmten  Definition  und  Gestalt,  deren  Maße  angegeben  werden, 
und  dieses  ist  nur  auf  Grund  eines  passiven  Zustandes  möglich, 
der  dem  Gegenstande  von  außen  zukommt,  nicht  aber  seiner 
inneren  Natur  entstammt  Die  Wesenform  tritt  nun  aber  nicht 
in  einen  passiven  Zustand,  es  sei  denn  dui'ch  ihre  Materie.  Sie 
ist  deshalb  von  der  Materie  „getrennt"  (in  sich  geistig)  und 
mußte  zugleich,  weil  sie  sich  passiv  verhält,  auch  mit  der 
Materie  verbunden  sein.  Darin  aber  liegt  ein  Widerspruch. 
Deshalb  muß  sie  in  einem«  Mittelzustande  (dem  Zustande  der 
mathematischen  Ideen)  existieren. 

Die  anderen  Philosophen  lehrten:  die  mathematischen 
Prinzipien  der  Naturdinge  seien  mathematische  Inhalte,  und 
sie  seien  im  eigentlichen  Sinne  die  begrifflich  faßbaren  Gegen- 
stände (die  Ideen).  Die  mathematischen  Begriffe  wurden  also 
von  ihnen  als  die  unkörperlichen  Substanzen  im  wahren  Sinne 
des  Wortes  bezeichnet.  Sie  führten  zur  Begründung  ihrer  An- 
sicht an:  abstrahiert  man  die  körperlichen  Verhältnisse  (die 
Dimensionen  und  Zahlen)  von  der  Materie,  so  bleiben  nur  die 
Volumina  (drei  Dimensionen),  die  Gestalten  und  die  Zahl.  Der 
Grund  dafür  ist  der,  daß  die  neun  Kategorien  (die  Substanz 
ist  in  dieser  Zahl  nicht  mitgerechnet)  sich  wie  folgt  verhalten: 
die  Qualität  und  zwar  die  passiones  und  patibiles  qualitates  der 
Qualitäten,  wie  auch  der  habitus  (dabei  wäre  auch  die  Dispo- 
sition zu  erwarten),  femer  die  potentia  und  impotentia  sind 
Dinge,  die  den  passiven  Verhältnissen,  dem  habitus  und  den 
potentiae  anhaften.  Die  Relation  und  alles,  was  ähnlichen 
Begriffen  wie  diesen  verbunden  ist,  sind  ebenso  materiell.    So 


>)  Hier  ist  Unendlichkeit  gefaßt  in  dem  Sinne  der  endlosen  Ausdehnung. 
Es  liegt  also  der  Deduktion  Piatos,  nach  der  DarsteUung  Avicennas,  eine 
quatemio  terminomm  zugrunde. 

*)  Vielleicht  ist  zu  lesen:  „Die  Einengung  der  Wesensform". 


Digitized  by 


Googk 


456 

bleibt  also  von  den  Kategorien  nur  das  Wo  —  dieses  ist  aber 
quantativ  —  und  das  Wann  —  dieses  ist  ebenfalls  quantitativ  — 
und  die  Lage  —  diese  ist  in  gleicher  Weise  quantitativ.  Was 
aber  nun  das  agere  und  pati  angeht,  so  sind  beide  eben- 
falls materiell.  Aus  dieser  Darlegung  ergibt  sich  als  Schluß- 
folgerung, das  auch  alles,  was  nicht  zur  Kategorie  der  Quantität 
gehört,  dennoch  in  Abhängigkeit  steht  von  der  Materie.  Das- 
jenige aber,  was  von  der  Materie  abhängig  ist,  besitzt  ein 
Prinzip,  das  nicht  mit  der  Materie  in  notwendiger  Verbindung 
und  in  Abhängigkeit  steht.  Daher  sind  also  die  mathematischen 
Ideen  die  ersten  Prinzipien  der  Dinge,  und  sie  sind  im  eigent- 
lichen Sinne  des  Wortes  die  Ideen.  Alles  Andere  sind  nicht 
Ideen.  Deshalb  definiert  keiner  die  Farbe,  den  Geschmack  und 
anderes  in  einer  eigentlichen  Definition,  die  der  Beachtung  wert 
ist.  Diese  Dinge  (die  sinnlichen  Qualitäten)  bestehen  in  einer 
Beziehung  zur  sinnlich  erkennenden  Kraft.  Nach  ihrer  Lehre 
erfaßt  der  Verstand  sie  nicht.  Nur  die  kombinierende  Phantasie 
kann  sie  sich  vorstellen  durch  ein  Phantasiebild,  das  sich  aus 
der  äußeren  Sinneswahmehmung  ergibt  So  war  ihre  Lehre. 
Was  nun  die  Zahlen  und  die  Dimensionen  und  deren  Verhält- 
nisse angeht,  so  sind  auch  diese  in  sich  selbst  unkörperliche  und 
geistige  Substanzen. 

Eine  andere  Schule  von  Philosophen  bezeichnete  die  mathe- 
matischen Inhalte  zwar  als  die  ersten  Prinzipien  des  Seienden, 
jedoch  waren  dieselben  nach  ihrer  Lehre  nicht  abstrakte  Sub- 
stanzen. Diese  Lehre  wurde  aufgestellt  von  den  Anhängern  des 
Pythagoras.  Sie  setzten  jedes  Ding  zusammen  aus  einer  Einheit 
und  der  Zweiheit.  Die  Einheit  bezeichneten  sie  als  in  den 
Bereich  des  Guten  fallend  und  als  Einengung,  die  Zweiheit 
bezeichneten  sie  als  in  den  Bereich  des  Bösen  fallend  und  als 
Mangel  einer  Umgrenzung  (als  Unendliches). 

Eine  andere  Gruppe  von  Philosophen  bezeichnete  als  Prin- 
zipien des  Seienden  das  Zugroße,  das  Zukleine  und  das  Gleiche. 
Das  Gleiche  setzten  sie  an  Stelle  der  Materie,  da  von  dem 
Gleichen  die  Veränderung  zu  den  zwei  Extremen  (dem  Zuviel 
und  dem  Zuwenig)  ausgeht 

Eine  andere  Schule  von  Philosophen  setzte  an  die  Stelle 
der  Idee  diese  Gleichheit;  denn  die  Gleichheit  sei  das  Um- 
grenzte und  das  Umschlossene.  Das  Zuviel  und  das  Zuwenig 
habe  im  Gegensatze  dazu  keine  Grenzen. 


Digitized  by 


Googk 


457 

Betreffs  der  Lehre  über  die  Zusammensetzung  des  Weltalls 
aus  mathematischen  Ideen  trennte  sich  sodann  die  Schule  in 
eine  große  Anzahl  von  Richtungen.  Die  Einen  bezeichneten  die 
Zahl  als  Prinzip  der  Maße  und  ließen  die  Linie  aus  zwei  Ein- 
heiten, die  Fläche  aus  vier  zusammengesetzt  sein.  Andere  stellten 
für  jeden  dieser  beiden  Begriffe,  sowohl  für  die  Linie  wie  auch 
für  die  Fläche,  ein  bestimmtes  Volumen  (einen  Eaum)  als  Ein- 
heit auf.  Die  meisten  von  ihnen  gründeten  ihre  Lehre  darauf, 
daß  die  Zahl  das  „Prinzip"  sei,  und  die  Einheit  das  erste  Prinzip 
(aus  dem  die  Zahl  entstehe).  Die  Einheit  und  die  Individualität ») 
bedingen  sich  gegenseitig  notwendig  oder  sie  folgen  einander. 
Sie  ordneten  also  die  Zahl  (nach  der  Einheit)  und  ließen  sie 
entstehen  aus  der  Einheit  nach  drei  verschiedenen  Arten.  Die 
eine  Art  handelt  von  der  arithmetischen  Zahl,  die  zweite  von 
der  mathematischen  und  die  dritte  besteht  darin,  daß  dieselbe 
Zahl  (um  die  Entstehung  der  Körper  zu  bewerkstelligen)  sich 
wiederhole. 

Diejenigen,  die  die  Dinge  aus  der  arithmetischen  Zahl  ent- 
stehen ließen,  stellten  die  Einheit  an  die  erste  Stelle.  Auf 
diese  folgt  die  Zweiheit,  dann  die  Dreiheit.  Diejenigen,  die  die 
Weltdinge  aus  der  mathematischen  Zahl  (d.  h.  der  Ordinalzahl) 
entstehen  ließen,  lehrten:  die  Einheit  sei  das  Prinzip,  dann 
folge  das  Zweite,  dann  das  Dritte.  Sie  ordneten  also  die  Zahlen 
in  eine  Aufeinanderfolge  des  Einen  auf  das  Andere.  Die  dritte 
Schule  der  Philosophen  ließ  die  Zahl  entstehen  durch  Wieder- 
holung einer  und  derselben  Einheit,  nicht  dadurch  daß  zu  einer 
anfangs  gesetzten  Einheit  ein  anderes  Wirkliches  hinzutrete.  Man 
muß  sich  wundem  über  die  Schule  des  Pythagoras,  die  die  Lehre 
aufstellte,  daß  die  Zahl  zusammengesetzt  werde  aus  einer  Ein- 
heit und  einer  Substanz,  da  doch  die  Einheit  nicht  für  sich 
{^lein  Bestand  hat.  Sie  ist  vielmehr  nur  die  Einheit  eines 
realen  Dinges.  Das  Substrat  dieser  Einheit  ist  aber  eine  Sub- 
stanz. Daher  entsteht  also  (aus  den  Zahlen)  die  Zusammen- 
setzung der  Körper  und  dann  die  Vielheit 

Zu  dieser  Gruppe  gehören  die  Philosophen,  die  lehrten: 
jede  Ordnung  mathematischer  Inhalte,  die  aus  der  Zahl  ent- 
steht, sei  kongruent  einer  realen  Wesensform.     Bei  der  Ab- 


>)  Avicenna  verwendet  diesen  Terminus  auch  in  dem  Sinne  von  be- 
stimmter Wesenheit, 


Digitized  by 


Google 


458 

straktion  entsteht  die  Ordnung  der  Zahl  Mischt  diese  sich  mit 
der  Materie,  so  entsteht  die  Wesensform  z.  B.  des  Menschen 
oder  des  Pferdes.  Diese  Lehre  wurde  angestellt  auf  Grund 
dessen,  auf  das  wir  bereits  früher  hingewiesen  habenJ) 

Eine  andere  Schule  der  Philosophen  stellte  die  Lehre  auf, 
daß  zwischen  dieser  arithmetischen  Zahl  und  den  platonischen 
Ideen  eine  Verschiedenheit  bestände.  Die  Einen  stellten  nun 
Mittelbegriffe  zwischen  beiden  auf,  wie  wir  eben  erwähnten. 
Die  meisten  Pythagoräer  aber  lehrten,  daß  die  Ordinalzahl  das 
Prinzip  sei;  jedoch  sei  sie  nicht  von  der  Materie  getrennt  und 
für  sich  existierend.  Von  diesen  lehrten  nun  wiederum  andere, 
die  geometrischen  Figuren  könnten  sich  aus  Einheiten  zusammen- 
setzen. Sie  gaben  aber  nicht  zu,  daß  die  Dimensionen  ge- 
teilt seien. ^)  Andere  wiederum  sahen  darin  keinen  Nachteil, 
daß  die  mathematischen  Begriffe  zusammengesetzt  seien,  und 
zwar  aus  Zahlen.  Diesen  Begriffen  ist  es  nun  eigen,  daß  sie, 
wenn  man  sie  als  Zusammensetzung  erklärt,  3)  ins  Unendliche 
teilbar  sind.  Andere  lehrten:  die  Formen  der  arithmetischen 
Zahlen  seien  von  den  Wesensformen  der  geometrischen  Inhalte 
verschieden.  (Die  letzteren  können  also  nicht  durch  Zusammen- 
setzung von  Zahlen  entstehen.) 

Wenn  du  über  diese  Lehrmeinungen  nachdenkst,  so  findest 
du,  daß  die  Prinzipien,  die  die  Ursachen  (wörtlich:  Wurzeln) 
des  Irrtums  in  allen  diesen  Lehrmeinungen  waren,  in  denen  jene 
Philosophen  irrten,  fünf  seien.  Der  erste  Grund  ihres  Irrtums  ist 
die  Meinung,  daß  das  Ding,  wenn*  es  abstrakt  betrachtet  wird,  so 
daß  man  mit  ihm  nicht  zugleich  ein  anderes  ins  Auge  faßt, 
auch  in  der  realen  Existenz  von  dem  anderen  getrennt  be- 
stehen könne  (oder  müsse).  Wenn  man  z.B.  ein  Ding  allein  für 
sich  betrachtet,  ohne  daß  man  zugleich  das  mit  ihm  verbundene 
in  Rücksicht  zieht,  so  betrachtete  man  bereits  dieses  andere 
und  trennte  es  dann  von  dem  ersten.*)  Kurz,  betrachtet  man 
ein  Ding  ohne  dabei  die  Bestimmung  aufzustellen,  daß  es  sich 


^)  Zn  Anfang  dieses  Kapitels. 

>)  Die  Dimensionen  sind  also  kontinuierlich. 

*)  Wörtlich:  „post  compositionem ''.  Nachdem  man  diese  Lehre  aof- 
gesteUt  hatte,  kam  man  bald  zn  der  Einsicht,  daß  die  Kontinua  nicht  durch 
Zusammensetzung  einer  begrenzten  Anzahl  von  Zahlen  zu  erklären  seien. 

*)  Das  logisch  Getrennte  machte  man  zu  einem  in  der  realen  Außen- 
welt Getrennten, 


Digitized  by 


Googk 


459 

mit  einem  anderen  verbindet,  so  war  man  der  Meinung,  man 
hätte  es  betrachtet  unter  der  Voraussetzung,  daß  es  sich  nicht ») 
mit  einem  anderen  verbindet,  so  daß  es  also  richtig  wäre,  zu 
sagen,  wir  betrachten  das  Ding,  weil  und  insofern  es  nicht  (mit 
der  Materie)  verbunden  ist,  sondern  getrennt  und  unkörperlich 
existiert.  Die  in  dem  Weltall  existierenden,  begrifflichen  Wesen- 
heiten werden  vielfach  vom  Verstände  betrachtet,  ohne  daß  er 
zu  gleicher  Zeit  etwas  anderes  (die  Materie),  das  mit  den  Ideen 
verbunden  ist,  begrifflich  faßt.  Daher  entstand  die  Ansicht  der 
Philosophen,  daß  der  Verstand  nur  das  Unkörperliche  von  diesen 
Ideen  erfasse.  In  der  Tat  verhält  es  sich  aber  anders.  Jedes 
Ding  kann  betrachtet  werden  insofern  es  dieses  bestimmte  Ding 
ist,  und  femer,  insofern  es  eine  Beziehung  hat  zu  einem  anderen 
Dinge  (der  individuellen  Materie).  Fassen  wir  z.  B.  begrifflich 
die  Wesensform  des  Menschen,  insofern  sie  Wesensform  eines 
Menschen  allein  ist,  so  denken  wir  etwas,  das  für  sich  allein 
real  existiert,  rücksichtlich  seines  Wesens  (nicht  seiner  Indivi- 
dualität) und  insofern  wir  es  begrifflich  fassen  (d.  h.  also  ohne 
die  Materie).  Daraus  ergibt  sich  aber  nicht,  daß  das  Ding 
auch  so  abstrakt  für  sich  allein  real  existiere  und  unkörperlich 
sei;  denn  die  Wesenheit,  die  mit  der  Materie  vermischt  ist,  ist 
als  solche  individuelle  Wesenheit  nicht  unkörperlich,  d.  h.  nach 
Art  der  logischen  Negation, 2)  nicht  nach  Art  der  realen  Ent- 
fernung (von  der  Materie).  In  dieser  letzteren  Weise  wird  die 
Unkörperlichkeit  in  dem  realen  Bestände  der  Substanzen  ver- 
standen. Es  ist  uns  nicht  schwer,  das  eine  von  diesen  Be- 
griffen im  Erkennen  3)  oder  auf  einem  anderen  Wege  geistigen 
Erfassens  für  sich  allein  zu  betrachten,  ohne  daß  das  eine  in 
seinem  realen  Bestände  getrennt  werden  könnte  von  dem- 
jenigen, das  es  begleitet,  selbst  wenn  es  sich  von  ihm  trennt 
in  der  Definition,  dem  Begriffe  und  dem  eigentlichen  Wesen; 
denn  die  Wesenheit  dieses  einen  ist  nicht  enthalten  in  der 
Wesenheit  des  anderen  (als  logischer  Bestandteil).  Das  Mit- 
einandersein  hat  nämlich  nur  zur  Folge,   daß  das  eine  sich 


^)  Man  verwechselte  also  sine  condidone,  quod  und  snb  condicione, 
qnod  non. 

')  „Getrennt"  ist  aufzufassen  in  logischer,  nicht  in  ontologischer 
Negation  und  Trennung  von  der  Materie. 

*)  Dies  „Erkennen"  schlieft  auch  das  sinnliche  Erkennen  ein. 


Digitized  by 


Google 


460 

äußerlich  mit  dem  anderen  verbindet,  nicht  aber,  daß  es  in 
das  Wesen  des  anderen  eintritt. 

Der  zweite  Grund,  weshalb  die  alten  Philosophen  in  Irr- 
tum gerieten,  ist  ihre  falsche  Ansicht  über  den  Begriff  des 
Einen.  Wenn  wir  lehren,  daß  die  Wesenheit  „Mensch"  ein 
einziger  Begriff  (ratio)  ist,  so  wollen  wir  damit  nicht  die  An- 
sicht ausdrücken,  daß  sie  numerisch  einen  einzigen  Begriff  dar- 
stelle, und  daß  dieser  Begriff  in  seiner  Individualität  in  vielen 
Einzeldingen  enthalten  sei,  so  daß  er  dann  durch  die  Eelation 
eine  Vielheit  darstelle.  So  verhält  sich  der  Vater,  der  in  sich 
einer  ist  Dieser  Begriff  kann  von  vielen  Dingen  ausgesagt 
werden.  Er  verhält  sich  sogar  wie  viele  Väter  zu  vielen 
Söhnen,  *)  die  voneinander  vei^chieden  sind.  Wir  haben  darüber 
bereits  an  einem  anderen  Orte  eingehend  gesprochen.  2)  Jene 
alten  Philosophen  wußten  nicht,  daß  der  Ausdruck,  „die  Be- 
griffe umfassen  eine  Vielheit  von  Individuen"  so  aufzufassen  sei, 
daß  sie  in  gewisser  Weise  unter  einen  Begriff  zusammengefaßt 
werden. 3)  Darunter  verstehen  wir:  wenn  wir  irgend  einen 
einzelnen  Begriff  geistig  auffassen  als  der  Materie  vorausgehend, 
so  daß  sich  die  Materie  in  demselben  Zustande  zu  dem  einen 
Dinge  befindet  wie  zu  dem  anderen,*)  so  entsteht  aus  der 
Materie  diese  einzelne  Person.  Ebenso  verhält  sich  jeder  einzelne 
BegrifE.  Geht  er  dem  begrifflichen  Denken  voraus,  indem  er 
dann  in  den  Geist  eingeprägt  wird,  so  läßt  er  aus  sich  diesen 
einen  Begriff  entstehen.*)  Wenn  es  sich  nun  so  verhält,  daß 
der  eine  Begriff,  indem  er  vorausgeht,  den  anderen  unmöglich 
macht  und  vernichtet,  dann  stellt  er  kein  individuelles  Ding 
her  (er  bildet  keinen  Begriff  in  ordine  logico,  noch  ein  Ding  in 
ordine  ontologico),  wie  z.  B.  die  Hitze.  Wenn  diese  sich  einer 
Materie  mitteilt,  in  der  die  Feuchtigkeit  vorhanden  ist,  dann  be- 
wirkt sie  ein  anderes  Ding  (ratio)  als  die  Hitze,  oder  wenn  sie 
in  einem  Verstände  präsent  wird,  bewirkt  sie,  wenn  ihrem  Auf- 


*)  Er  steUt  eine  numerische  VieUieit  von  Relationen  dar,  nicht  nur 
von  einzelnen  Substanzen. 

*)  Logik  n.  Teü  IV,  3-5. 

•)  Wörtlich:  ihre  „ratio"  ist  eine. 

*)  Die  Materie  ist  dann  formlos  gedacht. 

*)  Ebenso  wie  in  der  realen  Außenwelt  entsteht  auch  in  den  Gedanken 
die  numerische  Einheit  durch  ein  formelles  Prinzip,  das  in  ein  amorphes, 
materieUes  ein^prägt  wird. 


Digitized  by 


Google 


461 

treten  im  Verstände  die  Wesenheit  (ratio)  und  der  Begriff  der 
Feuchtigkeit  vorausgeht,  einen  anderen  Begriff.  Wenn  jene 
Philosophen  den  Begriff  des  Einen  in  diesem  Verhältnisse  richtig 
verstanden  hätten,  dann  hätte  diese  Erkenntnis  ihnen  genügt 
(um  ihren  Irrtum  einzusehen).  Sie  hätten  sich  nicht  in  Irrtum 
führen  lassen. 

Der  dritte  Grund  für  die  Unwissenheit  jener  Philosophen 
liegt  in  folgender  Unkenntnis  ihrerseits:  ihr  Ausdruck  „dieses 
(abstrakte)  Individuum  als  ein  in  dieser  Weise  bestimmtes  Ding 
ist  ein  anderes,  Einheitliches,  und  der  Definition  nach  (von  dem 
konkreten  Dinge)  Getrenntes",  ist  ein  sehr  anzufechtender.  Er 
verhält  sich  wie  die  falsche  Antwort  dessen,  der  gefragt  wurde, 
ob  der  Mensch,  wenn  man  ihn  auffaßt  als  Menschen,  ein  einzelner 
sei  oder  eine  Vielheit  darstelle,  und  der  auf  diese  Frage  dann 
entweder  antwortete,  er  sei  ein  einzelner  oder  stelle  eine  Viel- 
heit dar;  denn  der  Mensch  als  solcher  ist  nur  Mensch,  und  als 
solcher  ist  er  nichts  anderes  als  das,  was  der  Begriff  Mensch 
besagt  Einheit  und  Vielheit  sind  nun  aber  verschieden  von 
dem  Begriffe  des  Menschen.  Über  dieses  Problem  haben  wir 
bereits  abschließend  verhandelt,  indem  wir  langsam  in  die  Er- 
kenntnis dieser  Verhältnisse  eindrangen.  *) 

Der  vierte  Grund  für  den  Irrtum  der  griechischen  Philo- 
sophen liegt  darin,  daß  sie  glaubten:  wenn  wir  sagen,  das  Wesen 
des  Menschen  besteht  immer  und  ewig,  so  bedeute  dieser  Aus- 
druck dasselbe  wie:  das  „Wesen  des  Menschen"  ist  ein  einziges 
oder  stellt  eine  Vielheit  dar  (und  diese  reale  Wesenheit  ist 
ewig).  Ihre  Ansicht  ist  nur  richtig  und  trifft  nur  zu,  wenn  die 
Redeweise  „die  Wesenheit  des  Menschen  ist  eine  einzige  Wesen- 
heit oder  eine  Vielheit  solcher"  einen  einzigen  Begriff  (ratio) 
bezeichnete.  2)  Aus  diesem  Grunde  ist  es  nicht  folgerichtig  not- 
wendig, daß  jene  Philosophen  glaubten,  wenn  sie  zugäben,  daß 
das  Wesen  „Mensch"  ewig  bestehen  bliebe,  so  ergebe  sich,  daß 
dieses  Wesen,  das  eine  und  immer  gleiche,  in  seiner  realen 
Individualität  ewig  bestehe.  Aus  diesem  Grunde  stellten  sie 
die  Lehre  von  der  ewigen  Wesenheit  des  Menschen  auf. 

Der  fünfte  Grund  für  den  Irrtum  jener  Philosophen  ist 
ihre  Ansicht  daß  materielle  Dinge,  wenn  sie  verursacht  werden, 

0  Metaphysik  V,  1  and  2. 

*)  Die  logische  and  ontologische  Ordnang  warden  also  nicht  genügend 
unterschieden. 


Digitized  by 


Googk 


462 

es  als  notwendige  Voraussetzung  erfordern,  daß  ihre  Ursachen, 
i  h.  irgendwelche  wirkliche  Dinge,  von  der  Materie  getrennt 
seien  (und  geistige  Substanzen  darstellen).  Wenn  jedoch  die 
materiellen  Dinge  verursacht  sind  und  wenn  auch  zugleich  die 
mathematischen  Inhalte  von  der  Materie  getrennt  existieren, 
dann  ist  noch  nicht  damit  als  notwendige  Folge  gegeben,  daß 
die  Ursache  dieser  physischen  Dinge  konsequenter  Weise  die 
mathematischen  Inhalte  selbst  seien.  Manchmal  sind  es  vielmehr 
andere  Substanzen,  die  nicht  in  den  Bereich  der  neun*)  Kate- 
gorien gehören.  Jene  Philosophen  haben  auch  nicht  tief  das 
Wesen  ergründet,  indem  sie  sagten,  die  geometrischen  Begriffe 
der  Mathematik  bedürften  in  ihren  Definitionen  nicht  der 
Materie,  im  absoluten  Sinne  genommen,  selbst  wenn  dieselben 
freilich  einer  gewissen  (der  physischen)  Art  der  Materie  nicht 
bedürfen. 

Diese  Darlegungen  (wörtlich:  „Dinge")  mögen  genügen  für 
die  Klarstellung  des  Wesens  der  Ideen.  Sie  seien  Prinzipien, 
die  wir  vorausgeschickt  haben.  Wir  wollen  nun  übergehen  zu 
den  Philosophen,  die  betreffs  der  mathematischen  Begriffe  die 
Lehre  von  den  Ideen  aufstellen. 


Drittes  Kapitel 

Die  Wideriegung  der  Lehren  betreffs  der  mathematischen  Begriffe  und 
der  (platonischen)  Ideen. 

Wir  lehren  also:  wenn  es  innerhalb  (jedes  einzelnen)  der 
mathematischen  Begriffe  einen  mathematischen  Inhalt  gibt,  der 
sich  trennt  von  den  sinnlich  wahrnehmbaren,  mathematischen 
Gegenständen  (und  für  sich  existiert),  dann  ist  entweder  in  dem 
sinnlich  Wahrnehmbaren  ein  mathematischer  Inhalt  vorhanden 
oder  nicht  Wenn  aber  nun  in  dem  sinnlich  Wahrnehmbaren 
kein  mathematischer  Inhalt  vorhanden  ist^  dann  kann  auch  kein 


')  Es  liegt  wohl  nur  ein  Versehen  vor,  indem  hier  neun  anstatt  sehn 
Kategorien  genannt  werden;  denn  die  Snhstanz  mxS  in  diesem  Zusammen- 
hange mit  eingerechnet  werden. 


Digitized  by 


Googl( 


463 

Quadrat  und  kein  Kreis  noch  auch  eine  bestimmte,  sinnlich 
wahrnehmbare  Zahl  bestehen.  Wenn  aber  nichts  von  diesem 
sinnlich  wahrnehmbar  ist,  wie  kann  man  da  einen  Beweis  führen 
für  die  Existenz  jener  abstrakten,  mathematischen  Ideen?  wie 
kann  man  sich  dann  überhaupt  einen  mathematischen  Inhalt 
durch  die  kombinierende  Phantasie  vorstellen?  Das  Prinzip, 
von  dem  die  Vorstellungen  unserer  kombinierenden  Phantasie 
bezüglich  dieser  Inhalte  abhängen,  wird  bekanntlich  hergenommen 
von  dem  sinnlich  Wahrnehmbaren.  Dieses  ist  so  richtig,  daß 
wir,  wenn  wir  uns  irgend  etwas  vorstellen  wollten,  das  in 
keiner  Weise  sinnlich  wahrnehmbar  wäre,  urteilen  würden,  daß 
es  nicht  phantasiemäßig  vorgestellt  werden  kann.  Wir  können 
dann  nicht  einmal  begrifflich  etwas  von  ihm  erfassen,  wenigstens 
nicht  insofern,  als  wir  die  Existenz  vieler  Dinge,  die  zu  diesem 
Begriffe  gehören,  im  Bereiche  des  sinnlich  Wahrnehmbaren  fest- 
gestellt und  konstatiert  haben.*)  Wenn  nun  aber  die  Natur 
der  mathematischen  Ideen  auch  häufig  in  den  sinnlich  wahrnehm- 
baren Dingen  sich  vorfindet,  dann  kann  also  diese  mathematische 
Natur  in  ihrem  Wesen  allein  betrachtet  werden.  Ihr  Wesen 
ist  folglich  in  seiner  Definition  und  seinem  Begriffe  entweder 
kongruent  dem  abstrakten  Inhalte  der  für  sich  bestehenden 
Idee  oder  es  ist  nicht  kongruent.  Sind  nun  diese  Ideen  von 
dem  sinnlich  Wahrnehmbaren  getrennt,  dann  sind  die  mathe- 
matischen Begriffe  Dinge,  die  verschieden  sind  von  denen,  die 
wir  uns  durch  unsere  kombinierende  Phantasie  vorstellen  und 
die  wir  (auf  Grund  der  sinnlichen  Wahrnehmung)  begrifflich 
fassen.  Um  die  Existenz  dieser  abstrakten  Ideen  nachzuweisen, 
müßten  wir  also  zurückgreifen  auf  einen  Beweis  aus  dem  sinn- 
lich Wahrnehmbaren.  Dann  erst  sind  wir  in  der  geistigen 
Betrachtung  tätig  und  denken  nach  über  ihre  abstrakte  Natur 
(nachdem  dieser  Betrachtung  die  Konstatierung  in  der  Welt  des 
sinnlich  Wahrnehmbaren  vorausging).  Jene  Philosophen  gaben 
sich  viele  Mühe,  von  den  abstrakten  Ideen  zu  behaupten,  sie 
seien  ewig.^)    Damit  wollten  sie  sich  befreien  von  der  Pflicht^ 


>)  Vgl.  Abh.  m,  9.  Keinen  mathematischen  Begriff  könnten  wir  uns 
in  der  sinnlich  wahrnehmbaren  Materie  denken. 

*)  Wir  besitzen  psychische  Inhalte,  die  etwas  Ewiges  besagen.  Ent- 
spricht diesen  Inhalten  kein  Objekt,  das  ebenfalls  ewig  ist,  dann  ist  unsere 
Erkenntnis  falsch.  Es  mnfi  also  ewige  Ideen  geben,  and  ein  anderer  Beweis 
für  ihre  Existenz  ist  nicht  erforderlich. 


Digitized  by 


Googk 


464 

ihre  Existenz  besonders  nachzuweisen  und  vor  allem  (betreffs 
der  Natur  jener  Ideen)  sich  damit  zu  beschäftigen,  ihre  ab- 
strakte, geistige  Natur  darzulegen.  Diese  Bemühung  ist  aber 
eine  solche,  der  man  kein  Zutrauen  entgegenbringen  darf. 
Stimmt  nun,  wie  es  die  andere  Möglichkeit  besagte,  das  Wesen 
der  mathematischen  Dinge  überein  mit  den  unkörperlichen  Ideen 
und  ist  es  ihnen  verwandt  in  der  Definition,  dann  können  zwei 
Fälle  eintreten.  Entweder  sind  die  Ideen,  die  im  sinnlich 
Wahrnehmbaren  vorhanden  sind,  dort  vorhanden  durch  ihre 
Natur  allein  —  wie  können  sie  sich  aber  dann  von  demjenigen 
(nämlich  der  Materie)  „trennen",  dem  ihre  Definition  zukommt 
(und  für  welches  ihre  Definition  bestimmt  ist)*)  —  oder  das 
esse  in  materia  ist  etwas,  das  den  Ideen  wie  ein  Akzidens  zu- 
kommt auf  Grund  irgend  einer  äußeren  Ursache.  Dann  also 
wären  die  abstrakten  mathematischen  Ideen  Substrat  des  „esse 
in  materia"  als  Akzidens,  und  ihre  Definition  hätte  in  sich 
nichts,  was  die  Inhärenz  dieses  Akzidens  (d.  h.  die  Verbindung 
mit  der  Materie)  hindern  würde.')  Es  läge  dann  in  der  Natur 
jener  abstrakten  Begriffe,  daß  sie  materiell  werden  könnten, 
und  es  läge  auf  der  anderen  Seite  in  der  Natur  dieser 
materiellen  Gegenstände,  daß  sie  sich  von  der  Materie  trennen 
könnten.  Dieses  aber  ist  das  Gegenteil  von  dem,  was  jene  für 
richtig  hielten  und  worauf  sie  das  Fundament  ihres  Systems 
errichteten. 

Diese  materiellen  Inhalte,  die  verbunden  sind  mit  den 
(individualisierenden)  Akzidenzien,  bedürfen  femer  entweder  der 
Ideen  (zu  ihrem  Bestände)  oder  nicht  Bedürfen  sie  unkörper- 
licher Ideen,  so  tritt  dieses  nur  insofern  ein,  als  sie  solcher 
Ideen  bedürftig  sind,  die  verschieden  sind  von  ihrer  Natur,  und 
dann  ergäbe  sich,  daß  die  abstrakte  Idee  selbst  anderer  Ideen 
bedürfte  (um  ihrerseits  zur  Existenz  zu  gelangen).  Nehmen 
wir  femer  den  Fall  an:  diese  Weltdinge  bedürften  der  abstrakten 
Ideen  nur  auf  Grund  dessen,  was  ihnen  als  Akzidens  zukommt 
Dann  stellt  sich  also  das  Verhältnis  wie  folgt:  wenn  dieses 
Akzidens  nicht  vorhanden  wäre,  dann  würden  die  individuellen 

0  Die  Ideen  sind  Definitionen  materieUer  Gegenstände  und  müssen  also 
in  diesen  materieUen  Dingen  vorhanden  sein. 

*)  Die  Ideen  würden  sich  also  nur  passiv  verhalten  bezüglich  ihrer 
„Inhärenz"  in  der  Materie.  Sie  würden  nicht  per  se  notwendig  in  der  Materie 
sein,  wie  es  doch  erforderlich  ist. 


Digitized  by 


Googk 


465 

Dinge  in  keiner  Weise  jener  abstrakten  Idee  bedürfen,  und 
dann  wäre  es  also  ebensowenig  erforderlich,  daß  die  Ideen  reale 
Existenz  besäßen.  Tritt  also  der  angenommene  Fall  ein,  dann 
ergibt  sich,  daß  dasjenige,  was  für  ein  individuelles  Ding  Akzi- 
dens ist,  die  Existenz  eines  anderen  Dinges  hervorbringt,  das 
dem  Sein  nach  früher  ist,  als  das  Akzidens  oder  das  indivi- 
duelle Ding,  und  das  im  Sein  zugleich  unabhängig  ist  von 
letzterem.  Damit  aber  bezeichnet  man  die  Ideen  als  solche,  die 
der  individuellen  Weltdinge  bedürftig  sind,  damit  sie  zur  Existenz 
gelangen.  Wenn  sich  nun  das  Verhältnis  anders  gestaltet,  und 
wenn  vielmehr  die  Existenz  der  Ideen  die  Existenz  der  Welt- 
dinge, zugleich  mit  jenem  Akzidens  behaftet,  hervorbringt,  wes- 
halb ist  dann  dieses  Akzidens  (das  esse  in  materia)  in  einem 
anderen  Dinge  als  diesen  Ideen  vorhanden?  Weshalb  wird  es 
nicht  in  den  Ideen  selbst  hervorgebracht?  Die  Natur  stimmt 
in  sich  überein  (ist  gleichmäßig  und  gesetzmäßig).  Wenn  sie 
nun  der  abstrakten  Ideen  nicht  bedarf,  dann  sind  also  diese 
Ideen  auch  keine  Ursachen  für  die  Natur  in  irgend  einer 
Weise,  noch  auch  erste  Prinzipien.  Dann  ergibt  sich,  daß  diese 
Ideen  im  Sein  unvollständig  sind.  Denn  dieses  (die  Idee),  das 
sich  mit  der  Materie  verbindet,  ist  behaftet  mit  Fähigkeiten 
und  Tätigkeiten,  die  sich  nicht  in  der  abstrakten  Substanz  be- 
finden. Wie  groß  ist  der  Unterschied  zwischen  einem  einzelnen 
einfachen  (idealen)  Exemplare  eines  Menschen  und  zwischen 
einem  individuellen  Menschen,  der  lebt  und  tätig  ist!  Man  muß 
sich  wundem  über  jene  Philosophen,  da  sie  behaupten,  die  Linie 
könne  losgelöst  von  der  Fläche  in  sich  subsistieren  und  ebenso 
der  Punkt  losgelöst  von  der  Linie.  Wo  wäre  dann  jenes  Prinzip, 
das  beide  in  der  körperlichen  Natur  zu  einer  einzigen  Natur 
vereinigte?  Eine  solche  Vereinigung  müßte  aber  herbeigeführt 
werden,  wenn  jene  Ideen  in  abstrakter  Weise  existierten,  oder, 
wenn  statt  ihrer  eine  andere  Kraft  bestände,  sei  es  eine  Seele, 
ein  Verstand  oder  der  Schöpfen 

Wie  kann  ferner  die  Linie  dem  vollkommenen  Körper 
vorausgehen  in  der  Weise,  wie  die  Ursachen  ihren  Wirkungen 
vorausgehen,  ohne  daß  sie  zugleich  Wesensform  des  Körpers  ist; 
denn  die  Linie  ist  nicht  Wesensform  der  körperlichen  Natur, 
noch  bewirkt  sie  als  Wirkursache  den  Körper,  noch  ist  sie  ein 
Endzweck  desselben.  Freilich  muß  sie  im  Körper  existieren, 
wenn  sie  wirklich  ist;  aber  der  vollkommene  und  in  Dimen- 

Horttn,  Daa  Bnob  ^  Gentstmg  der  Seele.  30 


Digitized  by 


Googk 


466 

sionen  vollendete  Körper  ist  der  Endzweck')  für  die  Linie  und 
für  anderes  (die  Fläche).  Sie  ist  ebensowenig  die  erste  Materie 
des  Körpers;  sondern  sie  ist  etwas,  das  dem  Körper,  insofern  er 
endlich  ist  und  Grenzen  hat,  anhaftet 

Der  Philosoph,  der  die  Lehre  betreffs  der  Zahlen  aufstellte, 
verwickelt  sich  noch  in  folgende  Schwierigkeit  Die  Verschieden- 
heit der  Größe  zwischen  den  Dingen  muß  er  entstehen  lassen, 
indem  er  zu  dem  einen  eine  Vielheit  von  Einheiten  hinzufügt, 
von  dem  anderen  eine  solche  hinwegnimmt  Nach  dieser  Lehre 
ist  also  die  Verschiedenheit  zwischen  Mensch  und  Pferd  darin 
begründet,  daß  der  eine  von  beiden  ein  Mehr  an  Zahlen  besitzt 
Nun  aber  ist  das  Weniger  immer  in  dem  Mehr  enthalten. 
Daher  müßte  also  in  dem  einen  von  beiden  der  andere  ent- 
halten sein. 

Zu  den  Philosophen  gehören  auch  solche,  die  behaupten, 
alle  Einheiten  seien  sich  gleich.  Das,  worin  sich  das  Größere  von 
dem  Kleineren  unterscheidet,  ist  ein  Teil  von  dem  Geringeren;^) 
andere  bezeichnen  die  Einheiten  als  nicht  gleich.  Wenn  sie 
daher  der  Definition  nach  verschieden  sind,  dann  sind  sie  nur 
Einheiten,  indem  sie  mit  einem  gemeinsamen  Namen  bezeichnet 
werden  (also  aequivoce  und  metaphorisch).  Wenn  sie  aber  der 
Definition  nach  nicht  verschieden  sind,  sich  jedoch  so  verhalten, 
daß  sie,  selbst  wenn  sie  in  der  Definition  übereinstimmen,  auf 
der  einen  Seite  ein  Mehr,  auf  der  anderen  ein  Weniger  auf- 
weisen, dann  gilt  folgendes.  Tritt  der  Fall  ein,  daß  das  Moment, 
welches  das  eine  von  beiden  mehr  besitzt,  als  das  andere,  sich 
gründet  auf  etwas,  das  in  den  Dingen  nur  der  Möglichkeit  nach 
enthalten  ist,  wie  z.  B.  die  Maßbestimmungen  (der  kontinuier- 
lichen Dimensionen),  dann  ist  die  Einheit  ein  Maß  (oder  eine 
Dimension)  nicht  das  erste  Prinzip  für  die  Maßbestimmung 
(Dimension).  Befindet  sich  aber  das  Mehr  des  einen  im  Ver- 
hältnis zum  anderen  in  ihm  auf  Grund  eines  Dinges,  das  aktuell 
in  ihm  besteht,  wie  die  Zahlen,  *)  dann  ist  die  Einheit  gleich- 
bedeutend mit  einer  Vielheit 


')  Die  Wesensform  ist  Zweckorsache  der  Dinge. 

')  Zu  dem  Kleineren  müssen  keine  anderen  Momente  als  die  gleiche 
Art  von  Einheiten  hinzugefügt  werden,  damit  das  wesentlich  verschiedene, 
das  Größere,  entstehe. 

')  Sie  bilden  eine  diskrete  Quantität  und  insofern  ist  das  Mafl  in  ihnen 
aktuell  enthalten. 


Digitized  by 


Googl( 


467 

Diejenigen,  die  die  Lehre  betreffs  der  arithmetischen  Zahl 
aufstellen  und  behaupten,  daß  aus  beiden  (der  Zahl  und  der 
Materie)  die  Wesensformen  der  Naturdinge  entstehen,  müssen 
notwendig  den  einen  von  zwei  Wegen  einschlagen.  Sie  müssen 
entweder  die  ideelle  Zahl,  die  real  existiert,  durch  einen 
Endpunkt  begrenzen  —  dieser  Endpunkt  der  Zahl  befindet  sich 
dann  bei  einer  bestimmten  Grenze  mit  Ausschluß  einer  anderen, 
.und  zwar  infolge  des  Zusammentretens  vieler  Einheiten,  das 
jedoch  (weil  ideal)  nicht  aktuell  eintrifft  —  oder  jene  ideelle 
Zahl  als  unendlich  bezeichnen,  und  dann  müssen  sie  auch  die 
Wesensformen  der  Naturdinge  als  unendlich  annehmen.  Jene 
lehren,  die  erste  Einheit  sei  verschieden  von  jeder  der  beiden 
Einheiten,  die  die  Elemente  der  Zweiheit  bilden.  Sodann  lehren 
sie,  daß  die  erste  Zweiheit  verschieden  sei  von  derjenigen  Zwei- 
heit, die  in  der  Dreiheit  enthalten  sei,  und  daß  sie  zugleich  dem 
Sein  nach  früher  sei  als  jene.  Ebenso  ist  das  weitere  Verhältnis 
in  den  Zahlen,  die  auf  die  Dreiheit  folgen. ')  Dieses  aber  ist 
unmöglich;  denn  zwischen  der  ersten  Zweiheit  und  der  Zweiheit, 
die  sich  in  der  Dreiheit  befindet,  besteht  dem  Wesen  nach  kein 
Unterschied.  Der  Unterschied  besteht  vielmehr  nur  in  einem 
Akzidens,  und  dieses  Akzidens  ist  die  Verbindung  eines  realen 
Dinges  mit  einem  anderen  (der  Zweiheit).  Die  Verbindung 
eines  Dinges  mit  einem  anderen  gibt  aber  nicht  die  Möglichkeit, 
daß  das  Wesen  des  einen  vernichtet  werde.  Wenn  das  eine  das 
andere  vernichtete,  dann  würde  es  sich  nicht  mit  ihm  verbinden; 
denn  dasjenige,  was  sich  mit  einem  anderen  verbindet,  verbindet 
sich  mit  einem  real  Existierenden.  Das  nicht  real  Exi- 
stierende kann  sich  auch  nicht  verbinden  mit  einem  anderen. 
Wie  kann  femer  die  Einheit  zwei  andere  Einheiten  (die  zu- 
sammen eine  Zweiheit  bilden)  vernichten,  es  sei  denn,  daß  sie 
jede  einzelne  vernichtet!  Wie  kann  aber  dann  eine  Einheit 
eine  andere,  ihr  wesensgleiche  Einheit  vernichten?  und  wenn 
sie  dieselbe  auch  vernichtete,  so  entstände  doch  keine  Zweiheit. 
Die  Zweiheit,  die  entsteht  durch  die  Verbindung  einer  Einheit 
mit  jener  ersten  Einheit,  ist  vielmehr  in  ihrem  Wesen  nicht 
verschieden  von  der  Zweiheit,  so  daß  sie  nicht  mit  der  Einheit 


1)  In  den  größeren  Zahlen  seien  die  kleineren  nicht  enthalten,  eben- 
sowenig wie  in  den  voUkommeneren  Wesensformen  die  weniger  voUkommenen 
einbegriffen  sind. 

30* 


Digitized  by 


Googk 


468 

verbunden  bestände;  denn  die  Einheit  tritt  in  keine  Phase  der 
Veränderung  dadurch  ein,  daß  sie  sich  mit  irgend  einem  Dinge 
verbindet.  Sie  bewirkt  vielmehr  nur,  daß  die  Summe  größer 
wird,  indem  zu  gleicher  Zeit  aber  der  Teil  so  bleibt,  wie 
er  war. 

Kurz,  wenn  die  Einheiten  sich  alle  ähnlich  sind,  und  die 
Zusammensetzung  immer  die  gleiche  ist,  dann  sind  die  zwei 
Naturen  (z.  B.  Mensch  und  Pferd,  die  aus  Zahlen  bestehen  sollen) 
übereinstinmiend,  abgesehen  davon,  daß  ein  Akzidens  ihnen 
zukäme  und  eine  Verschiedenheit  hervorbrächte  oder  in  Wegfall 
kämeJ)  Nun  aber  ist  es  nicht  möglich,  daß  die  Einheiten  nicht 
gleichartig  sind;  denn  die  Zahl  entsteht  aus  Einheiten,  die 
gleichartig  sind,  nicht  in  einer  anderen  Weise.  So  ist  es  die 
Ansicht  einer  großen  Schule  von  Philosophen.  Sie  lehrten:  der 
Zweiheit  als  solcher  hafte  als  Akzidens  eine  Einheit  an,  die 
verschieden  sei  von  der  Einheit,  die  in  der  Dreiheit  enthalten 
ist  Aus  diesem  Grunde  sei  diejenige  Einheit,  die  in  der  Zwei- 
heit enthalten  ist,  verschieden  von  der  Einheit,  die  sich  in  der 
Dreizahl  vorfindet.  Daraus  ergibt  sich,  daß  die  Zehnzahl 
nicht  zusammengesetzt  ist  aus  zwei  Fünfheiten,  insofern  als  die 
zwei  Fünfheiten  die  Wesenheit  von  zwei  Fünfheiten  darstellen; 
denn  die  Einheiten,  die  in  der  Zehn  enthalten  sind,  sind  ver- 
schieden von  den  Einheiten,  die  sich  in  der  Fünf  vorfinden. 
Daher  kann  auch  die  Zehn  sich  nicht  aus  2x5  zusammensetzen. 
Die  Einheiten  der  Fünf  müssen  also,  wenn  sie  Teile  der  Zehn 
sind,  verschieden  sein  von  den  Einheiten,  wenn  sie  Teile  von 
fünfzehn  sind. 

Vielleicht  lehrten  jene  Philosophen,  daß  die  Fünf,  die  in 
der  Zahl  fünfzehn  enthalten  ist,  verschieden  sei  von  der  Fün^ 
die  in  der  einfachen  Zehn  vorhanden  ist;  denn  letztere  ist  eine 
Fünf,  die  zur  Zehn  gehört,  und  diese  ist  ein  Teil  von  fünfzehn. 
Es  ergibt  sich  daraus,  daß  die  Zehnzahl,  wenn  man  zu  ihr  eine 
Fünf  hinzufügt,  nicht  zur  Fünfzehn  wird.  Es  müßten  denn  die 
Einheiten  (dieser  beiden  Komponenten  der  Zahl  fünfzehn)  sich 
in  ihrem  Wesen  verändern.     Alles  dieses  aber  ist  unmöglich. 


^)  Das  Akzidens,  d.  h.  die  hinzutretende  Zahleneinheit,  bildete  die  V«r- 
schiedepheit  der  Dinge,  indem  es  zu  dem  einen  hinzuträte,  zu  dem  anderen 
nicht.  Der  wesentliche  Unterschied  der  Dinge  kann  jedoch  dadurch  nicht 
erkl&rt  werden. 


Digitized  by 


Googk 


469 

Ferner,  wenn  die  Fünf  der  Zehuzahl,  nicht  der  Fünf  im  all- 
gemeinen aufgefaßt,  gleichsteht,  dann  existiert  überhaupt  keine 
Fünfheit,  es  sei  denn  im  metaphorischen  Sinne.  Wir  müssen 
also  den  Begriff  der  Fünf  besonders  zu  verstehen  suchen  in 
der  Zahl  zehn  (weil  sie  verschieden  ist  von  der  Fünf  im  all- 
gemeinen Sinne  aufgefaßt),  nachdem  beide  dem  (aequivoce  ge- 
brauchten) Worte  nach  gleich  sind.  Wenn  nun  alle  sich  gleich- 
stehen, dann  sind  also  die  Einheiten  in  der  Summe  gleichstehend 
(den  Einheiten  für  sich  betrachtet),  und  ebenso  die  Einheiten  in 
der  Zahl  zwei  und  drei.O  Dann  aber  findet  sich  auch  das 
Wesen  der  Dreiheit  real  in  der  Vierheit  vor.  Nun  aber  ist  die 
Dreiheit  eine  Wesensform  für  eine  bestimmte  Art  der  Natur- 
dinge (Lehre  des  Pythagoras)  und  die  Vierheit  ebenso.  Dann 
finden  sich  also  (nach  dieser  Lehre)  in  den  Arten  der  Natur- 
dinge Arten  von  anderen  Dingen,  die  von  ihnen  verschieden 
sind.  Ist  z.  B.  irgend  eine  Zahl  die  Wesensform  des  Menschen, 
und  zudem  eine  andere  Zahl  Wesensform  des  Pferdes,  so  ver- 
hält sich  die  letztere  wie  eine  größere  Zahl  oder  wie  eine 
kleinere.  Ist  sie  nun  eine  größere  als  jene  andere,  dann  ist 
die  Art  des  Menschen  im  Pferde  (real)  enthalten.  Ist  sie  aber 
kleiner  als  jene  andere,  dann  ist  die  Art  des  Pferdes  in  der 
des  Menschen  real  vorhanden.  Daraus  ergibt  sich  femer,  daß 
die  Wesensform  einiger  Arten  früher  ist,  wie  die  anderer,  und 
ebenso  die  Wesensform  einiger  Arten  später  ist,  wie  die  anderer. 
Dieses  trifft  dann  zu,  wenn  jene  späteren  eine  gi'ößere  Zu- 
sammensetzung zeigen  als  jene  ersteren,  und  wenn  man  die 
Zusammensetzung  der  einen  Arten  aus  anderen  annimmt  und 
sie  der  Zahl  nach  unendlich  sein  läßt.  Wie  kann  femer  eine 
reale  Zahl,  die  in  sich  notwendig  eine  gewisse  Ordnung  besitzt, 
im  Verhältnis  zur  Einheit  und  Zweiheit  aktuell  ins  Unendliche 
'weitergehen.  Daß  dieses  unmöglich  sei,  wurde  bereits  dargelegt. 
Die  (dritte  Gmppe  der  2)  Philosophen,  die  die  Zahl  ent- 
stehen lassen  aus  einer  Wiederholung  von  Einheiten,  indem  zu- 
gleich die  Einheit  in  ihrer  Natur  bestehen  bleibt,  verstehen 
anter  dem  Begriffe  Wiederholung  nur  das  Entstehen  und  Her- 
vorgebrachtwerden eines  anderen  Dinges,  das  der  Zahl  nach 
verschieden  ist  von  dem  ersten.  Wenn  nun  die  Zahl  durch 
Wiederholung  von  Einheiten    entsteht,   und  wenn  zugleich  in 

0  oder:  und  die  Zweiheit  und  Dreiheit. 
^  Kap.  2,  Mitte. 


Digitized  by 


Google 


470 

jedem  einzelnen,  d.  h.  im  ersten  und  zweiten  keine  Einheit  ent- 
halten ist  (die  die  einzelnen  Teile  zusammenfaßt),  dann  ist  also 
die  Einheit  nicht  erstes  Prinzip  für  die  Zusammensetzung  einer 
Zahl.  Wenn  daher  das  erste  Prinzip  als  solches  eine  Einheit 
ist  und  das  zweite  als  solches  ebenfalls  eine  Einheit,  so  finden 
sich  in  diesem  Werdegange  zwei  Einheiten  vor.  Denn  die  Ein- 
heit ist  nur  die  Einheit  und  sie  kann  nur  insofern  sich  selbst 
wiederholen,  als  sie  dort  (in  dem  Dinge)  das  eine  Mal  nach 
dem  anderen  Male  existiert  Diese  Wiederholungen  finden  ent- 
weder in  der  Zeit  oder  nur  in  logischer  Folge  statt.  Folgten 
sie  einander  in  der  Zeit  und  würden  sie  zugleich  in  der  zwischen 
beiden  Zeitpunkten  liegenden,  mittleren  Zeit  nicht  vernichtet, 
dann  bleibt  also  die  Einheit  so,  wie  sie  früher  war.  Sie 
wiederholt  sich  nicht  Wird  sie  aber  (in  den  Übergangsphasen) 
vernichtet  und  sodann  wieder  ins  Dasein  gerufen,  dann  ist  also 
diese  (neu  entstandene)  Einheit  ein  anderes  Individuum.  Ist 
aber  die  Aufeinanderfolge  eine  rein  begriffliche,  so  ist  in 
dieser  Auslegung  das  System  leichter  zu  verstehen.  Andere 
Philosophen  bezeichneten  die  Einheit  als  die  Materie  für  die 
Zahl;  wiederum  andere  bezeichneten  sie  als  ihre  Wesensform. 
Sie  stützen  sich  in  dieser  Behauptung  darauf,  daß  die  Einheit 
von  dem  Ganzen  ausgesagt  würde,  wie  auch  die  Wesensform 
von  dem  ganzen  Gegenstande  prädiziert  wird. 

Man  muß  sich  über  die  Pythagoräer  wundern,  da  sie  lehrten, 
die  Einheiten,  die  keine  Teilbarkeit  besitzen,  seien  Prinzipien 
für  die  Dimensionen,  und  da  sie  zugleich  lehrten,  die  Dimensionen 
seien  ins  Unendliche  in  Teile  zerlegbar.  Einige  lehrten,  die 
Einheit  ließe,  wenn  sie  sich  mit  der  Materie  verbindet,  den 
Punkt  entstehen,  und  die  Zweiheit  verhalte  sich  in  gleicher 
Weise.  Denn  die  Zweiheit,  wenn  sie  sich  mit  der  Materie  ver- 
bindet, bringt  eine  Linie  hervor,  die  Dreiheit  eine  Fläche,  ditf 
Vierheit  einen  Körper.  Die  Materie  muß  also  entweder  allen 
diesen  gemeinsam  sein  oder  jedes  einzelne  von  diesen  vieren  be- 
sitzt eine  besondere  Materie.  Haben  nun  alle  eine  gemeinsame 
Materie,  dann  wird  diese  Materie  manchmal  ein  Punkt,  darauf 
aber  in  einen  Körper  verwandelt  Sodann  wird  sie  wieder  zu 
einem  Punkte,  und  dieses  hat  trotz  der  Veränderung  des  Prinzips 
zur  Folge,  daß  es  nicht  in  größerem  Maße  zutreffend  ist,  daß  der 
Punkt  Prinzip  für  den  Körper  sei,  als  daß  umgekehrt  der  Körper 
Prinzip  für  den  Punkt  sei.    Beide,  Körper  und  Punkt,  gehören 


Digitized  by 


Googl( 


471 

vielmehr  zu  denjenigen  Dingen,  die  sich  in  einer  und  derselben 
Materie  folgen  und  ablösen.  Wenn  nun  die  Materien  der  vier 
oben  aufgezählten  Dinge  eine  für  jedes  einzelne  verschiedene 
ist,  dann  existiert  also  in  der  Materie  der  Zweiheit  keine  Ein- 
heit, noch  auch  in  der  Materie  der  Zweiheit  zwei  Einheiten. 
Femer  befindet  sich  in  der  Materie  der  Zweiheit  nicht  das 
Wesen  der  Zweiheit.  Alle  diese  Gegenstände  können  also  in 
keiner  Weise  (in  der  letzten  Annahme)  zugleich  existieren. 

Nach  der  Lehre  der  richtigen  Philosophie  existiert  also 
der  Punkt  nur  in  der  Linie,  die  ihrerseits  in  der  Fläche  vor- 
handen ist,  und  diese  besteht  in  der  Wesensform  des  Körpers, 
der  sich  in  der  (physischen)  Materie  befindet.  Der  Punkt  ist 
also  nicht  Prinzip  (für  ein  Werden),  es  sei  denn  insofern  er 
Endpunkt  ist.  Im  wahren  Sinne  des  Wortes  ist  vielmehr  der 
Körper  selbst  das  erste  Prinzip,  insofern  er  Substrat  ist,  in 
dem  die  Endlichkeit,  die  durch  die  Grenze  gegeben  ist,  wie  ein 
Akzidens  enthalten  ist. 

Man  muß  sich  wundem  über  den  Philosophen,  der  das  Zu- 
viel und  Zuwenig  zum  ersten  Prinzip  machte;  denn  damit  machte 
er  die  Relation  zu  einem  ersten  Prinzipe  (für  das  Werden). 
Die  Eelation  aber  ist  ein  akzidentelles  Ding,  das  einem  anderen 
realen  Dinge  anhaftet  (und  sich  auf  ein  anderes  reales  Ding 
bezieht).  Sie  ist  zudem  (logisch)  später  als  jedes  reale  Ding. 
Wie  können  jene  Philosophen  ferner  in  der  realen  Existenz 
eine  Vielheit  entstehen  lassen?  Denn  die  Einheit, ^)  die  in  der 
Vielheit  sich  vorfindet,  ist  eine  Relation  zu  der  ersten  Einheit 
Existiert  sie  durch  sich  selbst,  wodurch  unterscheidet  sich  dann 
eine  Einheit  von  der  anderen? 

Der  notwendig  Seiende  enthält  keine  Vielheit  und  unter- 
scheidet sich  nicht  von  irgend  einem  Dinge,  es  sei  denn  in 
seiner  Substanz,  und  zwar  nicht  der  Zahl*^)  nach.  Wenn  die 
Einheit  eine  Teilung  der  Einheit  herbeiführt,^)  dann  ist  die 
Einheit  nur  eine  Maßbestimmung  (Ausdehnung).  Hat  die  Ein- 
heit aber  eine  andere  Ursache  im  Gefolge,^)  dann  besitzt  sie  in 
ihrer  Natur  eine  reale  Ursache  und  gehört  nicht  zu  den  Dingen, 

»)  Codd.  a,  b,  d  add. :  „die  sekundäre  Zweiheit". 
')  Der  Zahl  nach  unterscheidet  sich   das  eine  Individuum  von   dem 
anderen  derselben  Art. 

')  Vielleicht:  „entsteht  die  Einheit  durch  Teilung  einer  Einheit  . . ." 
*)  Vielleicht:  „Entsteht  die  Einheit  auf  Grund  einer  anderen  Ursache  . . ." 


Digitized  by 


Googl( 


472 

die  in  sich  selbständig  bestehen,  noch  auch  zu  den  ersten  Prin- 
zipien, die  andere  Dinge  hervorbringen,  ohne  selbst  eine  Ur- 
sache vorauszusetzen.  Wie  konnten  femer  jene  Philosophen  die 
Einheit  und  Vielheit  zu  den  konträren  Dingen  rechnen,  indem 
sie  dieselben  zugleich  einteilten  in  das  Gute  und  Böse!  Viele 
von  ihnen  neigten  in  ihrer  Ansicht  dazu  hin,  die  Zahl  als  das 
Gute  zu  bezeichnen,  weil  sie  Ordnung,  Zusammensetzung  und 
Reihenfolge  in  sich  besitzt.  Andere  neigten  dazu,  die  Einheit 
als  das  Gute  zu  bezeichnen.  Wenn  aber  nun  die  Einheit  das 
Gute  ist,  wie  kann  dann  aus  Bösem  Gutes  entstehen  und  wie 
aus  Gutem  (der  Einheit)  das  Böse  (die  Vielheit)?  Wie  kann 
femer  das  zunehmende  und  größer  werdende  Gute  zum  Bösen 
werden?  Wenn  nun  aber  (nach  anderer  Ansicht)  die  Vielheit 
das  Gute  ist,  dann  muß  die  Einheit  das  Böse  sein.  Wie  kann 
dann  aber  von  dem  zunehmenden  Bösen  das  Gute  herstammen 
und  wie  kann  das  erste  Sein  und  das  ei-ste  Prinzip  des  Seins 
ein  Böses  sein,  so  daß  dann  das  vorzüglichste  Seiende  „ver- 
ursacht" würde  und  das  im  Sein  Unvollkommene  eine  Ursache 
darstellte? 

Einige  rechnen  die  Zahl  und  die  Einheit  zu  der  Kategorie 
des  Guten  und  sie  bezeichneten  das  Böse  als  die  Materie.  Ist 
die  Materie  nun  vemrsacht,  so  muß  sie  eine  Ursache  haben, 
die  sich  auf  eine  andere  Materie  oder  auf  eine  Form  zurück- 
führen läßt.  Läßt  sie  sich  nun  auf  eine  andere  Materie  zurück- 
führen, so  haben  wir  dasjenige  bewiesen,  was  wir  beweisen 
wollen  und  beenden  die  Diskussion.  Wenn  sie  sich  aber  auf 
eine  Wesensform  zurückführen  läßt,  wie  kann  dann  das  Gute 
(die  Wesensform)  das  Böse  (die  Materie)  erzeugen?  Ist  nun  aber 
die  Materie  nicht  verursacht,  so  ist  sie  notwendig  seiend  in  sich 
selbst,  oder  sie  muß  sich  so  verhalten,  daß  sie  teilbar  ist,  oder 
unkörperlich  (und  dann  unteilbar).  Ist  die  Materie  in  sich 
selbst  nun  aufnahmefähig  für  die  Teilung,  dann  ist  sie  selbst 
ausgestattet  mit  einer  gewissen  Quantität  und  aus  Einheiten 
zusammengesetzt,  wie  es  jene  Philosophen  lehren.  Sie  ist  dann 
selbst  wiedemm  zu  der  Kategorie  des  Guten  zu  rechnen.  *)  Ist 
aber  die  Materie  in  sich  selbst  nicht  teilbar,  dann  ist  ihr  Wesen 
einheitlich.  Das  einheitliche  Wesen  als  solches  ist  aber  ein 
Gutes.   Dann  hat  der  Begriff  des  Guten  nach  der  Ansicht  jener 

^)  Als  Zusammensetzung  hat  sie  den  Charakter  der  Form,  die  zu- 
sammensetzenden Bestandteile  den  der  Materie. 


Digitized  by 


Google 


473 

Philosophen  überhaupt  keinen  anderen  Inhalt  als  nur  den,  daß 
er  eine  Mnheit  oder  eine  Ordnung  von  Zahlen  bedeutet.  Der 
Einheit  kommt  nun  aber  nach  ihrer  Ansicht  in  vorzüglichem 
Maße  jenes  (Ordnung  zu  besitzen  und  Einheit  zu  sein)  zu. 
Wenn  sie  daher  einen  Unterschied  machen  zwischen  dem  Um- 
stände, daß  die  Einheit  eine  Einheit  ist,  und  dem  anderen, 
daß  sie  ein  Gut  ist,  dann  sind  ihre  eigenen  Fundamente  sämt- 
lich vernichtet.  1)  Bezeichnen  sie  aber  die  Natur  der  Einheit 
als  das  Gute,  dann  ergibt  sich,  daß  sie  die  Materie  selbst  ist; 
denn  die  Materie  ist  eine  Einheit  nach  der  Art  des  Guten.  Wenn 
femer  in  der  Einheit  die  Natur  des  Guten  enthalten  ist,  und 
wenn  jedoch  die  Natur  des  Guten  sich  verhält  wie  ein  Akzidens, 
das  dem  Wesen  fremd  gegenübersteht,  so  ergibt  sich  gerade 
diese  Konsequenz  daraus,  daß  das  Substrat  des  Akzidens  un- 
körperlicher Natur  ist  Femer,  wie  kann  aus  den  Zahlen  z.  B. 
(ein  physisches  Ding  wie)  die  Hitze  oder  Kälte,  das  Leichte 
oder  Schwere  entstehen,  so  daß  also  eine  Zahl  existieren  müßte, 
die  Ursache  dafür  wäre,  daß  sich  ein  Ding  nach  oben  bewegt 
(das  Feuer  und  das  Leichte),  und  eine  andere  Zahl,  die  Ursache 
davon  wäre,  daß  es  sich  nach  unten  hin  bewegt  (das  Kalte  und 
das  Schwere)? 

Die  Widerlegung  dieser  Ansichten  ist  dasjenige  was  wir 
in  (unserem)  mühevollen  Beweise  beabsichtigten;  denn  eine 
Schule  von  Philosophen  lehrte,  die  Dinge  entständen  aus  einer 
Zahl,  die  gleichbedeutend  und  kongment  wäre  mit  einer  Qualität 
und  zugleich  mit  ihr  existierte.  Dann  also  sind  die  Prinzipien 
der  Dinge  nicht  Zahlen,  sondem  Zahlen  zugleich  im  Bunde  mit 
Qualitäten  anderer  Dinge.  Dies  aber  ist  nach  ihrer  eigenen 
Ansicht  unmöglich. 

Nach  allem  diesem  wisse,  daß  die  mathematischen  Gegen- 
stände von  den  individuellen  Dingen  nicht  (als  selbständige 
Substanzen)  trennbar  sind.  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß  die 
Dinge  in  sich  selbst  eine  Linie  (als  Umgrenzung)  besitzen,  welche 
die  Aufeinanderfolge,  die  Ordnung  und  den  Ausgleich  bewirkt. 
(Die  mathematischen  Gegenstände  sind  also  in  den  Dingen.) 
Alle  mathematischen  Gegenstände  verhalten  sich  so,  wie  sie 
sein  müssen  und  dies  ist  das  Gute  für  jedes  Ding. 2) 

')  Sie  tragen  eine  Zweiheit  hinein  in  das  erste,  nach  ihrer  Ansicht  ab- 
sohlt  einheitliche  Prinzip. 

')  Der  letzte  Abschnitt  findet  sich  nur  in  a  und  c  2. 


Digitized  by 


Google 


Achte  Abhandlung. 


Die  Kenntnis  des  ersten  Frinzipes  aUes  Seins  und 
die  Kenntnis  seiner  Eigenschaften.O 

Erstes  Kapitel. 

Über  die  Endlichkeit  der  Reihe  der  wirkenden  und  materiellen  Ursachen. 

Nachdem  wir  bis  zu  diesem  Punkte  in  unserer  Schrift 
gelangt  sind,  liegt  es  uns  ob,  dieselbe  abzuschließen  mit  der 
Kenntnis  des  ersten  Prinzipes  alles  Seins,  Gottes,  und  zu  unter- 
suchen, ob  er  real  existiere  und  ob  er  einer  sei,  so  daß  sich  kein 
zweiter  ihm  gleichstellt  in  seiner  Seinsstufe,  und  so  daß  kein  ihm 
Ähnlicher  existiert  Wir  wollen  also  auf  die  Rangstufe  seines 
Seins  hinweisen  und  auf  die  Ordnung  der  Dinge,  die  der  Seins- 
stufe nach  unter  Ihm  stehen  (IX,  1—5),  und  ihre  Rangordnungen 
(IX,  6),  sodann  auf  die  Art  und  Weise,  wie  alle  Geschöpfe  zu 
ihm  zurückkehren  (IX,  9),  indem  wir  Ihn  um  Hilfe  anrufen. 

Das  Erste,  das  uns  nun  in  dieser  Frage  obliegt,  ist,  zu 
zeigen,  daß  die  Ursachen  nach  allen  Seiten  hin  endlich  sind, 
daß  in  jeder  Kategorie  der  Ursachen  ein  erstes  Prinzip  existiert, 
daß  das  erste  Prinzip  aller  Ursachen  zusammen  genommen  ein 
einziges  ist,  und  daß  dieses  selbst  getrennt  ist  von  allen  exi- 
stierenden Dingen,  in  sich  selbst  allein  notwendig  seiend.  Ferner 
wollen  wir  zeigen,  daß  jedes  wirkliche  Ding  den  Ursprung  seiner 
Existenz  von  diesem  Seienden  ableitet. 


*)  Die  Theologie,  d.  h.  die  Untersuchung  über  die  erste  Ursache,  reiht 
sich  folgerichtig  an  die  Lehre  ttber  die  Ursachen  an.  Nach  ihr  wird  die 
Metaphysik  auch  Theologie  genannt. 


Digitized  by 


Googl( 


475 

Wir  lehren  daher,  daß  die  Ursache  für  die  Existenz  des 
Dinges  gleichzeitig  mit  der  Wirkung  existiert  Dieses  ist  bereits 
früher  (Metaphysik  VI,  2)  dargelegt  und  begründet  worden.  So- 
dann lehren  wir:  wenn  wir  z.  B.  eine  Wirkung  annehmen  und 
für  sie  auch  eine  Ursache  voraussetzen  und  für  diese  Ursache 
wiederum  eine  andere  Ursache,  so  ist  es  nicht  möglich,  daß  jede 
Ursache  wiederum  eine  Ursache  in  unendlicher  Reihenfolge  hat; 
denn,  betrachtet  man  die  Wirkung  und  ihre  Ursache  und  die 
Ursache  dieser  Ursache  als  eine  Summe  in  ihrer  Beziehung  zu- 
einander, so  ergibt  sich,  daß  die  Ursache  der  Ursache  eine 
absolut  erste  Ursache  ist  für  die  beiden  anderen  Dinge.  Dann 
also  haben  die  beiden  anderen  Dinge  die  Beziehung  der  Wirkung 
zu  ihr,  selbst  wenn  diese  beiden  Wirkungen  sich  darin  von- 
einander unterscheiden,  daß  das  eine  eine  Wirkung  durch  Ver- 
mittelung  und  das  andere  eine  Wirkung  ohne  Vermittelung  ist 
Dieses  Verhältnis  (das  des  letzten  Gliedes)  kann  aber  nicht  ein- 
treten weder  für  das  erste  Glied,  noch  auch  für  das  mittlere; 
denn  das  Mittelglied,  welches  instrumentale  ^)  Ursache  für  die 
Wirkung  ist,  ist  Ursache  für  nur  ein  einziges  Ding.  Die  Wir- 
kung aber  ist  nicht  zugleich  Ursache  für  das  Ding.  Nun  aber 
hat  jedes  einzelne  Glied  dieser  drei  eine  besondere  Eigen- 
tümlichkeit Die  Eigentümlichkeit  des  einen  Extremes,  nämlich 
der  Wirkung,  besteht  darin,  daß  sie  nicht  Ursache  für  ein 
anderes  ist;  die  Eigentümlichkeit  des  anderen  Extremes  (des 
ersten  Gliedes)  besteht  darin,  daß  sie  Ursache  für  alles  andere 
ist;  die  Eigentümlichkeit  des  Mittelgliedes  besteht  endlich  darin, 
daß  sie  Ursache  für  ein  Extrem  und  Wirkung  im  Verhältnis  zu 
einem  anderen  (der  Ursache)  ist  Es  ist  nun  gleichgültig,  ob  das 
Mittelglied  ein  einziges  ist  oder  eine  größere  Zahl  als  die  Ein- 
heit darstellt  (vgl.  S.  383).  Ist  es  zusammengesetzt  aus  mehr  als 
einem  Dinge,  so  ist  es  gleichgültig,  ob  diese  in  endlicher  Folge 
aufeinander  folgen  oder  in  unendlicher.  Denn,  bilden  diese  in 
ihrer  Ordnung  eine  endliche  Zahl,  so  ist  die  Summe  der  Dinge,  die 
zwischen  den  beiden  Extremen  ist,  gleich  einem  einzigen  Mittel- 
glied und  dieses  ist  in  allen  einzelnen  seiner  Teile  so  beschaffen, 
daß  es  in  sich  die  Eigentümlichkeit  des  Mittelgliedes  hat  in 
Beziehung  zu  den  beiden  Extremen.    Jedes  der  beiden  Extreme 


*)  Wörtlich:    „die   berührende   Ursache",    die    den   Kontakt   herstellt 
zwischen  der  ersten  Ursache  und  der  Wirkung. 


Digitized  by 


Googk 


476 

hat  folglich  eine  besondere  Bestimmtheit  (wie  oben  gezeigt 
wurde)J)  Ebenso  liegt  die  Sachlage,  wenn  die  Mittelglieder 
sich  in  eine  Reihe  ordnen,  die  keine  endliche  Vielheit  darstellt 
Dann  also  wird  das  Extrem  (das  letzte  Glied  der  Reihe)  nicht 
wirklich.  Die  Summe  des  Unendlichen  besitzt  dann  die  eigen- 
tümliche Beschaffenheit  des  Mittelgliedes.  Das  erste  Glied  be- 
findet sich  nicht  in  ihr  (denn  als  unendliches  hat  die  Kette 
kein  erstes  Glied).  Welche  Summe  der  Mittelglieder  du  auch 
immer  annimmst,  —  sie  ist  Ursache  für  die  Existenz  der 
letzten  Wirkung  und  sie  ist  zugleich  Wirkung.  Jedes  einzelne 
Glied  von  ihr  ist  ja  zugleich  Wirkung,  und  die  Summe  hängt 
in  ihrem  Sein  ab  von  der  ersten  Ursache.^)  Dasjenige  aber,  was 
in  seinem  Sein  abhängig  ist  von  der  Wirkung  (z.  erw.  der  Ur- 
sache), ist  selbst  auch  verursacht.  Jedoch  ist  die  (ganze)  Summe 
dieser  Mittelglieder  eine  Bedingung  für  die  Existenz  der  letzten 
Wirkung  und  Ursache  für  dieselbe.  So  oft  man  aber  die  Zahl 
der  Mittelglieder  begrenzt  oder  vergrößert  (durch  neue  Mittel- 
glieder), so  bleibt  die  Sachlage  endlos  im  gleichen  Zustande 
bestehen.  Daher  ist  es  nicht  möglich,  daß  eine  Summe  von 
Ursachen  real  existiere,  und  daß  in  ihr  nur  solche  Ursachen  als 
Glieder  enthalten  sind,  die  selbst  verursacht  sind,  und  daß  dazu 
eine  erste  Ursache  bestehe.  3)  Denn  die  Summe  des  Unendlichen 
ist  Mittelglied,  ohne  daß  jedoch  ein  Extrem  bestehe.  Dies  aber 
schließt  einen  Widei-spruch  in  sich  ein. 

Die  Schwierigkeit  aber,  die  man  macht,  daß  sie,  d.  L  die 
Ui*sachen,  die  weiter  zurückliegen,  als  die  angenommenen  Ur- 
sachen, unendliche  Ketten  bilden,  trotzdem  man  zugleich  annimmt, 
daß  die  beiden  Extreme  real  existieren,  so  daß  also  zwei  Ex- 
treme wirklich  sind,  und  zwischen  ihnen  Mittelglieder  in  end- 
loser Reihe  existieren,  —  diese  Schwierigkeit  widerspricht  nicht 
unserer  Thesis,  die  wir  beweisen  wollen,  nämlich  der  Existenz 
der  ersten  Ursache;  denn  die  Aufstellung  des  Gegners  besagt, 
daß  zwei  Extreme  existieren,  und  daß  eine  unendlich  große 
Zahl  von  Mittelgliedern  vorhanden  sei.    Dies  aber  ist  nur  ein 


')  Die  Ewigkeit  der  Welt  ist  also  möglich  und  hindert  nicht,  daß  eine 
erste  Ursache  außerhalb  der  unendlichen  Summe  der  Mittelglieder,  die  in 
ihrer  Reihe  kein  erstes  Glied  haben,  existiere. 

»)  Wörtüch:  „von  ihr". 

>)  Die  erste  Ursache,  wenn  sie  innerhalb  der  series  infinita  angenommen 
wird,  bildet  die  Grenze  und  macht  das  Unendliche  zu  einem  Endlichen. 


Digitized  by 


Googk 


477 

leeres  Wort,  ohne  daß  sich  mit  ihm  eine  Überzeugung  verbindet. 
Denn,  wenn  ein  Extrem  der  Reihe  existiert,  so  muß  dieses  durch 
sich  selbst  ein  Ende  bedeuten,  selbst  wenn  das  Gezählte  (d.  h. 
die  Mittelglieder)  nicht  zu  ihrem  Endpunkte  gelangen,  indem 
diese  Begriffe  (die  der  Endlichkeit  und  Unendlichkeit)  nur  das 
Gezählte  *)  (d.h.  die  supponierte  Zahl)  betreffen.  Sie  bezeichnen 
nicht  einen  Inhalt  in  dem  realen  Dinge  selbst.  Daß  das  Ding 
in  sich  selbst  endlich  ist,  ist  dadurch  herbeigeführt,  daß  es  ein 
Extrem  hat  Alles  aber,  was  sich  zwischen  zwei  Extremen 
befindet,  ist  notwendigerweise  durch  diese  beiden  Extreme 
begrenzt. 

Aus  allen  diesen  Ausführungen  ist  klar,  daß  eine  erste 
Ursache  existieren  muß.  Selbst  wenn  nämlich  die  Mittelglieder, 
die  zwischen  den  beiden  Extremen  existieren,  eine  unendliche 
Kette  darstellen,  und  wenn  das  Extrem  in  realer  Weise. existiert, 
dann  ist  dieses  Extrem  ein  erstes  Prinzip  für  dasjenige,  das  in 
sich  unendlich  an  Zahl  ist  Dieses  erste  Extrem  ist  eine  Ur* 
Sache,  die  nicht  zugleich  verursacht  ist  Diese  Beweisführung 
kann  in  gleicher  Weise  als  eine  Beweisführung  für  die  Endlich- 
keit aller  Stufen  der  Kategorien  von  Ursachen  gelten,  selbst 
wenn  wir  diesen  Beweis  nur  auf  die  Wirkursachen  anwenden. 
Du  hast  sogar  schon  früher  gesehen,  daß  jedes,  was  eine  Ord- 
nung in  der  Natur  hat,  endlich  ist  Diese  Darstellung  gehörte 
in  die  Naturwissenschaften,  2)  selbst  wenn  sie  dort  wie  ein  Ein- 
dringling wäre  (indem  sie  eigentlich  zur  Metaphysik  gehörte). 

Wir  wollen  nun  dazu  übergehen,  zu  beweisen,  daß  diejenigen 
Ursachen,  die  Teile  von  der  realen  Existenz  des  Dinges  sind 
und  ihm  der  Zeit  nach  vorangehen,  endlich  sind.  Es  sind  die 
Ursachen,  die  als  Materialursachen  (Elemente)  bezeichnet  werden. 
Dieses  sind  solche  Ursachen,  aus  denen  das  Ding  entsteht, 
indem  diese  Materialursache  wesentlicher  Teil  des  Dinges  ist 
Kurz,  unter  dem  Ausdrucke,  ein  Ding  entsteht  und  wird  zu- 
sammengesetzt aus  einem  anderen  Dinge,  versteht  man,  daß  in  die 
reale  Existenz  des  zweiten  ein  reales  Ding  eintritt,  das  zugleich 
dem   ersten  zukam.    Dieses  kann  sich  nun  verhalten  wie  eine 


^)  Die  gezählten  Mengen  können  als  unendlich  betrachtet  werden,  in- 
sofern die  Zählung  immer  fortgestzt  werden  kann.  Das  gezählte  Ding  selbst 
ist  dabei  endlich.  So  gilt  eine  von  beiden  Seiten  begrenzte  Linie  als  un- 
endlich in  dem  Sinn  der  endlosen  Teilbarkeit. 

«)  Naturw.  I.  Teü  m,  7-12. 


Digitized  by 


Googk 


478 

Substanz  und  ein  Wesen,  das  dem  ersten  Ding  eigen  ist,  z.B. 
der  Mensch,  der  im  Jüngling  vorhanden  ist,  wenn  man  sagt, 
daß  aus  dem  Jünglinge  ein  Mann  wurde,  oder  es  verhält  sich 
wie  ein  Teil  der  Substanz,  und  das  Wesen,  das  dem  ersten 
Dinge  zukommt,  wie  die  Materie  im  Wasser,  wenn  man  sagt, 
daß  aus  dem  Wasser  Luft  entsteht  Damit  erfaßt  man  aber 
nicht  den  Begriff  in  der  Objektion  des  Gegners,  sondern  „dieses 
Ding  entsteht  „aus"  jenem  individuellen  pinge",  wenn  es  später 
ist  als  jenes.  Der  Ausdruck  „es  entsteht  aus  ihm"  bedeutet 
nicht  etwas,  das  aus  dem  ersten  Dinge  genommen  ist.  Es  be- 
deutet vielmehr  nur,  daß  es  später  ist  als"  das  Erste. 

Wir  behaupten  also:  wenn  ein  Ding  aus  dem  anderen 
entsteht,  so  bedeutet  das  nicht  nur,  daß  es  nach  dem  anderen 
entsteht,  sondern  daß  in  dem  Zweiten  etwas  Wirkliches  vor- 
handen ist,  das  aus  dem  Ersten  stammt  und  einen  Teil  der 
Substanz  des  Zweiten  ausmacht.  Dieser  Begriff  wird  in  zwei 
verschiedenen  Weisen  gebraucht.  Erstens,  das  Erste  kann  ein 
solches  dadurch  sein,  daß  es  sich  auf  Grund  seiner  Natur  dazu 
hinbewegt,  sich  durch  das  Zweite  zu  vervollkommnen,  wie  z.  B. 
der  Jüngling.  Er  ist  nur  in  dem  Sinne  ein  Jüngling,  als  er 
sich  auf  dem  Entwicklungswege  befindet,  ein  Mann  zu  werden. 
Dadurch  wird  seine  Substanz  nicht  vernichtet;  sie  wird  jedoch 
vervollkommnet;  denn  kein  reales  Ding  hat  er  von  seiner  Sub- 
stanz verloren,  noch  auch  ein  akzidentelles.  Er  büßte  nur  das 
ein,  was  mit  einem  gewissen  Mangel  verbunden  war  und  vor- 
dem noch  in  der  Potenz  existierte,  wenn  man  es  verglich  zur 
letzten  Vollendung  (dem  vollkommenen  Zustande  des  Mannes). 
Die  zweite  Art  und  Weise  besteht  darin,  daß  das  Erste  in  seiner 
Natur  nicht  darauf  angelegt  ist,  daß  es  sich  zum  Zweiten  hin- 
bewegt, wenn  ihm  auch  eine  Disposition  notwendig  anhaftet  für 
die  Aufnahme  der  Wesensform  (dieses  vollendeteren  Zustandes), 
freilich  nicht  auf  Grund  seiner  Wesenheit,  sondern  auf  Grund 
des  Substrates  (des  Trägers)  seiner  Wesenheit  ^  Wenn  aus 
diesem  das  zweite  Ding  entsteht,  so  stammt  es  nicht  aus  der 
Substanz  des  Ersten,  die  bereits  früher  aktuell  existierte.  Es 
stammt  nur  aus  dem  Ersten  in  dem  Sinne,  daß  es  später  als 
das  Erste  existiert.    Es  entsteht  aus  der  Substanz  des  Ersten 


')  Nur  die  Materie  ist  dasjenige,  in  dem  die  Fähigkeit  der  weiteren 
VervoUkommnung  gelegen  ist. 


Digitized  by 


Googk 


479 

und  zwar  aus  einem  Teil  dieser  Substanz,  und  dieser  Teil  ist  der- 
jenige, der  behaftet  ist  mit  einer  Potenzialität.  So  verhält  sich 
das  Wasser.  Es  wird  zu  Luft,  indem  seine  Materie  die  Wesens- 
form des  Wassers  verliert,  und  die  Wesensform  der  Luft  erhält. 
Die  erste  Gruppe  der  Ursachen  verhält  sich,  wie  offenkundig 
ist,  so,  daß  die  Substanz  des  Ersten  in  ihrer  Individualität  im 
Zweiten  erhalten  bleibt.  Die  zweite  Gruppe  der  Ursachen  ver- 
hält sich  (jedoch)  so,  daß  die  Substanz,  die  in  dem  Ersten  ist, 
nicht  in  ihrer  Individualität,  sondern  nur  in  ihren  Teilen  in 
dem  Zweiten  vorhanden  ist.  Die  Substanz  des  Ersten  wird 
dabei  vernichtet. 

In  der  ersten  der  beiden  Gruppen  der  Ursachen  ist  eine 
Substanz  vorhanden,  die  der  Existenz  nach  früher  ist  als  das- 
jenige, was  dem  Sein  nach  auf  diese  Substanz  folgt,  und  die 
zugleich  einen  inneren  Teil  des  zweiten  bildet.  Dieses  zweite 
ist  dabei  dasselbe  Individuum  wie  das  erste,  oder  ein  Teil  von 
ihm  und  zwar  so,  daß  das  zweite  aus  der  Summe  der  ersten 
Substanz  und  einer  Vollkommenheit  besteht,  die  zu  dieser  hin- 
zugefügt wird.  Da  es  nun  in  den  vorhergehenden  Ausführungen 
dargelegt  wurde,  daß  das  endliche  Ding,  das  aktuell  existiert, 
keine  aktuellen  Teile  haben  kann,  die  der  Quantität  oder  dem 
Begriffe  (ratio,  also  den  Qualitäten)  nach  Teile  sind,  die  eine 
unendliche  Reihe  bilden,  so  sind  wir  durch  diese  Ausführungen 
der  Mühe  enthoben,  in  einem  besonderen  Beweise  darzulegen, 
ob  es  möglich  sei,  daß  ein  Substrat  in  der  gleichen  Weise  vor 
einem  anderen  Substrate  in  unendlicher  Reihe  existiert,  oder  ob 
dieses  nicht  möglich  sei. 

In  der  zweiten  Gruppe  der  Ursachen  ist  es  klar,  daß  auch 
dort  die  Endlichkeit  der  Kette  notwendig  ist;  denn  das  erste 
besteht  nur  in  der  Potenz  und  das  zweite  besteht  auf  Grund 
der  Opposition,  die  zwischen  der  Wesensform  des  ersten  und 
der  des  zweiten  ist.  Diese  Opposition  beschränkt  sich  bei  den 
Vorgängen  der  Veränderung  (von  Substanzen)  auf  die  zwei 
Extreme  d.  L  es  verhält  sich  so,  daß  jedes  von  beiden  Substrat 
ist  für  das  andere,  so  daß  also  dieses  erste  vernichtet  wird, 
indem  es  zu  jenem  zweiten  wird,  oder  umgekehrt  jenes  zweite 
vernichtet  wird  und  sich  in  dieses  erste  verwandelt.  Im  eigent- 
lichen Sinne  des  Wortes  geht  also  dann  das  eine  nicht  dem 
Wesen  nach  dem  anderen  voraus.  Ein  Früher  des  einen  inbezug 
auf  das  andere  findet  vielmehr  nur  per  accidens  statt,  d.  h.  wenn 


Digitized  by 


Google 


480 

man  beide  betrachtet  .mit  Rücksicht  auf  ihre  Individualität, 
nicht  mit*  Rücksicht  auf  ihre  Spezies.  Aus  diesen  Gründen  ist 
die  Natur  des  Wassers  nicht  in  höherem  Sinne  Prinzip  für  die 
Luft,  als  umgekehrt  die  Natur  der  Luft  für  das  Wasser.  Beide 
verhalten  sich  vielmehr  wie  korrelative  Dinge  inbezug  auf  das 
Dasein.  Dieses  einzelne  Volumen  Wasser  kann  dabei  jedoch 
Prinzip  sein  für  diesen  bestimmten  Teil  der  Luft.  Wir  leugnen 
femer  nicht,  daß  es  zutrifft,  daß  diese  Einzelwesen  eine  unend- 
liche Kette  ohne  Anfang  und  ohne  Ende  bilden.  Unsere  Dar- 
legungen inbezug  auf  dieses  Problem  erstrecken  sich  nicht  auf 
das,  was  durch  seine  Individualität^  abgesehen  von  seiner  Spezies, 
erstes  Prinzip  ist.  Sie  erstrecken  sich  nicht  auf  das  ens  per 
accidens,  sondern  nur  auf  das,  was  per  se  Prinzip  des  anderen  ist 
Wir  geben  folglich  die  Möglichkeit  zu,  daß  in  den  Ver- 
änderungen der  Materialursache  eine  Ursache  vor  der  anderen 
in  endloser  Reihe  in  der  Vergangenheit  und  Zukunft  existieren 
kann.  Unsere  Aufgabe  besteht  nun  darin,  nachzuweisen,  daß  in 
den  Dingen,  die  ihrem  Wesen  nach  und  per  se*)  Ursachen  sind^ 
keine  unendliche  Kette  statthaben  kann.  Dieses  Verhältnis 
findet  in  der  zweiten  Kategorie  der  Ursachen  statt  Bei  der 
Darlegung  dieser  Verhältnisse  setzen  wir  zugleich  das  in  den 
Naturwissenschaften  (I.  Teil,  I)  Gesagte  voraus.  Die  erste  Kate- 
gorie der  Ursachen  enthält  solche,  die  ihrem  Wesen  nach 
Ursache  sind  d.  h.  Materialursachen,  und  die  sich  nicht  kon- 
vertieren lassen  mit  ihren  Wirkungen  (d.  h.  die  sich  so  verhalten, 
daß  nicht  wiederum  aus  der  Wirkung  die  Ursache  entstehen 
kann,  wie  aus  der  Luft  wiederum  das  Wasser  wird),  so  daß 
dann  also  das  zweite  Ursache  für  das  erste  werden  könnte. 
Das  zweite  besteht  vielmehr  nur  in  der  Vollendung  (ist  also 
letztes  Extrem  des  Werdeprozesses),  und  das  erste  befindet  sich 
nur  in  der  Bewegung  zur  Vollendung.  Trifft  dieses  zu,  dann 
kann  die  Bewegung,  die  zur  Vollendung  führt,  nach  Eintritt 
der  Vollendung  nicht  noch  weiter  bestehen,  wie  es  umgekehrt 
möglich  ist,  daß  die  Vollendung  eintritt  nach  dem  Abschlüsse 
der  Bewegung,  die  zur  Vollendung  führt.  In  diesem  Sinne 
entsteht  ein  Mann  aus  einem  Jünglinge,  nicht  aber  ein  Jüngling 
aus  einem  Manne. 


0  Vgl.  Thomas,  Sum.  theol.  1 46,  2  ad  7. 


Digitized  by 


Googl( 


481 


Zweites  Kapitel. 

Die  Schwierigkeiten,  die  mit  der  genannten  Lehre  verbunden  sind,  und 

ihre  Lösung. 

In  diesem  Beweise  haben  wir  uns  entschlossen,  dasjenige 
zu  betrachten,*)  was  Aristoteles  in  seiner  Metaphysik  erwähnt 
hat,  in  der  Abhandlung,  die  mit  klein  Alpha  bezeichnet  wird 
(S.  993  a  30  bis  995  a  20).2)  Betreffs  dieser  Auseinandersetzungen 
bestehen  verschiedene  Zweifel,  die  wir  hier  darlegen  müssen. 
Sodann  wollen  wir  uns  ausschließlich  mit  ihrer  Lösung  be- 
schäftigen. Man  wendet  gegen  die  Ausführungen  des  Aristoteles 
ein,  daß  er  die  Arten,  wie  ein  Ding  aus  einem  anderen  entsteht, 
nicht  vollständig  aufgezählt  habe.  Denn  er  erwähnt  nur  zwei 
Arten  dieses  Vorganges.  Der  eine  ist  das  Entstehen  eines 
Dinges  aus  einem  anderen,  das  ihm  konträr  gegenübersteht, 
kurz  das  Entstehen,  das  sich  nach  Art  der  Veränderung  voll- 
zieht. Die  zweite  Art  ist  das  Entstehen  eines  Dinges,  das  eine 
Vollendung  erwirbt,  indem  ein  anderes  sich  zu  ihm  hinbewegt, 
und  das  sich  im  Werdeprozesse  befindet  Die  Arten  des  Ent- 
stehens sind  damit  nicht  vollständig  aufgezählt;  denn  alles,  was 
aus  einem  Dinge  entsteht,  wird  zunächst  in  zwei  verschiedenen 
Weisen  betrachtet.  Entweder  besteht  das  erste  Ding,  aus  dem 
das  zweite  wird,  in  sich  als  vollständiges  Wesen  und  verliert 
keinen  Bestandteil  seines  Seins,  noch  geht  es  auch  selbst  zu 
Grunde  —  es  verliert  nur  seine  Disposition  für  das  zweite  und 
das,  was  von  dieser  Disposition  notwendig  abhängt  —  oder  das 
erste  kann  aus  sich  das  zweite  nur  dadurch  entstehen  lassen,  daß 
etwas  von  der  Substanz  des  ersten  ausscheidet.  Die  erste  Gruppe 
verhält  sich  nun  entweder  so,  daß  das  erste  Ding,  aus  dem  das 


*)  Wörtlich:  „ihm  gegenüher  zu  treten". 

»)  Als  Beispiel  des  Werdens  führt  Aristoteles  an  (994  a 3):  „Das 
Fleisch  entsteht  aus  Erde,  die  Erde  aus  Luft,  die  Luft  aus  Feuer.  Diese 
Kette  kann  nicht  ins  Unendliche  weitergehen."  Er  erwähnt  also  nur  das 
Element  des  Werdens  des  Dinges,  nicht  das  seines  „Bestandes",  d.h. 
nicht  das  der  Zusammensetzung.  Man  könnte  deshalb  einwenden:  der  Gottes- 
beweis des  Aristoteles  ist  unvoUständig.  Er  zeigt  nicht,  daß  in  jeder  Kategorie 
der  Ursachen  (Avicenna  stellte  VI,  1  fünf  auf)  das  ire  in  infinitum  unmöglich 
sei  Daher  widmet  Avicenna  diesem  Probleme  zu  Anfang  seiner  Lehre  über 
Gott  eine  so  ausgedehnte  Erörterung. 

Horten,  Du  Bnoh  der  Oenesong  der  Seele.  3X 


Digitized  by 


Googk 


482 

zweite  eatsteht,  nur  disponiert  ist  für  das  zweite.  Aus  diesem 
Zustande  der  Disposition  geht  es  in  den  Zustand  des  Aktuellseins 
in  einem  Augenblicke  und  auf  einmal  über,  ohne  daß  eine  lang- 
same Entwicklung  stattfindet  Oder  das  erste  ist  nur  in  d^ 
Disposition  zum  zweiten,  und  dann  geht  es  zur  Aktualität  über 
durch  eine  kontinuierliche  Bewegung,  die  sich  bewegt  zwischen 
der  reinen  Disposition  und  zwischen  der  reinen  Vollendung. 
In  der  ersten  Art  des  Werdens  tritt  das  Werdende  in  eine 
solche  Beziehung,  daß  es  aus  einem  einzigen  Zustande  entsteht 
So  sagen  wir:  der  Mensch  wird  aus  einem  Unwissenden  betrefe 
dieses  Gegenstandes  zu  einem  Wissenden.  Das  in  der  zwaten 
Art  des  Werdens  entstehende  Ding  wird  dadurch  bezeichnet, 
daß  es  manchmal  aus  einem  gewissen  Zustande  0  durch  einen 
Werdeprozeß  entsteht  So  sagen  wir:  daß  ein  Mann  entsteht 
aus  einem  Junglinge.  Manchmal  entsteht  es  aus  einem  Zustande, 
der  nur  die  Disposition  allein  besitzt  (also  eine  dispositio  remota 
bedeutet).  So  sagen  wir,  aus  dem  Samen  entsteht  der  Mann. 
Der  Ausdruck  Jüngling  bezeichnet  die  Disposition,  die  darauf 
hingeordnet  ist,  daß  sie  ein  Mann  wird.  Dieses  Werden  findet 
statt  in  einer  Aufeinanderfolge  von  Phasen.  Der  Ausdruck 
Same  bezeichnet  dasjenige,  was  disponiert  ist,  dn  Mensch  zu 
werden,  ohne  daß  dabei  die  Bedingung  ausgedrückt  ist,  daß  dieses 
Werden  in  einer  Aufeinanderfolge  von  Phasen  vor  sich  geht*) 
Aristoteles  ließ  nun  in  der  Aufzählung  der  Arten  des 
Werdens  dasjenige  aus  dem  Spiele,  was  das  Werden  einer  Voll- 
endung bedeutet  Das  Werden  wird  also  von  ihm  nicht  in 
Beziehung  gesetzt  zu  der  Bewegung,  die  sich  auf  die  Vollendung 
hinbewegt;  denn  nicht  jeder  Vorgang,  der  in  einem  Übergange 
von  der  reinen  Disposition  zur  Aktualität  besteht,  ist  eine  Ver- 
vollkommnung. Manchmal  hält  z.  B.  die  denkende  Seele  änen 
unrichtigen  Gedanken  für  wahr  und  wird  durch  diesen  als 
denkende  aktualisiert  von  dem  Zustande  der  Potenzialität,  ohne 
daßr  sie  darin  eine  Vervollkommnung  erreicht  Ebensowenig 
geht  dieser  Vorgang  nach  Art  einer  Veränderung  der  Substanz 
vor  sich.  Femer:  aus  den  Elementen  entstehen  die  vergänglichen 


*)  Dieser  beseichnet  eine  Sabstanc,  die  sich  nvr  inbesQg  auf  ihren 
Modns  EU  yerftndern  hat,  am  das  andere  sn  werden. 

V  Die  menschüche  Seele  wird  in  instanti  ton  den  himmliscbep  Mftchten 
in  den  Embryo  eingegossen. 


Digitized  by 


Googl( 


483 

Dinge.  Sie  verwandeln  sich  in  dem  Vorgange  der  Mischung, 
ohne  daß  sie  in  ihren  Wesensformen,  die  ihnen  wesenhaft  sind, 
zu  Grunde  gehen,  wie  du  früher  gesehen  hast  (Naturwissen- 
schaften in.  Teil).  Die  Mischung  besteht  also  in  den  Wesens- 
formen der  Elemente  nicht  dadurch,  daß  das  Kontrarium  der 
Mischung  aufhörte  zu  existieren.  Es  wird  nur  die  Privation 
des  Dinges  vernichtet.  Auch  diese  Art  des  Werdens  ist  ver- 
schieden von  derjenigen  Art,  die  dargestellt  wurde  in  dem 
Beispiele  von  der  Luft,  die  aus  dem  Wasser  entsteht;  denn  die 
Elemente  werden  nicht  in  ihrer  Spezies  in  dem  Vorgange  der 
Mischung  vernichtet.  Sie  verändern  sich  nur  (und  nehmen 
andere  Qualitäten  an).  Diese  Art  des  Werdens  gehört  eben- 
sowenig zu  derjenigen  Kategorie,  die  durch  das  Beispiel  des 
Mannes  dargestellt  wird,  der  aus  dem  Jünglinge  entsteht;  denn 
die  beiden  Extreme  in  diesem  Vorgange  können  nicht  konvertiert 
werden;  noch  auch  entsteht  der  Knabe  dadurch,  daß  der  Mann 
zu  Grunde  geht  In  dem  angeführten  Beispiele  (dem  Entstehen 
der  Körper  aus  Elementen)  ist  jedoch  eine  Konvertierung  der 
beiden  Extreme  möglich.  Wenn  die  Mischung  vernichtet  wird, 
entsteht  also  aus  der  Mischung  ein  selbständiges  Ding,  das  Be- 
standteil der  Mischung  war. 

Femer,  Aristoteles  sprach  nicht  etwa  nur  über  das  reale 
Substrat  als  solches,  sondern  über  das,  was  ausgedrückt  wird 
durch  den  Vorgang  des  Werdens  aus  einem  Dinge.  Dieses 
letztere  kann,  wie  bekannt,  nicht  ausgesagt  werden  von  jeder 
Art,  in  der  ein  Ding  entsteht  und  in  der  es  sich  auf  sein 
Substrat  bezieht;  denn  die  Dispositionen,  aus  denen  das  Ding 
entsteht,  indem  es  sich  vervollkommnet,  haben  keine  besondere 
Bezeichnung,  insofern  sie  erste  Dispositionen  sind,  die  sich  in 
ihrem  Zustande  verändern,  vordem  sie  zur  Aktualität  gelangen. 
Daher  sagt  man  nicht,  daß  das  Ding  aus  diesem  entstehe;  denn 
man  sagt  nicht,  aus  dem  Menschen  entsteht  ein  Mann,  sondern 
aus  dem  Jünglinge.  Mit  Jüngling  bezeichnet  man  ein  Ding, 
insofern  es  im  Sein  unvollkommen  ist;  denn  es  wird  nur  durch 
Veränderungen  vollendet,  die  in  einer  Reihe  von  Phasen  voll- 
zogen werden.  Dieser  Ausdruck  verhält  sich  so,  daß  er  obigen 
Gedanken  (ratio,  Wesenheit)  wachruft.  Der  Gegenstand  verliert 
jedoch  den  bezeichneten  Inhalt  (die  Disposition),  wenn  er  zur 
Aktualität  gelangt.  Diese  Dispositiofi  verhält  sich  wie  folgt 
Wenn  wir  uns  nicht  denken,  daß  sie  ein  r^les  Ding  im  Werde- 

31* 


Digitized  by 


Googk 


484 

gange  verliert  —  dieses  Reale  kam  ihr  zu  auf  Grund  des 
Namens  —  dann  sagen  wir  nicht,  aus  ihr  entstehe  ein  Ding 
(das  Unvollkommene  der  Disposition  muß  verschwinden). 

Daraus  ergibt  sich,  daß  dasjenige,  in  dem  keine  (not- 
wendige) Beziehung  des  Werdenden  zu  seinem  Substrate  (in  der 
Art  einer  Disposition)  ausgedrückt  ist,  nicht  zu  dieser  Gruppe 
von  Ursachen  gehört.  Daraus  ergibt  sich  femer,  daß  es  sich 
um  die  Beziehung  zum  Substrate  handelt,  die  per  accidens 
besteht,  nicht  um  diejenige,  die  per  se  vorhanden  ist;  denn  der 
Knabe  als  solcher  kann  nicht  zum  Manne  werden,  so  daß  er 
also  zu  gleicher  Zeit  Knabe  und  Mann  wäre;  sondern  das 
begriffliche  Wesen  (ratio),  das  in  dem  Namen  „Knabe"  aus- 
gedrückt wird  (die  Disposition),  geht  zu  Grunde,  so  daß  der 
Knabe  zu  einem  Manne  wird.  Das  Werden,  das  sich  vollzieht, 
indem  aus  dem  Knaben  letzthin  ein  Mann  wird,  bezeichnet 
schließlich  nichts  anderes  als  ein  Später.  In  dieser  Weise 
spricht  Aristoteles  nur  von  den  Substraten,  die  sich  per  accidens 
zu  der  aufgenommenen  Form  verhalten.  Femer  ist  es  notwendig, 
daß  in  dem  Werdegange,  in  dem  das  Wasser  zur  Luft  wird,  das 
Wasser  entweder  in  irgendwelcher  Weise  ein  Element  für  die 
Luft  ist  oder  nicht.  Wenn  es  nun  kein  Element  ist,  so  ist  es 
überflüssig,  dasselbe  zu  erwähnen  (denn  es  handelt  sich  in  der 
Darlegung  nur  um  ein  Werden  aus  Elementen).  Ist  es  aber 
ein  Element,  so  gilt  folgendes.  Wenn  die  Luft  durch  (wörtlich: 
in)  die  Qualität  der  Wirkursache  sich  verändert  zu  der  Form 
des  Wassers,  dann  bildet  sie  ein  Element  für  letzteres.  Für 
diesen  Vorgang  ist  es  nicht  erforderlich,  daß  sie  sich  zu  keiner 
anderen  Qualität  verändere,  so  daß  sie  Element  für  ein  anderes 
Ding  wird.  So  kann  sie  sich  z.  B.  in  ihrer  Feuchtigkeit  ver- 
ändern.*) Sie  wird  dann  Element  für  das  Feuer,  ohne  daß  sie 
wiederum  zu  Wasser  (kalt  und  feucht)  werde.  Ebenso  verhält 
sich  sodann  das  Feuer  in  Beziehung  zu  einer  anderen  Qualität, 
die  nicht  derjenigen  gegenübersteht,  die  in  ihm  (dem  Heißen  und 
Trockenen)  vorhanden  ist,  und  in  die  sich  die  Luft  verwandelt 
hatte. 

Daher  gehen  die  Materialursachen  ohne  Ende  weiter,  ohne 
daß  sie  wieder  zu  ihrem  Ausgangspunkt  zurückkehren.    Es  ist 


*)  Verliert  das  heifie  Element  seine  Feuchtigkeit,  dann  wird  es  heifi 
und  trocken,  d.  h.  es  wird  Feuer. 


Digitized  by 


Googk 


485 

also  aus  der  Darlegung  des  Aristoteles  nicht  klar,  daß  die 
werdenden  Dinge  wiederum  zu  ihrem  Ausgangspunkte  not- 
wendigerweise zurückkehren.  Es  ist  vielmehr  klar,  daß  (nur)  die 
Möglichkeit  dieses  Zurückkehrens  besteht,  und  durch  diese  ist  zu- 
gleich die  Möglichkeit  der  endlichen  Zahl  der  Entwickelungsphasen 
bedingt.  Dies  jedoch  ist  nicht  dasjenige,  was  er  beweisen  wilL 
Seine  Thesis  erstreckt  sich  vielmehr  nur  darauf,  zu  beweisen, 
daß  die  Ursachen  notwendig  eine  endliche  Reihe  bilden  müssen. 


Widerlegung  der  angeführten  Schwierigkeiten. 

Wir  wollen  nun  zur  Widerlegung  dieser  Schwierigkeiten 
übergehen  und  daher  behaupten  wir:  die  Darlegung  des  Aristo- 
teles erstreckt  sich  —  so  ist  es  die  am  nächsten  liegende  Auf- 
fassung —  nur  auf  die  ersten  Prinzipien  der  Substanz  als  solcher, 
nicht  insofern  sie  Substrat  für  eine  Substanz  ist,  solange  sie 
nicht  in  ihrer  Substanzialität  ein  selbständiges  Bestehen  hat. 
Ebensowenig  erstreckt  sie  sich  auf  das  das  Substrat  vervoll- 
kommnende Prinzip.  Daher  erstreckt  sich  seine  Abhandlung 
auf  das  Werden  der  Substanz  aus  ihrem  Elemente  oder  aus 
einem  für  sie  bestimmten  Substrate,  sei  es  nun,  daß  dieses 
Werden  vor  sich  geht  nach  der  Art,  wie  irgend  eine  Art 
der  Substanz  absolut  entsteht,  oder  nach  der  Art,  wie  die 
Vollendung  irgend  einer  Art  der  Substanz  wirklich  wird. 
Femer  ist  es  der  Darlegung  des  Aristoteles  näher  liegend, 
daß  sie  nur  über  das  natürliche  Werden,  nicht  über  das  Ent- 
stehen von  Kunstwerken  spricht.  Wenn  es  sich  aber  nun  so 
verhält,  dann  ist  das  Element  wesentlicher  Teil  für  die  Existenz 
des  werdenden  Dinges,  und  ebenso  für  dasjenige,  was  aus  einem 
Elemente  (durch  Zusammensetzung)  entsteht.  Unter  „wesent- 
lich" verstehe  ich  nicht,  daß  das  Ding  notwendig  entsteht,  indem 
das  Zusammengesetzte  aus  ihm  und  zugleich  aus  einem  anderen 
notwendig  zustande  kommt.»)  Denn  dieses  „Notwendige"  und 
„Wesenhafte"  befindet  sich  auch  in  den  Arten  des  Werdens  der 
Elemente,  die  nicht  (per  se)  auf  Grund  ihres  Wesens  erfolgen, 
(sondern  per  accidens).  So  verhält  sich  das  Element  in  dem 
weißen  Körper.    Unter  „wesenhaft"  verstehe  ich  vielmehr,  daß 


1)  In  diesem  Sinne  ist  mit  den  Teilen  zugleich  das  Ganze  notwendig 
gegeben. 


Digitized  by 


Googk 


486 

der  Umstand,  daß  sich  ein  Element  wie  ein  Teil  verhält,  für 
dieses  Element  ein  wesentlich  notwendiger  Zustand  ist.  Infolge- 
dessen wird  das  Element  nicht  zur  aktuellen  Existenz  gebracht, 
es  sei  denn,  daß  es  als  Teil  dieses  bestimmten  Dinges  existiert, 
oder  des  Dinges,  dessen  natürliche  Vollkommenheit  darin  be- 
steht, daß  es  Teil  der  Substanz,  oder  sonst  überhaupt  kein  Teil 
eines  realen  Dinges  sei.  *)  Beide,  dieser  Teil  (erster  oder  zweiter 
Ordnung)  und  das  „Wesenhafte"  (per  se),  verhalten  sich  gleich. 
Jedoch  kann  das  Element  selbständig  bestehen  ohne  jenes  ent- 
standene Ding.  Es  haftet  ihm  sodann  in  zweiter  Linie  als 
Akzidens  an,  daß  es  Teil  eines  zusammengesetzten  Dinges  wird, 
das  aus  ihm,  diesem  Elemente,  und  aus  einem  Akzidens  zu- 
sammengesetzt wird.  Jenes  entstandene  Ding  verleiht  dem 
Elemente  nicht  seinen  Bestand,  noch  vollendet  es  dasselbe  in 
dem,  was  dem  Elemente  seinen  Bestand  verleiht.  Der  Umstand, 
daß  es  Teil  eines  anderen  Dinges  ist,  ist  ihm  daher  wesenhaft 
in  Beziehung  auf  das  Zusammengesetzte;  er  Ist  ihm  aber  nicht 
wesenhaft  in  Beziehung  auf  sich  selbst.  Es  ist  vielmehr  not- 
wendig, daß  das  Element  immer  Teil  des  zusammengesetzten 
Dinges  ist  (wörtlich:  daß  es  nicht  frei  wird  von  dem  Zustande, 
Teil  zu  sein).  Wenn  es  sich  aber  so  verhält,  dann  muß  das 
eine  von  beiden  Dingen  für  das  Substrat  eintreten.  Es  muß 
entweder  durch  dieses  Ding  seinen  Bestand  erhalten,  oder  durch 
ein  anderes,  das  seine  Stelle  vertritt.  Im  letzteren  Falle  ergibt 
sich,  daß  in  dem  entstehenden  Dinge,  bevor  noch  die  entstehende 
Wesensform  in  ihm  wirklich  wurde,  ein  anderes  Ding  vorhanden 
war,  das  die  Stelle  dieser  Wesensform  vertrat,  um  dem  Dinge 
seinen  Bestand  zu  verleihen.  Die  Wesensform  kann  sich  jedoch 
nicht  mit  diesem  zugleich  vereinigen.  Daher  entsteht  also  die 
Substanz  aus  einem  Elemente  und  aus  diesem  anderen  Dinge. 
Wenn  nun  dieses  zweite  wirklich  wird,  dann  geht  zugleich  jene 
zusammengesetzte  Substanz  zu  Grunde. 

Dieses  ist  eine  der  beiden  Arten.  Es  kann  sodann  noch  der 
Fall  eintreten,  daß  das  Element  nicht  etwa  durch  dieses  Ding,  das 
wirklich  wurde,  besteht,  sondern  daß  es  durch  eine  Wesensform,  die 
noch  nicht  vollendet  ist,  wird,  und  durch  das,  was  ihr  von  Natur 
zukommt  (die  Materie  ohne  Form).  Die  Form  ist  jedoch  nur 
dadurch  wirklich  geworden,  daß  sie  der  Materie  den  Bestand 

')  Im  letzten  FaUe  ist  es  pars  partLs. 


Digitized  by 


Googk 


487 

verlieh.  Dasjenige  also,  was  für  diese  Wesensform  naturnot- 
wendig Endzweck  ist,  ist  dadurch  nicht  wirklich  geworden.  Die 
Substanz  bestand  also  bereits  aktuell,  jedoch  wurde  sie  nicht 
durch  Naturnotwendigkeit^)  vollkommen.  Wenn  aber  diese  Voll- 
kommenheit für  die  Substanz  eine  naturgemäße  Vollkommenheit 
ist,  und  wenn  zugleich  die  natürliche  Potenz  Prinzip  der  Be- 
wegung ist,  die  zu  dieser  Vollkommenheit,  die  naturgemäß  ist, 
hinführt,  so  ergibt  sich  denknotwendig,  daß  dieses  Ding  in  seiner 
Vollkommenheit^  die  ihm  naturgemäß  zukommt,  keine  Zeit  hin- 
durch existiert,  ohne  daß  ihm  ein  Hindernis  entgegentritt. 
Dieses  ist  etwas,  das  durch  seine  Naturanlage  sich  nicht  zu 
dieser  Vollkommenheit  hin  bewegt  (und  dadurch  die  Bewegung 
des  ersten  hindert).  Daraus  ergibt  sich  denknotwendig  in  dieser 
Kategorie  des  Werdens,  daß  das  disponierte  Ding  sich  zur  Voll- 
kommenheit (durch  Überwindung  von  Hindernissen)  hinbewegt. 

Daraus  ist  also  klar,  daß  alle  Arten  des  Werdens  einer 
Substanz,  die  in  diese  Untersuchung  gehören,  zu  der  einen  von 
den  beiden  Kategorien  notwendigerweise  zu  rechnen  sind.  Daher 
verhalten  sich  alle  Arten  des  Werdens  eines  Dinges  aus  einem 
anderen  so,  daß  jenes  aufnehmende  Prinzip  in  beiden  Termini 
des  Werdens  ein  wesentlicher  Teil  ist,  wenn  man  es  sowohl  in 
sich  selbst  als  auch  in  Beziehung  zum  Zusammengesetzten 
betrachtet 

Man  kann  demnach  nicht  die  Schwierigkeit  machen,  die 
Naturkraft  könne  sich  eventuell  aus  dem  Grunde  nicht  zu  ihrer 
Vollkommenheit  hinbewegen,  weil  ihr  eine  äußere  Hilfe  (ratio) 
fehlt,  oder  weil  ihr  ein  hinderndes  Moment  entgegensteht.  Bei- 
spiel für  das  erste  ist  der  Mangel  des  Sonnenlichtes  für  die 
Keime  und  die  Samen.  Beispiel  für  das  zweite  sind  die  Krank- 
heiten, die  den  Körper  liinschwinden  lassen.  Die  Antwort  auf 
diese  Dinge  besteht  darin,  daß  im  angenommenen  Falle  das 
Ding  also  nicht  in  vollkommener  Weise  disponiert  ist,  so  daß 
es  keiner  Veränderung  mehr  bedürfte,  damit  es  die  Vollendung 
der  natürlichen  Tätigkeit  in  sich  aufnehme.  In  der  ersten 
Kategorie  ist  dafür  das  Beispiel,  daß  das  werdende  Ding  erfordert, 
daß  es  sich  zuerst  verändere  von  dem  Zustande  der  Disposi- 
tion z.  B.  des  Knaben  (im  Verhältnis  zum  Manne).  Beispiel 
für  d^  zweite  ist,  daß  es  sich  trenne   von  der  ungesunden 


1)  Sie  mnfi  yollendet  werden  durch  eine  äußere  Einwirkung. 


Digitized  by 


Googl( 


488 

Mischung  des  Körpers. ')  Die  Darlegung  des  Aristoteles  erstr<eckt 
sich  nicht  auf  dasjenige,  was  sich  notwendigerweise  aktuell  be- 
wegt, sondern  nur  auf  dasjenige,  was  sich  bewegt,  wenn  kein 
seine  Natur  Hinderndes  entgegensteht,  und  wenn  zugleich  die 
natürlichen  Ursachen,  die  die  Bewegung  durch  ihre  Naturanlage 
unterstützen,  vorhanden  sind.  Dann  bewegt  sich  das  Ding 
seiner  Vollendung  entgegen  und  bewegt  sich  in  einer  Reihe  von 
aufeinanderfolgenden  Phasen. 

So  ist  es  also  klar,  daß  die  übrigen  Arten  des  Werdens 
in  dieser  Untersuchung  nicht  von  Aristoteles  beabsichtigt 
werden.  Er  will  nur  die  erwähnte  Art  nennen.  Zudem  ist  diese 
Betrachtungsweise  und  Thesis  für  die  übrigen  Arten  der  Ur- 
sachen unrichtig;  denn  in  einem  Werden,  das  nicht  die  Substanz 
betrifft,  ist  folgendes  möglich.  Wenn  wir  ein  reales  Substrat 
als  primäres  zu  Grunde  legen,  so  kann  es  immerfort  neue 
Dispositionen  in  sich  aufnehmen  für  die  Aufnahme  von  akziden- 
tellen Verhältnissen,  ohne  daß  diese  Aufeinanderfolge  zu  einem 
Ende  gelangen  müßte.  So  verhält  sich  das  Holz.  Denn  so  oft 
du  ihm  eine  gewisse  Gestalt  verliehen  hast,  ist  es  durch  dieselbe 
für  die  Aufnahme  irgend  eines  Momentes  disponiert.  Ist  nun 
die  Disposition  aktualisiert  worden,  so  ist  es  zugleich  disponiert 
für  etwas  anderes.  Ebenso  verhält  sich  die  Seele  zu  dem  Er- 
kennen der  Begriffe.  Die  natürlichen  Veränderungen  können 
ohne  Schwierigkeit  in  dieser  Weise  (in  einer  unendlichen  Kette 
von  Veränderungen)  vor  sich  gehen. 

Was  nun  die  erwähnte  Schwierigkeit  betreffs  des  Entstehens 
der  Dinge  aus  den  (zusammensetzenden)  Elementen  angeht,  und 
daß  diese  Art  des  Werdens  nicht  zu  einer  der  beiden  (von 
Aristoteles  aufgezählten)  Kategorien  gehört,  so  läßt  sich  diese 
Schwierigkeit  lösen.  Die  Lösung  derselben  ist  klar  aus  dem, 
was  bereits  dargelegt  wurde,  nämlich,  daß  die  Substanz,  wenn 
sie  in  sich  allein  bestehend  aufgefaßt  wird,  nicht  für  die  Auf- 
nahme der  Wesensform  disponiert  ist  z.  B.  für  die  Wesensform 
des  Tieres  und  der  Pflanzen.  Die  Disposition  für  die  Aufnahme 
dieser  Wesensform  kommt  dem  Elemente  vielmehr  nur  zu  durch 
die  Qualität,  die  in  ihm  vermöge  der  Mischung  eintritt  Die 
Mischung  aber  bringt  in  ihm  notwendigerweise  die  Umwandlung 
dessen  hervor,  was  in  einem  Naturdinge  (als  agens)  für  diese 


>)  Der  Abschnitt  von  „besteht  darin,  daß"  befindet  sich  nur  in  Cod.  a. 


Digitized  by 


Googl( 


489 

Mischung  bestimmt  ist,  selbst  dann,  wenn  dieses  nicht  (dem 
entstehenden  Dinge)  den  Bestand  verleiht  Es  verhält  sich 
dann  zu  der  Wesensform  der  Mischung,  wie  die  Kategorie  des 
Entstehens  derjenigen  Dinge,  die  durch  Veränderung  entstehen. 
Entsteht  nun  in  den  Dingen  die  Mischung,  dann  tritt  auch  die 
Aufnahmefähigkeit  für  die  Wesensform  des  Tieres  in  ihr  auf 
als  Vollendung  für  diese  Mischung.  Durch  Vermittlung  der- 
selben bewegt  sich  die  Naturanlage  der  Vollendung  entgegen. 
Diese  verhält  sich  dann  zur  Wesensfonn  des  Tieres  ebenso,  wie 
der  Knabe  sich  verhält  zum  Manne.*)  Daher  wird  die  Wesens- 
form des  Tieres  nicht  vernichtet,  damit  die  reine  Mischung  als 
solche  (die  der  leblosen  Elemente)  entstehe,  ebensowenig  wie  aus 
dem  Manne  ein  Knabe  entsteht  Die  Mischung  wird  vielmehr 
vernichtet,  so  daß  aus  ihr  der  positive  Bestand  der  einfachen 
Wesensform  entsteht,  wie  das  Wasser  sich  in  Luft  verwandelt. 
Das  animal  ist  nicht  Element  für  die  (Zusammensetzung  der) 
Substanz  der  anderen  Elemente.  Das  Tier  verändert  sich 
vielmehr  (durch  Verlust  der  Wesensform)  in  diese,  insofern  die- 
selben einfache  Substanzen  (und  Elemente  der  Zusammensetzung) 
sind.  Die  Mischung  (der  zusammengesetzten  Körper)  und  die 
einfachen  Substanzen  wechseln  sich  also  im  Werden  ab  in  dem- 
selben Substrate.  Die  Einfachheit  gibt  den  Substanzen  der 
Elemente  nicht  ihren  Bestand.  Die  Natur  eines  jeden  einzelnen 
der  einfachen  Elemente  wird  jedoch  vervollkommnet,  insofern 
es  einfaches  Element  ist  Daher  ist  das  Feuer  ein  reines  Feuer 
in  der  Qualität,  die  in  dem  Feuer  vorhanden  ist  und  seiner 
Wesensform  notwendig  anhaftet  Ebenso  verhält  sich  das  Wasser 
und  jedes  einzelne  der  Elemente.  Das  Entstehen  des  Tieres  ist 
daher  abhängig  von  zwei  Arten  des  Werdens.  Für  jede  einzelne 
Art  besteht  ein  besonderes  Gesetz,  das  ihr,  weil  jedes  Werden 
eine  endliche  Kette  von  Phasen  bildet,  notwendig  anhaftet  Es 
ist  zugleich  auch  diese  Art  des  Werdens  ein  Teil  der  beiden 
von  Aristoteles  erwähnten  Arten. 

Was  nun  die  Schwierigkeit  angeht,  die  dadurch  entsteht, 
daß  Aristoteles  nur  diejenigen  Elemente  in  Rücksicht  zog,  die 
die  Gewohnheit  der  Schulen  als  solche  bezeichnete,  aus  denen 
ein  Ding  entsteht,  ohne  daß  er  andere  erwähnte,  die  die  Ge- 


*)  Die  unbelebte  Natur  ist  auf  eine  weitere  Vollendung  hingeordnet, 
die  Form  des  Lebewesens. 


Digitized  by 


Google 


490 

wohnheit  der  Schulen  außer  acht  ließ,  so  läßt  sich  diese  Schwierig- 
keit in  folgender  Weise  lösen.  Die  Gesetzmäßigkeit  der  Diage 
wird  durch  die  Terminologie  nicht  verändert.  Wir  müssen  viel- 
mehr die  Aufmerksamkeit  auf  den  Begriff  (des  Terminus)  richten. 
Daher  wollen  wir  dieses  ausführen,  um  die  Verhältnisse  allmfthlig 
aufzuhellen.  Demgemäß  lehren  wir,  daß  das  Element  oder  dsus 
reale  Substrat,  aus  dem  das  Ding  entsteht,  dem  Dinge  manchnial 
der  Zeit  nach  vorausgeht.  Dann  aber  besitzt  es,  insofern  als 
es  ihm  vorausgeht,  eine  gewisse  Eigentümlichkeit,  die  nicht  in 
ihm  bestehen  bleibt,  wenn  das  Ding  wirklich  wird.  Diese  Eigen- 
tümlichkeit ist  die  Disposition  und  zwar  die  intensive  Disposition. 
Die  Substanz  entsteht  aus  diesem  Elemente  auf  Grund  seiner 
Disposition  für  die  Aufnahme  seiner  Wesensform.  Hört  nun 
diese  Disposition  dadurch,  daß  sie  zur  Aktualität  übergeht,  auf, 
dann  gelangt  die  Substanz  zu  ihrer  Existenz.  Es  ist  nun  aber 
unmöglich,  zu  sagen,  sie  sei  aus  der  Disposition  zusammen- 
gesetzt. Besteht  daher  keine  Bezeichnung  für  das  Ding,  in- 
sofern es  disponiert  ist,  sondern  bezeichnet  man  dasselbe  nur 
mit  dem  Worte,  das  sein  Wesen  und  es  selbst  wiedergibt  — 
dieses  Wort  kommt  dem  Dinge  auch  dann  zu,  wenn  es  sich  so 
verhält,  daß  jene  Substanz  nicht  aus  ihm  entstehen  kann  — 
dann  ist  dieses  nicht  die  bestimmte  Bezeichnung,  der  eigentliche 
Terminus,  von  dessen  Begriffe  das  Werden  abhängt  Wenn  also 
das  Ding,  insofern  es  in  der  Disposition  für  ein  anderes  ist, 
keinen  besonderen  Terminus  besitzt,  dann  kann  es  nicht  in 
präziser  Weise  bezeichnet  werden,  selbst  wenn  der  (durch  das 
nichtpräzise  Wort  ausgedrückte)  Gedanke  (ratio)  in  der  Wirk- 
lichkeit existiert.  Ist  nun  der  Begriff,  der  dem  bezeichneten 
G^enstande  anhaftet,  in  einem  durch  den  undeutlichen  Ausdruck 
nicht  bezeichneten  Dinge  vorhanden,0  so  gilt  das  Gesetz  für 
das  erste  auch  als  Gesetz  für  das  andere,  selbst  wenn  das 
Nichtvorhandensein  der  Bezeichnung  (für  das  andere)  dem  ent- 
gegensteht, daß  dem  Ausdrucke  nach  die  Gesetze  beider 
übereinstimmen. 

Wenn  wir  die  Art  der  Prädikation  in  Rücksicht  ziehen, 
die  jenem  Terminus  zukommt,  wenn  er  Subjekt  ist,  so  können 

>)  Die  bezeichnete  Sache  hat  also  einen  weiteren  Umfang  als  der  an- 
eigentliche Terminus«  Der  Gedanke  des  Aristoteles  umfaßt  also  aUe  Arten 
des  Werdens,  wenn  auch  der  Wortlaut  nur  einige  bezeichnet  —  eine  wohl- 
wollende Exegese  I 


Digitized  by 


Googk 


491 

wir  sagen:  jedes  Ding  entsteht  aus  dem  Elemente,  das  ihm  zu- 
kommt. Ferner  können  wir  sagen:  die  wissende  Seele  entsteht  aus 
einer  unwissenden,  d.  h.  aus  einer,  die  für  die  Aufnahme  des 
Wissens  disponiert  ist.  Man  müßte  denn  den  Ausdruck  „Werden  " 
nicht  anwenden  dürfen  auf  ein  anderes  Werden,  als  das  der 
Substanz.  Dann  könnte  man  nicht  betreffs  der  mit  Wissen 
ausgestatteten  Seele  sagen,  sie  sei  „geworden"  aus  einer  Seele, 
die  für  das  Wissen  nur  disponiert  war.  Betreffs  des  Werdens 
der  Substanzen  ist  jedoch  dieser  Ausdruck  möglich.  Unsere 
Diskussion  erstreckt  sich  aber  nur  auf  letztere,  indem  dieses 
Gesetz  des  Werdens  sowohl  in  den  Substanzen  selbst,  als  auch 
in  den  Substanzen  in  Verbindung  mit  ihren  Zuständen,  nicht 
verschieden  ist. 

Was  nun  die  Schwierigkeit  angeht,  daß  diese  Art  des 
Werdens  aus  einem  Dinge  nur  ein  Werden  nach  einem  Dinge 
bedeutet,  so  ist  dieselbe  nicht  zutreffend.  Wenn  man  den  Begriff 
„nach"  in  irgendwelcher  Bedeutung  versteht,  dann  ergibt  sich 
nicht  das  Werden,  über  das  wir  verhandeln.  Denn  in  jedem 
Werden,  das  von  einem  Terminus  ausgeht,  ist  es  unumgänglich 
notwendig,  daß  ein  Ding  entsteht  nach  dem  Dinge,  aus  dem 
es  entsteht.  Dasjenige,  was  Aristoteles  als  unrichtig  abweist 
und  was  er  nicht  annimmt,  ist  dieses,  daß  in  dem  Vorgange  kein 
anderer  Begriff,  als  der  des  Später  vorhanden  sei,  wie  es  auch 
die  Beispiele  darlegen,  die  wir  anführten  und  erklärten.  Wird 
nun  ein  Ding  aus  einem  anderen  in  dem  Sinne,  daß  es  nach 
dem  anderen  entsteht,  und  in  dem  Sinne,  daß  dem  entstehenden 
Dinge  aus  der  Substanz  des  ersten  etwas  verbleibt,  das  bereits 
ursprünglich  existierte  und  das  zugleich  Teil  der  Substanz  des 
zweiten  ist,  dann  ist  dieses  „Werden"  aus  einem  Dinge  nicht 
zu  verstehen  in  der  Bedeutung  des  Später  allein,  und  über 
dieses  Werden  verhandeln  wir  hier. 

Was  nun  die  Schwierigkeit  angeht,  daß  Aristoteles  über 
das  Element  spricht  das  per  accidens  dem  Dinge  zukommt,  ohne 
von  dem  zu  sprechen,  das  per  se  dem  werdenden  Dinge  eigen 
ist,  so  ist  der  Irrtum  dieses  Einwandes  dadurch  aufgetreten,  daß 
das  Element  für  das  Werden  des  Dinges  nicht  zu  gleicher  Zeit 
individuell  dasselbe  ist,  wie  das  Element  für  den  Bestand  des 
Dinges  (wenigstens)  in  der  logischen  Betrachtung,,  selbst  wenn 
auch  dieses  Element  seinem  Wesen  nach  dasselbe  ist;  denn  das- 
jenige, was  per  se  Element  Ist  für  das  Werden  des  Dinges,  ist 


Digitized  by 


Googk 


492 

ein  Wesen,  das  verbunden  ist  mit  Potenzialitat.  Das  Element 
aber,  das  seinem  Wesen  nach  Element  ist  für  das  Bestehen  des 
Dinges,  ist  ein  Wesen,  das  verbunden  ist  mit  Aktualität.  Beide 
verhalten  sich  so,  als  ob  jedes  einzelne  per  accidens  Element 
wäre  für  das,  wofür  es  nicht  per  se  Element  istJ)  Die  Diskussion 
erstreckt  sich  nun  aber  auf  dasjenige  Element,  das  auf  das 
Werden  des  Dinges  gerichtet  ist;  sie  handelt  nicht  von  dem 
anderen,  das  dem  Dinge  das  Bestehen  verleiht  (wie  die  Form). 
Aristoteles  wählte  also  das  Element,  das  ein  solches  des  Wer- 
dens ist,  als  ein  per  accidens  erstes  Prinzip  für  das  Bestehen; 
denn  der  Knabe  ist  kein  Bestandteil  für  das  Bestehen  des 
Mannes.  Ebensowenig  leitet  sich  aus  ihm  (wie  aus  dem  zu- 
sammensetzenden Teile)  das  Bestehen  des  Mannes  ab.  Es  ist 
vielmehr  Element  für  das  Werden  des  Mannes  und  aus  ihm, 
wie  aus  einem  Elemente  wird  der  Mann  (wie  Luft  aus  Wasser). 
Wenn  man  die  Schwierigkeit  erhebt,  Aristoteles  spreche 
nur  über  die  Prinzipien  der  Substanz  im  allgemeinen;  weshalb 
handele  er  dann  nicht  von  demjenigen  Elemente,  das  der  Sub- 
stanz zu  ihrem  Bestehen  notwendig  ist,  wie  der  Ort  des 
Himmels,  und  weshalb  beschränkte  er  sich  auf  das  Element,  das 
der  Substanz  zukommt  in  ihrem  Werden?  Darauf  ist  zu  ant- 
worten: Aristoteles  tat  dies,  weil  das  Element  des  Bestehens 
des  Dinges  einen  Teil  des  Dinges  bildet,  und  dieser  besteht 
gleichzeitig  mit  dem  Dinge  aktuell.  Daß  die  real  und  aktuell 
existierenden  Dinge  eine  endliche  Kette  bilden  in  einem  real 
und  aktuell  existierenden,  endlichen  Dinge,  ist  nicht  zweifel- 
haft 2)  Denn  derjenige,  der  dazu  gelangt  ist,  die  Metaphysik 
kennen  zu  lernen  und  der  dasjenige  betrachtet,  was  bereits 
dargelegt  wurde,  stellt  sich  nur  noch  das  eine  Problem: 
ob  die  Endlichkeit  oder  Unendlichkeit  der  Ursachen,  möglich 
sei  betreffs  der  Elemente,  die  der  Potenz  nach  existieren,  indem 
eines  auf  das  andere  in  unendlicher  Kett«  folgen  würde  ^)  und 


')  Das  Element  für  das  Werden  ist  per  accidens  Element  für  das  Be- 
stehen, und  das  Element  für  das  Bestehen  ist  per  accidens  Element  für  das 
Werden. 

*)  An  diesem  Beispiele  will  Aristoteles  die  Endlichkeit  der  Ursachen 
beweisen. 

•)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  994 al:  iXXa  fi^v  Sri  y  ioxlv  i^xi  '^^  ^^ 
ovx  Sn€iQa  xa  afzia  x<Sv  Svrwv,  ovz  elg  Bv^vcoQiav  ovt€  xax  eiÖoqf  ö^Xov, 
ovn.  yoQ    wq  i^  üX^q  xo^  ix  xoi'ös  övvaxov  Uvai  elq  oTieig^v,  olov  ai^xa 


Digitized  by 


Googk 


493 

indem  sie  sich  nach  ihrer  größeren  oder  geringeren  Entfernung 
(von  einem  bestimmten  Prinzipe  gemessen)  unterschieden. 

Was  nun  die  andere  Schwierigkeit  angeht,  die  von  dem 
Wasser  und  der  Luft  handelt,  so  wird  sie  ohne  Bedenken  gelöst 
für  jeden,  der  über  das  nachdenkt,  was  wir  betreffs  der  Elemente 
gesagt  haben,  als  wir  über  das  Entstehen  und  Vergehen  sprachen 
(Naturwissenschaften  m.  Teil);  denn  die  jetzige  Diskussion  er- 
streckt sich  auf  das  Werden  des  Dinges  aus  einem  anderen, 
das  per  se  erfolgt.  Jede  Veränderung,  die  von  einem  Dinge 
per  se  ausgeht,  bewegt  sich  in  einer  und  derselben  Kontrarietät 
und  bewegt  sich  ausschließlich  in  ihr.  Dasjenige,  aus  dem 
wie  aus  einem  Elemente  das  Ding  per  se  entsteht,  bildet  not- 
wendigerweise die  Grenze,  zu  der  die  Vernichtung  (und  Auflösung) 
des  Dinges  gelangt.  In  den  anderen  Arten  der  Veränderung 
verhält  es  sich  geradeso,  und  daher  ist  die  Summe  aller  Ver- 
änderungen von  Dingen  in  bestimmte  Grenzen  eingeschlossen. 
Jede  Gruppe  der  sich  verändernden  Dinge  ist  umgrenzt  von 
zwei  Extremen,  die  sich  so  verhalten,  daß  man  durch  Vermitt- 
lung des  einen  wiederum  zu  dem  anderen  zurückkehrt 

Dadurch  sind  alle  erwähnten  Schwierigkeiten  gelöst. 


Drittes  Kapitel. 

Der  Beweis  für  die  Endlichl(eit  der  Zwecicursachen  und  formalen  Ur- 
sachen. Der  Beweis  für  die  Existenz  des  absolut  ersten  Prinzipes. 
Die  erste  Ursache  wird  absolut  und  in  gewisser  Beziehung  aufgefaßt 
Der  Beweis  für  die  Thesis:  was  absolut  erste  Ursache  ist,  ist  auch 
Ursache  fUr  alle  übrigen  Ursachen. 

Was  nun  die  Endlichkeit  der  Zweckursachen  angeht,  so 
ist  diese  dir  einleuchtend  geworden  an  dem  Orte,  an  dem  wir 
die  Existenz   der  Zweckursachen  nachgewiesen  haben.  0     Wir 


/4kv  ix  yfj<:,  yHv  fi^  äiQog,  Ai^a  ö^ix  TtvQoq,  xal  rolhro  firj  JazaoS^ai.  oite  8&€v 
37  OQXV  ^5s  xivi^aewq^  olov  zov  fikv  ccvS^Qwnov  vno  roi>  d^gog  xivij&fjvai,  xo^tov 
d*  imo  xo^  ^Xlov,  xov  Öh  ^Xiov  ino  xoC  velxovg,  xal  xovxov  fxtjÖhv  slvai  TiigaQ. 
ifiolioq  6h  ovöh  xd  ov  tvsxa  slg  ocneiQOv  olov  xe  Uvai,  ßaöiaiv  fihv  vyielaq 
?v£xsv,  xavxTjv  <f  evöaifioviaq,  ri}v  if  svöaifioviav  aXXov  xal  oSxofq  del  £V.o 
äXXov  ?vex€v  elvai,  xal  inl  xiSv  xl  ijv  elvai  f  oHJavxafq, 
»)  Abh.  VI  1,  4  und  5. 


Digitized  by 


Google  I 


494 

haben  dort  auch  die  Schwierigkeiten  betreffs  ihrer  eriedigt 
Weist  man  die  Existenz  der  Zweckursachen  nach^  dann  ist 
damit  auch  zugleich  ihre  Endlichkeit  nachgewiesen.  Der 
Grund  dafür  ist  der,  daß  diejenige  Ursache,  die  die  Vollendung 
des  Dinges  bedeutet  (das  Ziel),  so  beschaffen  ist,  daß  alle  übrigen 
Ursachen  ihretwegen  vorhanden  sind.  Sie  aber  selbst  ist  nicht 
auf  ein  anderes  Ding  wie  auf  einen  Zweck  gerichtet.  Gäbe  es 
hinter  dieser  Ursache  der  Vollendung  des  Dinges  eine  neue  Ur- 
sache der  Vollendung  (ein  weiteres  „letztes"  Ziel),  dann  wäre 
die  erste  Ursache  wegen  der  zweiten  vorhanden.  Daher  also 
wäre  die  erste  Ursache  keine  solche,  die  die  Vollendung  des 
Dinges  herbeiführte.  Als  so  beschaffen  (d.  h.^'als  letzte  Zweek- 
ursache)  wurde  sie  jedoch  vorausgesetzt.  Wenn  dieses  sich  so 
verhält,  dann  entfernt  derjenige,  der  die  Möglichkeit  zugibt, 
daß  die  causae  perfectionis  (die  Zweckursachen)  sich  in  einer 
unendlichen  Kette  aufeinander  folgen  können,  dieselben  voll- 
ständig (hebt  sie  auf)  und  vernichtet  die  Natur  des  Guten,  die 
dargestellt  wird  durch  die  causa  perfectionis;  denn  das  Gute  ist 
dasjenige,  das  seiner  selbst  wegen  erstrebt  wird.  Die  übrigen 
Dinge  aber  werden  dieses  Guten  wegen  erstrebt»)  Wenn  also 
das  Gute  eines  anderen  wegen  erstrebt  würde,  dann  wäre  es 
ein  Nützliches,  kein  Gutes  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes. 
Aus  der  Behauptung,  die  Ursachen  der  Vollkommenheit 
des  Dinges  bilden  eine  unendliche  Kette,  ist  es  einleuchtend, 
daß  die  causae  perfectionis  aufgehoben  (negiert)  werden.  Denn 
wer  zugesteht,  daß  hinter  jeder  Vollendung*)  eine  neue  Voll- 
endung möglich  sei,  der  hebt  damit  die  Tätigkeit  des  Verstandes 
aul  Es  ist  nämlich  in  sich  selbst  klar,  daß  der  verständig 
Handelnde  nur  deshalb  das  vollzieht,  was  er  durch  seinen  Ver- 
stand vollziehen  will,  weil  er  einen  bestimmten  Zweck  erstrebt 
oder  ein  letztes  Ziel.  3)  Bewirkt  er  dasjenige,  was  von  uns  ab- 
hängig ist  (und  das  in  unserer  Macht  steht,  im  Gregensatze  zu 
den  Dingen,  die  durch  die  Naturgesetze  bestimmt  werden)*,  und 
vollzieht  er  eine  Handlung,  ohne  daß  er  dabei  einen  Zweck 
verfolgt,    der  vernünftig  ist,  so  sagt  man,  daß  er  zwecklos 


0  Wörtlich  nach  Arist.,  Eth.  109ia3:   xo  iyec^ov  ist  identisch  mit 

')  „VoUendung"  ist  identisch  mit  „letstem  Ziele^. 

»)  Vgl.  Arist,  Ph.  197  a 7;  Meteph.  1065  a32;  Bth.  1148  a 9. 


Digitized  by 


Google  / 


495 

und  airfs  Geratewohl  handele.  Er  handelt  nicht  als  verständiger 
Mensdi,  sondern  als  animal  (seine  Handlung  ist  eine  actio 
hominis,  nicht  eine  actio  humana).  Wenn  sich  dieses  nun  so 
verhält,  dann  sind  diejenigen  Dinge,  die  der  Verständige  als 
Verständiger  bewirkt,  durch  die  Bestimmung  der  Endziele,  die 
er  beabsichtigt,  und  zwar  solcher,  die  er  ihrer  selbst  wegen  be- 
absichtigt, fest  umgrenzt.  Wenn  also  nun  die  vernünftige  Hand- 
lung nur  dann  zustande  kommt,  wenn  sie  durch  ein  Endziel 
bestimmt  und  umgrenzt  ist,  und  wenn  diese  Bestimmung  der 
vernünftigen  Handlung  nicht  zukommt,  insofern  sie  eine  ver- 
nünftige Handlung  ist,  sondern  insofern  sie  eine  Handlung  ist, 
durch  die  der  Handelnde  einen  letzten  Zweck  ei-strebt,  so  muß 
also  die  Handlung  vernünftig  sein,  insofern  sie  einen  letzten 
Zweck  erstrebt»)  Der  Umstand  nun,  daß  die  Handlung  einen 
letzten  Zweck  hat,  verbietet  es,  daß  jeder  Zweck  wiederum  einen 
weiter  zurückliegenden  Zweck  verfolge,  und  daher  ist  es  klar, 
daß  die  Schwierigkeit  des  Objizienten  nicht  bestehen  kann,  die 
besagt,  daß  jedes  Endziel  gerichtet  sei  auf  ein  weiter  zurück- 
liegendes Endziel 

Die  natumotwendigen  und  animalischen  Handlungen  sind 
ebenfalls,  wie  es  an  anderen  Orten  dargelegt  wurde, ^)  auf  End- 
ziele hingerichtet.  Was  nun  die  formale  Ursache  eines  Dinges 
angeht,  so  wird  bald  klar,  daß  sie  in  ihrer  Anzahl  begrenzt 
sein  muß  durch  das,  was  in  der  Logik  bereits  ausgeführt  wurde 
(Logik  V.  Teil  I,  4  und  n,  1)  und  durch  das,  was  wir  betreffs  der 
Endlichkeit  der  realen  Teile  eines  Dinges,  die  aktuell  in  einer 
natürlichen  Ordnung  existieren,  in  der  Naturwissenschaft  dar- 
gelegt haben  (L  Teil  m,  3.  7.  8.  9. 12).  Die  vollendete  Wesens- 
form eines  Dinges  ist  nur  eine.  Die  Vielheit  findet  sich  in 
dieser  Vollendung  der  Form  vor,  sowohl  in  universellem  als 
auch  in  partikulärem  Sinne.  Die  Universalität  und  Partikularität 
erfordert  eine  naturgemäße  Ordnung  (von  Einheiten).  Alles, 
was  aber  eine  naturgemäße  Ordnung  hat,  ist  auch  als  endlich 
bekannt.  Mit  diesen  Betrachtungen  ist  ein  hinreichender  Be- 
weis und  eine  hinreichende  Sicherheit  gegeben,  so  daß  man  eine 
weitere  Darlegung  entbehren  kann. 


*)  Es  ist  Sache  des  Verstandes,  einen  letzten  Zweck  zu  erfassen  und 
die  media  auf  diesen  hinzuordnen. 

«)  Naturw.  VI.  Teü,  I,  4,  n,  1,  IV  ganz. 


Digitized  by 


Google 


496 

Daher  beginnen  wir  und  lehren:  wenn  wir  sagen,  „das 
erste  Prinzip  als  Wirkursache"  oder  vielmehr  „das  erste  Prinzip 
im  allgemeinen  Sinne",  so  ist  damit  schon  ausgedrückt,  daß  es 
ein  einziges  sein  muß.  Wenn  wir  aber  sagen,  „eine  erste  Material- 
ursache" und  „eine  erste  Formalursache"  und  ähnliche  Aus- 
drücke, so  ist  damit  noch  nicht  ausgedrückt,  daß  diese  Ursache 
nur  eine  einzige  sein  kann.  Die  Notwendigkeit  dieser  Kon- 
sequenz ist  klar  in  dem  notwendig  Seienden,  weil  kein  einziger 
Teil  dieser  geschöpflichen  Ursachen  eine  erste  Ursache,  absolut 
genommen  ist;  denn  der  notwendig  Seiende  ist  nur  einer  und  er 
nimmt  die  Rangstufe  des  ersten  Prinzipes,  der  ersten  Wirkursache, 
ein.  Daher  ist  der  Eine,  der  notwendig  Seiende,  auch  das  erste 
Prinzip  für  jene  ersten  (naturgemäßen)  Prinzipien  der  Dinge 
(die  ersten  Ursachen).  Daraus  und  aus  dem,  was  früher  erklärt 
wurde,  ist  einleuchtend,  daß  der  notwendig  Seiende  numerisch 
einer  ist,  und  es  ist  klar,  daß  alles,  was  sich  außerhalb  seines 
Wesens  befindet,  wenn  es  (zudem)  in  sich  selbst  betrachtet 
wird,  ein  nur  Mögliches  ist  inbezug  auf  seine  Existenz.  Des- 
halb ist  dieses  ein  Verursachtes.  Es  ist  klar,  daß  man  in  der 
Kette  der  verursachten  Dinge  konsequenterweise  zu  dem  not- 
wendig Seienden  (als  der  ersten  Wirkursache)  hingelangt.  Daher 
ist  also  jedes  Ding,  abgesehen  von  dem  Einen,  der  seinem  Wesen 
nach  einer  ist,  und  abgesehen  von  dem  Seienden,  das  seinem 
Wesen  nach  existierend  ist,  so  beschaffen,  daß  es  die  Existenz 
von  einem  anderen  annimmt.  Gott  jedoch  enthält  in  seinem 
Wesen  keine  Verhüllung.  0 

Dies  ist  zugleich  die  Bedeutung  des  Ausdruckes  „ein  Ding 
ist  voraussetzungslos  und  anfangslos  geschaffen".  Es  nimmt  die 
Existenz  in  sich  auf  von  einem  anderen.  Ihm  also  kommt  ip 
seinem  Wesen,  absolut  betrachtet,  das  Nichtsein  zu.  Es  kommt 
ihm  das  Nichtsein  zu  nicht  nur  durch  seine  Wesensform,  ab- 
gesehen von  seiner  Materie,  oder  durch  seine  Materie,  abgesehen 
von  seiner  Wesensform;  sondern  das  Nichtsein  kommt  dem  Dinge 
auf  Grund  seines  ganzen  Wesens  zu.  Wenn  sich  mit  ihm 
nicht  das  notwendige  Verursachtwerden  verbindet,  und  wenn 
man  urteilt,  daß  das  Ding  nach  seinem  ganzen  Inhalte  von 
dem  Verursachtwerden  (von  der  Verbindung  mit  der  Ursache) 
abgeschnitten-  ist,  dann  ist  sein  Nichtsein  nach  der  ganzen  Fülle 


»)  Vgl.  F&rftbl,  Ringsteine  Nr.  8. 


Digitized  by 


Googk 


497 

seines  Wesens  notwendig.  Das  Verursachtwerden  kommt  des- 
halb von  dem  Verleiher  des  Daseins  dem  Dinge  zu  nach  der 
ganzen  Fülle  seines  Wesens.  Kein  Teil  seines  Bestandes  geht 
seiner  Existenz  voraus  mit  Rücksicht  auf  diesen  Begriff  (ratio, 
des  Geschaffenwerdens),  weder  seine  Materie  noch  seine  Wesens- 
form, wenn  dieses  Ding  überhaupt  eine  Materie  und  Wesens- 
form besitzt.  Daher  ist  also  das  Weltall  im  Verhältnis  zur 
ersten  Ursache  voraussetzungslos  (und  ewig)  geschaffen.  Seine 
Erschaffung,  nachdem  sie  von  dem  ersten  Seienden  ausgeht,  ist 
nicht  ein  solches  Hervorbringen,  das  das  Nichtsein  in  irgend 
welchem  Sinne  über  die  Substanzen  der  Dinge  herrschen  läßt. 
Es  ist  vielmehr  ein  Erschaffen,  welches  das  Nichtsein  schlechthin 
ausschließt  von  denjenigen  Dingen,  die  ewig  bestehen  können. ^) 
Daher  ist  dieses  Hervorbringen  das  voraussetzungslose  Schaffen 
im  absoluten  Sinne  und  das  „Insdaseinrufen"  (wörtlich:  das 
Aufbauen  auf  ein  Fundament)  des  Dinges  schlechthin.  Es  ist 
nicht  irgend  eine  bestimmte  Art  des  Hervorbringens.  Jedes 
Ding  entsteht  zeitlich  von  diesem  Einen  her,  und  dieser  Eine 
bringt  das  Ding  hervor;  denn  das  zeitlich  Entstehende  ist  das- 
jenige, das  neu  wird,  nachdem  es  nicht  war  und  dieses  Später, 
wenn  es  ein  eigentliches,  zeitliches  Später  ist,  hat  vor  sich  ein 
Früher.  Dieses  wird  vernichtet  gleichzeitig  mit  dem  Entstehen 
des  Dinges.  Daher  existiert  ein  Ding,  das  damit  bezeichnet 
wird,  daß  es  früher  sei,  als  das  entstehende  Ding,  und  dieses 
ist  zugleich  jetzt  nicht  mehr  (nach  dem  entstandenen  Dinge). 
Es  ist  also  nicht  zutreffend,  daß  ein  Ding  entstehe,  außer  daß 
vor  ihm  irgend  ein  anderes  wirklich  war.  Dieses  wird  dann 
durch  die  Existenz  des  letzteren  vernichtet. 

Daher  ist  also  das  zeitliche  Entstehen,  das  herkommen 
soll  von  einem  absoluten  Nichtsein,  als  voraussetzungsloses, 
ewiges  Entstehen,  unmöglich  2)  und  hat  keinen  Sinn.  Das  Später, 
das  im  anfangslosen  Enstehungsprozesse  des  Dinges  vorhanden 
ist,  ist  das  Später  dem  Wesen  nach  (das  logische  Später). 
Die  Bestimmung,  die  einem  Dinge  von  seinem  einfachen  Wesen 
her  zukommt,  ist  früher  als  diejenige,  die  ihm  von  einem  anderen 


>)  d.  h.  den  Geistern  and  den  unveränderlichen  Substanzen. 

')  Die  Begriffe  des  zeitlichen  Entstehens  und  des  esse  ex  nihilo  absolnto 
sind  Gegensätze,  die  sich  ausschUeßen.  Ein  zeitliches  Entstehen  ex  nihilo 
ist  eine  contradictio  in  adiecto. 

Horten,  Das  Baoh  der  aeneeung  der  Seele.  32 


Digitized  by 


Google  j 


4d8 

eigen  istJ)  Wenn  also  dem  Dinge  von  einem  anderen  Wesen 
die  Existenz  und  die  Notwendigkeit  zukommt,  dann  besitzt  es 
aus  sich  selbst  das  Nichtsein  und  die  Möglichkeit  Sein  Nicht- 
sein ist  dann  früher  als  seine  Existenz,  und  seine  Existenz  ist 
später  als  sein  Nichtsein  in  einem  Früher  und  Später  dem 
Wesen  nach. 

Alle  Dinge  mit  Ausnahme  des  ersten  Seienden,  des  Einen 
und  Existierenden  entstehen,  nachdem  sie  nicht  waren,  und 
dieses  Nichtsein  entspricht  ihrem  innersten  Wesen. 


Viertes  Kapitel 

Die  ersten  Eigenschaften  des  Urprinzipes,  des  notwendig  Seienden. 

Die  Existenz  eines  Dinges,  das  notwendig  seiend  ist,  wurde 
dir  also  bereits  nachgewiesen.  Zugleich  wurde  begründet,  daß 
der  notwendig  Seiende  ein  Einziger  sei.  Daher  ist  also  der 
notwendig  Seiende  ein  Einziger,  der  in  seiner  Seinsstufe  kein 
gleichgeartetes  Ding  neben  sich  hat,  noch  Ist  daher  irgend 
etwas  außer  Ihm  notwendig  seiend.  Er  ist  folglich  das  erste 
verursachende  Prinzip  für  jedes  Ding  außer  ihm.  Er  ist  das 
erste  Prinzip  für  die  notwendige  Existenz  jedes  anderen  Dinges.^) 
Er  bringt  dasselbe  notwendig  hervor  in  ursprünglicher,  un- 
vermittelter Weise  (die  Geister)  oder  durch  Vermittlung  anderer 
Ursachen  (der  reinen  Geister).  Wenn  also  die  Dinge  außer  ihm 
wirklich  sind,  dann  ist  ihre  Existenz  hergeleitet  aus  der  Existenz 
des  ersten  Seienden.    Er  also  ist  der  Erste. 

Mit  dem  Ausdruck  „erster"  bezeichnet  man  keinen  Be- 
griff, der  zu  dem  der  notwendigen  Existenz  Gottes  hinzugefügt 
würde,  so  daß  durch  diesen  Begriff  eine  Vielheit  im  notwendig 
Seienden  einträte;  sondern  mit  diesem  Ausdrucke  bezeichnen 
wir  die  Rücksicht,  in  der  Gott  auf  ein  außer  ihm  Seiendes  in 
Relation  tritt  Wisse,  wenn  wir  sagen,  ja  sogar  darlegen,  daß 
der  notwendig  Seiende  in  keiner  Weise  eine  Vielheit  in  sich 


^)  Id  qaod  est  per  se  prins  est  eo  qnod  est  per  accidens  (und  ab  alio). 
')  Die  Weltdinge  sind  notwendig  durch  ihre  Ursache,  also  in  ihrer  Be- 
ziehung auf  Gott. 


Digitized  by 


Googk 


499 

einschließt  und  daß  sein  Wesen  ein  einziges  in  absolutem  und 
reinstem  Sinne  ist  und  daß  er  ein  wahrer  sei,  so  bezeichnen 
wir  mit  diesem  Ausdrucke  nicht,  daß  keine  realen  Dinge  von 
ihm  verneint  werden  müßten  und  daß  er  nicht  in  Relation  träte 
zu  den  existierenden  Dingen;  denn  dieses  ist  unmöglich.  Der 
Grund  dafür  ist  der,  daß  von  jedem  real  existierenden  Dinge 
gewisse  Existenzarten  verneint  werden  müssen,  die  verschieden- 
artig sind  und  viele  an  Zahl.  Jedes  existierende  Ding  tritt  zu 
den  übrigen  in  eine  gewisse  Relation  und  Beziehung,  besonders 
aber  dasjenige,  von  dem  jedes  Ding  seine  Existenz  hernimmt 
Mit  unserem  Ausdrucke  „Gott  ist  der  seinem  Wesen  nach  Einzige; 
in  ihm  ist  keine  Vielheit",  bezeichnen  wir  jedoch,  daß  er  sich 
so  in  seinem  Wesen  verhält.  Wenn  in  zweiter  Linie  auf  dieses 
Wesen  Relationen,  seien  es  positive  oder  negative,  in  großer 
Zahl  folgen,  so  sind  diese  notwendige  Akzidenzien  seines  Wesens, 
die  von  diesem  verursacht  werden  und  die  nach  der  Existenz 
des  Wesens  existieren.  Sie  verhalten  sich  aber  nicht  so,  daß 
sie  diesem  Wesen  den  Bestand  verleihen,  oder  Teile  von  ihm 
bilden. 

Wenn  jemand  die  Schwierigkeit  erheben  würde:  „wenn 
jene  Verhältnisse  von  dem  ersten  Seienden  verursacht  sind,  dann 
müssen  diese  Relationen  selbst  wiederum  andere  Relationen 
haben.  Auf  diese  Weise  gelangt  man  zu  einer  endlosen 
Kette"  —  dann  antworten  wir  auf  diese  Schwierigkeit: 
jener  Objizient  möge  betrachten,  was  wir  bereits  über  die 
Relationen  in  diesem  Teile  dargelegt  haben  (Metaphysik  III.,  10), 
wo  wir  zeigen  wollten,  daß  die  Relationen  eine  endliche  Kette 
bilden  müßten.  In  der  dortigen  Darlegung  ist  die  Lösung 
seiner  Schwierigkeit  enthalten.  Daher  kehren  wir  zu  unserem 
Probleme  zurück  und  lehren,  daß  der  erste  Seiende  keine 
Wesenheit  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  habe,  die 
verschieden  sei  von  seiner  Individualität  Den  Begriff  der 
Wesenheit  hast  du  bereits  kennen  gelernt  und  ebenso  das,  wo- 
durch er  sich  von  der  Individualität  unterscheidet  am  Anfange 
unserer  Darlegungen  dieses  Buches,  i) 

Daher  lehren  wir,  daß  das  notwendig  Seiende  keine  Wesen- 
heit haben  kann,  der  die  Notwendigkeit  der  Existenz  als  Akzi- 
dens anhaftet    (Es  ist  also  eine  Wesenheit  gemeint,  die  ver- 


*)  Vgl.  auch  Abh.  V. 

32* 


Digitized  by 


Google 


500 

schieden  ist  von  dem  Begriff  des  notwendigen  Seins,  eine  solche, 
der  das  notwendige  Sein  inhäriert).  Wir  lehren  vielmehr,  in- 
dem wir  bei  dem  ersten  Punkte  beginnen:  der  notwendig  Seiende 
wii*d  als  notwendig  Seiender  verstanden  und  begrifflich  gefaßt, 
ebenso  als  „einer".  Manchmal  wird  das  Eine  gedacht  und  dann 
denkt  man  zugleich,  daß  es  eine  Wesenheit  besitze,  die  sich 
verhält  wie  z.  B.  die  des  Menschen  oder  eine  andere  beliebige 
Substanz.  Dieser  Mensch  (in  dem  angenommenen  Falle  als 
Wesenheit  gedacht,  der  das  Notwendigsein  inhärieren  soll)  ist 
also  so  beschaffen,  daß  er  zugleich  der  notwendig  Seiende 
ist,  wie  man  sich  in  gleicher  Weise  auch  betreffs  des  Einen 
denken  kann,  daß  es  z.  B.  Wasser  oder  Luft  oder  ein  Mensch 
sei,  während  es  Eines  ist»)  Diese  Verhältnisse  betrachtet  und 
erkennt  man  manchmal  in  dem,  was  eine  Verschiedenheit  der 
Auffassung  zuläßt,  z.  B.  in  der  Thesis,  daß  das  erste  Prinzip  der 
Naturdinge  entweder  ein  einziges  oder  ein  vielfaches  seL  Einige 
Philosophen  lehrten,  das  erste  Prinzip  sei  ein  einziges;  andere 
lehrten,  es  sei  vielfach.  Diejenigen,  die  nun  lehrten,  es  sei  ein 
einziges,  lehrten  zudem  teilweise,  daß  das  erste  Prinzip  nicht 
das  Wesen  des  Einen  selbst  sei.  Es  sei  vielmehr  ein  bestimmtes 
Ding  (eine  gewisse  Wesenheit,  die  in  ihrer  Wesensbestimmung 
verschieden  ist  von  dem  Begriffe  der  Einheit),  und  diese  sei  zu- 
gleich (akzidentell)  der  Eine.  So  verhält  sich  das  Wasser  (Thaies), 
die  Luft  (Anaximenes)  oder  das  Feuer  (Pythagoras  und  die  Stoa) 
oder  andere  Dinge.  Andere  Philosophen  lehrten,  das  erste 
Prinzip  sei  der  Eine,  insofern  er  Einer  ist  (Pythagoras),  nicht 
ein  reales  Ding,  dem  die  Bestimmung  des  Einen  wie  ein  AJczidens 
zukomme.  Es  ist  demnach  ein  Unterschied  zwischen  einer 
Wesenheit,  der  der  Begriff  des  Einen  (wie  ein  Akzidens)  oder 
der  Begriff  des  Existierenden  zukommt  und  zwischen  dem  Einen 
und  Existierenden,  insofern  er  Einer  und  ein  Existierender  ist 
(also  keine  von  diesen  beiden  Begriffen  verschiedene  Wesenheit  hat). 
Daher  lehren  wir,  daß  der  notwendig  Seiende  sich  nicht 
so-)  verhalten  kann,  daß  eine  Ordnung  und  Aufeinanderfolge 
(von  Begriffen)  in  ihm  entstehe,  so  daß  also  in  ihm  irgend  eine 
gewisse  Wesenheit  vorhanden  sei,  und  daß  diese  Wesenheit  be- 


^)  Avicenna  will  die  essentia  unterscheiden  von  dem  esse  anam  and 
esse  necessarium. 

«)  Wörtlich:  „in  der  Eigenschaft". 


Digitized  by 


Googl( 


501 

stimmt  werde  als  eine  notwendig  seiende.  Dann  hätte  also  diese 
Wesenheit  in  sich  eine  Natur  (ratio),  die  verschieden  wäre  von 
ihrer  Wesenheit,  und  dieses  begriffliche  Wesen  (ratio)  (das  der 
Wesenheit  beigelegt  werde),  wäre  die  notwendige  Existenz.  Ver- 
hält sich  nun  diese  Wesenheit  z.  B.  wie  die  Wesenheit  des 
Menschen,  dann  ist  der  Umstand,  daß  sie  die  menschliche  Natur 
hat,  verschieden  von  dem  Umstände,  daß  sie  das  notwendige 
Sein  besitzt.  Dann  trifft  der  eine  von  zwei  Fällen  ein.  Ent- 
weder bedeutet  die  Redeweise  „der  notwendig  Seiende"  in  sich 
eine  reale  Wesenheit  (die  verschieden  ist  vom  Dasein)  oder 
nicht.  Es  ist  nun  unmöglich,  daß  dieser  Begriff  keine  reale 
Wesenheit  besitze,  während  er  zugleich  erstes  Prinzip  für  jede 
reale  Wesenheit  ist.  Er  ist  vielmehr  der  umwandelbare  Bestand 
und  die  veränderliche  Wahrheit  der  Wesenheit  selbst.  Besitzt 
er  aber  eine  besondere  eigentliche  Wesenheit,  so  ist  diese  ver- 
schieden von  dieser  seiner  Wesenheit.  Ist  nun  diese  seine 
Wesensbestimmung  das  notwendige  Sein,  so  haftet  dieses  folge- 
richtig seiner  eigentlichen  Wesenheit  an.  Ohne  seine  Wesenheit 
ist  er  also  nicht  der  notwendig  Seiende.  Dann  ist  also  der 
Begriff  des  notwendig  Seienden  als  solcher  einem  realen  Dinge 
inhärierend,  das  von  ihm  verschieden  ist»)  Der  Begriff  des 
notwendig  Seienden  als  solcher,  ausschließlich  in  sich  selbst 
betrachtet  als  notwendig  Seiendes,  ist  also  nicht  selbst  das  not- 
wendig Seiende;  denn  es  besitzt  ein  anderes  Ding  (eine  Wesen- 
heit), wodurch  2)  ihm  die  notwendige  Existenz  zukommt.  Darin 
ist  aber  ein  Widerspruch  enthalten. 

Betrachtet  man  nun  den  Begriff  des  notwendig  Seienden 
absolut,  ohne  die  weitere,  einschränkende  Bestimmung  als  reines 
Sein,  das  einer  Wesenheit  „anhaftet",  und  betrachtet  man  es 
sodann  als  einer  Wesenheit  anhaftend,  so  ist  diese  Wesenheit, 
selbst  wenn  sie  sich  von  jenem  realen  Dinge,  dem  sie  anhaftet, 
trennen  läßt,  in  keiner  Weise  im  absoluten  Sinne  das  notwendig 
Seiende.  Ebensowenig  kommt  ihr  die  notwendige  Existenz,  absolut 
genommen,  wie  ein  Akzidens  zu.  Denn  sie  ist  nicht  notwendig 
in  jeder  beliebigen  Zeit.  Der  absolut  notwendig  Seiende  aber 
ist  notwendig  zu  jeder  Zeit  Diese  Bestimmung  trifft  aber  nicht 
das  Seiende,  wenn  es  absolut  genommen  wird,  ohne  die  Ein- 


0  Cod.  c  2:  „dieses  ist  nicht  das  notwendig  Seiende '^ 
')  Die  Wesenheit  vermittelt  die  Existenz. 


Digitized  by 


Googl( 


502 

schränkung  und  Bestimmung  als  reines  Sein,  das  einer  Wesenheit 
„anhaftet". 

Kein  Bedenken  erregt  jene  Schwierigkeit^  die  besagt,  daß 
dieses  Sein  von  der  Wesenheit  in  dieser  Hinsicht  (insofern  es 
ihr  Akzidens  ist)  verursacht  sei,  oder  von  einem  anderen  Dinge; 
denn  das  Sein  kann  verursacht  sein.  Der  Notwendige  im  ab- 
soluten Sinne,  der  in  sich  notwendig  ist,  kann  jedoch  nicht  ver- 
ursacht werden,  und  so  bleibt  nur  noch  übrig,  daß  der  in  sich 
notwendig  Seiende,  absolut  genommen,  als  notwendig  Seiender 
in  sich  selbst  real  existiert,  ohne  jene  supponierte  Wesenheit 
Daher  ist  also  jene  Wesenheit  höchstens  ein  Akzidens  für  das 
notwendig  Seiende,  das  in  seinem  Bestände  selbständig  real 
existiert,  wenn  dieses  überhaupt  möglich  ist. 

Der  notwendig  Seiende,  der  bezeichnet')  wird  als  seinem 
Wesen  nach  Verstand,  hat  in  sich  das  reale  Wesen  des  not- 
wendig Seienden  auch  dann,  wenn  er  nicht  jene  Wesenheit  ist, 
die  ihm  akzidentell  zukommen  würde.  Diese  Wesenheit  ist  also 
nicht  die  Wesenheit  desjenigen  Dinges,  das  man  bezeichnet  als 
Verstand  und  zugleich  als  den  notwendig  Seienden,  sondern  sie 
ist  die  Wesenheit  irgend  eines  anderen  Dinges,  das  diesem  wie 
ein  Akzidens  inhäriert  Zugleich  aber  besagte  die  frühere  An- 
nahme, daß  diese  Wesenheit  Wesenheit  jenes  Dinges  selbst 
sein  soll,  nicht  eines  anderen  Dinges.  Darin  liegt  aber  ein  Wider- 
spruch. 

Daher  hat  der  notwendig  Seiende  keine  besondere  Wesen- 
heit, abgesehen  davon,  daß  er  der  notwendig  Seiende  ist,  und 
dieses  ist  seine  Individualität  Wir  lehren  also:  alle  Dinge,  die 
eine  Wesenheit  haben,  die  verschieden  ist  von  ihrer  Individuali- 
tät, sind  verursacht.^)  Der  Grund  dafür  ist  folgender:  wie  du 
bereits  gesehen  hast,  treten  die  Individualität 3)  und  das  Dasein 


<)  Wörtlich:  „aaf  den  man  hinweist  wie  auf  ein  Individuum  mit 
dem  Worte  ,Ver8tand*". 

*)  Zu  dieser  kurzen  Fassung  des  Kontingenzheweises  vgL  Fär&bi, 
Bingsteine  Nr.  1. 

^  Codd.  c,  b  add.:  „dies  bezeichnet:  Die  Individualität  und  das  Dasein 
müssen  sich,  wenn  sie  als  Akzidenzien  der  Wesenheit  folgen,  in  einer  von 
zwei  Weisen  verhalten.  Sie  haften  ihr  entweder  an  auf  Grund  der  Natur 
der  Wesenheit  oder  zufolge  einer  äußeren  Ursache.  Sie  können  ihr  nun  aber 
nicht  auf  Grund  der  Wesenheit  selbst  anhaften;  denn  das  Nachfolgende  folgt 
nur  auf  ein  bereits  Existierendes.  Es  ergäbe  sich,  dafi  der  Wesenheit  ein 
Dasein  anhaftete  vor  ihrem  Dasein«    Dies  aber  ist  ein  Widerspruch.''. 


Digitized  by 


Googl( 


503 

inbezug  auf  die  Wesenheit  (und  auf  Grund  der  Wesenheit),  die 
ja  außerhalb  des  Begriffes  der  Individualität  liegt,  nicht  an 
Stelle  des  inneren  Bestandteiles.  (Sie  verleihen  ihr  nicht  den 
Bestand  und)  daher  gehören  sie  zu  den  notwendigen  Akzidenzien 
dieses  Seins.  Die  Bestimmungen  des  Seins  und  der  Individualität 
müssen  also  entweder  der  Wesenheit  anhaften,  insofern  sie  selbst 
die  Wesenheit  darstellen  (wie  in  Gott,  in  dem  Individualität 
und  Wesenheit  zusammenfallen),  oder  sie  müssen  ihr  notwendiger- 
weise anhaften  auf  Grund  einer  anderen  Ursache.  Unter  dem 
Ausdruck  „notwendigerweise  anhaften"  verstehen  wir  eine  Folge, 
so  daß  also  das  Sein  auf  die  Wesenheit  folgt.  Das  Seiende 
kann  aber  nur  auf  ein  Ding  folgen,  das  schon  real  existiert 
Wenn  daher  die  Individualität  auf  die  Wesenheit  folgen  und 
ihr  per  se  anhaften  würde,  dann  müßte  die  Individualität  in 
ihrem  realen  Dasein  auf  ein  anderes  Dasein  folgen.  Alles  aber, 
was  in  seinem  Dasein  später,  als  ein  anderes  reales  Dasein  ist^ 
hat  vor  sich  notwendigerweise  ein  reales  Ding,  das  per  se  früher 
ist,  und  daher  wäre  also  die  Wesenheit,  der  das  Dasein  an- 
haften soll,  bereits  früher  durch  und  in  sich  selbst  existierend, 
bevor  sie  die  Existenz  (als  Akzidens)  erhielte.  Dies  aber  enthält 
einen  Widerspruch.  0 

Es  bleibt  also  nur  noch  die  eine  Möglichkeit  übrig,  daß 
die  Existenz  dieser  Wesenheit  auf  Grund  einer  anderen  Ursache 
zukommt.  Alle  Dinge  aber,  die  eine  bestimmte  Wesenheit 
haben,  sind  verursacht.  Alle  Dinge,  außer  dem  wahrhaft  und 
notwendig  Seienden,  haben  daher  Wesenheiten,  die  sich  so  ver- 
halten, daß  sie  in  sich  selbst  nur  entia  possibilia  sind.  Eine 
reale  Existenz  kommt  ihnen  nur  von  außen  zu.  Der  erste 
Seiende  aber  enthält  keine  Wesenheit,  die  ihm  zukäme.  Die 
übrigen  Dinge,  die  Wesenheiten  besitzen,  erhalten  durch  Ema- 
nation die  Existenz  von  ihm.  Er  ist  also  das  reine  Sein  unter 
der  Voraussetzung,  daß  das  Nichtsein  von  ihm  ausgeschlossen 
ist,  wie  auch  die  übrigen  Eigenschaften.  Alle  übrigen  Dinge, 
die  bestimmte  Wesenheiten  besitzen,  sind  sodann  nur  possibilia, 
die  durch  das  erste  Seiende  ihre  Existenz  erhalten  können. 
Unser  Ausdruck,  „er  ist  das  reine  Sein  unter  der  Voraussetzung, 
daB  alle  übrigen  Bestimmungen  von  ihm  ausgeschlossen  sind,^ 


1)  Vgl.  dazu  Fär&bi,  Bingsteine  Nr.  1:    „die  Wesenheit  wäre  dann 
frttlier  als  sie  selbst'*. 


Digitized  by 


Google 


504 

bezeichnet  nicht;  daß  er  im  absoluten  Sinne  Abs  Sein  ist^  nämlich 
das  universelle  Sein,  an  dem  eine  Vielheit  von  Individuen  teil- 
nimmt Dies  wäre  der  Fall,  wenn  diejenige  Existenz,  die  den 
Weltdingen  zukommt  (also  die  abstrakt  gefaßte  Existenz  im 
metaphysischen  Sinne),  Eigenschaft  Gottes  wäre.  Denn  er  (Grott) 
ist  nicht  das  abstrakte  Seiende  unter  der  Voraussetzung, 
daß  alle  übrigen  Bestimmungen  von  ihm  ausgeschlossen  sind; 
sondern  dieser  abstrakte  Begriff  des  Seins  ist  ein  solcher, 
der  die  Bedingung  nicht  in  sich  „einschließt",  daß  alle  übrigen 
Bestimmungen  von  ihm  ausgesagt  werden.^  (Letzterer  ist  der  ein- 
fache Begriff  des  Seins,  der  aus  der  Vielheit  der  Individuen  ab- 
strahiert und  nur  in  sich  betrachtet  wird  ohne  Rücksicht  auf 
sein  esse  in  pluribus  oder  sein  praedicari  de  multis.  In  dem 
gleichen  Sinne  versteht  Avicenna  den  Begriff  der  Universalien 
im  allgemeinen).  D.  h.  in  dem  ersten  Seienden  ist  es  enthalten,  daß 
es  das  Sein  ist,  zugleich  mit  der  Bedingung,  daß  keine  weitere 
Bestimmung  der  Zusammensetzung  zu  ihm  hinzugefügt  wird. 
Dieses  andere  aber  Ist  das  Sein,  ohne  daß  ihm  die  Bedingung 
beigegeben  ist,  daß  andere  Bestimmungen  ihm  zugefügt  werden.^) 
Dies  ist  zugleich  der  Grund,  weshalb  das  Universelle  von  jedem 
Dinge  ausgesagt  wird.  Jenes,  das  Seiende  aber,  Gott,  wird  nicht 
ausgesagt  von  Dingen,  die  ihrem  Wesen  nach  bestimmt  sind 
durch  weitere  Begriffe.  Alle  Dinge  außer  Gott  enthalten  Be- 
stimmungen die  ihrem  Wesen  hinzugefügt  sind. 

Das  erste  Seiende  hat  kein  Genus,  und  zwar  deshalb,  weil 
es  keine  Wesenheit  hat  Dasjenige  aber,  was  keine  Wesenheit 
hat,  hat  auch  kein  Genus,  weil  das  G^nus  ausgesagt  wird  als 
Antwort  auf  die  Frage,  was  das  Ding  seL  Das  Genus  ist  in 
gewisser  Hinsicht  ein  Teil  des  Dinges.  Der  erste  Seiende  aber 
ist,  wie  auseinandergesetzt  wurde,  nicht  zusammengesetzt  Elin 
weiterer  Grund  ist  der,  daß  das  Genus  entweder  der  notwendig 
Seiende  sein  müßte  —  dann  würde  es  nicht  genügen,  daß  in 
ihm  nur  eine  Differenz  vorhanden  sei,  um  ihn  zu  konstituieren 
(sondern  es  müßte  zu  dieser  noch  die  Individualität  hinzu- 
kommen) —  oder  nicht.  Ist  das  Genus  nun  aber  nicht  der 
notwendig  Seiende  selbst,  dann  ist  es  ein  Bestandteil  desselben, 

>)  Vgl  Horten,  Buch  der  Ringsteine  Färabis,  S.  376. 
')  Der  Unterschied   ist   der   von   conditio,    qaod   non   and  sine  con- 
ditionCi  quod. 


Digitized  by 


Googk 


505 

und  der  notwendig  Seiende  würde  durch  etwas,  was  nicht  not- 
wendig seiend  ist^  konstituiert.    Dies  aber  ist  unmöglich. 

Daher  hat  der  notwendig  Seiende  kein  Genus.  Aus  diesem 
Grunde  hat  er  ebenfalls  keine  Differenz.  Weil  er  kein  Genus  hat  und 
zugleich  auch  keine  Differenz,  besitzt  er  auch  keine  Definition, 
noch  gibt  es  einen  demonstrativen  Beweis  a  priori  seines  Wesens; 
denn  er  hat  keine  Ursache  (und  ein  solcher  Beweis  geht  von  einer 
Ursache  aus).  Deshalb  existiert  für  den  notwendig  Seienden  auch 
nicht  die  Frage,  zu  welchem  Zwecke  er  eipstiert.  Daß  ferner 
kein  Zweck  für  seine  Tätigkeit  existiert,  wirst  du  später  erfahren. 

Dagegen  könnte  man  folgende  Schwierigkeit  erheben.  Ihr 
hütet  euch,  von  dem  ersten  Seienden  den  Begriff  der  Substanz 
selbst  auszusagen.  Jedoch  hütet  ihr  euch  nicht,  von  ihm  den 
Wesensbegriff  der  Substanz  auszusagen,  denn  er  ist  (nach 
eurer  Lehre)  ein  Existierendes,  das  nicht  in  einem  Substrate 
besteht.  Dieser  Begriff  aber  deckt  sich  mit  dem  der  Substanz, 
die  ihr  als  Genus  der  Dinge  bezeichnet  habt  Auf  diese  Schwierig- 
keit erwidern  wir.  Dieses  ist  nicht  der  Begriff  der  Substanz, 
den  wir  als  Genus  bezeichnet  haben;  sondern  der  Begriff  der 
Substanz  ist  der,  daß  sie  das  Ding  ist,  das  eine  bestimmte  in 
sich  selbst  bestehende  Wesenheit  besitzt,  deren  Existenzweise 
so  beschaffen  ist,  daß  sie  nicht  in  einem  Substrate  existiert. 
So  verhält  sich  der  Körper  und  die  Seele.  Als  Stütze  dafür 
möge  folgendes  dienen:  wenn  wir  unter  Substanz  nicht  dieses 
eben  Grenannte  bezeichnen,  dann  existiert  überhaupt  kein  Genus; 
denn  dasjenige,  was  man  mit  dem  Worte  „Existierendes"  be- 
zeichnet, erfordert  nicht,  daß  es  ein  G^nus  sei.')  Die  Negation 
aber,  die  dem  Existierenden  anhaftet  (und  die  besagt,  daß  es 
nicht  in  einem  Substrate  sei),  fügen  wir  dem  Seienden  nur 
hinzu  als  Bestimmung,  die  ihm  äußerlich  anhaftet  und  von  ihm 
getrennt  ist  Dieser  Begriff  aber  ist  in  Ihm  nicht  so,  daß  er 
von  ihm  aussagen  würde,  er  verhielte  sich  wie  ein  wirkliches 
Ding  (eine  Wesenheit),  das  später  als  die  Existenz  wirklich 
würde.  Substanz  ist  kein  Begriff,  der  (in  Gott)  einem  bestimmten 
Dinge  seinem  Wesen  nach  zukäme ;  sondern  er  ist  nur  die  logische 
Relation.^)     Daher  ist  das  Existierende,    das  nicht  in  einem 

0  Gott  ist  daher  ein  „Seiender,  der  nicht  in  einem  Sabstrate  Ist",  ohne 
deshalb  Substanz  zu  sein. 

*)  Codd.  c,  b:  „Er  besteht  nur  durch  die  logische  Relation"  auf  ein 
copponiertes  Substrat. 


Digitized  by 


Google 


506 

Substrate  existiert,  nur  der  positive  Ausdruck  ^)  in  Gott,  der 
dem  Wesen  zukommen  kann,  das  die  Existenz  selbst  ist  Nach 
diesem  positiven  Ausdrucke  folgt  ein  negativer  (der  besagt^  daß 
dieses  Sein  nicht  in  einem  Substrate  ist),  und  dieser  ist  eine 
Relation,  die  der  Individualität  des  Dinges  (nur)  von  außen 
zukommt  Dieser  Begriff  ist  also,  in  der  genannten  Weise  auf- 
gefaßt, kein  Genus. 

Du  hast  dieses  bereits  in  klarer  und  sicherer  Weise  in 
der  Logik  kennen  gelernt  (Logik  L  Teil,  I,  9).  In  der  Logik 
hast  du  femer  gelernt,  daß  wir  z.  B.  sagen:  jedes  A,  um  jedes 
Ding  zu  bezeichnen,  das  als  A  bestimmt  würde,  selbst  wenn 
es  eine  andere  Wesenheit  als  die  des  A  haben  sollte.  Daher 
ist  unser  Ausdruck,  betreffs  der  Definition  der  Substanz,  daß  sie 
ein  Seiendes  ist,  das  nicht  in  einem  Substrate  existiert,  so  zu 
verstehen,  daß  sie  das  Ding  (also  eine  bestimmte,  definierbare 
Wesenheit)  ist,  von  dem  ausgesagt  wird,  daß  es  wirklich  sei, 
und  zwar  nicht  in  einem  Substrate;  denn  das  Seiende,  das  nicht 
in  einem  Substrate  ist,  wird  ausgesagt  von  diesem  Dinge.  Dieses 
Ding  besitzt  also  in  sich  selbst  eine  Wesenheit  wie  z.  B.  die 
des  Menschen,  des  Steines  oder  des  Baumes.  In  demselben  Sinne 
müssen  wir  uns  auch  die  Substanz  vorstellen,  so  daß  sie  die 
Natur  des  Genus  haben  kann.^)  Der  Beweis  dafür,  daß  zwischen 
diesen  beiden  Dingen  ein  Unterschied  besteht,  und  daß  das  Genus 
das  eine  von  beiden  ist  mit  Ausschluß  des  anderen,  liegt  darin, 
daß  du  von  irgend  einem  menschlichen  Individuum,  dessen  Exi- 
stenz noch  nicht  fest  steht,  sagst,  daß  es  notwendigerweise 
dasjenige  ist,  dessen  Existenzweise  so  bestimmt  wird,  daß  sie 
nicht  in  einem  Substrate  stattfindet.  Du  sagst  aber  nicht:  daß 
dieses  Individuum  notwendigerweise  in  diesem  Augenblicke  real 
existiert,  und  zwar  nicht  in  einem  Substrate.^) 

Wir  haben  die  Definition  dieser  Begriffe  in  der  Logik 
bereits  in  eingehender  und  abschließender  Untersuchung  dar- 
gestellt (Logik  n.  Teil,  m,  1—3). 

>)  Er  ist  in  Gott  nur  nach  seiner  positiven  Seite  zu  nehmen. 

*)  Sie  mufi  von  den  Weltdingen  ausgesagt  werden  können.  Dies  ist 
aher  unmöglich,  wenn  sie  das  absolute  Sein,  nicht  irgend  eine  Wesenheit 
bezeichnet. 

^  Der  Begriff  des  aktueUen  Seins  ist  also  indifferent  fClr  den  der 
Substanz. 


Digitized  by 


Googk 


507 


Fünftes  Kapitel. 

Fortsetzung  und  Begründung  des  Vorhergehenden  d.  h.  der  Einheit  des 

notwendig  Seienden  und  aller  seiner  negativen  Eigenschaften,  in  de- 

dulrtiver  Beweisführung. 

Nun  liegt  es  uns  ob,  zurückzukeliren  zu  der  Thesis,  daß 
das  eigentliche  Wesen  des  ersten  Seienden  dem  Ei'sten  zukommt, 
ohne  zugleich  einem  anderen  zu  eigen  zu  sein;  denn  der  Eine, 
insofern  er  der  notwendig  Seiende  ist,  besitzt  dasjenige,  wodurch 
er  „Er  selbst"  ist  d.  h.  seine  Wesensbestimmung  und  sein 
Wesensinhalt  in  der  Weise,  daß  dieses  auf  ihn  allein  beschränkt 
ist,  entweder  infolge  dieses  Wesensbegriffes  (so  daß  derselbe 
aus  innerer  Notwendigkeit  keinem  anderen  als  Gott  zukommen 
kann),  oder  auf  Grund  einer  anderen  Ursache.  Wenn  z.  B. 
das  Ding  (die  Wesenheit),  das  sich  als  notwendig  seiend  dar- 
stellt, dieser  individuelle  Mensch  wäre,  dann  müßte  er  ent- 
weder diese  menschliche  Natur  darstellen,  insofern  er  ein  in- 
dividueller Mensch  ist  oder  nicht.  Stellt  er  nun  die  menschliche 
Natur  dar,  weil  er  ein  bestimmter  ^Mensch  ist,  der  diesen 
einzelnen  Menschen  darstellt,  so  liegt  es  also  in  der  Natur  der 
universellen,  menschlichen  Wesenheit^  daß  sie  dieses  Einzelding 
allein  sei.  Existiert  sie  dann  auch  noch  in  einem  anderen,  dann 
erfordert  die  menschliche  Natur  nicht  notwendig,  daß  sie  dieses 
erste  sei;  sondern  sie  wird  nur  dieses  eine  auf  Grund  eines 
Dinges,  das  verschieden  ist  von  der  menschlichen  Natur.  Ebenso 
verhält  es  sich  mit  dem  Wesen  des  notwendig  Seienden.  Besteht 
es  als  dieses  einzelne  Individuum  auf  Grund  seiner  selbst,  dann 
ist  es  unmöglich,  daß  diese  Wesenheit  zugleich  auch  einem 
anderen  zukomme.  Diese  Wesenheit  ist  also  nur  dieses  einzelne 
Individuum.  Wenn  nun  folgender  Fall  eintritt:  wenn  dieser 
Wesensbegriff  sich  in  diesem  Individuum  nicht  verwirklicht 
durch  Einwirkung  seines  Wesens,  sondern  auf  Grund  einer 
anderen  Ursache  —  das  Ding  ist  aber  nur  diese  Wesenheit 
(wörtlich:  „es")  auf  Grund  dieses  Individuums  —  dann  ist  also 
die  ihm  zukommende  eigentümliche  Existenz  von  einem  anderen 
entlehnt.  Wenn  also  dieser  Fall  eintritt,  dann  kann  dieses  Ding 
nicht  der  notwendig  Seiende  sein. 

Daher  ist  das  Wesen  des  notwendig  Seienden  dem  not- 
wendig Seienden,  dem  Einen,  allein  zukommend.    Wie  könnte 


Digitized  by 


Googk 


508 

auch  die  von  der  Materie  befreite  Wesenheit  zweien  Wesen 
und  zwei  Dingen  zugleich  zukommen?  Diese  beiden  mußten 
zwei  individuelle  Dinge  darstellen,  entweder  auf  Grund  ihres 
Wesensbegriffes  oder  auf  Grund  einer  Realität,  die  diesem 
Wesensbegriff  zukommt,  oder  auf  Grund  der  Lage,  des  Ortes, 
der  Gleichzeitigkeit  mit  einem  anderen  (:jtoTi)  oder  der  Zeit, 
kurz  auf  Grund  irgend  einer  Ursache;  denn  jedes  von  zwei 
Individuen,  die  sich  in  ihrem  Wesensbegriffe  nicht  unterscheiden, 
unterscheidet  sich  von  dem  anderen  durch  ein  reales  Ding,  das 
dem  Wesensbegriff  akzidentell  zukommt  und  sich  mit  ihm  ver- 
bindet. Jedes  Ding  aber,  das  nur  die  Existenz  seines  Wesens- 
begriffes hat  und  nicht  abhängig  ist  von  irgend  einer  äußeren 
Ursache  oder  einem  äußeren  Zustande  —  worin  könnte  dieses 
sich  von  einem  ähnlichen  unterscheiden?  Daher  kann  es  keine 
Mitart  besitzen,  kein  ihm  Gleichstehendes  innerhalb  seines 
Wesensbegriffes.  Folglich  hat  der  erste  Seiende  kein  Ähnliches 
neben  sich.*) 

Femer  lehren  wir:  daß  die  Notwendigkeit  der  Existenz 
nicht  ein  universeller  Begriff  sein  kann,  an  dem  eine  Vielheit 
von  Individuen  in  irgend  einer  Art  und  Weise  Teil  nimmt,  noch 
auch  eine  Vielheit  von  Wesenheiten,  die  in  der  Art  und  dem 


>)  Vgl.  Thomas,  Smn.  th.  I  3,  3  c:  Dens  est  idem  quod  sua  essentia  vel 
natura.  Ad  cuius  intellectum  sciendum  est  quod  in  rebus  composids  ex 
materia  et  forma  necesse  est  quod  differant  natura  vel  essentia  et  suppositum, 
quia  essentia  vel  natura  comprehendit  in  se  iUa  tan  tum,  quae  cadunt  in  de- 
finitione  speciei;  sicut  humanitas  comprehendit  in  se  ea  quae  cadunt  in  de- 
finitione  hominis;  his  enim  homo  est  homo,  et  hoc  significat  „humanitas", 
hoc  scilicet,  quod  homo  est  homo.  Sed  materia  individualis  cum  accidentibus 
Omnibus  individuantibus  ipsam  non  cadit  in  definitione  speciei;  non  enim  cadunt 
in  definitione  hominis  hae  cames  et  haec  ossa,  aut  albedo  vel  nigredo,  yel 
aliquid  huius  modi;  unde  hae  cames  et  haec  ossa  et  accidentia  designantia 
haue  materiam  non  concluduntur  in  humanitate;  et  tamen  in  eo  qui  est 
homo,  includuntur.  Unde  illnd  quod  est  homo,  habet  in  se  aliquid,  quod  non 
habet  humanitas;  et  propter  hoc  non  totaliter  idem  est  homo  et  humanitas; 
sed  humanitas  significatur  ut  pars  formalis  hominis,  quia  principia  definientia 
habent  se  formaliter  respectn  materiae  individuantis.  In  his  vero  quae  non 
sunt  composita  ex  materia  et  forma,  in  quibus  individuatio  non  est  per 
materiam  individualem,  id  est  per  hanc  materiam,  sed  ipsae  formae  per  se 
individuantur,  oportet  quod  ipsae  formae  sint  supposita  subsistentia;  unde  in 
eis  non  differret  suppositum  in  natura.  Et  sie  cum  Dens  non  sit  compositus 
ex  materia  et  forma,  oportet  quod  Dens  sit  sua  Deltas,  sua  Tita  et  quidqnid 
aliud  sie  de  Deo  praedicatur. 


Digitized  by 


Googk 


509 

Wesen  übereinstimmen,  noch  auch  Wesenheiten,  die  in  der  Art 
und  dem  Wesen  verschieden  sind.  Die  erste  Thesis  wird  da- 
durch begründet,  daß  die  Notwendigkeit  der  Existenz  (und  der 
notwendig  Seiende)  keine  solche  Wesenheit  besitzt,  die  sich  mit 
ihm  wie  ein  äußeres  Ding  verbindet  und  die  verschieden  wäre 
von  der  Notwendigkeit  des  Seins.  Daher  ist  es  nicht  möglich, 
daß  der  Wesenheit  des  notwendig  Seienden  irgendwelche  Ver- 
schiedenheit anhafte,  die  später  wäre  als  die  Notwendigkeit  des 
Seins  selbst  Femer  müßte  dasjenige,  wodurch  die  individua 
des  notwendig  Seienden  sich  unterscheiden  würden,  nachdem 
sie  im  notwendigen  Sein  übereinstimmten,  entweder  reale  Dinge 
sein,  so  daß  jedes  einzelne  dieser  Dinge,  die  in  dem  Wesens- 
begriffe übereinstimmen,  durch  dieses  neue  Wesen  sich  von  dem 
ihm  Gleichstehenden  unterschiede,  oder  es  müßten  Dinge  sein, 
die  nicht  real  existierten  in  irgend  einem  Einzelwesen  innerhalb 
des  Begriffes  des  notwendig  Seienden,  oder  sie  müßten  einigen 
Individuen  zukommen,  anderen  aber  nicht  Diesen  letzteren 
käme  nur  das  Nichtsein  dieser  verschiedenen  Bestimmungen 
zu.  Wenn  nun  die  unterscheidenden  Momente  für  die  Individuen 
innerhalb  des  notwendig  Seienden  nicht  existierten,  und  wenn 
also  im  Wesen  des  notwendig  Seienden  nichts  Reales  vorhanden 
ist,  wodurch  die  Verschiedenheit  der  Individuen  herbeigeführt 
wird,  nachdem  sie  in  der  Wesenheit  des  notwendig  Seienden 
übereinstimmen,  dann  existiert  also  zwischen  diesen  beiden  In- 
dividuen (die  in  Gott  angenommen  werden),  durchaus  keine 
Verschiedenheit  Sie  stimmen  also  in  ihrem  ganzen  Wesen 
überein.  Wir  hatten  aber  angenommen,  daß  sie  in  ihrer  Wesen- 
heit verschieden  seien,  nachdem  sie  in  dem  Begriffe  des  not- 
wendigen Seins  übereinstimmten. 

Sind  nun  aber  die  Individuen,  die  eine  Differenzierung 
innerhalb  des  notwendig  Seienden  herbeiführen,  in  einigen  von 
ihnen  nicht  existierend,  während  sie  in  anderen  existieren,  so 
daß  z.  B.  das  eine  von  diesen  beiden  Individuen  sich  von  dem 
anderen  trennt,  indem  es  die  Wesenheit  des  notwendig  Seienden 
besitzt^  zugleich  verbunden  mit  einem  anderen  Dinge  —  dieses 
ist  die  Bedingung  dafür,  daß  es  sich  von  dem  zweiten  unter- 
scheidet —  so  daß  zugleich  das  zweite  die  Wesenheit  des  not- 
wendig Seienden  besitzt,  ohne  zugleich  jenes  andere,  unter- 
scheidende Ding  in  sich  einzuschließen,  das  dem  ersten  zukommt, 
80  unterscheidet  und  trennt  sich   das  eine  von  dem  anderen 


Digitized  by 


Google 


510 

wegen  dieser  Privation  allein.  Daher  existiert  also  in  diesem 
Wesen  nichts  Reales  als  nur  die  Privation,  und  durch  diese 
unterscheidet  es  sich  von  den  anderen. 

Aus  der  Natur  des  notwendig  Seienden  und  seinem  Wesen, 
das  ihm  zukommt,  ergibt  es  sich,  daß  es  selbständig  besteht^ 
ohneO  irgend  eine  Bedingung,  die  ihm  anhaftet  Die  Privation 
hat  aber  keinen  positiven  Inhalt  in  den  Dingen;  sonst  mußten 
einem  einzelnen  Dinge  unendlich  viele  (begriffliche  und  zugleich 
reale)  Wesenheiten  (rationes)  zukommen.  Dann  aber  müßte  auch 
in  Grott  eine  unendlich  große  Verschiedenheit  von  Dingen  vor- 
handen sein.  Das  notwendige  Sein  müßte  dann  entweder  in 
dem  zweiten  Realen  vorhanden  sein,  ohne  dieses  „Mehr",  das 
in  dem  ersten  ist,  oder  es  ist  nicht  real  in  dem  notwendig 
Seienden  vorhanden.  Ist  es  nun  in  ihm  nicht  vorhanden,  dann 
besitzt  dasselbe  also  nicht  die  Notwendigkeit  des  Seins  ohne 
dieses  unterscheidende  Merkmal.  Das  unterscheidende  Merkmal 
ist  also  eine  Bedingung,  damit  das  notwendige  Sein  in  dem 
anderen  ebenfalls  zustande  komme,  wie  es  in  dem  ersten  ist 
Ist  nun  aber  das  Wesen  des  notwendig  Seienden  in  dem  zweiten 
Realen  vorhanden,  dann  ist  das  hinzugefügte,  unterscheidende 
Merkmal  eine  Differenz  (oder  ein  Überflüssiges)  und  gehört  nicht 
zu  dem  Begriff  des  notwendig  Seienden.  Dieses  ist  also  mit 
jenem  unterscheidenden  Merkmale  zusammengesetzt  Der  not- 
wendig Seiende  aber  ist  nicht  zusammengesetzt  Wenn  nun 
auch  jedes  einzelne  der  beiden  Individuen  dasjenige  besitzt,  wo- 
durch es  sich  von  dem  anderen  unterscheidet,  so  ergibt  sich 
daraus  eine  Zusammensetzung  in  jedem  einzelnen  dieser  Indi- 
viduen. Ferner  müßte  das  notwendige  Sein  als  solches  zur  voll- 
kommenen Existenz  gelangen  ohne  jedes  einzelne  der  beiden 
hinzugefügten  und  unterscheidenden  Merkmale  oder  diese  Merk- 
male müßten  sich  so  verhalten,  daß  sie  eine  Bedingung  dafür 
wären,  daß  das  notwendige  Sein  vollendet  werde.  Ist  das  not- 
wendige Sein  nun  aber  vollkommen  ohne  Hinzufügung  anderer 
Begriffe,  dann  enthält  es  in  seinem  Wesen  keine  Verschieden- 
heit Eine  Verschiedenheit  würde  nur  herbeigeführt  werden 
können  durch  Akzidenzien,  die  ihm  äußerlich  anhaften.  Dann 
ist  also  das  notwendige  Sein  in  seinem  Bestände  selbständig 
und  in  seinem  Bestehen  unabhängig  von  diesen  Akzidenzien. 


>)  Wörtlich:  „mit  der  Priration«. 


Digitized  by 


Googk 


511 

Wäre  das  notwendige  Sein  aber  nicht  (in  seiner  Natur)  voll- 
ständig (ohne  diese  hinzugefügten  Merkmale),  dann  ergäbe  sich, 
daß  es  nicht  vollständig  wäre  ohne  jenes  bestimmte  Merkmal, 
damit  jenem  Individuum  das  Wesen  des  notwendig  Seienden  zu- 
komme, 0  oder  das  notwendig  Seiende  wäre  ein  Begriff,  der  in 
sich  selbst  realen  Bestand  hat  Dann  sind  also  diese  beiden 
unterscheidenden  Merkmale  und  ebensogut  jedes  einzelne  von 
ihnen  keine  Bestandteile  der  Individualität  Gottes,  insofern  diese 
das  notwendig  Seiende  darstellt.  Jedoch  kann  dasselbe,  damit 
es  zum  realen  Dasein  gelangt,  nicht  des  einen  oder  anderen 
dieser  unterscheidenden  Merkmale  entbehren.  So  verhält  sich 
z,  B.  die  erste  Materie,  selbst  wenn  sie  in  ihrer  Natur  als 
Materie  ihre  eigene  Substanzialität  besitzt;  denn  ihre  Existenz 
erlangt  sie  aktuell  nur  durch  diese  Wesensform  oder  durch  eine 
andere. 

Ein  anderes  Beispiel  bietet  die  Farbe.  Wenn  auch  die 
Differenz  der  schwarzen  Farbe  der  Farbe  nicht  ihren  Bestand 
verleiht,  insofern  sie  im  generischen  Sinne  eine  Farbe  ist,  noch 
auch  die  weiße  Farbe,  so  gilt  doch  folgendes.  Jede  einzelne 
von  beiden  verhält  sich  wie  eine  Ursache  zu  ihr  (zum  Genus 
der  Farbe),  damit  sie  aktuell  existiere  und  vollständig  werde.') 
Das  eine  ist  nicht  Ursache  für  das  Genus  selbst,  sondern,  welche 
Differenz  auch  immer  auftreten  mag,  das  eine  bedeutet  eine 
besondere  Art  und  das  andere  ebenso.  Verhält  sich  aber  der 
Zustand  so,  wie  es  in  der  ersten  Betrachtungsweise  dargelegt 
wurde,  dann  muß  ein  jedes  von  diesen  beiden  (Arten)  in  das 
innere  Wesen  und  die  Konstitution  des  notwendig  Seienden  als 
Teil  eintreten  und  eine  Bedingung  für  dasselbe  bilden.  Wo 
also  dann  der  Begriff  des  notwendig  Seienden  existiert,  muß 
auch  notwendig  mit  ihm  dieser  andere  Begriff  verbunden  sein. 
Betrachtet  man  aber  das  Verhältnis  in  der  zweiten  Art  und 
Weise,  dann  ist  die  notwendige  Existenz  in  sich  unselbständig 
und  sie  bedarf  eines  anderen  Dinges,  durch  welches  sie  existiert. 
Dann  also  ist  der  notwendig  Seiende,  nachdem  er  in  realer 
Weise  die  Wesenheit  des  notwendig  Seienden  erhalten  hat,  eines 


')  Die  anterscheidende  Bestimmang  verhielte  sich  dann  wie  die  Ur- 
sache, die  den  Wesensinhalt  mitteilt. 

*)  Zn  dem  Gedanken,  die  Differenz  sei  Ursache  der  Aktualität  vgl. 
Fär&bt,  Bingsteine  Nr.  6. 


Digitized  by 


Google 


512 

anderen  Dinges  bedürftig,  durch  das  er  existiert    Dies  jedoch 
ist  unmöglich. 

Betreffs  der  Farbe  und  der  ersten  Materie  liegen  die  Ver- 
hältnisse nicht  in  der  gleichen  Weise;  denn  die  erste  Materie, 
insofern  sie  erste  Materie  ist,  ist  ein  reales  Ding  (eine  „Wesen- 
heit"). Ebenso  ist  die  Farbe  insofern  sie  Farbe  ist,  ein  reales 
Ding  für  sich  und,  insofern  sie  real  existiert,  ist  sie  wiederum 
etwas  Besonderes.  An  Stelle  der  Farbe  tritt  dort  der  notwendig 
Seiende  und  an  Stelle  der  Differenz  des  Schwarzen  und  Weißen 
hier,  dort  dasjenige,  wodurch  jedes  einzelne  der  beiden  an- 
genommenen Individuen  innerhalb  des  notwendig  Seienden  sich 
von  dem  anderen  unterscheidet  und  eine  ihm  eigentümliche  Be- 
stimmung erhält  Jede  der  beiden  Differenzen,  das  Schwarze 
sowohl  wie  das  Weiße,  bildet  keinen  inneren  Teil  für  die  Kon- 
stitution des  generischen  Begriffes  der  Farbe  als  solcher.  Ebenso 
verhält  sich  die  Eigentümlichkeit  eines  jeden  einzelnen  dieser  in 
dem  notwendig  Seienden  angenommenen  Individuen  zu  ihm.  Es 
bildet  keinen  inneren  Teil  in  der  Konstitution  des  notwendig 
Seienden.  In  dem  herangezogenen  Beispiele  haben  die  beiden 
sich  unterscheidenden  Farben  darauf  eine  Einwirkung,  daß  die 
Farbe  (das  Genus)  real  existiere,  d.  h.  daß  die  Farbe  etwas 
reales  werde,  das  verschieden  ist  von  der  Farbe  (als  Grenus 
genommen)  und  das  hinzutritt  zu  ihrem  generischen  Sein  als 
Farbe.  Hier  aber,  in  Grott,  ist  dieses  unmöglich;  denn  die  not- 
wendige Existenz  ist  in  ihrem  Dasein  selbständig  begründet 
Sie  ist  vielmehr  selbst  das  Fundament  (und  die  Affinnation)  des 
Daseins.  Ja,  die  Existenz  ist  eine  Bedingung  für  die  Kon- 
stitution der  Wesenheit  des  notwendig  Seienden,  weil  dasselbe 
die  Existenz  selbst  ist  in  Verbindung  mit  einer  Privation 
oder  der  Unmöglichkeit,  vergänglich  zu  sein.  Inbetreff  der 
Farbe  ist  aber  die  Existenz  ein  Akzidens,  das  einer  Wesenheit, 
nämlich  der  Farbe,  anhaftet  Es  bringt  daher  die  Wesenheit^ 
die  in  sich  selbst  nur  Farbe  ist,  hervor  und  macht  aus  ihr  ein 
reales,  aktuell  existierendes  Individuum.  Wenn  also  das  unter- 
scheidende Moment  nicht  eine  Ursache  wäre  für  die  Begründung 
der  Wesenheit  des  notwendig  Seienden,  sondern  eine  Ursache 
dafür  darstellte,  daß  demselben  das  Dasein  zukomme,  und  wenn 
zugleich  das  Dasein  etwas  für  diese  Wesenheit  äußerliches  wäre 
in  derselben  Weise  wie  es  äußerlich  ist  für  die  Wesenheit  der 
Farbe,  dann  verhielte  sich  das  Sein  in  Gott  ebenso  wie  in  den 


Digitized  by 


Googl( 


513 

übrigen,  allgemeinen  Wesenheiten,  die  sich  in  Arten  durch  Diffe- 
renzen unterscheiden,  kurz  die  sich  in  begriffliche  Wesenheiten, 
die  voneinander  verschieden  sind,  teilen  lassen.  Jedoch  muß 
das  Dasein  aktuell  sein,  damit  seine  „Notwendigkeit"  (als  die 
ihm  zukommende  Differenz)  wirklich  werde.  Daher  ist  also  das 
differenzierende  Merkmal  für  die  Wesenheit  erforderlich  und  ver- 
hält sich  wie  ein  Ding,  das  sich  in  einem  anderen  befindet. 
Dieses  andere  ist  aber  so  beschaffen,  daß  es,  um  wirklich  zu 
sein,  der  Differenz  entbehren  kann.  (Als  notwendig  Seiendes 
hat  die  Wesenheit  bereits  die  Notwendigkeit  der  Existenz,  kann 
dieselbe  also  nicht  mehr  als  Differenz  oder  Akzidens  erhalten.) 
Dies  enthält  aber  einen  Widerspruch.  Der  Notwendigkeit  der 
Existenz  haftet  die  Existenz  also  nicht  an  wie  ein  zweites 
Ding,  dessen  sie  bedarf,  wie  etwa  die  Farbe  der  Existenz  wie 
eines  zweiten,  von  ihr  verschiedenen,  Dinges  bedarf  (um  aktuell 
zu  sein). 

Kurz,  wie  kann  ein  Ding  (eine  Wesenheit)  existieren, 0  das 
dem  Wesen  des  notwendig  Seienden  äußerlich  wäre,  und  eine 
Bedingung  für  die  Notwendigkeit  des  Seins  bildete?  Dies  ist 
unmöglich,  denn:  wie  kann  femer  das  reale  Wesen  des  not- 
wendig Seienden  abhängig  sein  von  einem  Prinzipe,  das  ihm  die 
Notwendigkeit  verleiht?  Dann  muß  das  notwendig  Seiende  in 
sich  selbst  nnt  die  Möglichkeit  der  Existenz  besitzen.  Des- 
halb stellen  wir  unsere  Thesis  von  Anfang  an  fest  und  lehren 
kurz:  die  Differenzen  und  ähnliche  Bestimmungen  können  nicht 
die  Wesenheit  des  generischen  Begriffes  darstellen  als  eines 
generischen  Begriffes.  Sie  sind  vielmehr  manchmal  die  Ursache 
dafür,  daß  ein  reales  Wesen  wirklich  Bestand  erhalt«.  So  ist 
z.  B.  das  rationale  nicht  eine  Bedingung,  von  der  das  animal 
abhinge,  insofern  es  den  Begriff  des  animal  (des  Genus)  und 
seine  reale  Wesenheit  darstellt.  Der  Begriff  des  rationale  kommt 
ihm  vielmehr  nur  insofern  zu,  als  es  (wörtlich:  damit  es  ein  Ind. 
werde)  ein  real  existierendes  Individuum  ist  (vgl.  dazu  die 
wörtlich   übereinstimmenden  Ausführungen  Färäbi,   Ringsteine 


*)  Cod.  d:  „das  keiner  zweiten  Existenz  bedürftig  wäre  (Cod.  c  GL: 
d.  h.  wie  kann  es  einer  Ursache  enthoben  sein  auf  Gmnd  seines  inneren 
Reichtums).  Dieses  Zweite  haftet  ihm  an  und  das  Erste  ist  seiner  bedürftig, 
80  wie  die  Wesenheit  der  Farbe  einer  Existenzweise  bedürftig  ist,  die  den 
geschOpflichen  Dingen  zukommt.  Wie  kann  aber  die  „Ursache"  für  die 
Existenz  des  notwendigen  Seins  abhängig  sein  . . ." 

Horten,  Dm  Booh  der  Genesang  der  Seele.  33 


Digitized  by 


Googk 


514 

Nr.  6).  Ist  nun  der  allgemeine  Begriff  das  notwendig  Seiende 
selbst  und  existiert  die  Differenz,  deren  der  notwendig  Seiende 
bedarf,  damit  er  die  Notwendigkeit  der  Existenz  erhalte,  wirk- 
lich, dann  bildet  dasjenige,  was  sich  wie  eine  Differenz  verhält, 
einen  Teil  des  Wesens  desjenigen,  das  sich  wie  ein  (Jenus  ver- 
hält. Dasjenige,  wodurch  also  die  Unterscheidung  (innerhalb 
des  Genus)  herbeigeführt  wird,  verhält  sich  nicht  in  allen  diesen 
Gegenständen  wie  eine  Differenz  und  ist  um  so  leichter  zu 
erkennen. 

Daher  ist  es  klar,  daß  der  notwendig  Seiende  nicht  einen 
universellen  Begriff  darstellt.  Der  erste  Seiende  hat  also  kein 
Wesen,  das  ihm  gleichsteht,  und  weil  er  frei  ist  von  jeder 
Materie  und  von  den  Begleiterscheinungen  der  Materie,  femer 
vom  Vergehen  —  diese  beiden  sind  Voraussetzungen  für  alles, 
was  unter  den  Begriff  des  Konträren  fällt  —  so  besitzt  also  der 
erste  Seiende  kein  Kontrarium.  Es  wurde  bereits  dargelegt, 
daß  der  erste  Seiende  kein  Genus,  noch  eine  Wesenheit,  noch 
eine  Qualität,  Quantität,  ein  ubi,  ein  quando,  ein  ihm  Ähn- 
liches, ein  ihm  Gleiches,  noch  auch  ein  Kontrarium  besitzt  Er 
ist  hoch  erhaben.  Er  hat  femer  keine  Definition,  keine  De- 
monstration 0  seines  Wesens.  Er  ist  vielmehr  die  Demonstration 
für  alle  Dinge.  Auf  seine  Existenz  weisen  nur  Hinweise  hin 
(demonstratio  per  effectum),  die  deutlich  sind  (sie  kann  also 
nicht  aus  höheren  Prinzipien  abgeleitet  werden).  Hast  du  sein 
Wesen  ergründet,  so  kommt  ihm  neben  dem  Begriffe  der  Indi- 
vidualität nur  noch  die  Negation  von  Inhalten  zu,  die  eine 
Verähnlichung  Gottes  mit  dem  Geschöpfe  bedeuten  würden.  Es 
kommen  ihm  ferner  positive  Bezeichnungen  zu,  nämlich  die  aller 
Relationen,  (die  keine  Vielheit  in  Gott  hervorrufen). 

Daher  stammt  jedes  Ding  von  ihm.  Er  jedoch  ist  nicht 
gleichgeordnet  mit  dem  Wirklichen,  das  von  ihm  stanunt    Er 


0  Vgl.  Thomas,  Som.  th.  1,  7  ad  1:  Licet  de  Deo  non  possimns  scire 
quid  est  (durch  die  Definition),  ntimar  tarnen  in  hac  doctrina  effectu  eins,  Tel 
naturae  vel  gratiae,  loco  definitionis,  ad  ea  qoae  de  Deo  in  hac  doctrina  con- 
siderantnr;  sicut  et  in  quibosdam  scientiis  philosophids  demonstratnr  aliquid 
de  causa  per  effectum  (Indizienbeweis,  arab.  daUl)  accipiendo  effectum  loco 
definitionis  causae.  Ib.  2, 2  ad  2:  Cum  demonstretur  causa  per  effectum, 
necesse  est  uti  effectu  loco  definitionis  causae  ad  probandum  causam  esse:  et 
hoc  maxime  contingit  in  Deo,  quia  ad  probandum  aliquid  esse,  necesse  est 
acoipere  pro  medio,  quid  significat  nomen,  non  autem  quod  quid  est  (essentlam). 
Ib.  c:  Unde  Deum  esse  demonstrabile  est  per  effectus  nobis  notos. 


Digitized  by 


Googk 


515 

ist  also  jedes  Ding,  ohne  jedoch  selbst  irgend  eines  der  wirk- 
lichen Dinge  zu  sein,  die  auf  sein  Wesen  folgen. 


Sechstes  Kapitel 

Gott  ist  vollkommen,  ja  sogar  erhaben  über  jede  Vollkommenheit 
Die  Vollkommenheit  ist  ein  Gut.  Er  verleiht  jedem  Dinge,  das  im 
Sein  später  ist  wie  er,  das  Dasein.  Gott  ist  der  VITahre,  der  reine 
Verstand.  Er  denkt  alle  Dinge.  Ferner,  wie  erkennt  er  sein  Wiesen, 
wie  die  Universalia  and  wie  die  Individua,  und  in  welcher  VITeise  kann 
man  von  ihm  sagen,  daB  er  die  Dinge  erfasse? 

Der  notwendig  Seiende  besitzt  eine  vollkommene  Existenz; 
denn  kein  Teil  seiner  Existenz  und  der  Vollkommenheit  seiner 
Existenz  ist  zurücktretend  hinter  seinem  Wesen  und  mangelhafter 
wie  dieses.')  Kein  Teil  dessen  also,  was  zum  Genus  seiner 
Existenz  gehört,  befindet  sich  außerhalb  seiner  Wirklichkeit  und 
kommt  ihm  durch  einen  anderen  zu  in  der  Weise,  wie  das  Sein 
in  einem  anderen  Dinge  als  Gott  zur  Aktualität  gelangt.*)  So 
verhält  sich  die  Wesenheit  des  Menschen;  denn  viele  Dinge,  die 
zur  Vollkommenheit  seines  Daseins  gehören,  fehlen  ihm.  Femer 
findet  sich  auch  das  Wesen  des  Menschen  in  einem  anderen 
Individuum,  als  dieser  bestimmte  Mensch. 

Der  notwendig  Seiende  ist  erhaben  über  jede  Vollkommen- 
heit; denn  ihm  eignet  nicht  nur  das  Sein,  das  ihm  persönlich 
allein  zukommt,  sondern  er  ist  auch  jedes  Wirkliche^)  und  jedes 
Wirkliche  strömt  aus  von  seinem  Sein.  Jedes  Ding  ist  sein 
eigen  4)  und  emaniert  aus  ihm. 

Der  notwendig  Seiende  ist  in  seinem  Wesen  reines  Gute. 
Das  Gute  ist  kurz  dasjenige,  was  ein  jedes  Ding  erstrebt.*)  Das- 
jenige aber,  was  ein  jedes  Ding  erstrebt,  ist  das  Sein  oder  die 


*)  Vgl.  dazu  F&r&bl,  Kingsteine  Nr.  23  und  Kommentar  IsmrfUs  S.  279, 9. 

*)  WörtUch:  „so  wie  es  in  einem  anderen  als  Er  hervorgeht". 

')  Gott  enthüt  in  sich  den  Inhalt  jedes  Dinges,  insofern  die  Ursache 
den  Inhalt  ihrer  Wirkung  eminentiori  modo  in  sich  enthält.  Femer  ist  die 
Existenz  jedes  Dinges  eine  Emanation  (Thomas:  participatio)  aus  Gott. 

*)  Vgl.  Pär&hl,  Ringsteine  Nr.  8:  „Ihm  ist  das  Weltall  eigen". 

»)  Ygfl.  Ari8t.,  Etb.  1094  a  3. 

33* 


Digitized  by 


Google 


516 

Vollendung  des  Seins.  Auch  sie  gehört  in  den  Begriff  des 
Seins.  Das  Nichtsein  als  solches  wird  nicht  erstrebt  Es  wird 
nur  erstrebt,  insofern  ihm  eine  Existenzart  oder  die  Vollendung 
einer  Existenz  folgt.  Dasjenige,  was  man  daher  im  eigentlichen 
Sinne  des  Wortes  erstrebt,  ist  das  Dasein.  Daher  ist  das  Da- 
sein das  reine  Gute  und  die  reine  Vollkommenheit  Das 
Gute  ist  kurz  dasjenige,  was  jedes  Ding  in  seiner  umgrenzten 
Wesenheit  erstrebt  und  durch  welches  seine  Existenz  vollkommen 
wird.  Das  Böse  hat  in  sich  keine  Wesenheit;  es  ist  nur  die 
Privation  einer  Substanz  oder  die  Privation  der  Vollendung  eines 
Zustandes,  der  einer  Substanz  zukommen  müßte.  Daher  ist  also 
das  Dasein  das  Wesen  des  Guten.  Die  Vollendung  des  Daseins 
ist  das  Wesen  des  Guten  im  Dasein.  Das  Dasein,  das  nicht 
verbunden  ist  mit  Privation,  weder  mit  der  Privation  einer 
Substanz  noch  mit  der  Privation  eines  Dinges,  das  der  Substanz 
anhaftet,  und  das  vielmehr  aktuell  immer  existiert^  —  dieses  ist 
das  reine  Gute. 

Das  per  se  nur  der  Möglichkeit  nach  Seiende  ist  nicht 
das  reine  Gute;  denn  sein  Wesen  ist  in  sich  selbst  nicht  not- 
wendig per  se  mit  Dasein  behaftet  Daher  ist  sein  Wesen  in 
sich  selbst  mit  Privation  ausgestattet  (oder:  kann  das  Nichtsein 
enthalten).  Jedes  Wesen  aber,  das  eine  Privation  in  irgend  einer 
Weise  in  sich  aufnehmen  kann,  ist  also  nicht  allseitig  vom 
Bösen  frei,  noch  auch  vom  Mangel.  Das  reine  Gute  ist  also  nur 
im  notwendig  Seienden  seinem  Wesen  nach  vorhanden. 

Man  nennt  femer  ein  Gut  dasjenige,  das  den  Dingen  Voll- 
kommenheiten und  Güter  verleiht  Es  wurde  bereits  dargelegt, 
daß  der  notwendig  Seiende  durch  sein  Wesen  jedem  Dinge  die 
Existenz  verleihen  muß,  ebenso  die  Vollendung  des  Seins.  Da- 
her ist  Er  in  dieser  Rücksicht  ein  Gut,  ohne  daß  ein  Mangel 
oder  ein  Böses  zu  seinem  Wesen  Zutritt  hätte. 

Jedes  notwendig  -Seiende  ist  wahr;  denn  die  Wesenheit 
jedes  Dinges  ist  seine  eigentümliche  Existenz,  die  ihm  positiv 
zukommt  Daher  ist  kein  Wesen  wahrer,  als  der  notwendig 
Seiende.  Als  wahr  bezeichnet  man  femer  dasjenige,  dessen  Be- 
griffe in  der  Außenwelt  ein  reales  Korrelat  entspricht  Auch  in 
dieser  Auffassung  der  Wahrheit  ist  kein  Wesen  wahrer  als  der 
wahrhaft  Seiende,  insof em  dem  Begriffe  seines  Wesens  ein  Korre- 
lat in  der  Außenwelt  entspricht.  Dabei  besteht  er  noch  ewig, 
und  zugleich  mit  seiner  Ewigkeit  besteht  er  auf  Gmnd  seines 


Digitized  by 


Googk 


517 

Wesens,  nicht  durch  einen  anderen  als  er.  Die  übrigen  Dinge 
verhalten  sich  in  ihrem  Wesen,  wie  du  gesehen  hast,^)  nicht  so, 
daß  sie  die  Existenz  notwendig  beanspruchen.  (Vgl  Färäbi,  Ring- 
steine Nr.  58,  Ende.)  Sie  sind  vielmehr  in  sich  selbst  und  mit 
Abstraktion  von  ihrer  Relation  zum  notwendig  Seienden  auf 
das  Nichtsein  hingeordnet.  2)  Sie  sind  also  in  ihrem  Wesen  alle 
vergänglich,  durch  den  notwendig  Seienden  aber  sind  sie  wahr.  In 
Beziehung  zu  Gott^)  sind  sie  wirklich,  und  daher  ist  jedes  Ding 
außer  ihm  vergänglich  (Koran  28,  88).  Ihm  kommt  es  also  im 
eminenten  Sinne  zu,  der  Wahre  zu  sein. 

Der  notwendig  Seiende  ist  reiner  Verstand;  denn  er  ist 
ein  Wesen,  das  von  der  Materie  in  jeder  Beziehung  frei  ist. 
Die  Ursache  dafür,  daß  ein  Ding  nicht  begrifflich  erkennbar  ist, 
ist,  wie  du  schon  gesehen  hast,*)  die  Materie  und  die  Begleit- 
erscheinungen der  Materie,  nicht  etwa  seine  Existenz,  noch  auch 
seine  Individualität  Beide  werden  als  identisch  behandelt.-^) 
Das  als  reine  Wesensform  Existierende  ist  demnach  das  begriff- 
lich faßbar  Wirkliche,  und  dieses  ist  die  Existenzart,  die,  wenn 
sie  einem  Dinge  zukommt,  Grund  und  Ursache  dafür  ist,  daß  das 
Ding  ein  begrifOiches  Wesen  darstellt  (Verstand  hat  und  auch 
erkennbar  ist).  Dasjenige  aber,  das  vom  Verstände  erfaßt  werden 
kann,  ist  begrifflich  erfaßbar  in  der  Potenz.  Dasjenige,  was  der 
Verstand  tatsächlich  erfaßt,  nachdem  es  der  Möglichkeit  nach 
erkennbar  war,  ist  aktueller  Verstand,  der  zur  Vollendung  ge- 
langt ist.  Dasjenige  Wesen,  das  seinem  innersten  Sein  nach 
per  se  aktuell  ist,  ist  durch  sich  selbst  Verstand. 

Daher  ist  Er  auch  ein  Wesen,  das  rein  begrifflich  faßbar 
Ist ;  denn  dasjenige,  was  hindert,  daß  ein  Ding  begrifflich  faßbar 
ist,  ist  der  Umstand,  daß  es  in  einer  Materie  oder  in  ihren  Be- 
gleiterscheinungen vorhanden  ist.  Dies  ist  auch  zugleich  das- 
jenige, was  hindert,  daß  das  Wesen  in  sich  selbst  rein  geistig 
seL  Dies  ist  dir  bereits  klar  geworden.  Derjenige  also,  der 
von  der  Materie  und  den  Begleitei-scheinungen  der  Materie  frei  ist, 
und  der  seinem  eigentlichen  Wesen  naeh  „Sein"  ist  und  zwar 
substanzielles  und  unkörperliches  Sein,  dieser  ist  ein  Wesen,  das 

»)  Abh.  I,  6  und  7,  und  Vm. 

')  Wörtlich:  „verdienen  (und  beanspruchen)  das  non  esse''. 

')  Wörtlich:  „auf  die  Richtung,  die  Ihm  nahe  ist". 

^  Naturw.  VI.  Teil,  V,  5  und  6. 

»)  VgL  Fär&bi,  Eingsteine  Nr.  1. 


Digitized  by 


Google 


518 

in  sich  begrifflich  faßbar  ist.  Weil  er  seinem  Wesen  nach  Ver- 
stand ist,  ist  er  auch  durch  sich  und  in  sich  begrifflich  faßbar, 
und  daher  ist  er  inbezug  auf  sein  Wesen  begrifflich  erkennbar. 
Sein  Wesen  ist  daher  Verstand,  Verstehender  und  Gedachtes, 
jedoch  nicht  in  der  Weise,  als  ob  in  ihm  eine  Vielheit  von 
Dingen  existierte ;  denn  insofern  er  eine  Individualität  ist^  die  frei 
ist  von  der  Materie,  ist  er  seinem  Wesen  nach  geistig  und  Ver- 
stand, und  insofern  man  in  ihm  betrachtet,  daß  er  in  seinem 
unmateriellen  Wesen  sich  selbst  präsent  ist,  ist  er  für  sein  Wesen 
begrifflich  faßbar.  Insofern  man  ihn  auffaßt  als  ein  Wesen,  dem 
ein  unmaterielles  Sein  zukommt  (das  zugleich  sich  selbst  er- 
kennt), ist  er  sich  selbst  begrifflich  erkennend.  Das  geistig  Er- 
kannte ist  die  unkörperliche  Wesenheit,  die  einem  Dinge  präsent 
ist.O  Der  Denkende  ist  ein  solcher,  der  eine  unkörperliche 
W^esenheit  besitzt,  die  einem  Dinge  zukommt,  ohne  daß  es  je- 
doch diesem  Dinge  eigen  ist,  diese  Wesenheit  oder  ein  anderes 
zu  sein.')  Der  Begriff  „Ding"  Ist  vielmehr  im  allgemeinen 
Sinne  zu  nehmen.  In  diesem  Sinne  ist  er  weiter  als  der  Begriff 
des  Individuums  (wörtlich  des  „Er")  oder  der  Begriff  des  anderen. 

Daher  ist  also  der  erste  Seiende,  wenn  du  ihn  betrachtest^ 
insofern  er  eine  unkörperliche  Wesenheit  besitzt,  ein  Denkender, ') 
und  wenn  du  ihn  betrachtest,  insofern  er  eine  unkörperliche 
Wesenheit  besitzt,  die  in  einem  realen  Dinge  präsent  wird,  ist  er 
begrifflich  erfaßbar  und  erkannt.  Dieses  reale  Wesen  (das  er- 
kennt und  erkannt  wird)  ist  sein  Wesen  selbst  Daher  ist  er 
denkend,  weil  er  eine  unkörperliche  Wesenheit  besitzt,  die  einem 
realen  Dinge  präsent  ist  und  zwar  einem  Dinge,  das  sein  Wesen 
selbst  ausmacht  Er  ist  also  begrifflich  faßbar  und  erkannt, 
weil  seine  unkörperliche  Wesenheit  einem  Dinge  präsent  ist  und 
dieses  Ding  ist  er  selbst 

Jeder,  der  ein  wenig  nachdenkt,  weiß,  daß  ein  Denkender 
auch  ein  von  ihm  gedachtes  Objekt  voraussetzt  Diese  Voraus- 
setzung aber  schließt  nicht  in  sich  ein  und  besagt  nicht,  daß 
dieses  andere  Ding  ein  anderes  sei  oder  das  Denkende  selbst 
Ja  sogar  der  sich  Bewegende  setzt,  wenn  er  ein  Ding  als  Be- 
weger erfordert,  in  dieser  selben  Konsequenz  nicht  voraus,  daß 

*)  Geistig  erkannt  Lst  jeder  nnkörperliche  Inhalt,  der  einer  unkörper- 
lichen Substanz  präsent  ist. 

*)  Das  Ding  ist,  weil  unkörperlich,  nicht  individualisiert. 
')  Cod.  a:  „Er  ist  ein  Erfassender,  Denkender". 


Digitized  by 


Googl( 


i 


519 

der  Beweger  ein  anderes  Ding  oder  er  selbst  sei.  Wenn  be- 
wiesen werden  soll,  daß  das  Objekt  in  dem  einen  Beispiel  und 
der  Beweger  in  dem  anderen  ein  anderes  (verschiedenes  Ding) 
sein  soll,  so  muß  dazu  ein  neuer  Beweisgang  unternommen 
werden,  der  dieses  dartut  Es  ist  also  klar,  daß  es  unmöglich 
ist^  daß  dasjenige,  was  bewegt,  zugleich  dasjenige  sei,  das  be- 
wegt wird-O  I^i^  macht  es  nicht  unmöglich,  daß  man  sich 
eine  Schule  von  Philosophen  denken  kann  —  sie  bilden 
eine  große  Zahl  —  die  sich  dachte,  in  der  Welt  der  realen 
Dinge  existiere  ein  Ding,  das  sich  selbst  bewege,  bis  zu  der  Zeit, 
als  man  bewies,  dieses  sei  unmöglich.  Die  begriffliche  Fassung 
des  Bewegenden  und  des  Bewegten  hat  aber  nicht  diese  Kon- 
sequenz (die  der  Unmöglichkeit)  notwendig  zur  Folge.  Denn 
der  sich  Bewegende  setzt  voraus,  daß  ein  Ding  existiei'e,  das 
ihn  bewegt  Dabei  ist  jedoch  nicht  die  Bedingung  gemacht, 
daß  dieses  Bewegende  ein  anderes  sei,  als  das  sich  Bewegende, 
oder  daß  es  dasselbe  sei  Der  Bewegende  aber  hat  zur  Voraus- 
setzung, daß  ein  Ding  existiert,  das  sich  unter  seinem  Einflüsse 
bewegt,  ohne  daß  gleichfalls  dabei  die  Bedingung  gemacht  ist, 
daß  dieses  Bewegte  ein  anderes  sei  oder  er  selbst 

Ebenso  verhalten  sich  die  Relationen.  Ihre  individuelle 
Bestimmung  wird  durch  ein  besonderes  Ding  (die  Termini  der 
Celation)  erkannt,  nicht  durch  die  Beziehung  und  die  an- 
genommene Relation  selbst,  die  der  Verstand  sich  denkt  So 
beweisen  wir  z.  B.  in  evidenter  Weise,  daß  wir  eine  Fähigkeit 
besitzen,  durch  die  wir  die  Dinge  erkennen.  Daß  aber  die  Kraft, 
durch  die  wir  die  Dinge  erkennen,  diese  bestimmte  Kraft  sei, 
und  daß  diese  zugleich  diejenige  sei,  die  Objekt  des  Erkennens 
ist,  dieses  bedeutet,  daß  diese  Fähigkeit  sich  selbst  erkennt, 
oder  es  müßte  eine  andere  Fähigkeit  geben,  die  diesen  Begriff 
auffaßt  Dann  hätten  wir  zwei  Fähigkeiten,  eine  Fähigkeit, 
durch  die  wir  die  Dinge  erkennen,  und  eine  andere  Fähigkeit, 
durch  die  wir  diese  Fähigkeit  begrifflich  erfassen.  In  dieser 
Weise  aber  wird  eine  unendliche  Kette  hergestellt  Dann 
hätten  wir  also  Fähigkeiten,  mit  denen  wir  die  Dinge  erkennen, 
die  aktuell  unendlich  an  Zahl  wären. 


>)  Cod.  a:  Es  tat  also  ein  Beweis  für  etwas,  das  in  der  Natur  un- 
bekannt ist  (d.  h.  nicht  intuitiv  klar  ist),  aber  durch  die  Untersuchung  er- 
worben wird. 


Digitized  by 


Google 


520 

Dalier  ist  klar:  der  Umstand,  daß  ein  Ding  begrifflich  faß- 
bar ist,  hat  nicht  zur  Folge,  daß  es  nach  Art  eines  gewissen 
Dinges  0  (das  eine  bestimmte  Wesenheit  besitzt)  begrifflich  faßbar 
sei,  und  daß  dieses  Ding  ein  anderes  sein  muß  (als  der  Er- 
kennende). Dadurch  ist  zugleich  klar,  daß  der  Begriff  des  Er- 
kennenden nicht  notwendigerweise  zur  Konsequenz  hat,  daß  er  nur 
ein  anderes  Ding,  als  er  selbst,  erkennt  Vielmehr  ist  jedes 
Wirkliche,^)  das  eine  von  der  Materie  befreite  Wesenheit  besitzt, 
auch  begrifflich  erkennend,  und  jede  Wesenheit,  die  frei  ist  von 
der  Materie  und  die  einem  anderen  Dinge  oder  sich  selbst 
präsent  ist,  ist  auch  begrifflich  erkennbar  und  erkannt.  Denn 
diese  Wesenheit  ist  in  sich  selbst  denkend  und  in  sich  selbst 
auch  erkennbar  und  erkannt  für  eine  jede  unkörperliche  Wesen- 
heit, sei  es  nun,  daß  diese  sich  von  ihr  unterscheidet  (und  eine 
andere  Substanz  bildet)  oder  nicht  (im  letzteren  Falle  ist  das 
Erkennen  ein  reflexives). 

Der  Umstand,  daß  ein  Ding  begrifflich  erkannt  oder  be- 
grifQich  erkennend  sei,  hat,  wie  du  erkannt  hast,  nicht  zur 
Folge,  daß  dieses  Ding  eine  Zweiheit  in  seinem  Wesen  oder  auch 
in  logischer  Hinsicht  ausmache.  Die  Zweiheit  dieses  Dinges 
wäre  nur  dadurch  (begrifflich)  herbeigeführt,  daß  man  dasselbe 
betrachtet  als  eine  Wesenheit,  die  durch  sich  selbst  unkörperlich 
ist,  und  als  eine  solche,  deren  Wesen  ihr  selbst  geistig  präsent 
ist.  In  diesem  Verhältnisse  besteht  ein  Frülier  und  Später  in 
der  Ordnung  der  Begriffe.  Der  wirklich  erreichte  Zweck  aber 
(d.  h.  das  Ding,  das  real  existiert),  ist  nur  ein  einziges  Ding,  ohne 
(innere)  Teilung.  Daher  ist  klar,  daß  der  Umstand:  dieses  Ding 
sei  denkend  und  gedacht,  nicht  zur  Folge  hat,  daß  in  ihm  irgend- 
welche Vielheit  auftritt. 

Der  notwendig  Seiende  kann  also  nicht  die  Dinge  denken, 
indem  er  sein  Weissen  aus  den  Dingen  entnimmt;  sonst  müßte 
sein  Wesen  entweder  durch  dasjenige  seinen  Bestand  erhalten, 
was  es  denkt  —  dann  müßte  es  durch  die  realen  Dinge  (die 
als  Objekt«  des  Denkens  in  ihm  präsent  sind)  zum  Bestände 
gelangen  —  oder  diese  Denkobjekte  müßten  sich  wie  Akzi- 
denzien seines  Wesens  verhalten.    Dann  aber  wäre  sein  Wesen 


*)  Gott  ist  kein   „Ding";   denn   „Ding"   bezeichnet  etwas  in  seiner 
Wesenheit  Beschränktes,  Geschöpfliches. 
»)  Wörtlich:  „die  Wesenheit". 


Digitized  by 


Googl( 


521 

nicht  das  notwendig  Seiende  in  jeder  Beziehung.    Darin  liegt 
aber  ein  Widerspruch.     Es  ergäbe  sich  dann  die  Konsequenz: 
wenn  nicht  viele  Bedingungen  und  Dinge  der  Außenwelt  (als 
Objekte  des  göttlichen  Wissens)  existierten,  dann  bestände  sein 
Wesen  nicht  in  einem  gewissen  Zustande  (dem  des  Erkennenden). 
Femer  (wenn  der  notwendig  Seiende  die  Dinge  aus  den  Dingen 
selbst  erkennte)  käme  ilim  ein  Zustand  zu,  der  ihm  nicht  aus 
seinem  Wesen  her  anhaftet     Dieser  Zustand  käme  ihm  viel- 
mehr von  einem  anderen  her  zu.     Ein  anderer  als   er   hätte 
dann  auf  sein  Wesen  eine  Einwirkung.    Die  im  Vorhergehenden 
aufgestellten  Grundsätze  widersprechen   aber  diesen  und  ähn- 
lichen Behauptungen.    (Er  erkennt  alles  aus  sich),  weil')  er  die 
erste  Ursache   alles  Seienden  ist,   und   daher  erkennt  er  aus 
sich  selbst  heraus  dasjenige,  dessen  Ursache  sein  Selbst  ist. 
Er  ist  die  erste  Ursache  der  existierenden  und  voUkonmienen 
Dinge  in  ihren  Individualitäten.    Ebenso  ist  er  erste  Ursache 
der  werdenden   und  vergehenden  Dinge  in  ihren  Arten,   und 
zwar  sowohl   ohne  Vermittlung  2)   als  auch  durch  Vermittlung* 
jener  (der  reinen  Geister),    und  zwar   auch   in  ihren  Indivi- 
dualitäten, freilich  in  einer  anderen  Weise  (das  erste  Erkennen 
ist  ein  intuitives,  das  zweite  ein  in  gewissem  Sinne  deduktives). 
Gott  kann  daher  nicht  denkend  sein,  indem  er  diese  sich 
verändernden  Dinge   erkennt   trotz  ihrer  Veränderlichkeit  und 
insofern  sie  veränderlich  sind  und  zwar  nach  Art  eines  zeit- 
lichen und  individuellen  Erkennens.    Er  erkennt  die  Dinge  viel- 
mehr in  einer  anderen  Art,  die  wir  darlegen  werden.     Denn 
Gott  kann  nicht  das  eine  Mal  in  einer  zeitlichen  Art  des  Er- 
kennens die  Dinge  erkennen,  daß  sie  existieren,  nicht  non  entia 
sind,  und  ein  anderes  Mal  in  einer  zeitlichen  Art  des  Erkennens 
wissen,  daß  sie  nicht  existieren  und  vernichtet  sind.   Jede  einzelne 
dieser   beiden  Arten  des  Erkennens  hätte  eine  besondere  Er- 
kenntnisform für  sich.    Keine  einzelne  dieser  beiden  Erkenntnis- 
formen  würde    gleichzeitig  mit  der  anderen  bestehen.     Dann 
müßte  sich  also  der  notwendig  Seiende  seinem  Wesen  nach  ver- 
ändern. 


>)  Cod.  c  GL:  „weil"  leitet  einen  zweiten  Nachsatz  ein  zu:  „Er  erkennt 
die  Dinge  ans  sich  selbst,  nicht  ans  den  Dingen.** 

')  Direkt  erkennt  Gott  die  reinen  Geister,  durch  Vermittlung  der 
notwendig  wirkenden  Ursachen  die  Indiyidaa  der  materiellen  Dinge. 


Digitized  by 


Google 


522 

Die  vergänglichen  Dinge  werden,  wenn  sie  durch  die  abstrakt« 
Wesenheit  und  insofern  dieser  solche  Bestimmungen  folgen,  die 
nicht  individuell  sind,  gedacht  werden,  nicht  insofern  geistig 
erkannt,  als  sie  vergänglich  sind.  Wenn  sie  aber  erkannt  werden, 
insofern  sie  mit  der  Materie  und  Akzidenzien  der  Materie,  ferner 
mit  einer  gewissen  Zeit  und  Individualität  verbunden  sind,  dann 
werden  sie  nicht  begrifflich,  sondern  nur  nach  Art  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  oder  Phantasie  erkannt.  In  anderen  Büchern 
haben  wir  bereits  dargelegt,  daß  jede  Wesensform,  die  einem 
sinnlich  wahrnehmbaren  Dinge  zukommt,  und  jede  in  der  Phan- 
tasie vorstellbare  Erkenntnisform  nur  erkannt  wird,  insofern 
sie  sinnlich  oder  phantasiemäßig  erkennbar  sind  durch  ein  indi- 
viduelles Organ.  Die  Vielheit  von  Handlungen,  die  wir  dem 
notwendig  Seienden  beilegen  würden,  bedeutete  einen  Mangel 
für  ihn.  Ebenso  würde  eine  Vielheit  von  Erkenntnisakten  eine 
UnvoUkommenheit  bedeuten.  Der  notwendig  Seiende  erk^nt 
alle  diese  Dinge  vielmehr  in  nur  einer  und  zwar  einer  uni- 
•  verseilen  Weise  und  trotzdem  entgeht  ihm  kein  individuelles 
Ding,  noch  „entflieht  vor  seiner  Erkenntnis  selbst  das  kleinste 
Atom  im  Himmel  und  auf  der  Erde"  (Koran  34,  3.  10,  62).  Diese 
"Wahrheit  gehört  zu  den  wunderbaren  Wahrheiten,  die  nur  ein 
geschulter  Verstand  erfassen  kann. 

Die  Art  und  Weise,  in  der  diese  Erkenntnis  Gottes  (die 
sich  auf  die  individua  erstreckt)  vor  sich  geht,  ist  folgenda') 

0  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  1 14, 11  c:  Dens  cognoscit  singolaria.  Obibcs 
enim  perfectiones  in  creaturis  inventae  in  Deo  praeexistnnt  secnndum  altiore» 
modum.  (üognoscere  antem  singfalaria  pertinet  ad  perfectionem  nostram. 
Unde  necesse  est,  qnod  Dens  singnlaria  cognoscat. 

Sed  qualiter  hoc  esse  possit  qoidam  manifestare  volentes,  dixenut, 
qnod  Dens  cognoscit  singnlaria  per  cansas  universales.  Kam  nihil  est  u 
aliqno  universalinm,  qnod  non  ex  aliqua  cansa  oriatnr  nniversalL  Et  ponnnt 
exemplnm;  sicnt  si  aliquis  astrologns  cognosceret  omnes  motns  Tiniyersales 
coeli,  posset  praenuntiare  omnes  eclipses  fntnras.  Sed  istnd  non  sufficit;  qnia 
singnlaria  ex  cansis  nniversalibns  sortinntnr  qnasdam  formas  et  yirtntes,  qnte 
qnantnmcnmqne  ad  invicem  coninngantnr,  non  individuantnr  nid  per  materian 
individualem.  Unde  qni  cognosceret  Socratem  per  hoc  qnod  est  albus,  Tel 
Sophronisci  ftlius,  vel  qnidqnid  alind  sie  dicatnr,  non  cognosceret  ipsom  ia- 
quantnm  est  hie  homo.  Unde  secondum  modnm  praedictnm  Dens  non  co- 
gnosceret singnlaria  in  sna  singularitate. 

Alii  vero  dixemnt  qnod  Dens  cognoscit  singnlaria  i^plicando  eaosas 
nniversalea  ad  singnlares  effectns.  Sed  hoc  nihil  est,  quia  nolins  potest 
applicare  aliquid  ad  alterum,  nisi  iUnd  praecognoscat;  nnde  dicta  applieatio 


Digitized  by 


Googl( 


523 

Erkennt  Gott  sein  Wesen  und  erkennt  er,  daß  er  erste  Ursache 
für  jedes  Existierende  ist,  dann  erkennt  er  damit  auch  die 
ersten  Prinzipien  der  wirklichen  Dinge,  die  von  ihm  ausgehen 
und  weiter  auch  alles,  was  aus.  diesen  ersten  Prinzipien  ent- 
steht Kein  Ding  unter  den  Weltdingen  existiert,  es  sei  denn, 
daß  es,  insofern  es  existiert,  >)  notwendig  ist  in  Beziehung  auf 
Gott  und  durch  Gott  Wir  haben  dieses  bereits  dargelegt  (Meta- 
physik VI  und  vgl.  Färäbi,  Ringsteine  Nr.  2).  Diese  Ursachen 
führen  also  in  ihrem  Zusammenwirken  dazu,  daß  aus  ihnen  die 
individuellen  Dinge  entstehen.    Daher  erkennt  der  erste  Seiende 


non  potest  esse  ratio  cognoscendi  particnlaria,  sed  cognitionem  singalarinm 
praesuppoiiit. 

Et  ideo  aliter  dicendum  est,  quod  cum  Deus  sit  caasa  rerum  per  suam 
scientiam,  in  tantom  se  extendit  scientia  Dei,  inquantum  se  extendit  eius 
causalitas.  Unde  cum  virtns  activa  Dei  se  extendat  non  solum  ad  formas,  a 
qoibas  accipitnr  ratio  universalis,  sed  etiam  nsqne  ad  materiam,  necesse  est, 
quod  scientia  Dei  usque  ad  singfularia  se  extendat,  quae  per  materiam  in- 
dividuantur.  Cum  enim  sciat  alia  a  se  per  essen tiam  suam,  inquantum  est 
similitudo  rerum  velut  principium  activum  earum,  necesse  est  quod  essentia 
eius  sit  principium  sufficiens  cognoscendi  omnia  quae  per  ipsum  fiunt,  non 
solum  in  universal!,  sed  etiam  in  singulari  et  esset  simile  de  scientia  artificis, 
si  esset  productiva  tatius  rei  et  non  formae  tan  tum. 

Es  ist  hierbei  zu  betonen,  daB  Thomas  nicht  lehrt,  Gott  erkenne  die 
Dinge  in  Seinem  Willensakte,  durch  den  er  die  singularia  erschafft.  Gegen 
diese  Ansicht  könnte  man  dasselbe  vorbringen,  was  Thomas  gegen  die  zweite 
Ansicht  erinnert:  Der  Willensakt  Gottes,  der  sich  auf  die  singularia  richtet, 
setzt  die  Kenntnis  dieser  singularia  bereits  voraus;  denn  niemand  wiU  etwas, 
das  er  nicht  kennt.  Die  Kenntnis  der  singularia  ist  also  Ursache  für  den 
WiUensakt,  der  sich  auf  Grund  dieser  Kenntnis  auf  die  individuellen  Objekte 
richtet,  nicht  ist  umgekehrt  der  WiUensakt  Ursache  der  Kenntnis  der  singularia. 

Die  Ansicht  des  Aquinaten  ist  mit  der  Avicennas  imPrinzipe  identisch: 
In  der  SeinsfttUe  des  göttlichen  Wesens  sind  alle  Dinge  enthalten,  die  aus 
Gott  emanieren,  zunächst  die  universellen  Ursachen  und  in  diesen  auch  die 
singularia  und  zwar  nach  ihrem  ganzen  positiven  Seiu.  Die  Schwierigkeit, 
die  Thomas  gegen  die  zuerst  genannte  Lehre  erhebt,  trifft  also  die  Auf- 
steUungen  Avicennas  nicht.  Eine  Verschiedenheit  dieser  Ansicht  mit  der  des 
Aquinaten  liegt  in  der  verschiedenen  Auffassung  beider  von  der  Gottheit 
(göttlicher  Wille)  und  der  Natur  der  Schöpfung.  Wenn  femer  Gott  in  den 
ersten  Prinzipien  die  Dinge  erkennt,  so  ist  sein  Erkennen  nicht  im  eigent- 
lichen Sinne  diskursiv.  Denn  in  der  Macht  der  Ursache  ist  die  ganze  Wirkung 
enthalten.    In  der  Ursache  ist  die  Wirkung  also  intuitiv  erkennbar. 

*)  Gott  verleiht  dem  Dinge  die  Existenz.  Diese  bildet  also  die  Ver- 
bindung zwischen  ihm  und  Gott.  Insofern  das  Ding  existiert ,  d.  h.  nach 
seinem  ganzen  positiven  Inhalte  ist  es  in  seiner  Individualität  von  Gott  erkannt. 


Digitized  by 


Googk 


524 

die  Ursachen  und  ihre  Stufenfolge.  Dadurch  weiß  er  auch  not- 
wendig alles,  wozu  sie  hinführen  >)  (i  h.  alle  individuellen  Dinge), 
und  femer  alle  Zeiten,  die  zwischen  ihnen  liegen,  und  jeden 
Kreislauf  des  Geschehens;  denn  Er  kann  nicht  etwa  jene  Indi- 
viduen erkennen  und  dieses  nicht  erkennen  (sondern  Er  erkennt 
alle  Einzeldinge)  und  daher  erfaßt  er  die  individuellen  Dinge, 
insofern  sie  universell  sind,  d.  h.  insofern  sie  Eigenschaften 
haben.  Werden  diese  universellen  Dinge  aber  zu  Individuen 
determiniert,  so  erkennt  er  dieselben  durch  die  Beziehung  zu 
einer  Zeit,  die  das  Individuum  individualisiert,  oder  durch  die 
Beziehung  zu  einem  individualisierenden  Zustande.  Erfaßt  man 
diesen  Zustand  in  seinen  Eigenschaften  (d  h.  also  in  universeller 
Weise),  dann  vertritt  er  gleichsam  jene  anderen  individuellen 
Dinge  (die  sich  in  diesem  Zustande  befinden).  Denn  diese 
Eigenschaften  gründen  sich  auf  die  Seinsprinzipien  (die  Geister, 
wie  auf  ihre  Wirkursachen).  Ein  jedes  einzelne  von  ihnen  besitzt 
seine  Art,  und  diese  ist  in  seiner  Individualität^)  enthalten. 
Daher  gründen  sich  jene  Eigenschaften  (wie  auf  ihre  Wirk- 
ursache) auf  individuelle  Dinge  (die  individuellen  Geister).*) 
Diese  Fundierung  (und  ursächliche  Abhängigkeit)  bewirkt,  wie 
wir  bereits  dargelegt  haben,  für  die  indi\iduellen  Dinge  eine 
Beschreibung  (Umgrenzung  des  Wesens)  und  Bestimmung  von 
Eigenschaften,  die  ausschließlich  diesen  individuellen  Dingen  zu- 
kommen. Ist  nun  dieses  Individuum  so  beschaffen,  wie  etwas, 
das  auch  für  den  begrifQichen  denkenden  Verstand  Individuum 

')  Die  ersten  Prinzipien  und  die  Seelen  der  Sphären  wirken  als  In- 
dividna  individuelle  Wirkungen,  wenn  diese  auch  zunächst  noch  unkörperlicher 
Natur  sind.  Sie  wirken  hie  et  nunc,  also  nicht  quasdam  formas  et  virtutes, 
sondern  has  formas  et  has  virtutes.  Die  geistigen  Suhstanzen  und  ihre 
Wirkungen  sind  individuell,  wenn  auch  nicht  nach  Art  materieUer  Individuen. 
Durch  ihre  Aufnahme  in  die  Materie  erhalten  sie  nicht  erst  ihre  Individualität, 
sondern  nur  eine  neue  Art  derselben.  Deshalb  ergeben  sich  auch  aus  dem 
Zusammenwirken  der  hie  et  nunc  tätigen  Agenzien  die  singularia  in  sna 
singularitate,  insofern  sie  positive  Bestimmungen  enthalten. 

*)  In  den  Geistern  sind  Individualität  und  Art  dasselbe.  Die  Geister 
sind  also  Einzelwesen,  nicht  üniversalia  im  logischen  Sinne.  Im  Ver- 
gleich mit  den  sublunarischen  Dingen  ist  ihr  Seinsinhalt  gleichbedeutend  mit 
einer  Art. 

•)  Die  Wirkungen  dieser  Geister  sind  also  universeU  nur  in  dem  ^nne 
der  Unkörperlichkeit.  In  diesem  Sinne  könnte  auch  jeder  Geist  ein  universale 
genannt  werden.  In  sich  selbst  sind  sie  aber  Einzelwesen,  wie  ihn  Ur- 
sachen. 


Digitized  by 


Googk 


525 

ist  (insofern  es  keine  Mitart  haben  kann),  dann  kann  der  Ver- 
stand») dieses  so  umschriebene  Individuum  erreichen  und  er- 
kennen. (Es  umfaßt  in  sich  die  ganze  seiner  Art  verfügbare 
Materie.)  Dieses  ist  jenes  Individuum,  das  in  seiner  Art  nur 
ein  einziges  ist  und  das  kein  Individuum  der  gleichen  Art  neben 
sich  hat  So  verhält  sich  die  Sphäre  der  Sonne  und  der  Jupiter 
(und  alle  Planeten). 

Ist  aber  die  Art  des  Dinges  ausgebreitet  in  einer  Vielheit 
von  (numerisch  verschiedenen)  Individuen,  dann  gelangt  der 
Verstand  nicht  dazu,  die  Beschreibung  (Umschreibung)  dieses 
individuellen  Dinges  zu  erkennen.^)  Der  einzige  Weg  zum  Er- 
kennen dieses  Einzeldinges  ist  der  Hinweis,  der  ohne  Vermitt- 
lung geschieht,  wie  du  früher  gesehen  hast  (Logik  I.  Teil,  I,  5). 

Daher 5)  kehren  wir  zum  Ausgangspunkte  zurück  und  lehren: 
kennst  du  z.  B.  die  Bewegungen  der  himmlischen  Körper  in 
ihrer  (Gesamtheit,  dann  erkennst  du  auch  jede  (einzelne)  Sonnen- 
finsternis und  jede  Konjunktion  und  Opposition  im  einzelnen 
(d.  h.  jede  individuelle),  die  als  Individuum  wirklich  wird.  Du 
kennst  sie  jedoch  in  einer  universellen  Art  und  Weise;  denn  du 
sagst  betreffs  einer  individuellen  Sonnenfinsternis,  daß  sie  eine 
Sonnenfinsternis  ist,  die  eintritt  nach  der  Zeit  einer  bestimmten 
Bewegung,  die  von  diesem  Orte  zu  jenem  Orte  z.  B.  nach  Norden 
in  der  Hälfte  sich  bewegt,  nach  der  und  von  der  aus  der  Mond 
sich  fortbewegt,  so  daß  er  in  dieser  bestimmten  Weise  in  Oppo- 
sition steht  (zur  Erde).  Zwischen  dieser  Sonnenfinsternis  und 
einer  ähnlichen,  die  ihr  vorausgeht  oder  einer  anderen,  die  ihr 
folgt,  besteht  eine  bestimmte  Zeit.  Ebenso  verhält  es  sich  mit 
zwei  anderen  Sonnenfinsternissen,  so  daß  also  kein  Akzidens 
und  keine  Bestimmung  dieser  individuellen  Finsternisse  vor- 
handen ist,  die  du  nicht  erkannt  hast.  Du  hast  sie  jedoch  in 
universeller  Weise  erkannt,  denn  dieser  Inhalt  (ratio,  Bestimmung) 
kann  auf  viele  solcher  Finsternisse  angewandt  werden,  so  daß 
jede  einzelne  dieser  Sonnenfinsternisse  sich  also  verhält,  wie  die 

')  Der  Verstand  erkennt  aus  den  geistigen  Prinzipien  dieses  materielle 
Individnnm  in  sna  singolarit^te. 

>)  Der  Verstand  erkennt  dieses  Einzelding  nicht  in  sua  singularitate. 

•)  Nach  dem  Bisherigen  ist  es  durchaus  nicht  ersichtlich,  wie  Gott  die 
BuiterieUen  Individua  der  su hl un arischen  Dinge,  in  deren  Spezies  eine  un- 
begrenzte Vielheit  von  Einzeldingen  enthalten  ist,  erkennen  kann.  Dies  will 
Ayicenna  im  folgenden  erklären. 


Digitized  by 


Google 


526 

bezeichneten.  Durch  einen  besonderen  Beweis  jedoch  erkennst 
du,  daß  diese  Finsternis  nur  eine  einzige  ist  als  ein  Indi- 
viduum. Aber  auch  dieses  hindert  nicht  die  Universalität  des 
Erkennens,  wenn  du  dich  dessen  erinnerst,  was  wir  früher  aus- 
einandergesetzt haben  (Logik  L  Teil,  I,  5  und  VL  Teil,  V,  5.  6). 
Jedoch  trotz  alledem  ist  es  manchmal  nicht  möglich,  daß  du  in 
diesen  Augenblicken  ein  Urteil  fällst  über  die  Existenz  dieser 
individuellen  Sonnenfinsternis  oder  über  ihre  Nichtexistenz,  es 
sei  denn,  daß  du  die  Bewegungen  in  ihrer  Individualität  durch 
sinnliche  Wahrnehmung  erkannt  hast.  Ferner  mußt  du  erkennen, 
welche  Zeit  zwischen  diesem  wahrgenommenen  Zustande  der 
Gestirne  und  jener  Sonnenfinsternis  liegt.  Dies  aber  ist  nicht 
gleichbedeutend  mit  deiner  Erkenntnis  davon,  daß  in  den  Be- 
wegungen der  Himmelskörper  eine  individuelle  Bewegung  be- 
steht, die  so  beschaffen  ist,  wie  du  sinnlich  wahrgenommen 
hast  Zwischen  dieser  nun  und  zwischen  der  zweiten  Sonnen- 
finsternis, die  individuell  ist,  besteht  dieser  bestimmte  Unter- 
schied (der  Zeit).  Dieses  alles  kannst  du  nach  Art  der  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  erfassen,  0  jedoch  erkennst  du  sie  nicht 
in  der  bestimmten  Zeit,  in  der  du  betreffs  der  Sonnenfinsternis 
in  Zweifel  bist,  ob  sie  existiert.  Um  dieses  festzustellen,  be- 
darfst du  einer  sinnlichen  Wahrnehmung,  die  dich  auf  diese 
einzelne  Sonnenfinsternis  in  individueller  Weise  hinweist,*)  so 
daß  du  diese  individuelle  Sonnenfinsternis  erkennst.  Wenn 
jemand  dieses  nicht  eine  eigentliche  Erkenntnis  des  Indivi- 
duellen nennen  will,  die  in  universeller  Weise  erfolgt,  so  streiten 
wir  nicht  mit  ihm.  3) 


*)  Cod.  c  Gl. :  „Du  kannst  dies  erfassen  durch  das  Wissen,  das  vollkommen 
die  Ursachen  umfaßt,  die  zu  der  Sonnenfinsternis  hinführen." 

»)  Wörtlich:  „eines  individuellen  Dinges,  das  dir  durch  die  Wahr- 
nehmung zukommt".  Dieses  „individueUe  Ding",  das  entscheidet,  wann  und 
wo  eine  Sonnenfinsternis  statthat,  erkennt  der  Mensch  durch  Wahrnehmung  des 
materiellen  Vorganges.  Gott  steht  mit  den  individueUen  Vorgängen  dadurch 
in  Kontakt,  daß  er  die  individuellen,  unkörperlichen  Prinzipien  erkennt 
und  in  ihnen  ihr  hie  et  nunc  erfolgendes  Wirken  erschaut.  Es  sind  also 
nicht  nur  universeUe  Inhalte,  die  das  Wissen  Gottes  ausmachen,  sondern  auch 
individuelle,  wenn  diese  auch  naturgemäß  geistig  sind.  Es  ist  demnach  Avi- 
cenna  gelungen,  eine  göttliche  Erkenntnis  der  Individua  begreiflich  zu  machen. 
Der  Weg  ist  freilich  komplizierter  wie  der,  den  Thomas  eingeschlagen  hat. 

*)  Ungefähr  ein  Jahrhundert  später  wurde  dies  bekanntlich  von  Öazäli 
bestritten.    Der  tibereifrige  Theologe  hat  in  diesen  Diskussionen  die  Objek- 


Digitized  by 


Googk 


527 

Unsere  Absicht  ist  jetzt  auf  etwas  Anderes  gerichtet,  näm- 
lich zu  definieren,  wie  die  individuellen  Dinge  erkannt  und  er- 
faßt werden,  so  daß  zugleich  mit  der  Erkenntnis  der  Erkennende 
sich  verändert,  und  femer  klarzulegen,  wie  die  Dinge  erfaßt 
und  erkannt  werden,  ohne  daß  zugleich  mit  dieser  Erkenntnis 
der  Erkennende  sich  verändert  Hast  du  z.  B.  die  Sonnen- 
finsternisse erkannt,  so  wie  du  real  existierst»)  und  würdest  du 
zu  gleicher  Zeit  immer  existieren,  dann  hättest  du  eine  Er- 
kenntnis nicht  etwa  von  der  Sonnenfinsternis  im  allgemeinen, 
sondern  von  jeder  einzelnen  Sonnenfinsternis,  die  entsteht  Die 
Existenz  und  die  Nichtexistenz  dieser  Sonnenfinsternis  würde 
dich  in  keiner  Weise  verändern.  Dein  Wissen  bezüglich  der 
beiden  Zustände  (des  Seins  und  Nichtseins  der  Finsternis)  ist 
nämlich  nur  ein  und  dasselbe,  das  sich  immer  gleichbleibende, 
und  dieses  besagt,  daß  eine  bestimmte  Sonnenfinsternis  existiere, 
der  reale  Existenz  zukommt,  ausgestattet  mit  diesen  indivi- 
duellen Eigenschaften,  so  daß  sie  nach  jener  anderen  individuellen 
Sonnenfinsternis  statthat,  oder  nachdem  die  Sonne  z.  B.  in  das 
Sternbild  des  Widders  um  so  und  so  viel  eingetreten  ist,  und 
zwar  in  einer  bestimmten  Zeitdauer.  Das  Wissen  besagt  femer, 
daß  sie  nach  einer  so  langen  Zeitdauer  eintrete,  und  daß  eine 
so  lange  Zeitdauer  (bis  zur  nächsten  Sonnenfinstemis)  verfiießt 
So  denkst  du  in  wahrer  Weise,  bevor  jene  Sonnenfinstemis 
existiert,  in  wahrer  Weise  auch  gleichzeitig  mit  ihr  und  nach- 
dem sie  aufgehört  hat 

Fügst  du  aber  die  Bestimmung  der  Zeit  zu  dieser  Denk- 
weise hinzu,  dann  erkennst  du  in  einer  bestimmt  angenommenen 
Zeit,  daß  diese  bestimmte  Sonnenfinstemis  nicht  existiert.  So- 
dann erkennst  du  in  einer  bestimmten,  anderen  Zeit,  daß  sie 
real  existiert.    Dann  bleibt  dein  Wissen  nicht  dasselbe  während 


tivität  nicht  yollkommen  gewahrt.  Ein  Zweifaches  ist  wohl  zu  unterscheiden. 
Es  ist  eine  Frage  für  sich,  ob  die  göttliche  Erkenntnis  der  Einzeldinge  nach 
dem  Systeme  Avicennas  denkbar  ist,  und  ebenso  ist  es  eine  Frage  für  sich, 
ob  Avicenna  die  Erkenntnis  Gottes  betreffs  der  Einzeldinge  gelehrt  habe.  Die 
zweite  Frage  bleibt  auch  in  dem  FaUe  zu  bejahen,  wenn  die  erste  zu  Ter- 
neinen  wäre. 

')  d.  h.  indem  du  durch  sinnliche  Wahrnehmung  Kenntnis  hast  Ton 
den  hie  et  nunc  erfolgenden  Bewegungen  der  Gestirne,  aus  denen  die  Sonnen- 
finstemis notwendig  erfolgt.  Gott  hat  Kenntnis  von  diesen  hie  et  nunc  er- 
folgenden Konstellationen  durch  geistigen  Kontakt  mit  den  hie  et  nunc 
tätigen  höchsten  Prinzipien  des  Seins. 


Digitized  by 


Google 


528 

sie  existiert.  Es  tritt  vielmehr  ein  anderes  Wissen  auf.  In  dir 
findet  also  dann  die  Veränderung  statt,  auf  die  wir  früher  hin- 
gewiesen haben.  Es  ist  dann  nicht  richtig,  daß  du  dich  zur 
Zeit  des  Sichtbarseins  der  Sonne  in  demselben  Zustande  des 
Erkennens  befindest,  wie  vor  der  Zeit  des  Sichtbarwerdens  nadi 
der  Verfinsterung.  Du  bist  aber  in  deiner  Erkenntnis  dorcli 
die  Zeit  und  das  Jetzt  bestimmt.  Der  erste  Seiende,  der  nicht 
in  die  Zeit  eintritt  noch  auch  durch  die  Zeit  sich  bestimmen 
läßt,  ist  weit  entfernt  davon,  in  einer  Weise  zu  urteüen,  dk 
sich  innerhalb  dieser  Zeit  und  jener  Zeit  befindet  Dieses  Ur- 
teil befände  sich  dann  in  der  Zeit  und  es.  verhielte  sich  so.  daS 
es  teilweise  ein  neues  Urteilen  wäre  oder  eine  neue  Erkenntnis 
bedeutete  (und  damit  wäre  eine  Veränderung  in  Gott  gegebai). 

Du  gelangst  zur  Erkenntnis  der  individuellen  Sonnen- 
finsternisse nur  dadurch,  daß  du  mit  deinem  Wissen  alle  Ur- 
sachen der  Finsternisse  umspannst  und  ebenso  alles  umfafflest, 
was  im  Himmel  ist.  Erstreckt  sich  dieses  Erkennen  auf  alle 
Ursachen  und  auf  ihre  reale  Existenz,  so  wird  es  von  diesen 
Ursachen  hingeleitet  zu  allen  ihren  Wirkungen.  Wir  werd^ 
dieses  sogleich  in  erschöpfender  Weise  darlegen,  und  dann  er- 
kennst du,  wie  das  Verborgene  in  abstrakter  Weise  erkennbar  ist 

Daraus  ersiehst  du,  daß  der  erste  Seiende  aus  sich  heraus 
die  Dinge  erkennt  und  wie  er  die  erste  Ursache  jedes  Dinges 
erfaßt  Du  siehst  femer,  daß  der  Grund  dafür  im  folgenden  lit^: 
er  ist  erstes  Prinzip  für  ein  reales,  individuelles  Ding  (den  ersten 
Verstand),  und  dieses  ist  wiederum  Prinzip  für  ein  anderes  indi- 
viduelles Ding  (die  Weltseele),  und  dieses  ist  wiederum  Ursache 
für  ein  Ding  oder  für  viele  Dinge  —  ihre  Zustände  und  ihre 
Bewegungen  sind  so  (individuell)  beschaffen,  —  und  für  alles, 
was  sich  aus  diesen  Bewegungen  in  bestimmter  Weise  ergibt, 
bis  diese  Kette  zu  der  individuellen  Differenzierung  hingelangt^ 
auf  die  keine  größere  Determinierung  mehr  möglich  ist  (indem 
sie  als  Individua  determiniert  sind).  Sie  erfolgt  in  der  Ordnung, 
die  dieser  Differenzierung  anhaftet  in  der  Weise,  daß  sie  zu  etwas 
übergeht  und  hinleitet  (zur  Kenntnis  der  himmlischen  Dinge), 
Dadurch  sind  also  diese  Weltdinge  die  Schlüssel  des  Verboi^enen. 


Digitized  by 


Googl( 


i 


529 


Siebentes  Kapitel. 

Die  Beziehung  der  geistigen  Inhalte  zu  Gott.    Die  positiven  und  nega- 
tiven Eigenschaften  Gottes  haben  keine  Vielheit  in  seinem  Wesen  zur 
Folge.    Gott  besitzt  den  höchsten  Ruhm,  die  erhabenste  Majestät  und 
eine  unendliche  Würde.    Der  Vorzug  des  geistigen  Genusses. 

Du  mußt  sodann  wissen,  daß  der  Begriff  Verstand,  wenn 
man  ihn  von  Gott  aussagt,  in  der  einfachen  Weise  verstanden 
wird,  die  früher  in  dem  Buche  der  Seele  dargelegt  wurde,  (Natur- 
wissenschaften VI.  Teil,  1, 1  und  3  und  V,  4.)  In  ihm  ist  keine 
Vielheit  von  nacheinandergeordneten  Erkenntnisformen,  die  ver- 
schieden wären,  wie  solche  in  der  denkenden  Seele  existieren 
in  der  Weise,  wie  wir  es  in  der  Psychologie  dargelegt  haben. 
Gott  erkennt  also  aus  diesem  Grunde  die  Dinge  in  nur  einem 
einzigen  Akte  des  Erkennens,  ohne  daß  dadurch  in  seiner  Sub- 
stimz  eine  Vielheit  entsteht,  und  ohne  daß  in  der  Realität  seines 
Wesens  die  Vielheit  begrifflich  aufträte  in  verschiedenen  Er- 
kenntnisformen der  Dinge.  Aus  ihm  strömen  vielmehr  die 
Wesensformen  der  Dinge  in  begrifflich  erkennbarer  (und  geistiger) 
Weise  aus.  Er  ist  also  in  eminenterem  Sinne  Verstand,  als 
jene  geistigen  Formen,  die  von  seiner  geistigen  Natur  ausströmen. 
(Es  entsteht  keine  Vielheit  in  Gott;)  denn  er  erkennt  sein  eigenes 
Wesen,  und  dieses  sein  Wesen  ist  erstes  Prinzip  für  alle  Dinge. 
Daher  erkennt  er  aus  seinem  Wesen  heraus  alle  Dinge. 

Wisse,  daß  die  begrifflich  faßbare  Wesenheit  manchmal 
abstrahiert  wird  aus  dem  realen  Dinge,  wie  es  sich  trifft,  wenn 
wir  z.  B.  von  der  Sphäre  des  Himmels  durch  Beobachtung  und 
durch  sinnliche  Wahrnehmung  seine  begrifflich  faßbaren  Wesens- 
formen abstrahieren.  Manchmal  ist  die  real  existierende  Wesens- 
form nicht  hergenommen  aus  dem  real  Existierenden.  Es  ver- 
hält sich  vielmehr  umgekehrt,  wie  wir  z.  B.  die  Wesensform 
eines  Gebäudes  denken,  die  wir  frei  erfinden.  Dann  wird  jene 
begrifflich  gefaßte  Erkenntnisform  zum  bewegenden  Prinzipe 
für  unsere  Glieder,  so  daß  wir  sie  in  der  realen  Existenz  dar- 
stelleiL  Das  Verhältnis  ist  nicht  dieses,  daß  der  begriffliche 
Inhalt  zuerst  existiere,  so  daß  wir  ihn  dann  erkennten;  sondern 
wir  erkannten  ihn  zuerst,  und  dann  existiert  er  wirklich. 

Das  Verhältnis  des  Weltalls  zum  ersten  Verstände,  dem 
notwendig  Seienden,  ist  dieses.   Er  erkennt  sein  Wesen  und  auch 

Horten,  Dm  Bach  di«  Oenetong  der  Seele.  34 


Digitized  by 


Google 


530 

das,  was  sein  Wesen  in  notwendiger  Weise  verursacht.  Er 
erkennt  ferner  aus  sich  selbst  heraus  die  Art  und  Weise,  wie 
das  Gute  (wird  und)  existiert  im  Weltall.  Dann  läßt  er  dieser 
Erkenntnis  die  reale  Wesensform  der  Dinge  folgen  (die  zum 
wirklichen  Sein  gelangt),  und  zwar  in  der  bei  ihm  vorher 
gedachten  (und  bestimmten)  Ordnung,  nicht  etwa  in  der  Weise, 
daß  sie  in  ihrer  realen  Existenz  „folgten"  auf  ihre  begriffliche 
Existenz  im  Wesen  Grottes,  wie  das  Licht  folgt  aus  dem  leuch- 
tenden Körper,  noch  wie  das  Erhitzen  folgt  aus  dem  heißen 
Körper  auf  Grund  seines  Wesens.  Der  Vorgang  geht  vielmehr 
so  vor  sich,  daß  er  die  Art  und  Weise  kennt,  wie  das  Gute  sich 
in  der  realen  Existenz  ordnet,  und  er  erkennt,  daß  es  von  ihm 
stammt.  Er  weiß,  daß  diese  seine  Erkenntnis  die  Existenz  der 
Dinge  nach  vorher  bestimmter  Ordnung  aus  sich  ausströmen 
läßt,  nach  einer  Ordnung,  die  er  selbst  als  gut  und  als  Ordnung 
denkt 

Er  liebt  sein  Wesen,  das  erste  Ursache  für  alle  Ordnung 
des  Guten  in  den  wirklichen  Dingen  <)  ist,  insofern  sie  so  be- 
schaffen (gut  und  geordnet)  ist.  Die  Ordnung  des  Weltalls  ist 
daher  Objekt  seiner  Liebe  per  accidens.  Jedoch  bewegt  er  sich 
nicht  zu  diesem  Objekte  hin  infolge  einer  Sehnsucht;  denn  er 
verhält  sich  in  keiner  Weise  passiv  zu  diesen  Objekten,  noch 
sehnt  er  sich  nach  irgend  einem  Dinge,  oder  verlangt  nach  ihm. 
Daher  ist  dieser  sein  Wille,  der  die  Dinge  erschafft,  frei  von 
irgend  einem  Mangel,  sowie  er  auch  frei  ist  von  Verlangen  nach 
ihnen.  Er  ist  femer  frei  von  irgend  einer  Unruhe  betreffis  eines 
Strebens  zu  einem  intendierten  Gegenstande.  Wir  dürfen  nicht 
denken,  daß,  wenn  die  begrifflichen  Wesenheiten,  die  sich  bei 
Gott  befinden,  eine  Menge  von  Wesensformen  und  eine  Vielheit 
darstellten,  auch  die  Vielheit  der  Wesensformen,  die  er  begriff- 
lich faßt,  Teile  seines  Wesens  seien.  Wie  könnte  dieses  der 
Fall  sein!  Sie  existieren  ja  später  als  sein  Wesen  (insofern  sie 
in  den  Weltdingen  eine  Vielheit  bilden);  denn  sein  Wesen  ist 
sein  Denken,  das  sich  auf  sein  Wesen  richtet,  und  aus  diesem 
(reflexiven)  Erkennen  heraus  erkennt  er  alles,  was  auf  sein 
Wesen  folgt  Sein  Denken,  das  sich  auf  sein  Wesen  erstreckt^ 
ist  Ursache  seines  Denkens,  das  sich  auf  alles  erstreckt,  was 


0  a  add.:  „Er  liebt  auch  aUes,  was  sein  Wesen  in  notwendiger  Weise 
yemrsacht" 


Digitized  by 


Googl( 


531 

auf  sein  Wesen  folgt.  Er  erkennt  alles,  was  außerhalb  seines 
AVesens  liegt  und  dieses  Erkennen  ist  hervorgebracht  durch  das 
Erkennen,  das  sich  auf  sein  Wesen  erstreckt,  weil  die  begriff- 
lichen Wesenheiten  und  die  Wesensformen,  die  auf  sein  Wesen 
folgen,  nur  begrifflich  erkennbai-  sind  nach  Art  des  rein  geistigen, 
nicht  des  seelischen  (sensitiven)  Erkennens  0  (das  in  der  Phantasie 
vor  sich  geht). 

Die  Beziehung,  die  Gott  zu  den  Weltdingen  hat,  ist  die 
Beziehung  der  ersten  Ursache,  aus  der  die  Dinge  entstehen, 
nicht  in  der  die  Dinge  sind.  Es  existieren  sogar  verschiedene 
Relationen  in  der  Weise,  wie  eines  auf  das  andere  folgt,  selbst 
wenn  die  Dinge  gleichzeitig  existieren,  ohne  daß  damit  eine  Auf- 
einanderfolge in  der  Zeit  begründet  wäre.  In  Gott  findet  also 
kein  Übergang  von  dem  einen  Begriffe  zum  anderen  statt,  noch 
dürfen  wir  denken,  daß  die  ideelle  und  geistige  Beziehung  Gottes 
zu  den  Dingen  eine  Beziehung  sei,  die  ihm  in  irgend  welcher 
Weise  anhafte,  so  wie  die  Dinge  real  existieren  (und  sich  ver- 
ändern); sonst  müßte  jedes  erste  Prinzip,  das  eine  Wesensform 
in  der  Materie  hervorbringt,  infolge  dieser  Wesensform  so  be- 
schaffen sein,  daß  es  mit  einer  gewissen  Ordnung  und  durch 
Abstraktion  und  andere  Bestimmungen  begrifflich  dächte,  indem 
erst  diese  Abstraktion  aktuelles  Denken  würde.  Diese  Beziehung 
Gottes  zu  den  Weltdingen  findet  vielmehr  nur  statt,  insofern  die 
Dinge  sich  in  einem  geistigen  Zustande  (als  gedachte)  befinden. 
Fände  diese  Beziehung  statt  rücksichtlich  der  realen  Existenz 
der  Dinge  in  den  Individuen,  dann  würde  Gott  nur  das  erkennen, 
was  in  jeder  einzelnen  Zeit  real  existiert.  Er  würde  dann  nicht 
das  Nichtexistierende  im  Bereiche  der  wirklichen  Diuge  erfassen, 
bis  daß  dasselbe  zur  wirklichen  Existenz  gelangt  ist.  Dann  aber 
würde  er  nicht  aus  sich  selbst  heraus  erkennen,  daß  er  erstes 
Seinsprinzip  für  jenes  Ding  ist  in  einer  gewissen  Ordnung.^) 
Er  würde  dieses  nur  erkennen,  wenn  er  selbst  aktuelle  Ursache 
für  dasselbe  wird.  Dann  erkannte  er  auch  nicht  sein  Wesen; 
denn  sein  Wesen  ist  so  beschaffen,  daß  von  ihm  jedes  Wirkliche 
ausströmt,  und  die  Erkenntnis  seines  Wesens,  insofern  letzteres 
so  beschaffen  (d.  h.  Prinzip  der  Emanation  für  die  Dinge  ist),  hat 
zur  Folge,  daß  er  das  andere  (das  wirkliche  Ding)  erkennt,  selbst 

1)  Cod.  c  GL:  „des  aktiven  niebt  des  passiven  Erkennens". 

*)  Diese  Ordnung  besteht  in  der  Stufenfolge  des  Weltalls,  s.  Abb.  IX. 

34* 


Digitized  by 


Googl( 


532 

wenn  es  nicht  existiert.  Daher  ist  die  Welt  der  göttlichen 
Gewalten  so,  daß  sie  alles  real  Existierende  und  anch  das  nur 
Mögliche  umfaßt.  Daher  hat  das  Wesen  Gottes  eine  Beziehung 
zu  den  Dingen,  insofern  sie  begrifflich  erfaßt  sind,  nicht  insofern 
ihnen  reale  Existenz  in  den  Individuen  zukommt 

Es  erübrigt  dir  noch,  betreffs  der  Existenz  die  Dinge  als 
begrifflich  erkennbarer  Inhalte  (als  Ideen)  zu  betrachten,  ob  sie 
in  dem  Wesen  des  ersten  Seienden  wie  notwendig  anhaftende 
Akzidenzien  existieren,  oder  ob  ihnen  eine  von  seinem  Wesen 
getrennte  Existenz  und  ein  Wesen,  das  verschieden  ist  vom 
Wesen  Gottes,*)  zukommt,  wie  die  Erkenntnisformen,  die  für  sich 
in  unkörperlicher  Weise  existieren,  je  nachdem  sie  in  den  Bereich 
der  Welt  der  göttlichen  Gewalten  geordnet  sind,  oder  ob  jene 
Begriffe  von  Gott  erkennbar  sind,  insofern  sie  in  einem  Verstände 
K)der  einer  Weltseele  existieren.  Wenn  dann  der  erste  Seiende 
diese  Wesensformen  erfaßt,  zeichnen  sie  sich  ein  in  irgend  eine 
von  diesen  beiden  Substanzen  (dem  ersten  Verstände  oder  der 
Weltseele),  und  dieser  Verstand  und  diese  Weltseele  verhält 
sich  dann  wie  das  Substrat  2)  für  jene  Wesensformen.  Die  Dinge 
könnten  femer  von  Gott  erkannt  werden,  insofern  sie  in  ihm 
vorhanden  sind,  oder  sie  könnten  von  dem  ersten  Sein  gedacht 
werden,  insofern  sie  von  Grott  stammen. 5)  Dann  wflrde  der 
erste  Seiende  aus  seinem  Wesen  erkennen,  daß  er  Prinzip  für 
diese  Dinge  ist  Es  würde  dann  alles  dasjenige,  was  von  Gott 
als  ein  solches,  das  von  ihm  als  erstem  Prinzipe  ohne  Vermitt- 
lung ausgeht  begrifflich  gefaßt  ist,  zur  Summe  jener  begrifllieh 
erkennbaren  und  erkannten  Inhalte  gehören.*)  Aus  dem  ersten 
Seienden  strömt  vielmehr  die  Existenz  des  Geschöpflichen  (des 
ersten  Verstandes)  aus  ohne  eine  Vermittlung.  Dasjenige  Ding 
aber,  von  dem  Gott  erkennt,  daß  er  sein  Seinsprinzip  ist  durch 
Vermittlung  eines  anderen,  strömt  aus  Gott  aus  in  zweiter  Linie. 
Ebenso  ist  das  Verhältnis  bezüglich  der  Existenz  dieser  begriff- 
lichen Substanzen,  selbst  wenn  ihre  Erkenntnisformen  in  einer 


0  Oder:  „und  von  einem  anderen  als  dem  gSttlichen  Wesen  getrennte 
Existenz'',  d.h.  ob  die  Dinge  in  den  himmlischen  Geistem  and  Seelen 
existieren. 

*)  Vgl  Horten,  Buch  der  Bingsteine  F&r&bis  S.  284. 

*)  Vgl  Thomas,  Snm.  th.  1.  cit. 

^)  Die  von  Gott  erschaffenen  Dinge  würden  den  Inhalt  sebes  Wissens 
aasmachen. 


Digitized  by 


Googk 


533 

einzigen  Substanz  (dem  Weltgeiste)  eingeprägt  sind.  Sie  ver- 
halten sich  jedoch  so,  daß  die  eine  früher,  die  andere  später  nach 
der  Ordnung  der  Ursachen  und  Wirkungen  existiert.»)  Sind 
diese  Dinge,  die  im  Geiste  jener  Substanz  2)  eingeprägt  sind, 
aus  dem  ersten  Seinsprinzipe  verursacht,  dann  gehören  sie  zu 
der  Summe  alles  dessen  (das  der  erste  Seiende  erschafft  und) 
für  das  er  erstes  Prinzip  ist,  indem  er  sein  Wesen  begrifflich 
denkt.  Das  Hervorgehen  dieser  (geistigen)  Geschöpfe  aus  dem 
Wesen  des  ersten  Seienden  verhält  sich  also  nicht  so,  wie  wir 
anführten.  Denn  etwas  „existiert",  wenn  er  es  als  gut  erkennt, 
weil  die  verursachten  Dinge  nichts  anderes  sind,  als  sein  Denken, 
das  auf  ein  Gutes  gerichtet  ist  (und  das  die  Dinge  als  gut 
erkennt),  sonst  gelangte  man  zu  einer  unendlichen  Kette  der 
Ursachen.  Denn  er  müßte  dann  reflexiv  erkennen,  daß  die 
Dinge  (von  ihm)  erkannt  wurden,  und  diese  Kette  ginge  ohne 
Ende  weiter.  Darin  ist  jedoch  eine  Unmöglichkeit  enthalten. 
Die  Weltdinge  sind  also  nichts  anderes,  als  das  Erkennen  Gottes, 
das  sich  auf  das  Gute  erstreckt. 

Wir  könnten  daher  sagen :  nachdem  Gott  die  Dinge  erkannt 
hat,  gelangten  sie  zur  wirklichen  Existenz,  ohne  daß  gleichzeitig 
damit  ein  anderes  (reflexives)  Erkennen  verbunden  ist  Ihre 
Existenz  wird  also  nur  dann  wirklich,  wenn  sie  begrifflich  er- 
faßte sind.  Wenn  wir  diese  Ausdrücke  anwenden,  so  sagen  wir 
damit  tautologisch:  weil  Gott  die  Dinge  erkennt,  erkennt  er  sie 
(denn  die  Existenz  der  Dinge  ist  nichts  anderes  als  das  Erkennen 
Gottes),  oder  wir  würden  damit  nur  sagen:  weil  sie  als  eine 
Wirkung  Gottes  existieren,  existieren  sie  als  von  ihm  verursacht; 
(denn  das  Denken  Gottes  ist  nichts  anderes  als  das  Verursachen 
der  Dinge).  Betrachtest  du  jene  Begriffe  als  Teile  des  göttlichen 
Wesens,  dann  ergibt  sich,  daß  (sie  Eigenschaften  desselben  sind 
und  daß)  in  ihm  eine  Vielheit  vorhanden  ist.  Betrachtest  du 
sie  als  äußere  Akzidenzien  seines  Wesens,  dann  trifft  es  zu,  daß 
sein  Wesen  inbezug  auf  diese  Dinge  nicht  das  notwendig  Seiende 
ist,  weil  e«  in  Verbindung  tritt  mit  einem  ens  possibile.  Be- 
trachtest du  diese  Dinge  (die  Erkenntnisinhalte  Gottes)  aber 
als  solche,  die  sich  von  jedem  realen  Wesen  trennen  (und  als 
selbständige  Substanzen  für  sich  existieren),  so  sind  damit  die 

0  Vgl.  Hb.  cit.  S.  275, 18.    Ringsteine  F&r&bls,  Nr.  8. 
»)  Wörtlich:^„m  jenem  Dinge". 


Digitized  by 


Google 


534 

platonischen  Ideen  gegeben.  Betrachtest  dn  aber  jene  Begriffe 
als  solche,  die  in  einem  selbständigen  Verstände  existieren  (ßem 
Nns),  dann  trifft  die  Unmöglichkeit  zn,  die  wir  knrz  vorher 
erwähnt  haben.  Daher  ist  es  notwendig,  daß  dn  dir  Mühe  gibst, 
die  Schwierigkeiten  zu  lösen,  und  zur  reinen  Erkenntnis  zu  ge- 
langen. Daran  ist  jedoch  festzuhalten,  daß  keine  Vielheit  im 
Wesen  Gottes  vorhanden  sein  kann. 

Das  ist  ebenfalls  nicht  in  Rücksicht  zu  ziehen,  daß  sein 
Wesen  betrachtet  wird  mit  einer  Relation,  die  in  sich  nur  zu- 
fällig ist;  denn  insofern  diese  Relation  Ursache  ist  für  Zaid  (ein 
individuelles  Ding),  ist  sie  nicht  notwendig  seiend.  Sie  existiert 
also  nur  als  notwendige  infolge  des  Wesens  Grottes  selbst.  Damit 
erkennst  du  also,  daß  die  Welt  des  Göttlichen  außerordeutlich 
mächtig  ist,  und  weißt  zugleich,  daß  ein  Unterschied  besteht 
zwischen  dem  Vorgange,  daß  von  einem  Dinge  eine  Wesensform 
emaniert,  die  so  beschaffen  ist,  daß  sie  begrifflich  faßbar  ist  (die 
materielle  Wesensform),  und  zwischen  dem  anderen  Vorgange, 
daß  aus  einer  Substanz  eine  begrifflich  faßbare  Wesensform 
emaniert,  insofern  sie  begrifflich  faßbar  und  gedacht  ist,  ohi^ 
jede  andere  Hinzufttgung  zu  ihrem  Wesen  (die  reinen  Geister), 
Dadurch,  daß  Gott  sein  eigenes  Wesen  erkennt,  ist  er  erstes 
Prinzip  für  die  Emanation  jedes  geistigen  Wesens  als  eines 
gedachten,  das  verursacht  ist.  In  gleicher  Weise  ist  er  erstfö 
Prinzip  für  die  Emanation  jedes  real  existierenden  Dinges  als 
eines  realen,  das  verursacht  ist  Betrachte  sodann  mit  Eifer 
die  Prinzipien,  die  dargelegt  worden  sind  und  die  noch  dargelegt 
werden,  damit  dir  das  eröffnet  werde,  was  dem  Erkennen  eröffnet 
werden  muß. 

Der  erste  Seiende  erkennt  also  sein  Wesen  und  die  Ordnung 
des  Guten,  das  im  Weltall  existiert,  und  er  erkennt,  wie  dadurch 
die  Ordnung  des  Weltalls  hergestellt')  wird.  Denn  er  denkt 
das  Ding,  und  dieses  empfängt  die  Emanation  von  ihm  und  ist  ein 
Entstehendes  und  Seiendes.  Jedes  erkennbare  Werdende  und 
Wirkliche,  und  alles  Entstehende,  das  von  ihm  als  dem  Ursprünge 
stammt,  ist  bei  seinem  ersten  Prinzipe  zugegen  (d.  h.  ist  der 
Gottheit  geistig  präsent)  und  ist  ein  Gutes,  das  in  sich  nichts 
Ungutes  enthält.    Es  folgt  und  ergibt  sich  aus  der  Qütigkeit 

')  Oder:  und  wie  es  durch  diese  Ordnung  wirklich  ist  Cod.  c  add.: 
„Diese  Ordnung  besteht  also  darin^  daß  er  das  Ding  denkt  u.  s.  w.^ 


Digitized  by 


Googk 


535 

uud  den  Vollkommenheiten  der  ersten  Ursache.  Diese  beiden, 
die  Güte  und  die  Vollkommenheit  der  ersten  Ursache,  werden 
geliebt  wegen  ihrer  selbst  Das  individuelle  Ding  ist  also 
von  Gott  gewollt;  jedoch  ist  es  nicht  gewollt  von  dem  ersten 
Seienden,  so  wie  wir  einen  Gegenstand  wollen.  Dann  müßte 
Gott  in  allem,  was  von  ihm  stammt,  einen  gewissen  (äußeren) 
Zweck  verfolgen.  Daß  dieses  unmöglich  ist,  hast  du  bereits 
erkannt  und  wirst  du  auch  noch  in  der  weiteren  Ausführung 
sehen.  Er  ist  vielmehr  seinem  Wesen  nach  wollend  und  zwar 
in  dieser  bestimmten  Art  des  rein  geistigen  Wollens. 

Die  Art  seines  Lebens  ist  diese  bestimmte  (die  des  Er- 
kenuens)  ebenfalls  zufolge  seiner  Individualität  Die  Art  des 
Lebens,  in  der  mr  das  Leben  besitzen,  wird  vervollkommnet 
durch  Erkennen  und  Handeln,  nämlich  durch  Ausführung  von 
Bewegungen.  Beide  gehen  hervor  aus  den  beiden,  in  sich  wesent- 
lich verschiedenen  Fähigkeiten  (dem  Willen  und  dem  Verstände). 
Es  wurde  schon  dargelegt,  daß  das  von  Gott  Erkannte  —  und 
dieses  ist  dasjenige,  was  er  von  dem  Weltall  begrifflich  erfaßt  — 
selbst  die  Ursache  des  Weltalls  ist,  und  dieses  ist  zugleich  erstes 
Prinzip  für  sein  Handeln,  0  und  darin  ist  zugleich  das  Erschaffen 
des  Weltalls  gegeben. 

Daher  ist  es  also  ein  einziges,  begriffliches  Wesen  (ratio), 
in  Gott,  das  zugleich  Erkennen  bedeutet  und  auch  zum  Erschaffen 
hinfährt.  Deshalb  ist  auch  das  Leben  in  Grott  nicht  so  beschaffen, 
daß  es  zweier  Fälligkeiten  bedürfte,  um  durch  diese  beiden  Kräfte 
(des  Erkennens  und  Wollens)  vollendet  zu  werden.  Ebensowenig 
ist  das  Leben  in  Gott  verschieden  von  seinem  Wissen.  Alles 
dieses  (Leben,  Wissen  und  Wollen)  kommt  ihm  auf  Grund  seines 
Wesens  zu.  Femer  wird  die  begriffliche  Erkenntnisform  in  uns 
wirklich  und  wird  dann  Ursache  für  die  Wesensformen  der 
Kunstschöpfungen,  die  in  der  realen  Außenwelt  existieren.  Wenn 
diese  Erkenntnisformen  durch  ihre  (geistige)  Existenz  in  uns 
allein  dafür  ausreichend  ^)  wären,  daß  aus  ihnen  die  Kunstformen 
entständen  —  dies  fände  dadurch  statt,  daß  sie  zu  Wesensformen 
würden,  die  in  aktueller  Weise  erste  Prinzipien  wären  für  das- 
jenige, dessen  Kunstformen  sie  darstellen  —  dann  wäre  das  von 
uns  begrifflich  gefaßte  auch  zugleich  unsere  Macht  (über  die 


^)  Verstand  nnd  V7iUe  sind  also  in  ihm  identisch. 
»)  VgL  üb.  cit.  S.  30—34. 


Digitized  by 


Google 


536 

Dinge,  die  wir  herstellen  wollen).  Jedoch  verhält  es  sich  nicht 
so;  sondern  die  Existenz  der  begrifflichen  Vorstellungen  in  uns 
genügt  noch  nicht  (zum  Wirken  nach  außen).  Sie  bedftrfen  noch 
weiterhin  des  sich  stetig  erneuernden  Willensentschlusses,  der 
in  Tätigkeit  versetzt  wird  von  der  begehrenden  Kraft,  und 
durch  diese  wird  zu  gleicher  Zeit  die  bewegende  Kraft  in  Be- 
wegung gesetzt.  Diese  bewegt  dann  die  Nerven  und  Glieder 
wie  Instrumente.  Sodann  setzt  sie  die  äußeren  Organe  in  Tätig- 
keit und  letzthin  die  Materie.  Aus  diesem  Grunde  (weil  mit 
dem  Erkennen  in  uns  noch  nicht  die  reale  Existenz  des  Objektes 
in  der  Außenwelt  gegeben  ist)  ist  die  Existenz  dieser  begriff- 
lichen Erkenntnisformen  nicht  gleichbedeutend  mit  der  Macht 
über  die  Dinge,  noch  auch  mit  dem  Willensentschlusse.  Das,  was 
in  uns  Macht  über  die  Dinge  ist,  liegt  bei  dem  bewegenden 
Prinzipe.  Jene  Erkenntnisform  aber  ist  das  bewegende  Prinzip  der 
(nach  außen  wirkenden)  Macht  und  daher  ist  jene  Erkenntnis- 
form bewegendes  Prinzip  für  ein  anderes  bewegendes  Prinzip.») 

Der  notwendig  Seiende  verhält  sich  so,  daß  sein  Wille 
nicht  verschieden  ist  von  seinem  Wissen.  Ebensowenig  existiert 
ein  rein  begrifflicher  Unterschied  zwischen  Wollen  und 
Wissen  in  Gott.  Wir  haben  bereits  klar  gelegt,  daß  das  Er- 
kennen, das  ihm  eigen  ist,  nichts  anderes  ist,  wie  sein  Wollen. 
Dadurch  wurde  klar,  daß  die  Macht,  die  ihm  zukommt,  gleich 
bedeutend  damit  ist,  daß  sein  Wesen  erkennend  ist  und  das 
Weltall  in  begrifflicher  Weise  erfaßt.  Dieses  Erkennen  ist  erstes 
Prinzip  für  das  Weltall  Es  ist  nicht  aus  dem  Weltall  selbst 
abstrahiert.  Er  ist  Prinzip  durch  sich  selbst  und  besteht  nicht 
auf  Grund  der  Existenz  irgend  eines  anderen  Dinges.  Dieses 
Wollen  verhält  sich  so,  wie  wir  es  auseinandergesetzt  haben.  Es 
ist  nicht  von  einem  erstrebten  Gegenstande  in  der  Emanation 
des  Seins  abhängig,  der  verschieden  wäre  von  der  Emanation 
selbst    Dies  ist  das  selbstlose  Geben  des  Seins  (vgl.  Abh.  VI,  5). 

Wir  haben  dir  bereits  klar  gelegt,  was  selbstloses  Geben 
ist.  Wenn  du  dich  daran  erinnerst,  weißt  du,  daß  dieses 
Wollen  Gottes  in  sich  ein  selbstloses  Mitteilen  der  Existenz  ist^ 
(weil  es  nicht  auf  einen  Zweck  gerichtet  ist,  der  dem  ersten 


')  Die  Reihenfolge  ist  demnach:  Erkenntnis  —  Prinzip  der  Macht 
(innere  Potenz)  —  bewegendes  Prinzip  —  Bewegung  der  Moskehi  und 
Glieder  —  Bewegung  der  Instrumente  —  Bewegung  des  äußeren  JStoffes. 


Digitized  by 


Googl( 


537 

Sein  neue  Vollkommenheiten  mitteilt).     Wenn  du  dieses  erfaßt 
hast,  dann  ist  die  erste  Eigenschaft,  die  dem  notwendig  Seien- 
den zukommt  die,  daß  er  existiert  und  daß  er  real  existiert; 
sodann  folgen  die  übrigen  Eigenschaften.    Die  einen  bezeichnen») 
dieses    reale  Sein    in  Verbindung  mit  einer  Relation,   andere 
bezeichnen  dieses  reale  Sein  in  Verbindung  mit  einer  Negation. 
Keine   einzige   der  Bestimmungen  des  notwendig  Seienden  be- 
deutet in  seinem  Wesen  irgendwie  eine  Vielheit  oder  eine  Ver- 
schiedenheit    Diejenigen  Bestimmungen  aber,  die  in  sich  eine 
Negation  einschließen,  verhalten  sich  anders.    Man  könnte  die 
Schwierigkeit  erheben:  betreffs  des  ersten  Seienden  hat  man  kein 
Bedenken,  zu  sagen,  daß  er  eine  Substanz  sei.     Mit  diesem 
Ausdrucke  aber  bezeichnet  man  nur  diese  individuelle  Existenz, 
nämlich  diejenige,  von  der  es  verneint  wird,  daß  sie  in  einem 
Substrate  existiert    Wenn  man  von  Gott  aussagt,  daß  er  der 
Eine  ist,  so  bezeichnet  man  damit  nur  die  Existenz  selbst,  von 
der  zugleich  die  Teilung  nach  Quantität  oder  nach  Art  der  Prä- 
dikation (das  praedicari  de  multis)  verneint  wird,  oder  von  dem 
ein  ihm  im  Sein  gleichstehendes  Individuum  ausgeschlossen  er- 
scheint    Bezeichnet    man    ihn    als   Verstand,   Gedachtes   und 
Denkendes,   so   bezeichnet   man   damit   im  wahren  Sinne   des 
Wortes  nur  dieses  unkörperliche  Wesen  in  sich  selbst  betrachtet, 
von  dem  aus  geschlossen  wird,  daß  es  sich  mit  der  Materie  und 
den  Begleiterscheinungen  der  Materie  in  irgend  welcher  Weise 
vermischen  könne.    Dieser  Begriff  wii'd   zugleich  mit  einer  ge- 
wissen Relation    (des  Erkennenden  zu  den  Dingen)   ausgesagt. 
Wenn  man  von  ihm  aussagt,  daß  er  der  Erste  sei,  so  bezeichnet 
man  damit  nur  die  Relation  dieses  realen  Seins  zu  dem  Weltall. 
Sagt  man  von  ihm  aus,  daß  er  der  Mächtigste  sei,  so  bezeichnet 
man  damit  nur,  daß  er  der  notwendig  Seiende  sei,  der  in  Be- 
ziehung steht  zu  einem  anderen  Sein,  das  von  ihm  ausgeht    Es 
kann  von  ihm  nur  ausgehen  in  der  Weise,  wie  wir  es  erwähnt 
haben.     Sagt  man  von  ihm  aus,  daß  er  ein  Lebender  sei,  so 
bezeichnet  man  damit  nur  die  rein  geistige  Existenz,  die  zugleich 
mit   einer  Relation  zum  Weltall  betrachtet  wird,    und  diese 
Relation  ist  ebenfalls  geistiger  Natur  in  zweiter  Linie  ;^)  denn 


*)  Wörtlich:  „earum  ratio  est". 

*)  In  erster  Linie  ist  Grott  geistig  als  Erkennender ,  in  zweiter  Linie 
als  Wirkender;  denn  sein  Wirken  ist  Erkennen. 


Digitized  by 


Google 


538 

der  Lebende  ist  gleichbedeutend  mit  dem  Erkennenden  und 
Wirkenden.  Sagt  man  von  ihm  aus,  er  sei  ein  Wollender,  so 
bezeichnet  man  damit  nur,  daß  der  notwendig  Seiende,  der  zu- 
gleich rein  geistiger  Natur  ist,  d.  h.  von  dessen  Wesen  die  Materie 
verneint  wird,  erstes  Prinzip  für  die  Ordnung  des  gesamten 
Guten  sei  (das  existiert).  Er  denkt  dasselbe.  Daher  ist  dieser 
Begriff  also  zusammengesetzt  aus  einer  Relation  und  einer 
Negation.  Sagt  man  von  ihm  aus,  daß  er  ein  selbstloser  Ver- 
leiher des  Seins  sei,  so  bezeichnet  man  mit  diesem  Ausdrucke 
diese  bestimmte  Relation,  mit  einer  Negation,  d.  h.  indem  man 
zugleich  eine  andere  Bestimmung  von  ihm  ausschließt,  die  darin 
besteht,  daß  er  irgend  einen  Gegenstand  als  Zweck  erstrebe. 
Sagt  mau  von  ihm  aus,  er  sei  das  (wahre)  Gute,  so  bezeichnet 
man  damit  nur  den  Umstand,  daß  dieses  reale  Sein  frei  ist  von 
der  Beimischung  von  irgend  etwas,  das  in  der  Potenzialitat  be- 
steht oder  einen  Mangel  in  sich  schließt  Dieses  aber  ist  eine 
Negation.  Oder  man  bezeichnet  damit  den  Umstand,  daß  er 
erste  Ursache  für  alle  Vollkommenheit  und  Ordnung  ist,  und 
dieses  bedeutet  eine  Relation. 


Achtes  Kapitel 

Er  ist  seinem  Wesen  nach  der  Geliebte  und  der  Liebende,  Gegenstand 

des   Gliicks   und  selbst  glücklich.     Die  Lust   ist  das  Erfassen  des 

entsprechenden  Guten. 

Nachdem  du  die  Eigenschaften  des  ersten  Seienden,  des 
Wahren,  in  dieser  Hinsicht  erkannt  hast,  so  existiert  in  ihnen 
also  nichts,  das  für  das  Wesen  (4ottes  Teile  oder  eine  Vielheit 
in  irgendwelcher  Weise  erforderte.  Es  kann  keine  Majestät 
und  keine  Würde  (Glanz)  geben,  die  höher  sei,  als  diejenige, 
daß  die  Wesenheit  eine  rein  geistige  sei,  reines  Gut  bedeute 
und  von  jeder  Art  des  Mangels  frei  sei,  und  daß  sie  zugleich 
einheitlich  und  einfach  sei  in  jeder  Beziehung.  Daher  kommt 
dem  notwendig  Seienden  die  Vollkommenheit  und  die  größte 
Majestät  zu.     Er  ist   das  Prinzip  der  Schönheit  jedes  Dinges. 


Digitized  by 


Googk 


539 

Die  Schönheit  jedes  Dinges  und  seine  Würde  besteht  darin,  daß 
es  so  beschaffen  ist,  wie  es  für  das  Ding  notwendig  ist.  Wie 
groß  ist  die  Schönheit  dessen,  was  so  ist,  wie  die  Existenz  des 
Notwendigen!  Jede  Schönheit,  jedes  adäquate  Objekt  und  jedes 
Gut,  das  erkannt  ist,  ist  damit  zugleich  auch  geliebt  und  er- 
sehnt Das  erste  Prinzip  von  alle  diesem  ist  das  Erkennen 
Gottes.  Es  könnte  nun  das  sinnliche  oder  das  phantasiemäßige 
oder  das  der  cogitativa  oder  das  der  unsicheren  Meinung  oder 
das  des  Verstandes  sein.  Umsomehr  das  Erkennen  tiefer  in  das 
Wesen  eindringt  und  intensiver  die  wahre  Natur  erfaßt,  und  so 
oft  das  Erkannte  seinem  Wesen  nach  vollkommener  und  edler 
ist^  umsomehr  ist  auch  die  Liebe  der  erkennenden  Kraft,  die  sich 
auif  dieses  Objekt  richtet,  und  die  Freude  an  ihm  größer.  0  Da- 
her ist  der  notwendig  Seiende,  der  sich  in  der  höchsten  Voll- 
endung, Schönheit  und  Majestät  befindet,  derjenige,  der  sein 
Wesen  in  dieser  Vollendung,  Würde  und  Schönheit  in  voll- 
kommenster Weise  erkennt  nach  Art  eines  begrifflich  Erfassenden 
und  eines  begrifflich  Erfaßten,  und  zwar  so,  daß  beide  (der  Er- 
kennende und  sein  Objekt)  in  ihrem  eigentlichen  Wesen  nur 
eines  sind.  Daher  ist  sein  Wesen  filr  sich  selbst  im  höchsten 
Maße  liebend  und  Objekt  der  Liebe,  im  höchsten  Maße  glück- 
selig und  Objekt  der  Glückseligkeit.  Dies  verhält  sich  so;  denn 
der  Genuß  besteht  nur  in  dem  Erfassen  des  adäquaten  Ob- 
jektes, insofern  es  ein  adäquates  ist.^)  Der  sinnliche  Genuß 
besteht  also  in  dem  sinnlichen  Erfassen  des  Adäquaten,  der 
geistige  Genuß  im  geistigen  Erfassen  desselben.  Daher  ist 
also  der  erste  Seiende  in  vorzüglichem  Sinne  ein  Erkennender, 
der  in  der  vorzüglichsten  Art  des  Erkennens  das  vollkommenste 
Objekt  erfaßt  Deshalb  ist  er  also  im  vollkommensten  Sinne 
glückselig  und  Objekt  der  Glückseligkeit.  Diese  Bestimmung 
ist  in  ihm  so  enthalten,  daß  kein  Geschöpf  sich  mit  ihm  darin 
vergleichen  kann.  Für  diese  Begriffe  (der  innem  göttlichen 
Welt)  haben  wir  keine  anderen  Bezeichnungen  als  diese.  Wer 
diese  als  unschön  betrachtet,  möge  andere  anwenden. 

Wisse,  daß  das  Erfassen  des  Verstandes,  das  sich  auf  ein 
begrifflich  faßbares  Objekt  erstreckt,  mächtiger  (intensiver) 
ist  als  das  Erfassen  des  Sinnes,  das  sich  auf  einen  sinnlich  wahr- 


')  Vgl.  Kommentar  Ismtfils  zu  den  Ringsteinen,  Färäbts,  Nr.  23. 
3)  Vgl.  Färäb!  Bingsteiue,  Nr.  17  und  Kommentar  Imails,  S.  403. 


Digitized  by 


Google 


540 

uehmbaren  Gegenstand  bezieht;  denn  der  Vei*stand  denkt  nnd 
erfaßt  das  Bleibende  nnd  Allgemeine.  Er  verbindet  sich  mit 
ihm  (seinem  Objekte)  und  wird  dieses  Objekt  in  einer  gewissen 
Weise  (intellectus  actu  fit  intellectum  actu).  Er  erkennt  es  in 
seinem  wahren  Wesen  (und  seiner  inneren  Natur),  nicht  nach 
seiner  äußerlichen  Erscheinung.  So  verhält  sich  aber  nicht  die 
äußere  Sinneswahrnehmung  zum  sinnlich  Wahrnehmbaren,  Der 
Genuß,  der  uns  eigen  ist,  indem  wir  ein  adäquates  Objekt  be- 
grifflich erfassen,  steht  also  höher  als  der  Genuß,  den  wir 
erfahren,  wenn  wir  ein  adäquates  Objekt  sinnlich  wahrnehmen, 
Beide  lassen  sich  überhaupt  nicht  vergleichen.  Jedoch  trifft  es  sich 
manchmal,  daß  die  erkennende  Fähigkeit  an  dem  Objekte,  an  dem 
sie  sich  erfreuen  sollte,  keine  Freude  hat.  Dies  jedoch  ist  durch 
andere  akzidentelle  Verhältnisse  (nicht  per  se)  herbeigeführt 
In  gleicher  Weise  hat  auch  der  Kranke*)  keine  Freude  an  dem 
Süßen  und  verachtet  dasselbe  auf  Grund  eines  anderen,  akziden- 
tellen Verhältnisses,  das  ihm  zustößt.  In  gleicher  Weise  müssen 
wir  unseren  Zustand  verstehen,  so  lange  wir  im  körperlichen 
Leben  bleiben.  Denn  es  trifft  sich,  daß  wir,  wenn  unsere  Er- 
kenntniskräfte zur  aktuellen  Vollendung  im  Erkennen  gelangen, 
nicht  denjenigen  Genuß  haben,  den  wir  der  Natur  der  Sache 
nach  empfinden  müßten.  Der  Grund  dafür  liegt  darin,  daß  der 
Körper  hinderlich  ist.  Wenn  wir  von  dem  Körper  befreit  wären, 
dann  würden  wir  uns  selbst  erschauen,  und  unser  Wesen  würde 
die  realen  Wesenheiten  der  Dinge  inbegrifflicher  Weise  erkennen 
und  erschauen,  wie  auch  ihre  eigentlichen  Schönheiten  und  die 
wahren  Objekte  des  Glückes.  Diese  Objekte  verbinden  sich,  so 
wie  sich  das  eine  Objekt  des  Erkennens  mit  dem  anderen  ver- 
einigt (also  nach  logischen  Gesetzen).  Dann  erleben  wir  die 
Glückseligkeit  und  die  Erhabenheit,  die  unendlich  ist.  Im 
folgenden  werden  wir  uns  darüber  noch  weiter  verbreiten. 

Wisse,  daß  der  Genuß  jeder  Fähigkeit  darin  besteht,  daß 
die  für  sie  bestimmte  Vollendung  in  ihr  wirklich  wird.  Für  die 
sinnliche  Wahrnehmung  besteht  also  der  Genuß  in  den  sinnlich 
wahrnehmbaren,  dem  Sinne  entsprechenden  Dingen,  für  den  Zorn 
besteht  er  in  der  Bache,  für  die  Hoffnung  in  dem  Siege  (und  in 
dem  Erlangen  eines  Gegenstandes),  für  jedes  Ding  in  dem,  was 
ihm  eigentümlich  zukommt,  für  die  vernünftige  Seele  darin,  daß 

0  Vgl.  Farabi  Bingsteine,  Nr.  20  und  21. 


Digitized  by 


Googl( 


541 

sie  wissend  und  aktuell  begrifflich  erkennend  wirdJ)  Daher  ist 
also  der  wahrhaft  Seiende  begrifflich  erfaßbar  und  erkannt,  sei 
es  nun,  daß  er  von  einem  anderen  begrifflich  erfaßt  wird  oder 
nicht.  Er  ist  zudem  Objekt  der  Liebe,  sei  es  nun,  daß  er  von 
einem  anderen  geliebt  wird  oder  nicht.  2) 

»)  Vgl.  F&r&bi  Kingsteine,  Nr.  17. 

»)  Vgl.  dazu  Ffir&b!  Ringsteine,  Nr.  23.  Cod.  d  add.:  „Er  ist  Objekt 
der  Glückseligkeit,  sei  es,  daß  diese  von  einem  anderen  empfunden  wird, 
oder  nicht". 


Digitized  by 


Google 


Neunte  Abhandlung. 

Das  Hervorgehen  der  Geschöpfe  aus   der   „ersten** 
Ordnung  Gottes  und  ihre  Rückkehr  zu  ihm.  0 

Erstes  Kapitel. 

Die  Eigenschaft,  die  dem  ersten  Prinzipe  des  Seins  zulcommt 

Es  ist  uns  klar  geworden,  daß  das  Weltall  eine  erste  Ur- 
sache hat,  die  der  notwendig  Seiende  ist,  der  nicht  unter  ein 
Genus  fällt  oder  unter  eine  Definition  gehört  oder  durch  einen 
deduktiven  Beweis  dargetan  wird.  Er  ist  frei  von  Qualität, 
Quantität,  Wesenheit,  ubi,  quando  und  Bewegung.  Er  hat  keinen 
Ähnlichen  noch  einen  ihm  Gleichstehenden  neben  sich  noch  ein 
Kontrarium.  Er  ist  der  Eine  in  vielfacher  Beziehung,')  weil 
er  nicht  teilbar  ist,  weder  in  aktuelle  noch  auch  in  begriffliche 
Teile  durch  Supposition  und  innere  Vorstellung,  wie  z.  B.  das 
Kontinuum  teilbar  ist;  noch  ist  er  teilbar  durch  Teile  die  der 
Verstand  findet,  so  daß  also  sein  Wesen  zusammengesetzt  wäre 
aus  begrifflichen  Teilen,  die  sich  voneinander  unterschieden, 
um  dann  aus  ihrer  Zusammensetzung  ein  einheitliches  Wesen 
entstehen  zu  lassen.  Sein  Wesen  ist  einzig,  insofern  kein  Ding 
an  dem  Sein  teilnimmt,  das  ihm  zukommt.  In  dieser  Einheit  ist 
er  ein  Individuum.  Er  ist  ein  Einziges,  weil  er  in  seiner  Exi- 
stenz vollendet  ist  Kein  Ding  besteht,  das  zu  seiner  Existenz 
noch  hinzutreten  müßte,  damit  sie  vollendet  würde.  Dieses  ist 
nach  früherer  Darlegung^)  eine  Art  des  Einen.    Die  Einheit 


*)  Diese  Abhandlung  enthält  in  kurzer  Zusammenfassung  die  Kosmologie 
Avicennas.  Als  Teil  der  Metaphysik,  die  das  Geistige  betrachtet,  hat  sie  in« 
sofern  eine  Berechtigung^,  als  sie  die  Lehre  über  die  (Geister  enthält. 

»)  CJod.  c  GL:  „d.  h.  in  jeder  Hinsicht". 

•)  Vgl.  Abh.  m,  2  ff. 


Digitized  by 


Googk 


543 

ist  in  Gott  nur  nach  Art  der  Negation  enthalten,  nicht  wie  die 
Einheit,  die  in  den  Körpern  sich  findet  durch  Kontinuität  oder 
durch  Zusammentreten  von  Einheiten,  durch  Juxtaposition  oder 
in  anderer  Weise,  wie  die  Einheit  der  Dinge,  die  auf  Grund 
einer  (inneren)  Einheit  „una"  sind.  Diese  Einheit  ist  ein  realer 
Begriff  (ratio),  der  einem  Wesen  wie  ein  Akzidens  anhaftet. 

In  den  Darlegungen,  die  in  den  Naturwissenschaften  aus- 
geführt wurden  (Naturwissenschaften  ü.  Teil  I,  4)  Ist  es  dir  klar 
geworden,  daß  eine  Kraft  existiert,  die  unendlich  und  unkörper- 
lich ist  Ihr  Wesen  ist  das  erste  Prinzip  der  ursprünglichen 
und  unvermittelten  Bewegung  (der  ersten  Sphäre).  Es  ist  dir 
femer  klar  geworden,  daß  die  kreisförmige  Bewegung  nicht  in 
zeitlicher  Weise  entsteht.  Zugleich  ist  dir  daraus  in  gewissem 
Sinne  erkenntlich,  daß  eine  erste  Ursache  bestehen  muß,  die  ewig 
ist  Sodann  wurde  dir  klar,  daß  der  notwendig  Seiende  in 
seinem  Wesen  nach  allen  Seiten  hin  notwendig  seiend  ist  Kein 
Zustand  kann  ihm  vorausgehen,  der  früher  nicht  existierte, 
und  dabei  wurde  dir  klar,  daß  die  Ursache  auf  Grund  ihres 
Wesens  die  notwendige  Wirkung  hervorbringt.')  Wenn  daher 
die  Ursache  ewig  besteht,  so  wirkt  sie  auch  ihre  Wirkung 
in  ewiger  Weise.  Bist  du  mit  diesen  Ausführungen  in  den 
Naturwissenschaften  zufrieden,  dann  genügt  dir  jenes  an  Stelle 
dessen,  was  wir  hier  darlegen;  jedoch  wollen  wir  deine  Wiß- 
begierde noch  weiter  befriedigen. 

Wir  lehren  also:  jedes  zeitlich  neu  entstehende  Ding  muß, 
wie  du  bereits  gesehen  hast,  eine  Materie  besitzen.  Wenn  daher 
das  Ding  noch  nicht  zur  tatsächlichen  Existenz  gelangt  ist 
und  sodann  in  einem  zeitlichen  Später  zum  Dasein  gelangt, 
können  zwei  Fälle  eintreten.  Seine  beiden  Ursachen,  die  Wirk- 
orsache  und  die  Materialursache,  verhalten  sich  entweder  so,  daß 
sie  beide  nicht  bestanden  und  dann  erst  wirklich  wurden,  oder 
daß  sie  bereits  bestanden.  Jedoch  ist  die  Wirkursache  noch 
nicht  aktuell  bewegend,  noch  die  aufnehmende  Ursache  aktuell 
(zur  Form  hin)  bewegt;  oder  drittens,  das  Verhältnis  liegt  so, 
dafi  die  Wirkursache  real  bestand,  ohne  daß  die  Materialursache 
Dasein  hatte;  oder  viertens,  die  Materialursache  bestand  real,  ohne 
daß  die  Wirkursache  Existenz  besaß.   Daher  lehren  wir  im  all- 


1)  Ayicenna  zählt  hier  diejenigen  Prinzipien  auf,  die  er  im  folgenden 
Tonossetzt. 


Digitized  by 


Google 


544 

gemeinen  kurz,  bevor  wir  auf  die  einzelnen  Diskussionen  ein- 
gehen, daß  Ursache  und  Wirkung  sich  wie  folgt  verhalten. 
Verhalten  sich  die  Ursachen  so,  wie  sie  vorher  waren,  und  ent- 
steht in  keiner  Weise  ein  reales  Ding  als  Wirkung,  das  fr&her 
nicht  existierte,  dann  verhält  sich  das  existere  ab  aliquo  und  das 
non  existere  ab  aliquo  so,  wie  es  vor  dem  tatsächlichen  Wirken 
der  Ursachen  besteht.  Dann  also  ist  es  nicht  möglich,  daß  ein 
wirkliches  Ding  (als  Wirkung)  entstehe.  Wenn  aber  nun  in 
der  Tat  etwas  Neues  entsteht^  das  früher  nicht  war,  dann  können 
zwei  Fälle  eintreten.  Entweder  entsteht  dasselbe  in  der  Weise, 
wie  etwas,  das  dadurch  entsteht,  daß  seine  Ursache  wirklich 
wird,  und  zwar  mit  einem  Male,  (simul  cum  existentia  causae), 
nicht  nach  Art  dessen,  was  entsteht  durch  die  Nähe  seiner  Ur- 
sache, (so  daß  die  Wirkung  nicht  auf  einmal,  aber  doch  schnell 
auftritt)  oder  durch  die  Entfernung  von  der  Ursache  (so  daß  die 
Wirkung  langsam  auftritt)  oder  zweitens,  das  Ding  entsteht  in 
einer  dieser  letztgenannten  Weisen  (entweder  schnell  oder 
langsam).  9 

Die  erste  Art  des  Entstehens  ist  damit  begründet^  daß  die 
Wirkung  notwendig  eintritt,  weil  die  Ursache  existiert,  und  daß 
sie  gleichzeitig  mit  ihr  eintrete,  ohne  daß  sie  irgendwie  später 
ist  als  die  Ursache.  Ist  jedoch  die  Ursache  nicht  existierend 
und  gelangt  dann  zur  Existenz,  oder  ist  sie  bereits  existierend, 
so  daß  jedoch  die  Wirkung  dem  Sein  nach  später  ist  wie  die 
Ursache,  dann  ergibt  sich  das,  was  wir  auseinandergesetzt >) 
haben  betreffs  des  ersten  Seienden:  es  muß  nämlich  ein  anderes 
neu  entstehendes  Ding  vorhanden  sein,  das  im  Sein  verschieden 
ist  von  der  Ursache.  3)  Dieses  entstehende  Ding  (das  der  Ur- 
sache das  aktuelle  Wirken  mitteilt,  während  sie  vordem  nur 
der  Möglichkeit  nach  wirkend  war)  ist  also  die  causa  proxima. 
Wollte  man  diese  in  der  begonnenen  Weise  weiter  verfolgen, 
dann  ergäben  sich  Ursachen  und  hinzukommende  Momente,  die 
auf  einmal  entstehen,  eine  unendliche  Kette  bilden  und  zugleich 
(mit  den  Ursachen)  notwendig  sind.    Dieses  haben  wir  in  dem 


^)  wörtlich:  „nach  Art  dessen,  was  auf  Gmnd  der  Nähe  oder  Feme 
seiner  Ursache  entsteht". 

«)  Ygl  Abh.  VI,  2  und  3. 

*)  Dieses  neue  Moment  soU  die  Ursache  zur  aktneU  wirkenden  Ursache 
machen. 


Digitized  by 


Googl( 


S45 

Priimpe  klar  erkannt,  das  die  Lehre  von  einer  nnendlichen 
Kette  der  Ursachen  als  falsch  beweist  (vgl.  Abh.  VUi,  1  und  2). 
Daher  ergibt  sich,  daß  die  neu  auftretenden  Ursachen  nicht  alle  zu 
gleicher  Zeit  (in  instanti)  wirken,  nicht  etwa  weil  sie  der  ersten 
Ursache  näher  oder  femer  stehen.  9  Es  ergibt  sich  also  schließ- 
lich, daß  die  ersten  Prinzipien  des  Werdens  eine  endliche  Kette 
bilden,  die  aus  Ursachen  besteht,  die  in  der  Nähe  oder  Feme  (von 
der  ersten  Ursache)  stehen. »)  Diese  Wirkung  erfolgt  durch  die 
Bewegung.  Vor  der  Bewegung  existierte  also  eine  frühere  Be- 
wegung, und  diese  Bewegung  führte  die  Ursachen  zu  der  (dieser 
zweiten)  Bewegung  hin.  Beide  verhalten  sich  also  wie  zwei 
Dinge,  die  sich  berühren;  sonst  müßte  die  Diskussion  wieder 
von  vorne  beginnen.  Man  müßte  eine  neue  Ursache  voraussetzen 
betreffs  der  Zeit,  die  zwischen  beiden  (Bewegungen)  liegt.  Wenn 
die  Zeit  nicht  „berührt"  (und  kontinuierlich)  wird  durch  eine 
Bewegung,»)  dann  befinden  sich  die  entstehenden  Dinge,  (die  die 
Ursachen  zu  aktuell  wirkenden  machen  sollen)  und  die  unendlich 
an  Zahl  sind  in  Beziehung  zu  den  Ursachen  in  einem  einzigen 
Augenblicke,  da  es  nicht  möglich  ist,  daß  sie  in  verschiedenen 
Augenblicken,  die  sich  aufeinander  folgen  und  sich  berühren. 


^)  Dann  wirken  sie  aUmählich  und  in  anvollkommener  Weise.  VgL 
Thomas  I — n  66,  Ic:  Semper  enim  est  potior  causa  suo  effectu,  et  in  effec- 
tibns  tanto  aliqoid  est  potios,  qnanto  est  caosae  propinqnins. 

*)  Wörtlich:  „sie  gelangen  schließlich  hin  zu  der  Nfthe  oder  Feme  der 
Ursachen^,  d.  h.  es  gibt  verschiedene  Ordnungen  von  Ursachen.  Vgl.  Thomas, 
Sum.  th.  1 65,  3  c:  quanto  aliqua  causa  est  superior,  tanto  ad  plura  se  extendit 
in  causando.  Ib.  104,  2  c:  Cum  sint  multae  causae  ordinatae,  necesse  est, 
quod  effectus  dependeat  primo  quidem  et  prindpaliter  a  causa  prima,  secun- 
dario  vero  ab  onmibus  causis  mediis,  et  ideo  principaliter  quidem  prima  causa 
est  effectus  conservativa,  secundario  vero  omnes  mediae  causae,  et  tanto  magis, 
quanto  causa  fuerit  altior  et  primae  causae  propinquior.  Unde  superioribus 
causis  etiam  in  corporalibus  rebus  attribuitur  conservatio  et  permanentia 
rerum,  sicut  philosophus  dicit  in  XII,  Metaph.  text.  84,  quod  primus  motus, 
scilicet  diumus,  est  causa  continuitatis  generationis,  secundus  autem  motus, 
qui  est  per  zodiacum,  est  causa  diversitatis,  quae  est  secundum  generationem 
et  corruptionem.  Et  similiter  astrologi  attribuunt  Satumo,  qui  est  supremus 
planetarum,  res  finas  et  permanentes. 

>)  Das  Jetzt  ist  das  Ende  der  Bewegung  und  leitet  über  zur  folgenden 
Bewegung.  SoUen  beide  kontinuierlich  sein,  dann  müssen  sie  sich  in  einem 
unteilbaren  Zeitpunkte  bertthren.  Femer  muß  auch  die  Zeit  ein  continuum 
bilden.  Sie  wird  dadurch  kontinuierlich,  daß  die  Bewegung  sie  kontinuierlich 
„berührt",  wie  der  Text  sagt;  denn  die  Zeit  ist  nichts  anderes  als  das  Maß 
der  Bewegung.    Ist  also  die  Bewegung  kontinuierlich,  dann  auch  die  Zeit. 

Horten,  Dm  Buch  der  Genetimg  dtr  Stel«.  35 


Digitized  by 


Googk 


546 

existieren.  0  Dieses  ist  aber  unmöglich.  Das  Verhältnis  liegt 
vielmehr  so,  daß  das  eine  in  jenem  Augenblicke  der  Ursache 
näher  steht,  nachdem  es  früher  von  ihr  entfernt  war,  oder  daß 
es  sich  von  der  Ursache  entfernt,  nachdem  es  ihr  nahe  stand. 
Dieser  Augenblick  ist  also  der  Endpunkt  einer  ersten  Bewegung, 
die  zu  einer  zweiten  Bewegung  oder  einem  anderen  Dinge  hin- 
führt Leitet  er  nun  zu  einer  anderen  Bewegung  über  und  ver- 
ursacht diese,  dann  ist  jene  Bewegung,  die  sich  wie  die  nächste 
Ursache  dieser  Bewegung  verhält,  mit  ihr  im  Eontakte.  Der 
Begriff  dieses  Kontaktes  ist  dahin  zu  verstehen,  daß  es  nicht 
möglich  ist,  daß  zwischen  (den)  beiden  Bewegungen  irgendwelche 
Zeit  oder  irgend  eine  Bewegung  sich  einschieben  läßt  (Beide 
bilden  also  nicht  etwa  ein  Kontiguum,  sondern  ein  Kontinuum). 
Es  ist  uns  bereits  in  den  Naturwissenschaften  (L  Teil  IL 
9—12)  klar  geworden,  daß  die  Zeit  eine  Folgeerscheinung  der 
Bewegung  ist.  Die  Beschäftigung  mit  dieser  Art  des  Beweises 
zeigt  uns  jedoch  nur,  ob  eine  Bewegung  vor  einer  anderen  Be- 
wegung existiert;  sie  zeigt  uns  aber  nicht,  ob  diese  Bewegung 
Ursache  für  das  Entstehen  der  letzten  Bewegung  wird.  Es  ist 
bereits  in  jeder  Beziehung  klar  geworden,  daß  die  Bewegung 
nicht  entsteht,  nachdem  sie  vordem  nicht  war,  es  sei  denn  durch 
ein  zeitlich  Entstehendes  ,2)  und  dieses  zeitlich  Entstehende  ent- 
steht wiederum  seinerseits  nur  durch  eine  Bewegung,  die  mit 
dieser  ersten  Bewegung  in  (kontinuierlichem)  Eontakte  steht 
Es  darf  kein  Bedenken  erwecken,  welcher  Art  dieses  zeitlich 
Entstehende  (das  die  Ursache  Determinierende)  sein  mag,  ob  es 
nun  die  Absicht  des  Handelnden  oder  sein  Willensentschluß  oder 
irgend  ein  Wissensinhalt,  ein  Werkzeug,  eine  Naturanlage  oder 
das  Eintreten  einer  für  die  Handlung  günstigeren  Zeit  ist,  oder 
das  Eintreten  einer  Bereitschaft  und  Disposition  von  selten  des 
Aufnehmenden,  die  vordem  in  ihm  nicht  vorhanden  war,  oder 
die  Verbindung  mit  dem  einwirkenden  Prinzipe,  die  früher  nicht 
bestand.    Wie  dieses  auch  immer  beschaffen  sein  mag^  das  Ein- 


*)  Im  angenommenen  FaUe  gäbe  es  keine  kontinoierliche  Zeit  In  einer 
diskontinnierlichen  kOnnen  sich  die  determinierenden  Ursachen  aber  nicht  be- 
finden, deshalb  müfiten  sie  in  einem  Augenblicke  sein. 

*)  Die  Ursache,  die  die  Bewegung  hervorbringt,  mufi  zum  Willen 
determiniert  werden  in  dem  Augenblicke,  in  dem  die  Bewegung  entstehen 
soll.  In  diesem  Augenblicke  mufi  also  ein  Moment  auftreten,  das  die  Ursache 
determiniert. 


Digitized  by 


Google 


^gi 


treten  dieses  neuen  Elementes  hängt  ab  von  der  Bewegung  und 
kann  nur  in  dieser  Weise  entstehen. 

Wir  wollen  nun  zurückgreifen  und  übergehen  zur  Dar- 
legung im  einzelnen  und  sagen  deshalb:  wenn  die  Wirkursache 
und  die  Materialursache  in  ihrem  Wesen  selbständig  existieren, 
ohne  daß  eine  Wirkung  oder  Arten  des  Leidens  zwischen  beiden 
stattfinden,  dann  bedarf  es  (für  die  Wirkursache)  des  Eintretens 
irgend  einer  Beziehung  zwischen  beiden,  die  zur  Folge  hat,  daß 
die  Handlung  und  der  passive  Zustand  (des  aufnehmenden 
Prinzips)  eintreten.  Diese  Bedingung  muß  entweder  eintreten 
vonseiten  der  Wirkursache  wie  z.  B.  ein  Willensentschluß,  der 
die  Handlung  hervorbringt,  oder  eine  Naturanlage,  die  sie  not- 
wendig erzeugt,  oder  ein  Werkzeug  oder  eine  Zeit  Dieses 
aktualisierende  Prinzip  kann  auch  vonseiten  der  aufnehmenden 
Ursache  eintreten  wie  z.  B.  eine  Disposition,  die  vordem  nicht 
bestand,  oder  es  kann  von  beiden  Seiten  her  kommen  wie  z.  B. 
die  Verbindung  des  einen  mit  dem  anderen.  Es  wurde  bereits 
klar  gelegt,  daß  alle  diese  Vorgänge  durch  eine  Bewegung  ein- 
treten. 

Wenn  nun  aber  die  Wirkursache  existiert,  ohne  daß  das 
aufnehmende  Prinzip,  irgendwie  vorhanden  ist,  so  bedeutet  dieses 
ein  unmögliches  Verhältnis  und  zwar  erstens  weil  das  auf- 
nehmende Prinzip,  wie  wir  dargelegt  haben,  nur  durch  eine 
Bewegung,  die  kontinuierlich  ist,*)  entsteht  Dann  besteht  also 
vor  dieser  Bewegung  eine  andere  Bewegung.*)  Der  zweite 
Grund,  weshalb  das  Obige  unmöglich  ist,  ist  der,  daß  das  Ver- 
hältnis von  Ursache  und  Wirkung  nicht  eintreten  kann,  so  lange 
ihm  nicht  die  Existenz  eines  passiven  Prinzips  vorhergeht^  und 
dieses  ist  die  Materie.  Dann  also  mußte  das  aufnehmende 
Prinzip  bereits  existieren,  so  daß  dann  aus  ihm  das  aufnehmende 
Prinzip  erst  wirklich  wird  (es  mußte  also  existieren  bevor  es 
war).5>)  Nimmt  man  aber  an,  daß  das  aufnehmende  Prinzip  real 
existiert,  und  die  Wirkursache  zu  gleicher  Zeit  nicht  real  exi- 
stiert, dann  tritt  die  Wirkursache  auf  und  hat  zur  Folge,  daß 

0  Ck>dd.  b,  d:  „der  eine  Verbindung  zukommt''. 

')  Eine  Bewegung  setzt  aber  eine  Materie  voraus.  Avicenna  will  hier 
die  Ewigkeit  der  Materie  beweisen. 

")  Es  ergibt  sich  also,  daß  das  aufnehmende  Prinzip  ein  absolut  erstes 
ist  und  in  keiner  Weise  durch  eine  Bewegung  entstehen  kann;  denn  jede 
Bewegung  setzt  das  materielle  Prinzip  voraus. 

86* 


Digitized  by 


Google 


548 

ihr  Wirklichwerden  auf  Grund  einer  Ursache,  die  in  sich  Be- 
wegung besitzt,  erfolgt,  wie  wir  es  dargelegt  haben.*) 

Die  erste  Ursache  des  Weltalls  ist  femer  ein  Wesen,  das 
in  notwendiger  Weise  die  Existenz  besitzt  Eis  ist  selbst  not- 
wendig seiend  und  verursacht  notwendig^)  das,  was  durch  seine 
Macht  existiert;  sonst  mußte  dieses  erste  Prinzip  einen  (sich 
verändernden)  Zustand  erleben,  der  vordem  nicht  bestand.  Dann 
aber  wäre  es  nicht  mehr  das  notwendig  Seiende  in  allen  seinen 
Beziehungen.  Nimmt  man  an,  daß  der  neue  Zustand  auftritt 
(der  es  zum  aktiven  Wirken  veranlaßt)  und  zwar  nicht  innerhalb 
seines  Wesens,  sondern  seinem  Wesen  äußerlicli,  als  welche  viele 
den  Willensentschluß  bezeichnen,  dann  kehrt  dieselbe  Diskussion 
wieder  betreffs  des  Auftretens  dieses  Willensentschlusses,  ob 
dieser  entsteht  durch  einen  anderen  Entschluß  oder  durch  Natur- 
notwendigkeit oder  in  anderer  Weise,  d.  h.  durch  ein  Ding,  das 
vor  dem  Willensentschlusse  bereits  existierte.^)  Wie  man  auch 
immer  ein  Ding  annehmen  mag,  das  neu  eingetreten  ist  und 
vordem  nicht  bestand  —  es  muß  der  eine  von  zwei  Fällen  ein- 
treten. Entweder  nimmt  man  an,  daß  dieses  in  seinem  Wesen 
(dem  der  ersten  Ursache)  selbst  neu  eintritt,  oder  nicht  in 
diesem  Wesen.  Es  verhält  sich  dann  vielmehr  so,  daß  es  von 
dem  Wesen  der  Ursache  getrennt  ist,  und  dann  kehrt  dieselbe 
Diskussion  betreffs  dieses  Wirklichen  wieder.  Tritt  es  aber  in 
dem  Wesen  der  Ursache  (Gottes)  auf,  dann  erleidet  das  Wesen 
der  Ursache  eine  Veränderung.  Es  wurde  jedoch  bereits  dar- 
gelegt, daß  der  notwendig  Seiende  in  seinem  Wesen  (per  se) 
notwendig  seiend  ist  in  jeder  Beziehung  (so  daß  er  also  keine 
Veränderung  erleiden  kann). 

Femer,  wenn  das  tätige  Prinzip  sich  bei  dem  Auftreten 
von  Substanzen,  die  von  seinem  Wesen  getrennt  und  von  ihm 
vemrsacht  sind,  ebenso  verhält,  wie  es  vor  ihrem  Auftreten 
war,  und  wenn  in  keiner  Weise  ein  Ding  wie  ein  Akzidens  zu 
seinem  Wesen  hinzutritt,  das  früher  nicht  bestand,  so  daß  das 
Verhältnis  der  Ursache  so  bleibt,  wie  es  vor  der  Wirkung  war, 
und  daß  also  keine  Wirkung  von  ihr  ausgeht,  dann  ist  es  durch- 


^)  Alles  neu,  d.  h.  zeitlich  Entstehende,  wird  durch  eine  Bewegung. 
•)  Wörtlich:  „es  ist  notwendig  inbezog  auf  das,  was". 
*)  Nach  dieser  Lehre  ist  die  Ursache  des  menschlichen  WoUens  ein  von 
aufien  determinierendes  Agens. 


Digitized  by  VjOOQ IC 


549 

aus  nicht  notwendig,  daß  ein  reales  Ding  existiert,  das  von  ihr 
geschaffen  wird.  Der  Zustand  und  das  Verhältnis  der  Wirkursache 
bleibt  also  so,  wie  er  vor  dem  Auftreten  der  Tätigkeit  war. 

Es  muß  folglich  unbedingt  eine  Unterscheidung  (ein  aktuali- 
sierendes Prinzip)  auftreten,  damit  die  Existenz  der  Wirkung 
aus  der  Ursache  notwendig  erfolge,  und  damit  die  Ursache  zum 
Wirken  gebracht  werdeJ)  Dieses  muß  durch  ein  neu  Auftretendes 
bewirkt  werden,  das  die  Vermittlung  bildet  und  das  vordem 
nicht  existierte,  als  die  Wagschale  des  Nichteeins  das  Über- 
gewicht hatte  über  das  Sein.  Das  Nichttätigsein  war  der  Zu- 
stand, in  dem  sich  die  Ursache  befandL  Dieses  ist  nun  kein 
Verhältnis,  das  sich  außerhalb  der  Ursache  befindet;  denn  wir 
diskutieren  über  das  Auftreten  des  Wirklichen  aus  der  Ursache 
selbst,  ohne  Vermittlung  eines  anderen  Dinges,  das  von  neuem 
(außerhalb  der  Ursache)  auftreten  würde,  so  daß  erst  durch 
dieses  das  zweite  zur  Wirklichkeit  gelangte.  In  dieser  Weise 
reden  die  Philosophen  betreffs  des  Willensentechlusses  und  des 
erstrebten  Gegenstandes.  Der  richtig  denkende  Verstand,  der 
nicht  getrübt  ist,  bezeugt  folgendes:  wenn  das  eine  und  einzige 
Wesen  in  jeder  Beziehung  so  bleibt,  wie  es  war  (ohne  sich  zu 
verändern)  und  wenn  auch  früher  keine  Wirkung  aus  ihm  er- 
folgte, und  wenn  dasselbe  auch  jetzt  in  der  gleichen  Untätig- 
keit verharrt,  dann  enteteht  auch  im  jetzigen  Augenblicke 
keine  Wirkung  aus  ihm.  Wenn  daher  im  jetzigen  Augenblicke 
irgend  eine  Wirkung  aus  der  Ursache  enteteht,  dann  ist  in 
seinem  Wesen  eine  Intention  oder  ein  Willensentschluß  oder  eine 
Naturanlage  oder  eine  Macht  oder  ein  Vermögen  aufgetreten, 
das  vordem  nicht  war,  oder  irgend  ein  anderes  Wirkliches,  das 
diesem  gleichsteht,  und  früher  nicht  existierte. 

Wer  dieses  leugnet,  der  tritt  wenigstens  seinem  Worte 
nach  in  Gtegensatz  zu  notwendigen  Folgerungen  seiner  Ver- 
nunft; im  Inneren  jedoch  bezeugt  er  dieselbe  Sache;  denn  das- 
jenige, was  in  der  Möglichkeit  ist,  zu  existieren  oder  nicht  zu 
existieren,  wird  nur  dann  aktuell  und  gelangt  als  Wirkung  zur 
Vorherrschaft  (zum  Übergewichte),  wenn  eine  Ursache  auftritt 
Dieses  Wirkliche,  das  der  Ursache  eigen  ist,  verbleibt  also  in 
dem  gleichen  Zustande  (wie  vor  der  Wirkung).  Für  keine 
Wirkung  tritt  das  Übergewicht  (über  das  Nichteein)  ein,  noch 


0  wortlich:  „damit  die  Wagschale  der  Wirkong  ttberwie^*'. 


Digitized  by 


Google 


«50 

ergibt  sich  dieses  Übergewicht  notwendig  aus  dem  Wesen  der 
Ursache  selbst.  Für  dieses  Wirken  besteht  kein  Motiv  noch 
auch  irgend  ein  Nützlichkeitsgrund  oder  ein  ähnliches  Moment 
des  Wirkens.  Wenn  dies  nun  eintrifft,  dann  muß  notwendiger- 
weise ein  neu  eintretendes  Wirkliches  vorhanden  sein,  das  (der 
Ursache  das  aktuelle  Wirken  verleiht,  und)  in  diesen  Wesen  das 
Übergewicht  für  die  Wirkung  hervorbringt,  wenn  jenes  Wesen 
überhaupt  die  Wirk  Ursache  ist;  sonst  bleibt  ihre  Beziehung 
zu  diesem  Möglichen  (das  entstehen  soll)  so,  wie  es  vor  dem 
Auftreten  der  Wirkung  war.  Es  tritt  dann  keine  andere  Be- 
ziehung der  Ursache  zum  ens  possibile  auf  und  daher  bleibt 
das  Ding  (das  entstehen  soll),  in  dem  gleichen  Zustande  (wie 
vordem).  Die  Möglichkeit  (desselben)  ist  also  reine  Potenzialität, 
die  in  ein  und  demselben  Zustande  verharrt  Tritt  aber  nun 
für  die  Ursache  irgend  eine  Beziehung  auf  (die  in  der  Ursache 
das  aktuelle  Wirken  hervorbringt),  dann  ist  dadurch  ein  neues 
Ding  eingetreten  (ein  determinierendes  Moment)  und  dieses  muß 
notwendigerweise  dem  Wesen  der  Ursache  anhaften  und  in  ihm 
entstehen  (d.  h.  nichts  für  die  Ursache  Äußeres  sein).  Ist  näm- 
lich dieses  Moment,  das  der  Ursache  das  aktuelle  Wirken  ver- 
leiht, außerhalb  ihres  Wesens,  dann  kehrt  die  Diskussion  be- 
treffs desselben  wieder  zu  demselben  Probleme  zurück.  Dieses 
Wirkliche  stellt  dann  nicht  die  Beziehung  zwischen  Ursache 
und  Wirkung  dar,  die  wir  suchen;  denn  wir  suchen  diejenige 
Beziehung,  die  dazu  führt,  die  Existenz  alles  dessen,  was  außer- 
halb der  Ursache  ist,  zu  verursachen,  nachdem  dieses  früher 
nicht  bestand.  Wir  betrachten  also  dieses  (das  Verursachte) 
wie  ein  Ganzes  und  etwas,  das  sich  in  dem  Zustande  befindet, 
in  dem  es  nicht  real  existiert;  sonst  müßte  bereits  (durch  eine 
Ursache)  aus  dieser  Summe  des  Nichtseienden  etwas  hervor- 
gebracht worden  sein,  und  man  betrachtete  diese  Summe  in 
einem  Zustande,  der  nach  dem  Zustande  des  Nichtseins  eintritt') 
Ist  nun  die  erste  Ursache  für  diese  Beziehung  zwischen 
Ursache  und  Wirkung  (die  der  Ursache  das  aktuelle  Wirken 
verleiht)  getrennt  von  der  Ursache  selbst,  dann  ist  sie  also 


>)  Avicenna  denkt  sich  den  Zustand,  daß  aofierhalb  der  ersten  Ursache 
absolut  nichts  existiert.  Dann  kann  diese  freilich  nicht  durch  ein  Äußeres 
determiniert  werden.  Ihr  gegenüber  sind  alle  übrigen  Dinge  eine  homogene 
Masse  des  Möglichen,  aus  der  kein  einzelnes  Ding  aus  eigener  Kraft  hervor- 
treten  kann,  um  Mdrklich  zu  werden. 


Digitized  by 


Google 


551 

nicht  jene  Beziehung,  die  wir  suchen.  Das  erste  neu  Eintretende 
muß  also  nach  diesen  Darlegungen  im  Wesen  der  Ursache  selbst 
eintreten  (um  ihr  das  aktuelle  Wirken  mitzuteilen).  Jedoch  ist 
dieses  unmöglich.  Wie  könnte  auch  in  dem  Wesen  des  ersten 
Seienden  etwas  auftreten?  und  von  welchem  Wirklichen  sollte 
dieses  aktualisierende  Moment  herstammen? 

Daher  ist  es  also  klar,  daß  der  notwendig  Seiende  in  seinem 
Wesen  Einer»)  ist  Du  siehst  also,  daß  dieses  determinierende 
Moment  verschieden  ist  von  der  Wirkung,  die  von  der  Ursache 
ausgeht  Denn  in  diesem  Falle  gewinnen  wir  nicht  die  ge- 
suchte Beziehung  (für  das  aktuelle,  neu  auftretende  Wirken  der 
Ursache).  Wir  suchen  nämlich  diejenige  Beziehung,  die  die 
notwendige  Ursache  dafür  bildet,  daß  das  mögliche  Sein  aus 
der  ersten  Ursache  zur  Aktualität  hervorgeht  Diese  Beziehung 
müßte  (wenn  sie  überhaupt  denkbar  wäre)  herstammen  von 
einem  anderen  notwendig  Seienden  (einem  zweiten  Gotte).  Es 
wurde  jedoch  bereits  dargelegt,  daß  der  notwendig  Seiende  nur 
Einer  und  ein  Einfacher  ist.  Wenn  er  daher  von  einem 
Anderen  (in  der  Aktualität  seines  Wirkens)  abhängen  würde, 
dann  wäre  jener  die  erste  Ursache,  und  die  Diskussion  (betreffs 
des  neu  auftretenden,  aktuellen  Wirkens  jener  Ursache)  würde 
sich  wiederholen« 


Zweites  Kapitel. 

Der  Aufschub  des  göttlichen  Wirkens  tritt  nicht  ein,  weil  eine  bestimmte 
Zeit  erwartet  werden  muB,  noch  ist  eine  gewisse  Zeit  giinstiger  wie 

eine  andere. 

Wie  ist  es  femer  möglich,  daß  in  dem  Nichtseienden  sich 
eine  Zeit  für  das  Nichthandeln  von  einer  anderen  für  das  Handeln 
unterscheidet?  Wodurch  unterscheidet  sich  sodann  die  eine  Zeit 
von  der  anderen?  Femer,  wenn  klar  geworden  ist,  daß  das 
entstehende  Ding  nur  durch  das  Entstehen  eines  neuen  (deter- 
minierenden)  Zustandes  in  der  ersten  Ursache  wirklich  wird, 
dann   können  zwei  Fälle  eintreten.     Entweder  muß  diese  aus 


*)  In  Dun  kann  ako  nichts  Neues  entstehen,  noch  ein  Agens  von  Aofien 
auf  ihn  wirken.    Jede  Veränderung  bedeutet  eine  Vielheit 


Digitized  by 


Googk 


552 

der  ersten  Ursache  neu  eintretende  Wirkung  aus  Naturnotwendig- 
keit oder  auf  Grund  eines  bestimmten  Zweckes  in  Gott,  der 
verschieden  ist  von  dem  Willensentschlusse,  oder  schließlich  durch 
einen  Willensentschluß  entstehen.  Denn  dieses  Ding  entsteht 
nicht  von  der  ersten  Ursache  durch  Zwang  oder  zufällig.  Ent- 
steht es  aber  durch  Naturnotwendigkeit,  dann  muß  diese  Natur- 
notwendigkeit eine  Veränderung  erleiden  (damit  sie  wirkend 
werde,  während  sie  früher  nicht  wirkend  war).  Entsteht  es 
aber  auf  Grund  des  erstrebten  Zweckes,  dann  muß  auch  dieser 
Zweck  eine  Veränderung  erleiden.  Entsteht  nun  die  Wirkung 
durch  einen  Willensentschluß,  so  wollen  wir  den  Fall  von  der 
Diskussion  ausschließen,  daß  dieser  Willensentschluß  in  dem 
Wesen  der  ersten  Ursache  neu  -entstehe  oder  von  deren  Wesen 
sich  unterscheide.  Wir  sagen  vielmehr:  das  Gewollte  in  dem 
Wirken  der  ersten  Ursache  ist  entweder  das  Erschaffen  der 
Existenz  selbst  oder  irgend  ein  anderer,  intendierter  Gregen- 
stand  oder  ein  Nutzen,  der  auf  das  Erschaffen  folgt  Ist  das 
Gewollte  nun  die  erschaffene  Existenz  selbst,  weshalb  wurde 
sie  dann  nicht  früher  geschaffen  (wenn  sie,  wie  die  Annahme 
besagt,  in  einer  gewissen  Zeit  erschaffen  sein  soll,  nicht  von 
Ewigkeit  her)?  Oder  bist  du  etwa  der  Ansicht,  daß  gera^de 
der  jetzige  Augenblick  für  die  Erschaffung  günstig  war  oder 
daß  die  Zeit  selbst  Ursache  für  das  Auftreten  der  Wirkung  ist 
oder  daß  Er  sie  (nur)  in  dem  jetzigen  Augenblicke  schaffen 
konnte?  Mit  dem,  was  wir  hier  vorbringen,  wollen  wir  nicht 
die  Schwierigkeit  des  Gegners  billigen,  die  besagt,  daß  diese 
Frage  unnütz  sei;  denn  die  Frage  stellt  sich^  betreffs  jeder 
Zeit  Das  Problem  ist  vielmehr  ein  wirkliches  und  wahres; 
denn  es  kehrt  wieder  betreffs  jeder  einzelnen  Zeit  und  ist  eine 
notwendige  Konsequenz.  Ist  nun  die  Schöpfung  gerichtet  auf 
irgend  einen  erstrebten  Gegenstand  oder  einen  Nutzen  (den  der 
Schaffende  erreichen  will),  so  ist  es  klar,  daß  dasjenige,  was 
sich  zu  dem  Dinge  in  ein  und  derselben  Weise  verhält,  gleich- 
gültig ob  dieses  Ding  existiert  oder  nicht  existiert,  nicht  der 
intendierte  Gegenstand  ist  2)  Dasjenige  aber,  das  einem  Dinge 
in  vorzüglicherem  Sinne  zukommt  insofern  dieses  existiert  (als 


0  WörtHch:  „kehrt  wieder". 


*)  Der  Zweck  verhält  sich  nicht  indifferent  zu  den  auf  ihn  gerichteten 
Hittelorsachen. 


Digitized  by 


Googl( 


553 

wenn  es  nicht  existiert),  ist  das  bonum  utile.  Der  erste  Wahre 
ist  also  seinem  Wesen  nach  vollkommen  und  erlangt  keinen 
Nutzen  durch  irgend  ein  Ding. 


Drittes  Kapitel 

Aus  der  Lehre  derjenigen,  die  das  Wiricen  Gottes  verringern  (indem 

sie  eine  zeitliche  Schöpfung  lehren),  ergibt  sich,  daB  die  Gottheit  der 

Zeit  und  Bewegung  um  eine  bestimmte  Zeit  vorausgehen  mUBte. 

Wodurch  geht  femer  der, erste  Seiende  seinen  aktuell  auf- 
tretenden Tätigkeiten  voraus?  Dieses  könnte  im  angenommenen 
Falle  entweder  dem  Wesen  nach  oder  der  Zeit  nach  stattfinden. 
Geht  er  nun  nur  seinem  Wesen  nach  voraus,  wie  z.  B.  die 
Einheit  vor  der  Zweiheit,  selbst  wenn  beide  der  Zeit  nach 
gleichzeitig  sind,  und  so  wie  die  Bewegung  des  Bewegenden, 
indem  er  sich  bewegt  durch  eine  Bewegung,  die  von  ihm  ausgeht 
—  dieses  enthält  ein  logisches  Früher,  auch  wenn  sie  gleichzeitig 
sind  — ,  so  ergibt  sich  notwendig,  daß  beide  neu  auftreten 
müssen,  sowohl  der  erste  Ewige  als  auch  die  Tätigkeiten,  die 
aus  ihm  entstehen.  Nehmen  wir  nun  den  Fall  an,  die  erste 
Ursache  ginge  nicht  nur  ihrem  Wesen  nach  der  Wirkung  vor- 
aus, sondern  sowohl  ihrem  Wesen  als  auch  der  Zeit  nach,  indem 
Gott  zuerst  allein  existierte,  ohne  daß  eine  Welt  war  noch  eine 
Bewegung.  Nun  ist  aber  kein  Zweifel,  daß  der  Ausdruck  „er 
war"  etwas  bezeichnet,  das  vergangen  ist,  und  das  jetzt  nicht 
mehr  existiert  Dieser  Ausdruck  bezeichnet  etwas  in  deter- 
minierter Weise.  Auf  dieses  „er  war"  folgt  das,  „sodann".  Es 
bestand  also  irgend  etwas,  das  vergangen  ist,  bevor  die  Schöpfung 
geschaffen  wurde,  und  dieses  Seiende  ist  endlich  (indem  es  mit 
dem  Eintreten  der  Schöpfung  beendet  wird).  Es  besteht  also 
eine  Zeit  vor  der  Bewegung  und  vor  der  Zeit;  denn  die  Ver- 
gangenheit ist  entweder  eine  solche  durch  sich  selbst,  und  dieses 
ist  die  Zeit  (d.  h.  die  Vergangenheit)  oder  durch  eine  andere 
Zeit,  und  dieses  ist  die  Bewegung  und  das,  was  in  ihr  enthalten 
ist  und  gleichzeitig  mit  ihr  sich  ereignet.  Dieses  wurde  dir 
bereits  dargelegt.  >) 

0  Natorwissenschalteii  I.  Teil  IL 


Digitized  by 


Google 


\ 

) 


554 

Geht  nun  Gott  nicht  durch  irgend  ein  reales  Ding  (eine 
Dauer),  das  vergeht,  der  ersten  Zeit  (inbezug  auf  das  Eintreten 
der  Schöpfung)  voraus,  dann  ist  Gott  also  zeitlich  entstehend  und 
zwar  gleichzeitig  mit  dem  zeitlichen  Entstehen  der  Schöpfung. 
Wie  könnte  es  auch  sein,  daß  Er  nach  der  Supposition  jener 
Philosophen  nicht  um  irgend  ein  reales  Ding  (wie  die  vergangene 
Zeit),  das  vergeht,  der  ersten  Zeit  (des  Eintretens)  der  Schöpfung 
vorausginge?  Er  existierte  ja  doch  (nach  ihrer  Annahme),  ohne 
daß  die  Schöpfung  war,  und  dann  existierte  Er,  während  zugleich 
die  Schöpfung  bestand.  Der  Umstand  aber,  daß  er  existierte 
ohne  die  Schöpfung,  besteht  nicht  gleichzeitig  und  dauernd 
mit  dem  anderen  Umstände,  daß  er  existierte,  während  zu- 
gleich die  Schöpfung  bestand.  Ebensowenig  ist  der  Umstand, 
daß  er  vor  der  Schöpfung  existierte,  bestehend  und  dauernd 
gleichzeitig  mit  dem  anderen  Umstände,  daß  er  mit  der 
Schöpfung  existiert.  Der  Umstand,  daß  er  existierte  ohne 
die  Schöpfung,  ist  nicht  gleichbedeutend  mit  seiner  Existenz 
allein  für  sich  betrachtet;  denn  sein  Wesen  ist  wirklich  auch 
nach  der  Schöpfung,  noch  auch  ist  der  Umstand,  daß  er  existierte 
ohne  die  Schöpfung,  gleichbedeutend  mit  seiner  Existenz,  wenn 
diese  gleichzeitig  genommen  wird  mit  der  Nichtexistenz  der 
Schöpfung,  ohne  vermittelt  zu  sein  durch  ein  drittes  Wirkliches.*) 
Denn  die  Existenz  seines  Wesens  und  die  Nichtexistenz  der 
Schöpfung  werden  bezeichnet  als  solche,  die  bestanden  haben, 
jetzt  aber  nicht  mehr  existieren.  Der  Ausdruck  „er  war" 
bezeichnet  einen  begrifflichen  Inhalt,*)  der  verschieden  ist  von 
diesen  beiden  anderen  Gegenständen»)  (von  dem  absoluten  Sein 
Gottes  in  sich  und  dem  Sein  gleichzeitig  mit  der  Nichtexistenz 
der  Geschöpfe).  Wenn  du  sagst,  die  reale  Existenz  eines  Wesens 
und  die  Nichtexistenz  eines  Wesens,  so  versteht  man  damit  nichts 
daß  das  eine  (zeitlich)  ausschließlich  vorausgeht*)  Es  ist  viel- 
mehr richtig,  daß  man  gleichzeitig  mit  dem  Vorausgehen  ein 
Spätersein  denkt;*)  denn  befinden  sich  die  Dinge  im  Nichtsein, 
dann  ist  Seine  Existenz  wahr  und  zugleich  die  Nichtexistenz 


>)  Cod.  c  GL:  „nämlich  die  Zeit". 
*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  die  Zeit",  die  vergangen  ist. 
*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  der  Existenz  seines  Wesens  und  der  Nichtexistenz 
der  Schöpfung". 

*)  Es  müfite  dann  aufhören,  wenn  das  andere  eintritt 

'^)  Die  Ursache  bleibt  auch  nach  der  Wirkung  noch  bestehen. 


Digitized  by 


Googk 


555 

der  Dinge.  Es  ist  also  nicht  richtig,  daß  man  dieses  Verhältnis 
bezeichnet  mit  dem  Ausdrucke  „er  war".  Man  versteht  vielmehr 
ein  zeitliches  Vorausgehen  nur  unter  der  Bedingung,  daß  ein 
drittes  Wirkliches  existiert  (die  zwischen  der  ersten  Ursache  und 
der  Wirkung  einzuschiebende  Zeit).  Die  Existenz  des  Wesens  ist 
ein  Ding  für  sich,  und  die  Nichtexistenz  des  Wesens  ist  ebenso 
ein  Gegenstand  für  sich.  Der  Begriff  des  „war"  ist  sodann 
etwas  Reales,  das  sich  von  diesen  beiden  ersten  unterscheidet. 

Diesen  Zustand  legt  man  dem  Schöpfer  bei,  indem  man 
eine  Länge  der  Zeit  in  seinem  Wirken  annimmt,  nicht  so,  daß 
dasselbe  nur  logisch  in  einer  Aufeinanderfolge  zu  verstehen 
wäre.O  Damit  ist  zugleich  die  Möglichkeit  gegeben,  daß  er  vor 
irgend  welcher  Schöpfung,  die  man  annimmt,  in  der  man  sich 
aber  eine  Schöpfung  denken  könnte,  schaffen  könnte.  Wenn  dieses 
nun  zutrifft,  dann  ist  dieses  zeitliche  Früher  in  seinem  Maße 
bestimmt  und  in  seiner  Quantität  umgrenzt.  Dieses  ist  aber 
dasjenige  das  man  die  Zeit  nennt.  Denn  diese  seine  Maß- 
bestimmung ist  keine  solche  eines  Wirklichen,  das  räumliche 
Lage  2)  hat,  noch  auch  unveränderlich  bestehend  ist.  Es  verhält 
sich  vielmehr  wie  ein  stets  sich  Erneuerndes  (und  daher  muß 
die  Maßbestimmung  dieses  stets  sich  erneuernden  Vorganges 
eine  Zeit  sein,  während  die  Maßbestimmung  eines  räumlich  aus- 
gedehnten Dinges  die  Quantität  ergibt  und  die  Maßbestimmung 
das  Ewigen  in  seiner  Dauer  den  Begriff  des  Aevums  darstellt). 
Betrachte  5)  femer  die  Darlegungen,  die  wir  in  den  Naturwissen- 
schaften gegeben  haben  (L  Teil  I,  6  und  II),  wo  wir  auseinander- 
setzten, daß  alles,  was  bezeichnet  wird  mit  den  Worten  „es  war" 
und  „es  ist",  ein  Akzidens  für  irgend  einen  Zustand  bezeichnet, 
der  nicht  beständig  ist.  Der  Zustand  aber,  der  nicht  beständig 
ist,  ist  die  Bewegung  (und  deren  Maß  ist  die  Zeit). 

Wenn  du  dieses  ergründet  hast,  weißt  du,  daß  der  erste 
Seiende  nach  der  Ansicht  jener  Philosophen  der  Schöpfung  nicht 
etwa  in  absoluter  Weise,  sondern  vielmehr  in  zeitlicher  Folge 
und  zwar  um  eine  bestimmte  Zeitdauer  vorausgeht,   und  daß 


»)  Wörtlich:  „nicht  aus  dem  per  se". 

')  Durch  dessen  Bestimmungen  ergäben  sich  bestimmte  Dimensionen. 

')  Cod.  c2  beginnt  hier  ein  neues  Kapitel,  dessen  Überschrift  lautet: 
„Diejenigen,  die  das  Wirken  Gottes  verringern,  müssen  eine  bestimmte  Zeit 
annehmen  vor  einer  anderen  Zeit  und  so  ohne  Ende  und  femer  eine  endlos 
ausgedehnte  Zeit  in  der  Vergangenheit.^ 


Digitized  by 


Google 


556 

dann  (wenn  die  Schöpfung  eingetreten  ist)  zugleich  mit  ihm 
Bewegung,  Körperwelt  oder  ein  Körper  existiert  Jene  Philo- 
sophen tuen  Grott  Eintrag  (lassen  ihn  untätig  sein)  und  schränken 
das  Sein  Grottes  ein,*  und  sie  müssen  die  eine  von  zwei  Möglich- 
keiten zugeben.  Entweder  müssen  sie  eingestehen,  daß  (Jott 
vermögend  war,  die  Welt  zu  schaffen,  bevor  er  sie  erschuf,  und 
daß  er  vermögend  war,  irgend  einen  Körper  zu  erschaffen,  der  eine 
Bewegung  in  bestimmten  Zeiten  und  Zeitabschnitten  ausführte, 
die  bis  zu  der  Zeit  der  eintretenden  Schöpfung  des  Weltalls 
hinführen  und  dann  endigen,  oder  die  noch  gleichzeitig  mit  der 
Schöpfung  des  Weltalls  bestehen  bleiben.  Dann  also  besitzt 
dieser  Körper  bis  zu  der  Zeit  der  Schöpfung  des  Weltalls  Zeiten 
und  Zeitabschnitte,  die  fest  umgrenzt  sind.  Oder  sie  müssen 
zugeben  und  annehmen,  daß  die  Schöpfung  nur  zu  der  2ieit  be- 
ginnen konnte,  in  der  sie  wirklich  begonnen  hat*) 

Diese  zweite  Möglichkeit  ist  jedoch  auszuschließen,  weil 
in  ihr  der  Schöpfer  sich  von  einem  Zustande  zu  dem  anderen 
verändern  müßte  —  er  müßte  von  dem  Zustande  des  Unvermögens 
in  den  des  Vermögens  (der  Macht)  übergehen;  —  oder  weil  in 
dieser  Annahme  die  Geschöpfe  von  dem  Zustande  des  ünmög- 
licliseins^)  sich  in  den  des  Möglichseins  ohne  jede  weitere  be- 
sondere Ursache  veränderen  müßten.  Die  erste  Annahme  wird 
zur  Widerlegung  jener  Philosophen  in  zwei  Teile  geteilt  Man 
sagt:  entweder  war  es  vordem  möglich,  daß  der  Schöpfer  einen 
Körper  erschuf,  der  verschieden  ist  von  dem  Körper  dieser  Welt 
und  der  zu  der  Schöpfung  des  Weltalls  nur  hinführt  in  einer 
gewissen  Zeit  und  in  vielen  Bewegungen,  um  mit  dem  Eintreten 
der  Schöpfung  die  Existenz  zu  verlieren,  oder  dieses  ist  nicht 
möglich.  Es  ist  nun  aber  undenkbar,  daß  es  nicht  möglich 
sei,  entsprechend  dem,  was  wir  dargelegt  haben  (von  der  All- 
macht des  Schöpfers).  Ist  es  aber  nun  möglich,  dann  können 
zwei  Fälle  eintreten.  Entweder  ist  die  Schöpfung  des  Weltalls 
möglich  gleichzeitig  mit  der  Schöpfung  jenes  Körpers  d.  h.  jenes 
ersten  Körpers,  den  wir  erwähnt  haben  als  vor  dieser  Welt 


*)  Gott  wäre  also  anfahig  gewesen,  die  SchCpfong  früher  zu  bewirk^i. 

«)  Unmdglich  ist  ein  Ding,  wenn  seine  Ursache  nicht  existiert  (vgL 
Abh.  1,6).  Die  Welt  ist  also  unmöglich,  wenn  Gott  unvennGgend  ist,  sie  sn 
schaffen.  Das  Unmögliche  kann  aber  nie  möglich  noch  auch  wirklich  werden, 
deshalb  kann  die  Welt  nie  entstehen,  wenn  Gott  nicht  immer  veniiögeiid 
war,  sie  zu  schaffen. 


Digitized  by 


Google 


657 

geschaffen,  oder  die  Schöpfung  dieses  ersten  Körpers  ist  nur 
möglich  vor  der  Schöpfung  der  jetzigen  Welt.  Ist  sie  möglich 
gleichzeitig  mit  der  Schöpfung,  so  tritt  ebenfalls  eine  Unmög- 
lichkeit ein;  denn  diese  Schöpfung  kann  nicht  der  Beginn  von 
zwei  Schöpfungen  sein,  die  sich  in  der  Bewegung  inbezug  auf 
die  Schnelligkeit  gleichstehen.  Dann  ergibt  sich,  daß  sie  beide 
zu  der  Schöpfung  des  Weltalls  hinführen  und  daß  die  Zeitdauer 
des  einen  von  beiden  länger  ist,  als  die  der  anderen.  Ist  nun 
aber  die  Schöpfung  des  ersten  Körpers  nicht  möglich  gleichzeitig 
mit  der  Schöpfung  des  Weltalls  und  ist  vielmehr  die  Möglichkeit 
dieser  Schöpfung  getrennt  von  ihm,  ihm  vorausgehend  oder  nach- 
folgend, dann  befindet  sich  das  Weltall  also  in  dem  Zustande 
des  Nichtseins  und  zugleich  besteht  die  Möglichkeit  der  Schöpfung 
eines  Dinges,  das  eine  bestimmte  Eigenschaft  besitzt  und  die 
Unmöglichkeit  des  Weltalls  selbst.  Dies  aber  bedeutet  die  Ver- 
schiedenheit eines  Zustandes  (der  wirklich  wird)  im  Gegensatze 
zu  einem  anderen  Zustande  (der  möglich  bleibt).  Letzeres  tritt 
femer  ein  mit  einem  zeitlichen  Früher  oder  Später.  Betreffs 
desselben  stallt  sich  nun  immer  wiederum  dasselbe  Problem.  *) 

Die  Richtigkeit  dessen,  was  wir  früher  erwähnten,  wurde 
bereits  dargelegt  betreffs  der  Existenz  einer  Bewegung,  die 
keinen  Anfang  in  der  Zeit  habe.^)  Einen  Anfang  hat  diese 
Bewegung  nur  in  Beziehung  zum  Schöpfer  (sie  hat  also  nur  ein 
erstes  Prinzip,  aus  dem  sie  in  einem  logischen  „Später"  folgt). 
Dies  (d.  h.  die  anfangslos  geschaffene  Bewegung)  ist  die  Be- 
wegung der  Himmelssphäre.  Du  mußt  nun  wissen,  daß  die 
nächste  Ursache  für  die  erste  Bewegung  ein  seelisches,  nicht 
ein  intellektives  Prinzip  ist,  und  daß  der  Himmel  ein  mit 
einem  seelischen  Prinzip  ausgestattetes  Wesen  (ein  ^olov)  ist, 
das  der  Gottheit  gehorcht 

^)  Wenn  der  eine  von  zwei  möglichen  Znstftnden  sich  von  dem  andern 
unterscheidet,  so  mofi  ein  die  Wirkursache  determinierendes  Moment  ein- 
getreten sein.  Oder  es  entsteht  etwas  ohne  eine  Ursache.  Die  Frage  bleibt 
also  immer  bestehen:  weshalb  hat  QoU  diese  Welt  nicht  früher  geschaffen, 
da  er  sie  doch  schaffen  konnte.  Wenn  die  Welt  also  nicht  ewig  ist,  dann 
trat  in  Qott  der  Wille  auf,  sie  zu  schaffen  und  dieser  bedeutet  eine  Ver- 
Snderong  im  göttlichen  Wesen.  Thomas  antwortete  bekanntlich  auf  diese 
Schwierigkeit:  Dens  yolnit  ab  aeterno  nt  mondus  esset,  sed  non  nt  ab  aeterno 
esset  Auch  eine  zeitliche  Schöpfung  bedingt  also  keine  Veränderung  in  Gott 

«)  Vgl  Abh.  Vm,  1  und  2. 


Digitized  by 


Googk 


558 


Viertes  Kapitel. 

Der  nächste  Beweger  der  himmlischen  Dinge  ist  nicht  eine  Naturkraft 

noch  ein  Verstand,  sondern  ein  seelisches  Prinzip.    Das  entferntere 

Prinzip  ist  ein  Verstand J) 

Daher  behaupten  wir :  wie  wir  bereits  in  den  Naturwissen- 
schaften klargelegt  haben,  muß  jede  Bewegung  einen  Beweger 
besitzen,  und  daher  muß  auch  diese  Bewegung  des  Weltalls  (die 
wir  hie  et  nunc  sehen)  einen  ersten  Beweger  haben.  Der  Be- 
weger dieser  Bewegung  des  Weltalls  kann  nicht  eine  Naturkraft 
sein;  denn  wir  haben  bereits  in  den  Naturwissenschaften  dar- 
gelegt (I.  Teil  n,  m  und  IV),  daß  die  Bewegung  nicht  natur- 
notwendig dem  Körper  in  absolutem  Sinne  anhaftet  (dann  müßte 
sie  jedem  Körper  notwendig  anhaften),  noch  auch  dem  Körper, 
so  wie  er  in  seinem  natürlichen  Zustande  besteht;  denn  jede 
Bewegung,  die  natumotwendig  entsteht,  trennt*)  sich  von  dem, 
was  sich  von  Natur  in  einem  gewissen  Zustande  befindet  Der- 
jenige Zustand,  der  verschieden  ist  von  dem  natürlichen,  ist 
notwendigerweise  ein  Zustand,  der  gegen  die  Anlage  der  Natur 
gerichtet  ist.  Es  ist  nun  klar,  daß  jede  Bewegung,  die  aus 
keinem  Naturdrange  hervorgeht,  ausgeht  von  einem  Zustande, 
der  nicht  natürlich  ist.  Wenn  irgend  welche  beliebige  Be- 
wegung eine  notwendige  Konsequenz  wäre  von  der  Natur  eines 
Dinges,  dann  wäre  keine  Bewegung')  in  ihrem  Wesen  vergäng- 
lich, so  lange  die  Natur,  (von  der  sie  notwendig  ausgeht),  be- 
stehen bleibt.  Die  Bewegung  wird  vielmehr  nur  hervorgerufen 
durch  eine  Naturkraft  auf  Grund  eines  neu  eintretenden  Zu- 
standes,  der  nicht  naturgemäß  ist.  Dieser  Zustand  tritt  entweder 
ein  in  der  Qualität  wie  z.  B.  das  Wasser,  wenn  es  erhitzt  wird 
durch  Einfluß  eines  äußeren,  nicht  natürlichen  Agens,*)  oder  er 
tritt  ein  in  der  Quantität  wie  z.  B.  der  Körper,  wenn  er  seine 
Gesundheit  verliert,  hinsiecht  und  abmagert,  oder  in  bezug  auf 


>)  Der  Verstand  ist  das  rein  geistige,  die  Seele  das  mit  einem  Körper 
verbundene  Prinzip  der  Bewegung. 

*)  „Sich  trennen"  bezeichnet  die  Negation.  Eine  natürliche  Bewegung 
findet  also  nicht  in  einem  Körper  statt,  der  an  seinem  natürlichen  Orte  ist 

>)  Wörtlich:  „keine  der  Beziehungen  der  Bewegungen". 

*)  Wörtüch:  „aus  Zwang". 


Digitized  by 


Googl( 


559 

den  Ort,  wie  man  z.  B.  ein  Stück  Erde  in  die  Lnft^  wirft. 
Ebenso  verhält  es  sich,  wenn  die  Bewegung,  wie  es  manchmal 
der  Fall  ist,  stattfindet  in  einer  anderen  Kategorie.  Die  Ursache 
dafür,  daß  die  Bewegung  sich  immerfort  erneuert,  ist  das  fort- 
währende Sichändem  des  Zustandes,  der  nicht  natürlich  ist,  und 
das  beständige  Vorhandensein  der  Entfernung  des  Körpers  von 
dem  Ziele,  auf  das  der  Körper  naturgemäß  hinstrebt.  (Dann 
entsteht  die  Bewegung,  die  auf  das  Ziel  gerichtet  ist.) 

Verhält  sich  nun  die  Sache  so,  dann  entsteht  keine  kreis- 
förmige Bewegung  auf  Grund  einer  Naturanlage,  sonst  müßte 
es  eintreten,  daß  sie  entsteht  auf  Grund  eines  Zustandes,  der 
nicht  naturgemäß  ist  und  sich  hinbewegt  auf  einen  Zustand, 
der  naturgemäß  ist  Erreicht  die  Bewegung  dann  diesen  Zu- 
stand, so  gelangt  sie  zur  Ruhe.  In  der  kreisförmigen  Bewegung 
als  solcher  kann  aber  nicht  eine  Zielstrebigkeit  vorhanden  sein, 
die  auf  diesen  nicht  natürlichen  Zustand  hingerichtet  ist  (so  daß 
also  die  kreisförmige  Bewegung  sich  aus  eigener  Kraft  erneuern 
könnte);  denn  die  Natur  handelt  nicht  nach  freiem  Willen, 
sondern  sie  wirkt  nur,  indem  sie  in  Dienst  genommen  wird  von 
einer  anderen  Kraft  und  in  der  Weise  des  Handelns,  die  sich 
aus  Naturnotwendigkeit  ergibt  und  per  se  erfolgt.  Würde  die 
Naturkraft  sich  in  kreisförmiger  Bewegung  bewegen,  dann  würde 
sie  notwendigerweise  entweder  bewegt  werden  von  einem  Orte, 
der  ihr  nicht  natürlich  ist,  oder  von  einer  Lage,  die  ihrer  Natur 
widerstrebt,  und  sie  würde  sich  bewegen  nach  Art  eines  natur- 
gemäßen Fliehens  von  dieser  unnatürlichen  Lage.  Jedes  natur- 
gemäß erfolgende  „Fliehen"  findet  aber  statt  von  einem  Gegen- 
stande aus  (der  nicht  naturgemäß  ist).  Daher  ist  es  unmöglich, 
daß  dieses  selbe  Ding  Gegenstand  eines  naturgemäßen  Hin- 
strebens sei^)  Die  kreisförmige  Bewegung  trennt  sich  von 
jedem  einzelnen  Punkte  (der  Peripherie)  und  verläßt  ihn,  indem 
sie  zugleich  wieder  diesen  Punkt  verlassend  (jeden  Punkt) 
und  die  Gesamtheit  der  Punkte  (der  Peripherie)  erstrebt.  Sie 
flieht  also  nicht  von  irgend  einem  Gegenstande,  ohne  daß  sie 
ihn  auch  zugleich  wieder  erstrebte.    Daher  ist  also  die  kreis- 

*)  WörtUch:  „in  den  Bereich  der  Luft". 

')  Wenn  die  kreisförmige  Bewegung  eine  naturgemäße  sein  könnte, 
mllflte  derselbe  Ort  zugleich  der  natttrUche  und  nicht  der  natürliche  des 
Körpers  sein  und  als  solcher  zugleich  Zielpunkt  der  Hinbewegung  und  Aus- 
gangspunkt der  Wegbewegung  sein. 


Digitized  by 


Google 


560 

förmige  Bewegung  nicht  eine  naturgemäße.  0  Sie  könnte  freilich 
auf  Grund  einer  Naturanlage  erfolgen,  d.  L  die  Existenz  dieser 
Bewegung  in  dem  Körper  widerstrebt  nicht  dem,  was  eine  andere 
Naturkraft  für  diesen  Körper  aus  sich  bewirkt  und  erfordert; 
denn  die  bewegende  Kraft  dieses  Körpers  ist  eine  naturgemäß 
wirkende  Ursache  für  diesen  Körper,  selbst  wenn  sie  nicht  die 
Kraft  einer  Naturanlage  ist  Sie  ist  ihm  nicht  fremd  gegen- 
überstehend und  verhält  sich  wie  eine  Naturkraft. 

Ferner  bewegt  jede  Kraft  nur  durch  Vermittlung  einer 
Hinneigung.  Die  Hinneigung  bedeutet  dasjenige,  was  wir  in  dem 
Körper,  der  sich  bewegt,  sinnlich  wahrnehmen.  Selbst  wenn  er 
durch  Zwang  in  Ruhe  gehalten  wird,  wird  diese  Anziehung 
(Hinneigung)  in  ihm  empfunden,  sie  widerstrebt  dem  Orte,  wo 
der  Körper  ruht,  und  sie  verhält  sich  so,  als  ob  sie  diesem 
Orte  widerstrebte,  trotzdem  der  Körper  an  ihm  ruht,  indem  sie 
auf  eine  Bewegung  hinstrebt.  Diese  Hinneigung  des  Körpers 
ist  also  notwendigerweise  verschieden  von  der  Bewegung  und 
ebenso  verschieden  von  der  bewegenden  Kraft;  denn  die  be- 
wegende Kraft  existiert  auch  dann,  wenn  sie  die  Bewegung  selbst 
zur  Vollendung  geführt  hat.  Die  Hinneigung  aber  existiert 
dann  nicht  mehr  (wenn  der  Körper  an  seinem  natürlichen  Orte 
angelangt  ist).  Ebenso  verhält  sich  auch  die  erste  Bewegung. 
Ihr  Beweger  bewirkt  immerfort  von  neuem  in  ihrem  Körper 
eine  Hinneigung  nach  der  anderen,  und  diese  Hinneigung  kana 
sehr  wohl  Naturkraft  genannt  werden.  Denn  sie  erfolgt  nicht 
durch  eine  seelische  Kraft  noch  auch  durch  ein  von  außen 
wirkendes  Prinzip,  noch  besitzt  jener  Körper  einen  Willensent- 
schluß oder  eine  freie  Wahl.  Diese  Hinneigung  muß  nun  den 
Körper  bewegen,  kann  ihn  aber  nicht  bewegen  ohne  eine  be- 
stimmt definierte  Richtung  einzuschlagen.  Trotzdem  aber  ist  diese 
Richtung  dem  nicht  konträr,  was  die  Naturkraft  dieses  fremden 
(Cod.  c.  nahen  ^)  Körpers  erfordert 

Nennst  du  nun  diesen  Begriff  (ratio)  eine  Naturkraft^  dann 
kannst  du  sagen,  daß  der  himmlische  Körper  durch  Naturkraft 
bewegt  wird;  jedoch  ist  diese  Naturkraft  eine  Emanation  aus 


^)  Ck)d.  c2:  „Kapitel  über  die  Frage:  Wie  kann  man  sagen,  die  Be- 
wegung des  Himmels  sei  eine  natorgemäfie,  trotzdem  sie  von  einem  seelischen 
Prinzipe  ausgeht?" 

*)  „Nah"  oder  „fremd"  wird  der  Körper  genannt  inbezug  auf  das 
seelische  Prinzip,  das  auf  ihn  einwirkt. 


Digitized  by 


Googk 


56i 

einem  seelischen  Prinzipe,  die  sich  immerfort  erneuert  nach 
Maßgabe  der  Vorstellungsverläufe  dieser  Seele.  Es  ist  damit 
also  klar,  daß  das  erste  Prinzip  der  Bewegung  der  Himmels- 
sphäre nicht  ihre  eigene  Naturkraft »)  ist  Es  ist  femer  klar, 
daß  diese  Bewegung  nicht  (der  Naturkraft  widerstrebt  und)  aus 
Zwang  erfolgt.  Daher  entsteht  also  diese  Bewegung  notwendiger- 
weise auf  Grund  eines  Willensentschlusses.  ^) 

Wir  lehren:  es  ist  nicht  möglich,  daß  das  nächste  Prinzip 
der  Bewegung  der  Himmelssphäre  eine  rein  geistige  Kraft  sei, 
die  sich  nicht  verändert,  noch  auch  Phantasievorstellungen  indi- 
vidueller Dinge  überhaupt  besitzen  kann.  Über  alle  diese  Pro- 
bleme haben  wir  schon  solche  Dinge  vorgebracht,  die  dich  in 
der  Erkenntnis  dieser  Begriffe  unterstützen  mögen.  Sie  sind  ent- 
halten in  den  früheren  Kapiteln,  in  denen  wir  bewiesen,  daß  die 
Bewegung  etwas  ist,  das  sich  inbezug  auf  ihre  Beziehung  (zum 
Beweger  und  Bewegten)  immerfort  erneuert,»)  und  daß  jedem 
Teile  der  Bewegung  eine  besondere  Relation  eignet;  denn 
diese  Beziehung  bleibt  nicht  beständig,  und  daher  kann  sie 
auch  nicht  von  einer  Wesenheit  (ratio)  kommen,  die  in  sich  un- 
veränderlich ist  und  für  sich  allein  besteht.  Wenn  sie  aber 
dennoch  von  einer  unveränderlichen  Wesenheit  (ratio)  stammt, 
so  muß  dieser  Wesenheit  etwas  anhaften,  was  eine  Veränderung 
von  Zuständen  bedeutet.  Was  nun  die  Behauptung  anbetrifft, 
daß  die  Bewegung  von  einer  Naturkraft  herstammt,  so  ist  es 
notwendig,  daß  jede  Bewegung,  die  sich  immerfort  verändert, 
sich  verändert,  weil  sich  .immerfort  die  Nähe  oder  Entfernung 
von  dem  erstrebten  Endziel  neu  gestaltet  Jede  Bewegung  hat 
eine  Beziehung  (zu  dem  Endpunkte)  durch  eine  Privation  (d.  h. 
dadurch,  daß  sie  noch  nicht  an  diesem  Endpunkte  angelangt  ist). 
Daher  besteht  diese  Beziehung  durch  die  Privation  der  Nähe  oder 
Feme  in  Beziehung  zu  ihrem  Endpunkte.  Bestände  nicht  jenes 
immerfort  Sicheraeuem,  dann  würde  auch  keine  Emeuerang 
der  Bewegung  selbst  stattfinden,  denn  das  Unveränderliche  als 
solches  kann  aus  sich  heraus  nur  das  Unveränderliche  hervor- 
rufen. *) 

")  Cod.  c:  „eine  Natorkraft*'. 

>)  Cod.  c2:  „Kapitel  über  die  Thesis,  daß  der  Beweger  der  himmlischen 
Körper  kein  von  der  Materie  losgelöster,  absolut  reiner  Geist  sein  kann^. 

*)  Naturwissenschaften  I.  Teil  ü. 

*)  Das  bewegende  Prinzip  der  Himmelsphären  muß  sich  also  immer- 
fort (in  seinen  Phantasievorstellungen  und  Wollnngen)  verändern. 

Uortto,  Dm  Baob  dtr  0«n«saiif  d«r  S«elo.  3^ 


Digitized  by 


Google 


562 

Stammt  aber  diese  Bewegung  der  Sphäre  von  einem  Willens- 
entschlusse  her,  dann  muß  sie  von  einem  solchen  Willensentschlusse 
ausgehen,  der  sich  immerfort  erneuert  und  partikulärer  Natur 
ist  Denn  der  universelle  Wille  bezieht  sich  in  immergleicher 
und  nur  einer  und  derselben  Weise  auf  jeden  einzelnen  Teil 
der  Bewegung.  Daher  läßt  es  sich  nicht  verständlich  machen, ') 
daß  von  diesem  universellen  Willensentschlusse  sich  diese  indi- 
viduelle Bewegung  als  Einzelding  herleite  mit  Ausschluß  jener 
anderen.  Denn  wenn  dieser  universelle  Wille  auf  Grund  seines 
Wesens  Ursache  wäre  für  diese  individuelle  Bewegung,  dann 
könnte  diese  Einzelbewegung  nicht  aufhören  (weil  ihre  adäquate 
Ursache,  der  universelle  Wille  nicht  aufhört).  Ist  dieser  Wille 
nun  aber  Ursache  für  diese  individuelle  Bewegung  auf  Grund 
einer  früheren  Bewegung  oder  auf  Grund  einer  späteren,  die 
nicht  mehr  existiert,  dann  würde  das  Nichtsein  etwas  Seiendes 
hervorbringen.  Das  Nichtseiende  kann  aber  nicht  notwendig- 
wirkendes Prinzip  sein  für  ein  Seiendes,  selbst  wenn  vielfach 
die  Privationen  Ursachen  sind  für  andere  Privationen.  Was  aber 
die  Behauptung  angeht,  daß  das  Nichtseiende  ein  positives  Ding 
hervorbringe,  so  ist  dieses  nicht  möglich,  selbst  wenn  das  Nicht- 
sein die  Ursache  ist  für  viele  Dinge,  die  sich  fortwährend  er- 
neuem. Das  Problem  betreffe  der  beständigen  Erneuerung  der 
Bewegung  kehrt  dann  immer  wieder  (indem  es  auf  dieses  Nicht- 
seiende übertragen  wird).  Ist  aber  nun  diese  beständige  Er- 
neuerung eine  natumotwendig  erfolgende,  dann  ergibt  sich  das 
Unmögliche,  das  wir  soeben  erwähnt  haben.  2)  Ist  dieses  be- 
ständige Erneuern  aber  ein  solches,  das  auf  einen  Willens- 
entschluß zurückgeht,  der  sich  selbst,  entsprechend  seiner  sich 
beständig  erneuernden  Vorstellungen  verändert,  so  ist  dieses  jene 
Thesis,  die  wir  beweisen  wollen.  Daher  ist  also  klar,  daß  der 
vernünftige,  rein  geistige,  in  sich  einfache  und  beständig  sich 
gleichbleibende  Willensentschluß  keine  Bewegung  hervorbringen 
kann.  Jedoch  könnte  man  sich  denken,  daß  jenes  (die  beständig 
sich  verändernde  Bewegung)  erfolge  auf  Grund  eines  geistigen 
Willens,  der  sich  von  einem  Begriffe  zum  anderen  bewegt  Denn 
der  Geist  kann  sich  von  einem  Gedanken  zum  anderen  bewegen, 


*)  WörÜich:  „es  ist  nicht  notwendig^  (ableitbar). 
^)  Derselbe  Gegenstand   erstrebt  und  flieht  dann  denselben  Ort  ans 
Natordrang,  wenn  die  Kreisbewegung  eine  natürliche  Bewegung  ist. 


Digitized  by 


Googk 


5Ö3 

wenn. er  nicht  in  jeder  Beziehung  aktueller  Verstand  ist.  In 
diesem  Falle  kann  er  das  Partikuläre,  das  unter  der  Art  als 
Individuum  einbegriffen  und  durch  Akzidenzien  deteminiert  ist, 
erkennen  und  zwar  in  allgemeiner  Weise,  wie  wir  es  dargelegt 
haben.  *) 

(Daher  können  wir  uns  die  Bewegung  des  Himmels  in 
folgender  Weise  vorstellen).  Es  existiert  ein  Verstand,  der  die 
allgemeine  Bewegung  denkt  und  sie  will.  Sodann  denkt  er, 
daß  er  sich  von  einer  Definition  zur  anderen  bewegt.  Dadurch 
werden  jene  Bewegungen  und  ihre  Definitionen  in  einer  begreif- 
lichen Weise  erfaßt  und  aufgefaßt,  wie  wir  es  dargelegt  haben 
und  es  betreffs  der  Bewegung  beweisen  wollen,  die  erfolgt  von 
diesem  zu  jenem  Orte  und  dann  wiederum  von  jenem  zu  diesem. 
Dadurch  bestimmt  sie  einen  universellen,  ersten  Beweger,  der 
sich  auf  einen  anderen  universellen  Endpunkt  in  einer  bestimmten 
Weise  richtet,  die  ebenfalls  universell  ist.  In  dieser  Weise 
fassen  wir  den  Begriff  des  Kreises.  Es  ist  nun  nicht  unmög- 
lich, daß  man  sich  vorstelle,  die  beständige  Erneuerung  der  Be- 
wegung erfolge  entsprechend  der  beständigen  Erneuerung  dieses 
Begriffes  (des  Kreises  für  die  Sphärenbewegung). 

Wir  lehren  sodann:  auch  in  dieser  Weise  kann  die  kreis- 
förmige Bewegung  nicht  zustande  kommen;  denn  diese  Ein- 
wirkung (des  universellen  Prinzipes)  in  der  eben  beschriebenen 
Weise  geht  hervor  aus  dem  universellen  WiDen,  selbst  wenn 
dieser  sich  beständig  erneuert  und  sich  von  einer  Vorstellung 
zur  anderen  bewegt  Wie  auch  immer  dieser  universelle  WiDe 
beschaffen  sein  mag,  er  ist  abstrakter  Natur  im  Verhältnis  zu 
einer  bestimmten  Naturkraft  (die  in  der  Materie  wurzelt),  selbst 
wenn  er  einen  Willensentschluß  darstellt,  der  auf  eine  einzelne 
Bewegung  gerichtet  ist  und  zwar  so,  daß  dieser  Bewegung 
wiederum  ein  anderer  WiDensentschluß  folgt.  Diese  individuelle 
Bewegung  aber,  die  sich  von  diesem  Orte  zu  jenem  individuellen 
Orte  bewegt,  ist  nicht  so  beschaffen,  daß  sie  eher  als  irgend 
eine  andere  individuelle  Bewegung  von  diesem  universellen  Willen 
ausginge  z.  B.  als  die  Bewegung,  die  von  jenem  Orte  zu  einem 
dritten  sich  bewegt.^)    Die  Beziehung  aller  Teile  der  Bewegung, 

»)  Metaph.  V,  1  und  2  und  Naturw.  VI.  Teil,  V,  1—6.  Cod.  c  Gl.:  „Be- 
treffs der  Erkenntnis  des  Notwendigen  in  nniverseUer  Weise",  s.  Abh.  VlII,  6. 

<)  Es  muß  aber  die  Ursache  der  bestimmten  Bewegung  gefunden 
werden,  nicht  die  der  Bewegung  im  allgemeinen. 

36* 


Digitized  by 


Googk 


564 

die  sich  als  Individna  gleichstehen,  zu  jedem  einzelnen  Teile 
jener  Willensentschlüsse,   die   sich   von  einer  Vorstellung  zur 
anderen   in  rein  geistiger  Weise  bewegen,  ist  aber  nur  eine 
sich  immer  gleichbleibende.   Kein  Teil  von  dieser  Bew^ung 
also  ist  in  höherem  Maße  so  beschaffen,  daß  er  auf  eine  einzelne 
jener  geistigen  Vorstellungen  bezogen  werden  müßte,  als  daß  er 
nicht  in  diese  Beziehung  eintritt  >)    Daher  wäre  die  (kausale) 
Beziehung  jedes  Dinges  zu  seiner  ersten  Ursache  und  der  Mangel 
dieser  Beziehung  ein  und  dasselbe;  denn  das  Ding  ist  in  (und 
trotz)  der  Abhängigkeit  von  seiner  ersten  Ursache  immer  noch 
im  Zustande  des  Möglichseins,  ohne  daß  sich  in  ihm  eine  indi- 
viduelle Unterscheidung  einstellte  und  ohne  daß  die  Wagschale 
seines  Daseins  auf  Grund  des  Einwirkens  der  ersten  Ursache 
das  Übergewicht  erhielte  über  sein  Nichtsein.    Kein  Ding  ge- 
langt zum  Dasein,  so  lange  es  nicht  notwendig  ist  als  Wirkung 
seiner  Ursache,  wie  du  dies  gesehen  hast  (Metaphysik  VI  und 
I,  6  und  7).    Wie  kann  es  denn  richtig  sein,  zu  sagen:  die  Be- 
wegung von  A  zu  B  erfolge  notwendig  auf  Grund  eines  rein 
geistigen  WiDensentschlusses?  und  die  Bewegung  von  B  zu  C 
erfolge  ebenso  als  Folge  eines  anderen  rein  geistigen  Willens- 
entschlusses, ohne  daß  eine  andere  Bewegung  sich  von  jedem 
einzelnen  dieser  WiDensentschlüsse  ergäbe  als  diejenige,  die  tat- 
sächlich erfolgt  ist,  so  daß  sich  der  Verlauf  dann  umgekehrt 
verhielte.    Denn  A,  B  und  C  sind  sich  der  Art  nach  durchaus 
gleich.     Keiner  dieser  universellen  Willensentschlüsse  aber  ist 
determiniert  für  A  mit  Ausschluß  von  B  und  für  B  mit  Aus- 
schluß von  C;  noch  auch  ist  A  eher  dazu  bestimmt,  sich  von  B 
und  C  zu  unterscheiden  auf  Grund  jener  universellen  Willcns- 
entschlüsse,   so   lange  dieselben  rein  geistiger  Natur  bleiben. 
Ebensowenig  läßt  sich  B  als  Individuum  bestimmen  im  Gegen- 
satze zu  C,  es  sei  denn,  daß  der  WiUensentschluß  ein  seelischer 
und  singulärer  werde.     W^erden  nun  diese  (universellen)  De- 
finitionen (die  die  geistigen  Beweger  denken  und  auf  Grund 
deren  sie  wollend  tätig  sind)  nicht  in  dem  Geiste  individualisiert, 
sondern  bleiben  sie  universelle  Definitionen,  dann  ist  es  nicht 
möglich,  daß  dieser  WiUensentschluß  die  individuelle  Bew^^ung 

*)  Jeder  Teil  der  Bewegung  kann  also  ebensogut  von  einer  einzelnen 
Vorstellung  jenes  geistigen  Bewegers  verursacht  werden  als  audi  nicht 
Avicenna  betont  hier  die  einzelne  Vorstellung,  weil  die  Gesamtheit  der 
Vorstellungen,  kollektiv  genonunen,  Ursache  ist  für  Himmelsbew^^iuigen. 


Digitized  by 


Googl( 


565 

von  A  zu  B  eher  hervorbringe,  als  die  andere  Bewegung  von 
B  zu  C,')  noch  auch  kann  A  eher  individualisiert  werden  als 
B  und  C  durch  jenen  (universellen)  Willen,  so  lange  er  geistig 
ist,  noch  auch  B  eher  als  C.  Wie  ist  es  femer  möglich,  für 
das  Zustandekommen  der  Bewegung  in  dem  universellen  Willen 
einen  bestimmten  Willen  und  eine  bestimmte  Vorstellung*)  anzu- 
nehmen, sodann  wiederum  einen  anderen  individuellen  Willen 
mit  einer  anderen  Vorstellung,  so  daß  beide  verschieden  sind 
(als  Arten),  indem  sie  zugleich  in  einer  anderen  Bestimmung 
(dem  Genus)  übereinkommen,  ohne  daß  jedoch  in  ihnen  ein 
Fundament  gegeben  wäre,  das  sich  auf  einen  individuellen,  deter- 
minierten Gegenstand  deuten  ließe.  3)  Dieser  individuelle  Gegen- 
stand würde  dann  gemessen  und  bestimmt  durch  jenes  (d.  h. 
jenen  Willensentschluß  und  jene  Vorstellung).  Trotz  alledem 
kann  im  Geiste  keine  Veränderung  von  einer  Vorstellung  zur 
anderen  angenommen  werden,  e^  sei  denn,  daß  er  sich  ausstatte 
mit  Phantasievorstellungen  und  sinnlicher  Wahrnehmung;  denn, 
um  zur  richtigen  Erkenntnis  zurückzugehen,  können  wir  nicht 
die  Summe  der  Bewegung  und  die  Teile  der  Veränderung  und 
der  Fortbewegung  denken,  während  wir  die  Bewegung  zugleich 
als  eine  kreisförmige  geistig  erfassen.*) 

Daher  muß  auf  Grund  aller  dieser  Verhältnisse  eine 
seelische  Kraft  angenommen  werden  und  vorhanden  sein,  die 
nächstes  Prinzip  für  die  Bewegung  ist,  selbst  wenn  wir  es 


0  Denkt  der  bewegende  Geist  nur  die  Definition  der  Bewegung,  dann 
stellt  er  nicht  die  Ursache  dar,  die  eine  individuelle  Bewegung  hervor- 
bringen kann. 

')  Diese  soll  eine  individuelle  Bewegung  hervorrufen. 

')  Man  ist  veranlaßt,  in  dem  geistigen  Beweger  individuelle  Vor- 
stellungen anzunehmen;  zugleich  aber  können  diese,  weil  universellen  In- 
haltes, nicht  als  adäquate  Ursache  für  die  singulare  Bewegung  gelten.  Man 
gelangt  also  auf  keinem  Wege  dazu,  aus  einem  geistigen  Prinzipe  die 
Himmelsbewegungen  verständlich  zu  machen. 

*)  Die  Summe  der  (individuellen)  Bewegung  und  die  Punkte,  die  sie 
nacheinander  einnimmt,  können  wir  uns  nicht  abstrakt  denken;  wir  können 
sie  nur  in  der  inneren  Vorstellung  und  der  äußeren  Sinneswahmehmung  er- 
fassen. Denken  können  wir  nur  den  Begriff  des  universellen  Kreises.  Das- 
selbe gilt  von  den  Bewegern  der  Sphären.  Sie  müssen  sich  individuelle  Vor- 
stellungen bilden  von  den  Bewegungen,  die  sie  verursachen  wollen.  Dies 
aber  können  sie  nicht  ohne  Phantasie  oder  Sinneswahmehmung.  Ihre  Natur 
muß  also  eine  seelische  sein.  Sie  kann  nicht  als  eine  rein  geistige  an- 
genonunen  werden. 


Digitized  by 


Googk 


566 

nicht  für  unmöglich  erklären,  daß  in  der  himmlischen  Welt 
auch  eine  rein  geistige  Kraft  vorhanden  sei,  die  in  der  gleichen 
Weise  sich  von  einer  Vorstellung  zu  einer  anderen,  rein  geistigen 
Vorstellung  bewegt,  nachdem  sie  jedoch  eine  ähnliche  Phantasie- 
vorstellung voraussetzt  (um  aus  dieser  die  geistigen  Inhalte  zu 
abstrahieren).  Die  geistige  Kraft,  rein  abstrakt  in  sich  be- 
trachtet ohne  alle  Arten  der  Veränderung,  hat  immer  ihr 
geistiges  Objekt  präsent,  wenn  ihr  begrifflicher  Inhalt  uni- 
verseller Natur  ist  und  von  einem  universellen  Gegenstände 
herkommt  oder  universeller  Natur  ist,  jedoch  von  einem  parti- 
kularen Gegenstande  hergenommen  ist,  wie  wir  es  dargelegt 
haben.  Verhält  sich  die  Sachlage  nun  so,  dann  bewegt  sich 
die  Himmelssphäre  auf  Grund  des  seelischen  Prinzipes.  Das 
seelische  Prinzip  ist  nächste  Ursache  für  ihre  Bewegung.  Dieses 
seelische  Prinzip  verändert  sich  immerfort  in  seinen  Vorstellungen 
und  seinen  Willensentschlüssen.  Es  stellt  sich  Inhalte  vor  nach 
Art  der  Ästimativa,  d.  h.  das  seelische  Prinzip  besitzt  ein  &- 
kennen  der  sich  verändernden  Gregenstände  wie  z.  B.  der  Indi- 
vidua,  und  einen  Willensentschluß,  der  sich  auf  individuelle 
Gegenstände  als  solche  erstreckt.  Dieses  seelische  Prinzip  ist 
die  Vollendung  0  der  himmlischen  Sphäre  und  zugleich  ihre 
Wesensform.  Verhielte  sich  dieses  Prinzip  nicht  in  dieser  Weise, 
sondern  wäre  es  in  jeder  Beziehung  in  sich  selbst  bestehend 
als  selbständige  Substanz  (ohne  mit  der  Sphäre  in  Kontakt  zu 
stehen),  dann  wäre  es  eine  rein  geistige  Substanz,  die  sick 
nicht  veränderte  noch  auch  von  einer  Vorstellung  zur  anderen 
überginge,  und  der  nichts  beigemischt  ist,  was  eine  Potenzialität 
bedeutet. 

Der  nächste  Beweger  für  die  Himmelssphäre  muß  sich  also, 
wenn  er  auch  selbst  kein  Verstand  ist,  notwendig  so  verhalten, 
daß  früher,  als  er  ein  Verstand  sein  muß,  und  dieser  ist  die 
weiter  zurückliegende  Ursache  für  die  Bewegung  des  Himmels. 
Du  hast  nun  schon  erkannt,  daß  diese  Bewegung  einer  unend- 
lichen Kraft  bedarf, 2)  die  in  sich  frei  ist  von  der  Materie  und 
nicht  passiv  bewegt  wird,  noch  auch  sich  per  accidens  bewegt. 
Die  Weltseele  aber,  die  die  Sphäre  bewegt,  verhält  sich  so,  daß 


1)  „VoUendung"    bezeichnet    die    naturgemäße    Vollkommenheit    und 
Aktualität  {i^vreUxeia), 
*)  Naturw.  ü.  Teil. 


Digitized  by 


Googk 


567 

sie,  wie  du  gesehen  hast,  körperlicher  (d.  h.  sensitiver)  Natur 
ist,0  sich  verändert  und  neue  Zustände  in  sich  aufnimmt.  Sie 
ist  nicht  von  der  Materie  in  jeder  Weise  befreit.  Ihre  Beziehung 
zu  der  Himmelssphäre  ist  vielmehr  dieselbe  wie  die  der  ani- 
malischen Seele,  die  in  uns  ist,  zu  uns  selbst  (d.  h.  unserem 
Körper).  Jedoch  ist  es  der  Seele  gegeben,  in  gewisser  Weise 
begrifflich  zu  denken,  so  daß  dieser  Begriff  vermischt  ist  mit 
Materie  (nach  Art  der  Tätigkeiten  der  cogitativa).  Kurz,  die 
Vorstellungen  jener  Seele  oder  die  psychischen  Inhalte,  die  den 
inneren  Vorstellungen  (den  intentiones)  gleichen,  sind  wahre 
Aussagen,  und  die  Vorstellungen  ihrer  kombinierenden  Phantasie 
oder  dessen,  was  diesen  Vorstellungen  ähnlich  ist,  sind  ebenfalls 
wahre  und  richtige  Vorstellungen,  und  sie  verhält  sich  wie  der 
praktische  Intellekt  in  uns  (der  dazu  bestimmt  ist,  unsere  Vor- 
stellungen in  Handlungen  oder  Kunsttätigkeiten  in  der  Außen- 
welt darzustellen).  Kurz,  die  Erkenntnisse  jener  Weltseele  finden 
durch  Vermittlung  eines  Körpers  statt;  jedoch  hat  der  erste 
Beweger  der  Himmelssphäre  eine  Kraft,  die  in  keiner  Weise 
körperlicher  Natur  ist.  Diese  Kraft  kann  sich  nun  aber  in 
keiner  Weise  bewegen,  so  daß  sie  einen  anderen  Gegenstand  in 
Bewegung  setzt;  sonst  müßte  sie  sich  verändern  und  materiell 
sein,  wie  es  dargelegt  wurde.  Aus  diesem  Grunde  ist  es  not- 
wendig, daß  diese  Kraft  so  bewegt,  wie  ein  Beweger  durch 
Vermittlung  eines  anderen  Bewegers  (der  Seele  der  Sphäre) 
eine  Bewegung  ausführt.  Dieser  andere  Beweger  bringt  aus 
eigener  Anstrengung  die  Bewegung  hervor,  indem  er  sie  noch 
verstärkt  und  sich  ihrer  Natur  entsprechend  verändert 

Dies  ist  die  Art  und  Weise,  in  der  der  (erste)  Beweger 
(der  Nüs)  des  Bewegers  (der  Weltseele)  bewegt,  und  es  ist  zu- 
gleich die  Art  und  Weise,  in  der  der  Beweger  (der  Geist)  eine 
Bewegung  ausführt,  ohne  daß  er  sich  auf  Grund  eines  erstrebten 
Zweckes  oder  einer  Sehnsucht  verändert.  Dies  ist  das  letzte 
Ziel  und  der  erstrebte  Gegenstand,  zu  (dem  die  Bewegung  hin- 
führt und  zu)  dem  der  Beweger  hinstrebt  Dies  Ziel  ist  das 
geliebte  Objekt  Dieses  ist  als  geliebtes  das  Gute  für  den 
Liebenden. 


')  Sie  ist  selbst  ankörperlich,  aber  in  ihrer  Natnr  anf  einen  Körper 
hingeordnet.  In  demselben  Sinne  werden  auch  die  Wesensformen  der  Natnr- 
dinge  körperliche  genannt. 


Digitized  by 


Google 


568 

Wir  lehren  in  diesem  Sinne  ferner,  daß  jeder,  der  eine 
Bewegung  ausführt,  die  nicht  seiner  Natur  von  außen  auf- 
gezwungen ist,  dieselbe  ausfuhrt  in  der  Eichtung  auf  ein  Ding 
und  auf  Grund  einer  Sehnsucht  nach  einem  Gegenstande,  so  daß 
dasselbe  auch  von  der  Bewegung  einer  Naturkraft  gilt;  denn 
die  Sehnsucht  der  Naturkraft  ist  ein  der  (leblosen)  Natur  ent- 
sprechender Vorgang.  Sie  bedeutet  die  Vollendung,  die  dem 
Körper  wesentlich  zukommt,  entweder  seiner  Form  oder  seinem 
Orte  oder  seiner  Lage  entsprechend.  Die  Sehnsucht  des  geistigen 
Willens  ist  ein  Vorgang,  der  der  Natur  des  geistigen  Willens 
entspricht.  Er  ist  eine  Willensrichtung,  die  sich  richtet  auf  ein 
sinnliches  Objekt,  wie  z.  B.  die  Lust,  oder  auf  ein  Objekt  der 
inneren  Vorstellung  der  Phantasie,  wie  z.  B.  der  Sieg  über  den 
Gegner  oder  wie  eine  unsichere  Meinung  wie  z.  B.  auf  ein 
Scheingut  Die  Kraft  aber,  die  nach  dem  Genüsse  strebt,  ist 
die  Begierde.  Diejenige,  die  nach  der  Besiegung  des  Gegners 
strebt,  ist  der  Zorn,  und  diejenige,  die  auf  ein  Scheingut  ge- 
richtet ist,  das  der  Mensch  sich  nur  einbildet,  ist  die  Ein- 
bildung; diejenige,  die  auf  das  wahre  und  fehlerlose  Gute  ge- 
richtet ist,  ist  der  Verstand.  *)  Das  Streben  nach  diesem  Gut 
wird  freier  Willensentschluß  genannt  Die  Begierde  und  der 
Zorn  richten  sich  nicht,  wie  auf  ihr  adäquates  Objekt,  auf  die- 
jenige körperliche  Substanz,  die  sich  nicht  verändert  noch  auch 
in  einen  passiven  Zustand  treten  kann.*)  Denn  dieses  Objekt 
verändert  sich  nicht  zu  einem  anderen,  der  genannten  Fähig- 
keit nicht  adäquaten  Zustande,  so  daß  es  dann  zurückkehrte  zu 
dem  adäquaten  Zustande.  Dann  könnte  die  Fähigkeit  die  Emp- 
findung des  Genusses  haben  oder  die  der  Rache  infolge  einer 
Phantasievorstellung  oder  die  des  Zornes.  Ein  weiterer  Grund 
dafür  ist  der,  daß  jede  Bewegung  sich  entsprechend  dem  Obigen 
auf  ein  erstrebenswertes  Objekt  richtet  oder  auf  die  Über- 
windung des  Gegners.  Diese  Bewegung  ist  aber  endlich  und 
vergänglich.  Auch  die  meisten  Scheingüter  bleiben  als  solche 
nicht  ewig  bestehen. 

Daher  ist  es  erforderlich,  daß  das  erste  Prinzip  dieser  Be- 
wegung eine  freie  Wahl  oder  ein  Willensentschluß  sei,  der  auf 
ein  wahres  Gut  gerichtet  ist   Dieses  wahre  Gute  muß  entweder 

0  Vgl.  Fär&b!,  Ringsteme  Nr.  32. 

')  Die  Begierden  richten  sich  nur  anf  die  veränderlichen  Substanzen  der 
sublunarischen  Welt  und  sind  ebenso  veränderlich  wie  ihre  Objekte. 


Digitized  by 


Googl( 


660 

durch  die  Bewegung  erreicht  werden,  so  daß  man  durch  dieselbe 
zu  diesem  Gute  hingelangt;  oder  es  ist  ein  solches  Gut,  dessen 
Substanz  in  keiner  Weise  in  Besitz  genommen  werden  kann. 
Es  bleibt  vielmehr  getrennt  von  demjenigen,  der  das  Gut  erstrebt. 
Dieses  Gut  kann  nicht  zu  den  Vollkommenheiten  (Entelechieen) 
derjenigen  Substanz  gehören,  die  sich  auf  das  Gut  hinbewegt, 
so  daß  sie  dasselbe  durch  die  Bewegung  erfaßte;  sonst  müßte 
die  Bewegung  abbrechen.  Sie  kann  sich  also  nicht  bewegen, 
damit  sie  eine  Handlung  hervorbringe,  mit  der  sie  eine  Voll- 
kommenheit für  sich  erwirbt.  In  dieser  letzteren  Weise  üben 
wir  z.  B.  das  Gute,  wie  wir  sagen,  „selbstlos"  aus,  damit  wir 
gelobt  werden,  und  wir  tun  edle  Handlungen,  damit  wir  den 
Habitus  der  Tugend  erwerben,  oder  damit  wir  edle  Menschen 
werden  (also  damit  wir  eine  Vollkommenheit  in  unserer  Sub- 
stanz erwerben.  Dieses  ist  aber  für  die  Bewegung  der  seelischen 
Prinzipien  der  himmlischen  Welt  nicht  möglich),  weil  das  Objekt 
(ihrer  Handlungen)  eine  Vollendung  von  selten  des  Handelnden 
erwirbt  (nicht  umgekehrt  der  Handelnde  eine  Vollendung  von 
Seiten  des  Objektes).  Daher  ist  es  unmöglich,  daß  diese  Voll- 
kommenheit (die  der  Handelnde  dem  Objekte  mitteilt)  wiederum 
zurückkehrte  (von  dem  Objekte  zum  Handelnden),  so  daß  sie  die 
Substanz  des  Handelnden  vervollkommnete,  der  diese  Vollkommen- 
heit selbst  hervorgebracht  hat.  Denn  die  Vollkommenheit  der 
Wirkung  ist  geringer  als  die  Vollkommenheit  der  Wirkursache.*) 
Das  Geringere  kann  aber  nicht  das  Edlere  und  Vollkommnere 
noch  vervollkommnen.  Das  Vollkommnere  ist  aber  die  (zu  er- 
strebende) Entelechie  (nicht  das  ünvollkommnere).  Das  Ver- 
hältnis ist  vielmehr  wahrscheinlich  so,  daß  das  Geringere  für  das 
Vollkommenere  sein  Organ  und  seine  Materie  disponiert,  so  daß  es 
in  einigen  Dingen  sich  auf  Grund  einer  anderen  Ursache  vorfindet.^) 

')  Vgl.  Thomas,  Sum.  th.  I— 11  66,  6  ad  3:  Causa  perficiens  est  potior 
sno  effeotu,  non  antem  causa  disponens;  sie  enim  calor  ignis  esset  potior  quam 
aniraa  ad  quam  disponit  materiam.  Ib.  112, 1  c:  Nulla  res  potest  agere  ultra 
suam  speciem,  quia  semper  oportet  quod  causa  potior  sit  effectu.  Dazu  ist 
die  Einschränkung  zu  vergleichen  ü— II 148,  3  ad  2:  Non  autem  oportet  quod 
causa  sit  potior,  nisi  in  causis  per  se.  Ib.  165,  2  ad  1 :  Non  autem  est  eadem 
ratio  principalis  agentis  et  instrumenti;  nam  principale  agens  oportet  esse 
potius;  quod  non  requiritur  in  agente  instrumentali. 

*)  Die  causa  disponens  verhält  sich  in  gewisser  Weise  indifferent  für 
bestimmte  Ursachen.  Sie  disponiert  ihre  Materie  für  eine  ganze  Kategorie 
von  Agenzien,  nicht  für  ein  bestimmtes  Agens. 


Digitized  by 


Googk 


570 

Das  Lob,  das  wir  ei-streben  und  zu  dem  wir  unser  Verlangen 
hinrichten,  ist  eine  Vollendung,  die  kein  wahres  Gut  bedeutet, 
die  vielmehr  nur  ein  Scheingut  ist.  Die  Tugend  als  Habitus, 
die  wir  durch  die  Handlung  aktuell  erwerben,  ist  nicht  verur- 
sacht durch  die  Handlung  selbst.  Die  Handlung  hält  vielmehr 
nur  das  Kontrarium  dieser  Tugend  zurück  >)  und  disponiert  (die 
Materie  d.  h.  die  Seele)  für  die  Aufnahme  dieser  Tugend.  Dann 
tritt  dieser  Habitus  ein  auf  Grund  einer  Einwirkung  derjenigen 
Substanz,  die  die  menschlichen  Seelen  mit  Vollkommenheiten  aus- 
stattet, und  diese  Substanz  ist  der  aktive  Intellekt  oder  eine 
andere  Substanz,  die  ihm  gleicht. 

Nach  diesen  Grundsätzen  ist  die  ausgeglichene^)  Hitze 
Ursache  für  die  Existenz  der  seelischen  Kräfte,  jedoch  in  der 
Weise,  daß  die  Hitze  die  Materie  disponiert,  nicht  in  der 
Weise,  daß  sie  die  Kräfte  schafft  Unsere  Darlegung  erstreckt 
sich  aber  nur  auf  das  schaffende  Prinzip.  Kurz,  wenn  die  Tätig- 
keit die  Materie  disponiert,  damit  der  Schaffende  eine  Voll- 
kommenheit hineinschaffe,  so  endigt  die  Bewegung,  wenn  das 
Objekt  tatsächlich  zur  Existenz  gelangt  ist,  und  so  bleibt  (als 
Objekt  des  Strebens)  nur  die  eine  Möglichkeit  übrig,  daß  das 
durch  die  Bewegung  erstrebte  Gute  ein  Gut  ist,  das  in  sich  selbst 
Bestand  hat  Es  ist  jedoch  nicht  so  beschaffen,  daß  der  Strebende 
es  in  Besitz  nehmen  kann.  Jedes  Gut,  das  so  beschaffen  ist, 
wird  dadurch  Ziel  der  Handlung,  daß  der  Verstand  bemüht  ist, 
sich  ihm  zu  verähnlichen,  insofern  dieses  für  ihn  möglich  ist 
(da  er  es  nicht  in  Besitz  nehmen  kann).  Das  Sichverähnlichen 
mit  dem  Gute  geschieht  dadurch,  daß  man  dasselbe  geistig  auffaßt, 
so  daß  also  der  Denkende  dem  gedachten  Objekte  ähnlich  wird.^) 


*)  Thomas  (de  veritate  XI,  1  c)  zitiert  diese  Darle^^ong:  Similiter  etiam 
Avicenna  dicit  in  sua  Metaphysica  (IX,  4)  qnod  habitns  honesti  causa  non  est 
actio  nostra;  sed  actio  prohibet  eins  contrarinm  et  adaptat  ad  iUmn,  nt  ao- 
cidat  hie  habitos  a  snbstantia  perficiente  animas  hominnm,  qnae  est  inteUi- 
gentia  agens  vel  snbstantia  ei  consimilis.  Similiter  etiam  ponnnt,  qnod  scientia 
non  efficitnr  in  nobis  msi  ab  agente  separato;  unde  Avicenna  ponit  in  n  de 
natnralibus  IV,  cap.  11:  a  med.(?)  qnod  fonnae  inteUigibiles  efflnnnt  in  mentem 
nostram  ab  inteUigentia  agente. 

*)  Leidet  der  Körper  aber  unter  einer  übermächtigen  Einwirkung  der 
Hitze  z.  B.  im  Fieber,  dann  sind  seine  Fähigkeiten  nidit  disponiert  noch 
leistungsfähig. 

')  Thomas,  Sum.  th.  I  14, 2  c:  In  oporationibus,  quae  sunt  in  operante, 
obiectum  quod  significatur  ut  terminus  operationis,  est  in  ipso  operante;  et 


Digitized  by 


Googk 


571 

Das  Verlangen*)  der  Dinge,  ihren  Bestand  ewig  zu  erhalten 
in  der  vollkommensten  Art  und  Weise,  die  der  Substanz  des 
Dinges  in  allen  ihren  Verhältnissen  und  notwendigen  Akzidenzien 
zukommt,  dieses  ist  eine  Vollkommenheit  (Entelechie)  des  Dinges. 
Derjenige  Gegenstand  der  seine  höchste  Vollkommenheit  in  dem 
ersten  Augenblicke  seiner  Existenz  erlangen  kann,  verähnlicht 
sich  sodann  dem  erstrebten  Gute,  indem  er  selbst  dauernd  bleibt 
(oder:  in  dauerndem,  unveränderlichem  Streben).  Ein  anderer 
Gegenstand,  der  seine  höchste  Vollkommenheit  nicht  in  dem 
ersten  Augenblicke  seiner  Existenz  erlangen  kann,  verähnlicht 
sich  mit  dem  Ziele  durch  die  (sich  stetig  verändernde)  Bewegung. 
Der  Beweis  dafür  liegt  darin,  daß  die  Substanz  des  himmlischen 
Körpers  einen  Beweger  hat,  der  sie  bewegt  auf  Grund  einer 
unendlichen  Kraft.  Die  Fähigkeit  aber,  die  ihr  selbst  zukommt, 
die  körperliche,  ist  endlich.  Indem  jedoch  die  Seele  der  himm- 
lischen Sphäre  das  erste  Sein  begrifflich  faßt,  fließt  auf  sie 
von  dem  Lichte  dieses  ersten  Seins  und  von  seiner  Kraft 
beständig  eine  Seinsfälle  hernieder.  (Dadurch  wird  sie  mit 
Vollkommenheiten  ausgestattet,)  so  daß  ihr  eine  unendliche 
Fähigkeit  gleichsam  als  Besitz  zukommt.  Jedoch  hat  sie  in 
Wirklichkeit  keine  unendliche  Kraft.  Eine  unendliche  Kraft 
kommt  vielmehr  nur  demjenigen  zu,  den  diese  Seele  der  Sphäre 
begrifflich  erfaßt  (den  Geist,  der  ihr  zugeordnet  ist).  Auf  diesen 
läßt  Gott  sein  Licht  und  seine  Kraftfülle  ausfließen. 

Dieses  ist  das  begriffliche  Wesen  (ratio),  das  dem  himm- 
lischen Körper  in  seiner  Substanz  eignet,  wenn  er  sich  in  seiner 
höchsten  Vollkommenheit  befindet,  indem  in  seiner  Substanz  nichts, 
was  eine  Potenzialität  bedeutet,  bestehen  bleibt  Ebenso  ver- 
hält es  sich  in  seiner  Qualität  und  Quantität  abgesehen  von 


secandnm  quod  est  in  eo,  sie  est  operatio  in  acta.  Unde  dicitur  in  in  de 
anima  tezt  36  et  37  (435  b  36)  „qnod  sensibile  in  actu  est  sensns  in  actn  (^ 
TO0  alo9i]toi^  ivtQysia  xal  xT^q  alad^ijaeiog  ^  «vtjJ  fiev  ion  xal  fila,  x6  ö' 
elvai  ov  xavxov  avxaXq  (id.  426  a  15,  439  a  15)  et  intelügibile  in  actu  est  in- 
tellectus  in  actn".  Ex  hoc  enim  aliqnid  in  acta  sentimns  vel  inteUigimns, 
quod  intellectus  noster  vel  sensns  infonnatur  per  speciem  sensibilis  vel  in- 
telligibilis.  Id.  I  55, 1  ad  2:  intellectus  in  actu  dicitur  esse  intellectum  in 
actu,  non  quod  substantia  intellectus  sit  ipsa  similitudo  per  quam  intelligit, 
sed  quia  illa  similitudo  est  forma  eins. 

*)  Cod.  c  Gl.  als  Titel  eines  Kapitels  „Der  Strebende  erlangt  die  seinem 
Wesen  entsprechende  und  mögliche  Vollkommenheit,  sowie  (der  Liebende) 
das  Objekt  der  Liebe". 


Digitized  by 


Googk 


572 

seiner  Lage  und  dem  nbi,  wo  er  sich  ursprünglich  befindet,  und 
in  allen  denjenigen  Bestimmungen,  die  auf  diese  zwei,  die  Lage 
und  den  Orte,  folgen  und  zwar  in  zweiter  Linie.  Denn  der 
himmlische  Körper  verhält  sich  so,  daß  er  in  einer  Lage  oder 
an  einem  Orte  seiner  Substanz  nach  sich  nicht  eher  befindet  als 
an  einem  anderen,  der  seinem  Volumen  zukommt;  denn  kein 
Teil  von  den  Teilen  der  Himmelssphäre,  noch  irgend  ein  Stern 
befindet  sich  eher  zu  einem  bestimmten  Gebiete  des  Himmels 
oder  einem  Teile  dieses  Gebietes  in  Konjunktion  als  zu  einem 
anderen  Teile.  Befindet  er  sich  daher  in  einem  Teile  der  Sphäre 
aktuell,  so  befindet  er  sich  in  einem  anderen  Teile  derselben 
der  Potenz  nach.  Daher  haftet  der  Substanz  der  Himmels- 
sphäre etwas  Potenzielles  an  inbezug  auf  ihre  Lage  oder  ihren 
Ort.  Dadurch,  daß  die  Sphäre  sich  dem  höchsten  Gute  ver- 
ähnlichen will,  bringt  sie  hervor,  daß  sie  ewig  bestehen  bleibt 
im  vollkommensten  Zustande,  der  dem  Dinge  Oberhaupt  zukommen 
kann.  Dieses  ist  jedoch  dem  himmlischen  Körper  in  seiner 
numerischen  Einheit  nicht  möglich,  und  daher  bewirkt  dieses 
Sich  verähnlichen,  daß  derselbe  seiner  Art  nach  und  in  dem  Auf- 
einanderfolgen der  Individuen  erhalten  bleibe. 

Die  Bewegung  bewahrt  also  dasjenige,  was  von  dieser  Voll- 
kommenheit (die  von  der  ersten  Ursache  durch  Sichverähnlichen 
der  Sphäre  mitgeteilt  wird)  dem  Körper  zukommt  Das  Prinzip 
derselben  ist  das  Verlangen,  sich  mit  dem  höchsten  Gute  zu 
verähnlichen,  um  den  ewigen  Bestand  des  vollkommensten  Zu- 
standes,  soweit  wie  dieses  möglich  ist  zu  erhalten.  Das  Prinzip 
dieses  Verlangens  ist  dasjenige,  was  die  Seele  der  Himmelssphäre 
von  dem  ersten  Seienden  begrifflich  erfaßt  Betrachtest  du  den 
Zustand  der  natürlichen  Körper  in  ihrem  natürlichen  Streben, 
an  irgend  einem  (d.  h.  dem  natürlichen)  Orte  aktuell  zu  sein^ 
dann  wunderst  du  dich  nicht  mehr  darüber,  daß  ein  Körper  ein 
heftiges  Verlangen  haben  kann,  in  irgend  einer  Lage  von  allen 
Lagen  zu  sein,  die  seiner  Substanz  nach  ihm  zukommen  können 
und  in  dem  vollkommensten  Zustande,  der  ihm  infolge  seiner 
eigenen  Bewegung  und  in  spezieller  Weise  eigen  sein  kann,  zu 
verbleiben.  Daraus  ergeben  sich  Zustände  und  Maßbestimmungen, 
die  dasjenige  verleihen,')  worin  sich  die  Himmelssphäre  mit  dem 
ersten  Sein  verähnlicht,  insofern  dieses  erste  Seiende  das  Gute 


0  Cod.  c  GL:  „nach  Maflgabe  der  Mdglichkeit*'. 


Digitized  by 


Googl( 


573 

und  die  Arten  des  Guten  aus  sich  ausströmen  läßt,  nicht  insofern 
als  jene  Dinge  den  Zweck  des  ersten  Seienden  bildeten,  so  daß 
dann  die  Bewegung  zum  Zwecke  dieser  Dinge  sich  ereignete. 
Das  Verhältnis  liegt  vielmehr  so,  daß  der  Zweck  eben  das  Sich- 
verähnlichen  mit  dem  ersten  Seienden  ausmacht,  so  gut  wie 
dieses  möglich  ist,  damit  der  himmlische  Körper  im  Besitze  des 
vollkommensten  Zustandes  verbleibe  und  damit  ihm  diejenige 
Vollkommenheit  zukomme,  die  sich  daraus  ergibt,  daß  er  sich 
dem  ersten  Seienden  verähnlicht.  Dies  erfolgt  nicht  insofern 
als  von  dem  ersten  Seienden  Dinge  ausgehen,  die  später  sind 
als  der  Erste.  Daher  ist  die  Bewegung  auf  dieses  als  auf  den 
ersten  Endzweck  gerichtet.  Deshalb  lehre  ich,  daß  das  Verlangen 
selbst,  sich  mit  dem  ersten  Seienden  zu  verähnlichen,  insofern 
dieses  aktuell  besteht,  ein  Quell  ist,  von  dem  die  Bewegung  der 
himmlischen  Sphären  ausgehen  in  der  Art,  wie  ein  Ding  aus  der 
Vorstellung  hervorgehen  kann,  die  das  Ding  affirmiert  und  ver- 
ursacht, selbst  wenn  diese  Bewegung  nicht  in  ursprünglicher 
Weise  und  per  se  beabsichtigt  ist;  denn  diese  Vorstellung  ist 
eine  Vorstellung,  die  sich  auf  das  erstreckt^  was  bereits  aktuell 
existiert.  Aus  derselben  ergibt  sich  also  ein  Verlangen  nach 
dem,  was  aktuell  existiert,  und  was  im  vollkommensten  Zustande 
ist.  Es  ist  nun  aber  unmöglich,  daß  dieses  Ding  in  der  Indivi- 
dualität nimmer  bestehe,  und  daher  muß  es  im  Aufeinanderfolgen 
der  Individuen  (also  in  seiner  Art  allein)  ewig  sein.  Daraus 
ergibt  sich  die  Bewegung;  denn  das  einzelne  Individuum  gibt 
anderen  Individuen,  wenn  es  ewig  bestehen  bleibt,  keinen  Raum 
für  die  Existenz.  Die  anderen  Individuen  würden  dann  immer 
nur  der  Potenz  nach  existieren. 

Daher  folgt  auch  die  Bewegung  jener  psychischen  Vor- 
stellung in  der  eben  beschriebenen  Weise,  also  nicht  in  dem 
Sinne,  als  ob  sie  selbst  ursprünglicher  Zweck  jener  Vorstellung 
wäre.  Dieser  sich  immer  gleichbleibenden  Vorstellung  folgen 
daher  partikuläre  Vorstellungen,  die  wir  erwähnt  und  besprochen 
haben  —  Vorstellungen,  die  Motive  und  Antriebe  werden  für  die 
Bewegung,  ohne  daß  sie  selbst  erster  Zweck  der  Bewegung  wären, 
—  und  femer  folgen  also  diesen  partikulären  Vorstellungen  die 
Bewegungen,  die  die  himmlischen  Körper  von  einer  Lage  zur 
anderen  fortbewegen.  Ein  und  derselbe  (individuelle)  Teil  kann 
nun  aber  nicht  in  seiner  VervoUkommenheit  ewig  bestehen 
bleiben.   Die  Bewegung  aber  verhält  sich  so,  daß  sie  eine  Voll- 


Digitized  by 


Googk 


574 

endung  bedeutet,  die  das  Gewünschte  erlangen  und  leisten  kann 
(daher  ist  also  die  Bewegung  dazu  bestimmt,  die  „Arten"  der 
himmlischen  Körper  ewig  zu  erhalten). 

Folglich  verhält  sich  das  erste  und  ursprungliche  Verlangen 
so,  wie  wir  es  erwähnt  haben.  Alles  Übrige,  was  diesem  Ver- 
langen folgt,  sind  Motive  und  Antriebe  für  die  Bewegung.  Die 
Weltdinge  besitzen  manchmal  entfernte  Ähnlichkeiten  mit  jenen 
in  ihren  Körpern,  die  jedoch  zu  jenen  nicht  in  Proportion  stehen, 
selbst  wenn  sie  ein  Phantasiebüd  jener  in  uns  wachrufen  und 
ihnen  gleichen.  Wenn  z.  B.  das  Verlangen,  einen  Anderen  zu 
sehen,  oder  das  Verlangen,  zu  irgend  einem  Dinge  zu  gelangen, 
stark  wird,  so  folgt  auf  dieses  Verlangen  in  uns  eine  Reihe  von 
Vorstellungen,  die  sich  verhalten  wie  Motive  und  Antriebe  der 
Bewegung.  Diesen  Vorstellungen  folgen  Bewegungen  und  zwar 
nicht  diejenigen  Bewegungen,  die  sich  auf  das  verlangte  Objekt 
direkt  richten,  sondern  Bewegungen,  die  auf  ein  Ding  gerichtet 
sind,  das  auf  dem  Wege  zu  jenem  Objekte  liegt  und  ihm  am 
nächsten  steht 

Daher  ist  auch  die  Bewegung  des  Himmels  eine  solche,  die 
in  dieser  Weise  durch  freien  Willen  und  Verlangen  entsteht 
Das  erste  Prinzip  dieser  Bewegung  ist  ein  Verlangen  und  ein 
freier  Willensentschluß,  der  sich  jedoch  so  verhält,  wie  wir  er- 
wähnt haben,  nicht  so,  daß  er  jene  Bewegung  erstrebte  wie  ein 
ursprünglich  erstrebtes  Endziel  Diese  Bewegung  verhält  sich 
so,  als  ob  sie  eine  Huldigung  wäre,  die  die  Sphären  und  die 
Engel  der  Sphären  der  Gottheit  darbringen.  Die  auf  Grund 
eines  Willensentschlusses  entstandene  Bewegung  ist  nicht  so  be- 
schaffen, daß  sie  in  sich  selbst  Endzweck  sein  könnte.  Die  Sache 
verhält  sich  vielmehr  so:  wenn  die  strebende  und  verlangende 
Kraft  auf  irgend  ein  Ding  gerichtet  ist,  dann  strömt  von  ihr 
herab  eine  Einwirkung,  durch  die  die  Glieder  bewegt  werden. 
Manchmal  werden  sie  so  bewegt,  daß  durch  diese  Bewegung  der 
Strebende  zu  seinem  Ziele  gelangt;  manchmal  bewegen  sie  sich 
auch  in  einer  anderen,  ähnlichen  oder  verwandten  Weise.  Dies 
letztere  tritt  ein,  wenn  das  erste  Prinzip  der  Bewegung  eine 
Vorstellung  der  kombinierenden  Phantasie  ist,  sei  es  nun,  daß 
das  Ziel  irgend  ein  Gegenstand  ist,  der  in  Besitz  genommen  wird 
oder  dem  man  nachfolgt,  dem  man  nacheifert  und  etwas,  dem 
man  sich  in  der  Existenz  verähnlicht  Gelangt  nun  der  Genuß, 
der  darin  besteht,  daß  man  den  ersten  Ursprung  des  Seins  in 


Digitized  by 


Googk 


575 

sich  begrifflich  faßt,  und  etwas  von  ihm  denkt  und  erkennt  in 
einer  begrifflichen  oder  phantasiemäßigen  Weise  zu  seiner  höchsten 
Vollendung,  dann  lenkt  dieses  die  Aufmerksamkeit  der  Seele  von 
jedem  anderen  Dinge  und  jeder  anderen  Beschäftigung  ab.  Jedoch 
entsteht  durch  diese  psychische  Tätigkeit  dasjenige,  was  auf 
einer  niedrigeren  Stufe  der  Vollkommenheit  (und  Geistigkeit)  als 
das  Denken  steht,  und  dieses  ist  zuerst  das  Verlangen,  sich  nach 
Maßgabe  der  Möglichkeit  mit  ihm  zu  verähnlichen.  Daraus  er- 
gibt sich  sodann  das  Verlangen,  sich  zu  bewegen.  Man  erstrebt 
dieses  nicht  für  die  Bewegung  selbst,  sondern  in  der  Weise,  wie 
wir  es  auseinandergelegt  haben.  ^)  Dieses  Verlangen,  die  Be- 
wegungen zu  vollziehen,  ist  eine  Folge  jener  Liebe  (der  Geschöpfe 
zu  Gott)  und  der  Empfindung  des  Genusses  und  des  Glückes 
und  ist  ein  Ergebnis  derselben.  Die  Vollendung  aber  geht  ihrer- 
seits aus  dem  Verlangen,  sich  mit  dem  Ersten  zu  verähnlichen, 
hervor.*)  In  dieser  Weise  bewegt  das  erste  Prinzip  des  Seins  den 
Körper  des  Himmels.^) 

Aus  allen  diesen  Darlegungen  und  aus  dem,  was  der  erste 
Lehrer,  Aristoteles,  sagen  wollte,  ist  dir  bereits  klar  geworden, 
daß  der  Himmel  sich  durch  seine  Naturanlage  bewegt,  und  was 
Aristoteles  meinte,  wenn  er  sagt,  der  Himmel  bewege  sich  durch 
die  Seele,*)  oder  was  er  dachte,  wenn  er  sagt,  daß  er  sich  durch 


^)  Dnrch  die  Bewegung  soU  die  Spezies  erhalten  bleiben.  Zudem  ist 
diese  Bewegung  eine  aufsteigende  (bis  zum  Wendekreis  des  Krebses)  und  dann 
eine  absteigende.  Sie  scheint  sich  also  der  Gottheit,  deren  Sitz  nach  orien- 
talischer Auffassung  am  Nordpol,  dem  unbewegten  Punkte  des  Weltalls,  ist, 
zu  nähern,  um  sich  dann  wiederum  von  ihr  zu  entfernen.  Sie  entfernt  sich 
aber  von  der  Gottheit  nur,  um  wiederum  denselbsn  Kreislauf  zu  vollführen, 
d.  h.  sich  wiederum  ihr  zu  nähern. 

*)  Die  Reihenfolge  ist  also  Liebe  —  Verlangen  —  sich  Hinbewegen  — 
Vollendung  in  der  Verähnlichung  mit  Gott. 

•)  Vgl.  Arist.,  Met.  1073  b  3:  8n  6"  hxi  jo  ov  tvsxa  iv  rotq  axiv^rou;, 
i}  öialQeoii  ÖTjXoL  eoti  y&Q  xivi  x6  ov  ^vsxa,  wv  to  fdhv  foxi,  x6  6*  ovx  fori, 
xiveZ  Sh  wg  i(foifjievov,  xivovfxevov  6h  r&XXa  xiveZ  .  .  .  iml  6  i<nl  xi  xivoUv 
avxo  cucinjxov  ov,  ive^yela  Sv,  xoi)xo  ovx  ^vS^x^xai  alXwq  s^siv  ovda^wq, 
ipOQa  yaQ  ri  nQfixTi  xdSv  fiexaßoXwv,  xavxriQ  6h  f)  xvxkip,   xavxriq  6h  xoi^xo  xivst. 

*)  Unter  Himmel  versteht  Avicenna  die  äußerste  Sphäre.  Vgl.  Arist., 
d.  coelo278bl0:  XQix^ßq  Xiyexai  b  ovQavoq,  ?va  /jihv  xQonov  ovquvov  Xkyofisv 
xf^v  ovaiav  njv  x^q  ioxitrjq  xof>  navxoq  lUQupoQÜq,  &U.ov  6"  av  XQonov  xo 
avvexhq  owfxa  xf  iox^xg  neQ^pogä  toC  navxoq,  iv  ^  oeXijvij  xal  fjXtoq  xal 
bvta  xdhf  icxQwv,  txi  d*  alX(oq  Xiyo/i€v  ovQavov  xo  TisQtexofjisvov  aiSfia  vno 
x^q  ioxocxi^q  n€Qi<poQaq,  xo  yoQ  S).ov  xal  xo  näv  eliid-a/jisv  Xiyeiv  ovqavov 


Digitized  by 


Googk 


576 

eine  unendliche  Kraft  bewegt^  die  so  bewegt,  wie  das  Objekt  der 
Liebe  bewegt.  Du  siehst  ferner  ein,  daß  in  diesen  Aussprüchen  des 
Aristoteles  kein  Widerspruch  und  keine  Verschiedenheit  dem  Sinne 
nach  besteht.  Sodann  weißt  du,  daß  die  Substanz  dieses  höchsten 
Gutes,  das  das  höchste  Objekt  der  Liebe  darstellt,  nur  eine  ist, 
und  dieser  erste  Beweger  für  die  ganze  Summe  der  himmlischen 
Körper  kann  nur  einer  sein,  selbst  wenn  jede  einzelne  der 
Himmelssphären  für  sich  noch  einen  nächsten  Beweger  hat,  der 
ihr  eigentümlich  ist,  und  ein  Objekt,  auf  das  sie  sich  wie  auf 
das  Objekt  der  Sehnsucht  richtet,  und  das  ihr  eigentümlich  ist 
in  der  Weise,  wie  es  Aristoteles  und  die  besten  Gelehrten  der 
auf  Aristoteles  folgenden  Schule  der  Peripatetiker  lehrten.  Sie 
leugnen  die  Vielheit  nur  betreffs  des  ersten  Bewegers  des  Welt- 
alls; jedoch  behaupten  sie  eine  Vielheit  für  die  bewegenden 
Prinzipien,  die  unkörperlich  sind,  wie  auch  für  die  körperlichen. 
Diese  Vielheit  kommt  jeder  einzelnen  (Sphäre)  zu.  Als  erstes 
der  unkörperlichen  Prinzipien,  die  jeder  Sphäre  besonders  zu- 
kommen, bezeichnen  sie  den  Beweger  der  ersten  Sphäre.  Diese 
erste  Sphäre  ist  für  diejenigen,  die  dem  Ptolemäus  vorausgehen, 
die  Sphäre  der  Fixsterne.  Für  diejenigen  aber,  die  die  Wissen- 
schaften erlernt  haben,  die  durch  Ptolemäus  entstanden  sind,  ist 
es  eine  Sphäre,  die  weiter  zurück  liegt,  wie  diese  und  die 
Fixstemsphäre  umgibt  Sie  ist  nicht  mit  Sternen  besät  Auf 
diesen  ersten  Beweger  folgt  der  Beweger  derjenigen  Sphäre,  die 
sich  an  die  erste  anschließt  nach  der  Verschiedenheit  der  beiden 
Ansichten  (der  Schule  vor  und  nach  Ptolemäus)  und  so  geht  die 
Eeihe  der  bewegenden  Prinzipien  fort 

Jene  Philosophen  sind  der  Ansicht,  der  Beweger  des  ganzen 
Weltalls  sei  ein  einziges  Prinzip.  Jeder  einzelnen  Sphäre  des 
Himmels  eignet  sodann  ein  besonderer  Beweger.  Der  erste  Lehrer, 
Aristoteles,  bezeichnet  die  Zahl  der  Sphären,  die  sich  bewegen, 
nach  dem  Maße  des  Wissens,   das  zu  seiner  Zeit  bekannt  war. 

und  ib.  285  a  29:  o  f  ovQavog  ^fitiwxog  xal  l/et  xivt^cbox:  dgx'P'',  dara  Phys. 
254  b  17:  xiveltai  yuQ  xo  t,dk)v  aird  v(p*  avTov,  So(ov  d*  ij  apx'J  ^»^  cvrotC 
itjg  xinjOBwg,  xafrta  tpvoei  ^afikv  xiveio^ai,  de  coelo  288  a  34:  lo  fjihv  ya^ 
xivovfjisvov  (i  Ti^äfzog  o^gavog)  S^Setxtai  Sxi  n^&xov  xal  iaiXoi^  xal  äyinjtov 
xal  iif^oQxov  xal  oXmg  afjtexdßktjxov,  x6  6h  xivovv  nokv  (ia)Jkov  6i?.oyoy 
eivai  xoLO^xov.  Thomas,  Som.  th.  I  70,3  c:  Sic  i^tnr  patet,  qaod  corpora 
coelestia  non  sunt  animata  eo  modo  quo  plantae  et  animalia,  sed  aequivoce, 
b.  e.  corpora  coelestia  moventor  ab  aliqna  substantia  apprehendente  et  hob 
solum  a  uatura  sicut  graria  et  leyia. 


Digitized  by 


Googk 


577 

Er  folgt  in  diesen  Angaben  betreffs  der  Zahl  der  Sphären  der 
Zahl  der  unkörperlichen  Prinzipien  der  Bewegung.  Ein  anderer, 
der  mehr  und  lauter  in  dieser  Sache  reden  will,  ein  Schüler  von 
ihm,  lehrt  berichtigend  in  seiner  Abhandlung  „Über  die  Prin- 
zipien des  Weltalls",  daß  der  Beweger  des  Ganzen,  des  Himmels 
nur  Einer  sei;  er  könne  keine  Vielheit  von  Prinzipien  darstellen, 
selbst  wenn  jede  Sphäre  einen  besonderen  Beweger  und  ein  be- 
sonderes Objekt  der  Sehnsucht  und  ein  besonderes  seelisches 
Prinzip  habe,  das  sich  durch  Verlangen  nach  dem  Ersten  be- 
wege.*) Derjenige  aber,  der  von  den  Büchern  des  Aristoteles 
eine  gute  Erklärung  gegeben  hat  (Themistius),  indem  er  den 
Inhalt  derselben  kurz  darlegte,  selbst  wenn  er  auch  nicht  in  die 
Tiefe  der  Gedanken  eindringt  (indem  er  den  Aristoteles  nicht 
in  neuplatonischem  Sinne  auslegt),  lehrt  und  sagt:  „was  bedeutet 
das,  daß  es  das  Wahrscheinlichste  und  das  Wahrste  sein  soll, 
daß  ein  Prinzip  der  besonderen  Bewegung  für  jede  Himmels- 
sphäre existiere  in  der  Weise,  daß  in  diesem  Prinzipe  die  erste 
Ursache  der  besonderen  Bewegung  (jeder  einzelnen  Sphäre)  ent- 
halten sei,  und  das  dieses  Prinzip  so  bewege,  wie  ein  unkörper- 
lieh  für  sich  existierendes  Objekt  der  Liebe?" 

Diese  beiden  alten  Philosophen  stehen  von  den  Schülern 
des  Aristoteles  dem  Meister  am  nächsten  auf  dem  ebenen  Wege 
(d.  h.  in  der  Klarheit  der  Gedanken).  Die  Demonstration  beweist 
sodann  eben  dieselbe  Lehre.  Durch  die  Wissenschaft  (wörtlich: 
die  Kunst)  des  Almagest  ist  uns  bereits  klar  geworden,  daß  die 
Bewegungen  und  Sphären  des  Himmels  viele  und  verschieden- 
artige sind  und  daß  sie  sich  unterscheiden  nach  der  Richtung 
und  nach  der  Schnelligkeit  oder  Langsamkeit  der  Bewegung. 
Für  eine  jede  einzelne  Bewegung  ist  ein  besonderer  Beweger 
erforderlich,  der  verschieden  ist  von  dem  der  anderen  Sphäre, 
und  ebenso  ein  besonderes  seelisches  Prinzip,  das  sich  durch 
Verlangen  bewegt  (oder  Objekt  des  Verlangens  ist)  und  das  ver- 
schieden ist  von  demjenigen,  das  die  anderen  Sphären  besitzen; 
sonst  könnten  weder  die  Richtungen  der  Bewegungen,  noch  auch 
die  Schnelligkeit  und  Langsamkeit  derselben  verschieden  sein. 

So  haben  wir  nun  klargestellt,  daß  diese  durch  Sehnsucht 
erstrebten  Objekte  reine  Güter  sind.  Sie  bestehen  getrennt  von 
der    Materie   für  sich.    Wenn   nun  die  Bewegungen   und  die 


>)  Alexander  von  Aphrodisias  (Ausg.  Hayduck  1891)  lOß,  33  bis  707. 

Horton,  Dm  Buch  der  GcoMong  dn  Betle.  37 


Digitized  by 


Google 


578 

Himmelssphären  alle  in  dem  Verlangen  nach  dem  ersten  Ursprünge 
übereinstimmen,  so  kommen  sie  als  Folge  dieses  gemeinsamen 
Verlangens  auch  darin  überein,  daß  die  Bewegung  und  die  kreis- 
förmige Art  der  Bewegung  allen  gemeinsam  ist.  Dieses  wollen 
wir  noch  weiter  darlegen. 


Fünftes  Kapitel. 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  Tätigkeiten  von  den  Prinzipien  der  himm- 
lischen Welt  ausgehen,  damit  du  daraus  erkennst,  was  betreffs  der 
unkörperlichen  Prinzipien,  die  in  sich  selbst  geistiger  Natur  sind,  und 
von  den  Objekten  der  Sehnsucht  jeder  wissen  muB. 

So  wollen  wir  also  diese  Darstellungen  von  einem  anderen 
Prinzipe  aus  einleiten  und  ausführen.  Wir  lehren  deshalb:  Eine 
große  Schule  der  Philosophen  hörte  in  oberflächlicher  Weise  die 
Ausdrucksweise  des  vorzüglichsten  der  alten  Philosophen,  die 
besagt:  die  Verschiedenheit  in  diesen  Bewegungen  und  Richtungen 
der  Himmelssphären  kann  durch  die  göttliche  Vorsehung  für  die 
entstehenden  und  vergehenden  Dinge,  die  unter  der  Sphäre  des 
Mondes  sind,  hervorgerufen  werden.  Zu  gleicher  Zeit  hörten 
jene  selben  Philosophen  und  wußten  durch  die  Deduktion,  daß 
die  Bewegungen  der  himmlischen  Körper  nicht  auf  etwas  anderes 
gerichtet  sein  können,  als  auf  ihr  eigenes  Wesen,  wie  auf  einen 
Endzweck,  und  daß  sie  ebensowenig  auf  das  von  ihnen  Ver- 
ursachte*) wie  auf  ein  letztes  Ziel  hingeordnet  sind.  Als  jene 
Philosophen  diese  beiden  Ansichten  vernommen  hatten,  wollten 
sie  zwischen  ihnen  eine  Harmonie  herstellen  und  so  lehrten  sie: 
die  Bewegung  selbst  ist  nicht  wie  auf  ein  Endziel  auf  das  ge- 
richtet, was  sich  unter  der  Sphäre  des  Mondes  befindet.  Sie  ist 
vielmehr  darauf  gerichtet,  sich  mit  dem  reinen  Gute  zu  ver- 
einigen und  nach  ihm  zu  streben.  Die  Verschiedenheit  der  Be- 
wegungen ist  deshalb  (von  der  göttlichen  Vorsehung)  angeordnet, 
damit  dasjenige  eine  Verschiedenheit  in  sich  habe,   was  von 


^)  Die  Wirkung  kann  nicht  Ziel  der  Ursache  sein,   weil  sie  unvoU- 
konuuener  ist,  als  ihre  Ursache. 


Digitized  by 


Googk 


57Ö 

jeder  einzelnen  Sphäre  innerhalb  der  Welt  des  Entstehens  und 
Vergehens  verursacht  wird.  Durch  diese  Verschiedenheit  ist 
der  Bestand  der  Arten  (bestimmt  und)  geordnet  Ebenso  handelt 
ein  edel  denkender  Mensch.  Will  er,  um  irgend  etwas  zu  er- 
reichen, einen  Weg  zu  einem  bestimmten  Orte  einschlagen,  und 
bieten  sich  ihm  nun  zwei  Wege  dar  —  der  eine  führt  ihn  zu 
dem  bestimmten  Orte  hin,  an  dem  er  seinen  Wunsch  vollenden 
kann;  der  andere  Weg  führt  ebenso  dorthin,  jedoch  gibt  er  noch 
das  weitere,  daß  er  einem  anderen  ebenfalls  Nutzen  verleiht  — 
so  ist  es  für  einen  vernünftigen  und  edelgesinnten  Menschen  selbst- 
verständlich, daß  er  den  zweiten  Weg  wandelt^  selbst  wenn  seine 
Bewegung  nicht  auf  den  Nutzen  eines  andern  wie  auf  ein  Ziel 
gerichtet  ist,  sondern  sich  vielmehr  auf  ihn  selbst  (seinen  eigenen 
Nutzen)  bezieht  So,  lehrten  jene  Philosophen,  ist  auch  das  Ver- 
hältnis der  Bewegung  jeder  Himmelssphäre.  Sie  ist  dazu  be- 
stimmt, daß  sie  ihre  Sphäre  ewig  in  ihrem  Bestände  in  der 
vollkommensten  Vollendung  erhalte.  Daß  jedoch  diese  Be- 
wegung zu  dieser  bestimmten  Richtung  hin  sich  bewege  und  mit 
dieser  bestimmten  Schnelligkeit  sich  vollziehe,  geschieht^  damit 
ein  anderer  davon  (die  sublunarische  Welt)  Nutzen  habe. 

Das  erste,  was  wir  diesen  Philosophen  erwidern,  ist:  nehmen 
wir  an,  die  himmlischen  Körper  könnten  in  ihren  Bewegungen 
ii^end  einen  bestimmten  Zweck  verfolgen,  d.  h.  irgend  einen 
Zweck,  der  sich  auf  das  von  ihnen  verursachte  (also  das  Un- 
vollkonunenere)  erstreckt,  und  dieser  Zweck  zeigte  sich  in  der 
Wahl  der  bestimmten  Richtung  der  Bewegung.  Dann  kann 
freilich  diese  individuelle  Bewegung  entstehen  und  (diese  be- 
stimmte  Richtung)  kann  der  Bewegung  selbst  zukommen.  Da- 
g^egen  aber  könnte  man  den  Einwand  erheben:  die  Ruhe  gibt 
der  Bewegung  die  Vollendung  einer  Vollkommenheit,  die  ihr 
zukommt*)  So  ist  es  allgemeine  Lehre:  die  Bewegung  (der 
Sphäre)  schadet  aber  ihrer  höchsten  Vollendung  nicht  Dabei 
nützt  sie  einem  anderen.  Zugleich  ist  weder  das  eine  noch  das 
andere  (d.  h.  die  eine  oder  die  andere,  entgegengesetzte  Richtung 
einzuschlagen)  leichter  oder  schwerer  für  die  Sphäre  und  daher 
mräblte  die  Seele  derselben  dasjenige,  was  zugleich  auch  einem 


>)  An  dem  Orte  der  Buhe  ist  der  EOrper  in  seiner  natürlichen  VoUendung. 
Dieses  Prinzip  scheint  auf  die  kreisförmige  Bewegung  nicht  anwendbar  zu 
sein;  jedoch  steht  es  ebensowenig  mit  ihr  in  Widerspruch. 

37* 


Digitized  by 


Google 


580 

anderen  nützt.  Der  Lehre:  die  Bewegung  der  Sphäre  sei  ge- 
richtet auf  den  Nutzen  eines  anderen,  widerstreitet  der  Grand, 
daß  es  unmöglich  ist,  die  Sphäre  erstrebe  aktuell  ihre  Tätigkeit 
für  den  Nutzen  eines  anderen  als  ihre  Zweckursache,  wenn 
dieser  andere  das  von  ihr  Verursachte  (also  das  Unvoll- 
kommenere) ist  (Wenn  man  diesen  Grund  nun  geltend  macht 
gegen  die  Bewegung  der  Sphäre  zwecks  der  sublunarischen 
Dinge,)  dann  gilt  derselbe  in  ebenso  realer  Weise  für  das 
Streben,  das  diese  bestimmte  Richtung  der  Bewegung  wählt 
Wenn  nun  dieser  Grund  auch  nicht  hindert,  daß  jene  bestimmte 
Richtung  gewählt  wird,  dann  hindert  er  auch  nicht,  daß  diese 
Bewegung  erstrebt  (und  vollzogen)  wird.^  Ebenso  verhält  sich 
die  Sachlage  bei  dem  Streben  (der  Sphäre)  nach  der  Schnellig- 
keit und  Langsamkeit  der  Bewegung.  Diese  Bestimmung^ 
verhalten  sich  nicht  wie  die  Rangstufe  der  Kraft  oder  Schwäche 
für  die  Bewegung,  die  in  den  Himmeln  vorhanden  ist,  mim 
sich  die  eine  Sphäre  zu  der  anderen  verhält  nach  H5he  and 
Tiefe  (Über-  oder  Unterordnung);  dann  müßte  man  dadurch  die 
Verschiedenheit  erklären.  Dies  (die  Schnelligkeit  und  Lang- 
samkeit) ist  vielmehr  (Cod.  c:  in  sich  selbst)  verschieden. 

Daher  lehren  wir  kurz:  in  den  Sphären  kann  nichts  (als 
bewegendes  oder  bewegtes  Prinzip  wirksam  sein),  das  gerichtet 
ist  auf  die  entstehenden  Dinge  als  sein  Ziel,  weder  das  Strd)€n 
nach  irgend  einer  Bewegung,  noch  auch  das  Streben  zu  irgend 
einer  Richtung  der  Bewegung,  noch  auch  die  Bestimmung  da* 
Schnelligkeit  und  Langsamkeit  derselben.  Auf  diese  subluna- 
rischen Dinge  ist  vielmehr  die  Zielstrebigkeit  keiner  einzigöi 
Handlung  der  Sphären  gerichtet  Der  Grund  dafür  ist  der,  daß 
jede  Zielstrebigkeit  in  dieser  Annahme  auf  das  erstrebte  Objekt 
(die  Wirkung)  gerichtet  sein  müßte.  Diese  Zielstrebigkeit  würde 
dann  geringer  und  unvollkommener  sein  als  das  Erstrebte;  denn 
jedes  Ziel,  auf  das  sich  irgend  ein  Ding  richtet,  ist  im  Sein 
vollkommener  als  dieses  andere,  insofern  es  Ziel  ist,  und  insofern 
der  andere  sich  auf  dieses  Ziel  hinordnet^)  Durch  dieses  Zid 
wird  vielmehr  jener  andere  im  Sein  vervollkommnet  und  es  ist 
das  Motiv,  das  jenen  anderen  antreibt,  zum  Ziel  zu  streben. 


1)  Avicenna  wirft  seinen  Gegnern  Mangel  an  Konsequenz  Tor.    Wenn 
sie  das  eine  zugeben,  dürfen  sie  das  andere  nicht  leugnen. 

^)  Wörtlich:  „insofern  dieses  und  der  andere  aidi  so  verhalten". 


Digitized  by 


Googk 


581 

Nun  aber  ist  es  unmöglich,  daß  das  vollkommenere  Sein  her- 
genommen sei  von  einem  weniger  vollkommenen.  Daher  ist  also 
durchaus  keine  (eigentliche  und)  wahre  Zielstrebigkeit  auf  eine 
Wirkung  gerichtet  Ein  solches  Ziel  kann  nur  Scheinziel  sein; 
sonst  müßte  das  Ziel  das  Sein  verleihen  und  mitteilen  dem- 
jenigen, das  im  Sein  vollkommener  wäre  als  das  Ziel  selbst 
In  Wirklichkeit  erstrebt  also  der  ein  Ziel  verfolgende  durch 
die  notwendige  Handlung,  nur  etwas,  für  das  der  finis  (inter- 
medius)  die  Materie  disponiert  Derjenige,  der  nun  aber  die 
Existenz  (der  erstrebten  VollkommeiÄeit)  verleiht,  ist  etwas 
anderes  (das  in  sich  vollkommener  sein  muß,  als  die  Wirkung). 
Ebenso  verhält  sich  der  Arzt  zur  Gesundheit.  Der  Arzt  verleiht 
nicht  die  Gesundheit,»)  sondern  er  disponiert  nur  für  dieselbe 
die  Materie  und  die  Organe.  Die  Gesundheit  verleiht  ein  höheres 
Prinzip  als  der  Arzt,  und  dieses  ist  jenes  Prinzip,  das  der  Materie 
alle  ihre  Wesensform  verleiht  Sein  Wesen  ist  edler  als  die 
Materie.^) 

*)  Die  Gesundheit  ist  als  etwas  VoUkommeneres  aufzufassen  als  die 
Tätigkeit  des  Arztes. 

^  Thomas  zitiert  an  mehreren  Stellen  diese  Lehre  Avicennas,  um  sie 
zu  verwerfen.  Sum.  theol.  I,  45  art.  8  c:  Alii  vero  posuerunt  formas  dari  vel 
cansari  ab  agente  separato  per  modum  creationis;  et  secundum  hoc  cuilibet 
Operation!  naturae  adiungitur  creatio.  Sed  hoc  accidit  eis  ex  ignorantia 
formae.  Non  enim  considerabant  quod  forma  naturalis  corporis  non  est 
gubsistens,  sed  quo  aliquid  est.  Et  ideo,  cum  fieri  et  creari  non  conveniat 
proprie  nisi  rei  subsistenti,  formarum  non  est  fieri  neque  creari,  sed  con- 
creatas  esse. 

Ibid.  65  art.  4c:  Avlcenna  vero  et  quidam  aUi  non  posuerunt  formas 
rerum  corporalium  in  materia  per  se  subsistere,  sed  solum  in  inteUectu.  A 
fonnis  ergo  in  inteUectu  creaturarum  spiritualium  existentibus,  quas  quidam 
in  teiligen  tias,  nos  autem  angelos  äicimus,  dicebant  procedere  omnes  formas, 
qnae  sunt  in  materia  corporaU,  sicut  a  fonnis,  quae  sunt  in  mente  artificis, 
procedunt  formae  artificiatorum. 

Ibid.  1  art.  2  c:  Posuerunt  siquidem  aliqui  formas  quae  sunt  in  materia 
corporali  a  quibusdam  fonnis  immaterialibus  derivari. 

Ibid.  110  art.  2  c:  Bespondeo  dicendum,  quod  Platonid  posuerunt,  formas 
quae  sunt  in  materia,  causari  ex  immaterialibus  formis,  quia  formas  materiales 
ponebant  esse  participationes  quasdam  immaterialium  formarum.  Et  hos  quan- 
tnm  ad  aliquid  secutus  est  Avicenna,  qui  posuit  omnes  formas,  quae  sunt  in 
materia,  procedere  a  conceptione  intelligentiae,  et  quod  agentia  corporaüa 
sunt  solum  disponentia  ad  formas. 

Ibid.  I— n,  63  art.  1  c:  Alii  vero  dixerunt,  quod  (sdentiae  et  virtutes) 
sunt  totaliter  ab  extrinseco,  id  est  ex  influentia  intelligentiae  agentis,  ut 
ponit  Avicenna. 


Digitized  by 


Google 


582 

Manchmal  verfehlt  der  nach  einem  Ziele  strebende  sein  Ziel 
(und  irrt  sich  in  demselben)  in  einem  bestimmten  Augenblicke,  ^) 
wenn  er  etwas  erstrebt,  was  nicht  edler  ist  als  das  Streben  zum 
Ziele.  Dann  ist  also  die  Zielstrebigkeit  nicht  auf  dieses  Ding 
ihrer  Natur  entsprechend  gerichtet.  Sie  richtet  sich  vielmehr 
auf  dasselbe  nur  irrtümlicherweise. 

Weil  nun  diese  Darlegung  der  langen  Ausführung  und  der 
Bestätigung  bedarf,  und  weil  in  derselben  viele  Zweifel  vorhanden 
sind,  die  nur  durch  eingehende  Untersuchung  gelöst  werden 
können,  so  wollen  wir  jetzt  auf  den  klaren  Weg  zurückkehren 
und  lehren  daher:  jede  Zielstrebigkeit  hat  ein  bestimmtes  Ziel 
und  ist  verschiedenartig.  Die  geistige  Zielstrebigkeit  ist  die- 
jenige, in  der  das  Erreichen  2)  des  Zieles  durch  den  nach  dem 
Ziele  Strebenden  für  den  Strebenden  vorzüglicher  ist,  als  daß 
er  jenes  Ziel  nicht  erreiche  (wörtlich :  als  daß  es  nicht  existiere). 
Sonst  ist  jener,  der  nach  dem  Ziele  strebt,  einer,  der  nichtig  und 
ohne  Grund  handelt  Das  Ding  aber,  das  vorzüglicher  ist  wie 
ein  anderes,  verleiht  jenem  irgend  eine  Vollkommenheit  Wenn 
jenes  Ding  (das  Ziel)  nun  in  der  Wirklichkeit  und  im  eigent- 


Ibid.  n,  distinct.  1,  q.  1.  4  art.  4  m:  qnasi  ad  hanc  opinionem  redudtor 
opinio  Avicennae,  „De  flnxu  entis"  (über  die  Emanation)  cap.  IV.  qoi  dicit 
quod  omnes  formae  sunt  ab  intelligentia,  et  agens  naturale  non  est  nisi 
praeparans  materiam  ad  receptionem  formae. 

Ibid.  in  d.,  33,  q.  1  art.  2  c  solutio  11:  Ad  secundam  qnaestionem  dicen- 
dum  est,  quod  quidam  philosophi,  quos  sequitur  Avicenna,  posuerunt  omnes 
formas  esse  a  datore,  et  quod  agens  naturale  non  facit  nisi  dispositionem  ad 
formas  illas  et  similiter  etiam  dicit  Ayicenna,  quod  scientia  et  virtus  sunt  a 
datore,  et  per  Studium  et  exercitium  disponitur  anima  ad  recipiendum  in- 
fluxum  dictorum  babituum. 

Ibid.,  contra  Gent.  EQ,  69  init.  Et  propter  boc  Plato  posuit  species 
rerum  sensibilium  esse  quasdam  formas  separatas,  quae  sunt  cansae  essendi 
bis  sensibilibus,  secundum  quod  eas  participant.  Avicenna  vero  Metaph. 
tract.  IX.  c.  rv  und  V,  posuit  omnes  formas  substantiales  ab  intelligentia 
agente  effluere ;  accidentales  autem  formas  esse  ponebat  materiae  dispositiones, 
quae  ex  actione  inferiorum  agentium  materiam  disponentium  proveniebant, 
in  quo  a  priore  stultitia  (die  platonischen  Ideen)  declinabat. 

Thom.  d.  potentia  q.  3  art.  8  c :  hoc  est  agens  supematurale,  quod  Plato 
posuit  datorem  formarum.  Et  hoc  Avicenna  dixit  esse  intelligentiam  ultimam 
(Geist  der  Mondsphäre)  inter  substantias  separatas. 

^)  Weil  dies  eine  Abnormität  bedeutet  kann  sie  nicht  als  Regel,  sondern 
nur  in  einzelnen  Fällen  eintreten.    Wörtlich:  ,,jetzt". 

*)  Wörtlich:  „die  reale  Existenz  des  Zieles". 


Digitized  by 


Googk 


583 

liehen  Sinne  existiert,  dann  verleiht  es  ihm  eine  wahre  nnd 
eigentliche  Vollkommenheit;  existiert  jenes  aber  nur  in  der 
Vorstellung  oder  im  Scheine,  dann  verleiht  es  eine  nur  schein- 
bare Vollkommenheit.  So  verhält  sich  der  Anspruch  auf  Lob, 
das  Zeigen  der  eigenen  Kraft  und  das  bleibende  Andenken  an 
edle  Taten.  Alles  dieses  und  ähnliche  Dinge  sind  nur  schein- 
bare Vollkommenheiten  und  Ziele.  So  verhält  sich  femer  der 
Gewinn,  das  Wohlsein,  das  Wohlgefallen  Gottes  und  das  Glück 
im  anderen  Leben.  Diese  und  ähnliche  Dinge  sind  wahrhafte 
Vollkommenheiten,  die  nicht  durch  den  nach  dem  Ziel  strebenden 
allein  vollendet  werden  (d.  h.  sie  sind  nicht  nur  nach  subjektiver 
Schätzung  wertvoll). 

Daher  ist  also  keine  Zielstrebigkeit  zwecklos;  denn  sie 
verleiht  dem  nach  dem  Ziele  Strebenden  irgend  eine  Vollkommen- 
heit Wenn  derselbe  diese  Vollkommenheit  nicht  erstrebte,  dann 
wurde  sie  nicht  tatsächlich  eintreten.  Die  zwecklose  Handlung 
kann  sich  eventuell  ebenso  verhalten.  In  ihr  ist  auch  eine 
gewisse  Lust  und  ein  Ausruhen  nach  der  Handlung  vorhanden 
oder  ähnliche  Dinge  oder  etwas,  das  man  vorher  erkannt  hat, 
oder  ein  Ding,  das  als  Ziel  von  Handlungen  dargelegt  wurde. 
Es  ist  daher  unmöglich,  daß  die  Wirkung,  deren  Existenz  durch 
die  Ursache  in  ihrer  Vollkommenheit  hergestellt  wurde,  der 
Ursache  selbst  wiederum  eine  Vollkommenheit  verleihe,  die  ihr 
früher  nicht  zukam;  denn  diejenigen  Kategorien  des  Seins,  in 
denen  man  vermutet,  die  Wirkung  verleihe  der  Ursache  irgend 
eine  Existenz,  sind  nur  trügerisch  aufgestellte  Kategorieen  oder 
falsch  gedeutete  Gegenstände.  Dieses  wird  jedem  klar,  der  alles 
in  seinem  Wissen  umfaßt,  was  bereits  in  den  früheren  Büchern 
dai^elegt  wurde,  und  wenn  er  nicht  abläßt,  dieses  zu  betrachten 
und  die  Schwierigkeiten  zu  lösen. 

Man  könnte  dagegen  erwidern:  die  gute  Natur  (des  Ob- 
jektes) 0  verleiht  (dem  Strebenden)  jene  Vollkommenheit;  denn 
die  gute  Natur  verleiht  (einem  anderen)  das  Gute.  Man  sagt: 
der  Gute  verleiht  das  Gute;  jedoch  verleiht  er  dieses  nicht,  wie 
etwas,  das  er  als  Ziel  erstrebt  oder  sucht,  damit  jenes  erreicht 
werde.*)   Denn  dieses  Streben  setzt  einen  Mangel  im  Strebenden 


*)  Die  Wirkung  als  ens  ist  weniger  reich  als  der  Strebende,  aber  als 
bonom  könnte  sie  vieUeicht  dem  Strebenden  eine  VoUkommenbeit  verleihen. 
')  Cod.  c  GL:  „d.  h.  damit  es  existiere"".    Bonom  est  diffasivom  soi. 


Digitized  by 


Google 


584 

voraus, 0  und  jedes  Verlangen  und  jede  Zielstrebigkeit,  die  auf 
einen  Gegenstand  gerichtet  ist^  ist  ein  Verlangen,  das  auf  etwas 
noch  nicht  Existierendes  tendiert  Dieses  soll  die  Existenz  von 
demjenigen  empfangen,  der  nach  dem  Ziele  strebt  Der  erstrebte 
Gegenstand  verhält  sich  so,  daß  seine  Existenz  vorzüglicher  und 
wünschenswerter  ist  als  seine  Nichtexistenz.  So  lange  aber 
dieser  G^enstand  nicht  existiert,  ist  dasjenige  noch  nicht  aktuell 
vorhanden,  was  vorzüglicher  und  wünschenswerter  ist  Dies 
aber  schließt  einen  Mangel  in  sich  ein.  Zwei  Fälle  sind  hier 
zu  berücksichtigen.  Die  Natur  des  Guten  ist  entweder  wahr 
und  real  existierend  auch  ohne  diese  Zielstrebigkeit  Dann 
bildet  jenes  reale  Streben  keinen  inneren  Teil  dieses  Guten  (des 
Zieles)  damit  es  existiere,  und  es  ist  also  gleichgültig,  ob  diese 
Zielstrebigkeit  sich  auf  jenes  Gute  richte  und  (in  intentione) 
von  ihr  ausgehe  oder  nicht  ^)  Dann  also  ist  es  nicht  diese  gute 
Natur  (des  Zieles),  die  das  Streben  zum  Ziele  (ihretwegen)  her- 
vorruft*) und  ebensowenig  sind  es  die  übrigen,  notwendigen 
Bestimmungen  der  Natur  des  Guten,  die  dem  Ziele  per  se  infolge 
eines  Strebens  anhaften.  Es  wäre  dies  das  Sti'eben  nach  jenon 
(durch  die  Bestimmungen)  determinierten  Zustande  des  Guten. 
Der  andere  Fall  besagt  (das  Ziel  sei  nicht  ein  wahres,  eigent- 
liches, sondern  nur  ein  subjektives  Gut  und)  es  verhalte  sich  so, 
daß  durch  diese  Zielstrebigkeit  die  Natur  des  Guten  selbst  nod 
vollendet  wird  und  ihren  Bestand  erhält  (Es  ist  dann  also  nur 
für  dieses  Streben,  also  nur  relativ  ein  Gut)  Dann  ist  diese 
Zielstrebigkeit  Ursache  für  die  Vollendung  jener  Natur  des 
Guten  und  ihren  Bestand;  sie  ist  nicht  eine  Wirkung  derselben. 
Dagegen  könnte  man  die  Schwierigkeit  erheben,  daß  j«ies 
(Streben  sich  vollzieht)  durch  das  Sichverähnlichen  mit  der 
ersten  Ursache,  indem  dadurch  die  Natur  des  Guten  sich  (not- 
wendigerweise) einem  anderen  mitteilt,  und  daß  sie  darin  bestdie, 
daß  ihr  irgend  ein  Gut  (das  eigentliche  Ziel)  folgt*)  Darauf 
antworten  wir,  daß  diese  Lehre  für  die  oberflächliche  Betradi- 
tung  annehmbar  ist,  jedoch  muß  sie  in  ihrer  eigentlichen  Be- 


*)  Wörtlich:  „verursacht  in  ihm  und  behauptet  von  ihm  die  MÄngel*. 

*)  Dieses  Ziel  ist  in  sich  selbst,  nicht  nur  relativ  ein  Gut. 

•)  Pttr  dieses  Ziel  selbst,  das  ein  avtaQxsq  ist,  ist  das  Streben  ctb 
Ziele  von  selten  eines  anderen  gleichgtlltig. 

*)  In  diesem  Falle  kann  das  in  sich  weniger  Vollkommene  zum  Ziele 
werden. 


Digitized  by 


Googl( 


585 

deutung  zurückgewiesen  werden;  denn  das  Sich  verähnlichen 
mit  dem  ersten  Sein  besteht  darin,  daß  der  Handelnde  kein  ihm 
äußeres  Ding  erstrebt  und  daß  er  sich  vielmehr  abschließt,  um 
für  sich  allein  zu  sein.  (Denn  der  Handelnde  richtet  sein 
Streben  nicht  nach  außen,  sondern  nach  innen,  auf  sich  selbst.) 
So  liegt  das  Verhältnis  (der  Sphaerengeister  zu  Gott).  Darüber 
besteht  vollkommene  Übereinstimmung  bei  allen  Philosophen. 
Der  Umstand  aber,  daß  der  Handelnde  durch  seine  Zielstrebig- 
keit irgend  eine  Vollkommenheit  in  sich  aufnimmt,  ist  etwas 
durchaus  Verschiedenes  von  dem  Sichverähnlichen  mit  dem 
ersten  Seienden. ^)  Wahrlich,  sonst  müßte  man  sagen:  das  ur- 
sprüngliche Ziel  sei  ein  selbständiges  Ding  für  sich;  es  sei  dieses 
aber  erst  in  zweiter^)  Linie  (wörtlich:  in  zweiter  Absicht)  und 
gelte  nur  in  einer  Art  und  Weise,  die  auf  eine  andere  erst  folgt; 
(es  wäre  ein  Ziel  und  ein  bonum  nur  per  consequens  und  per 
reductionen). 

Für  die  Wahl  der  bestimmten  Richtung  der  Bewegung 
der  Sphäre  ist  es  also  auch  erforderlich,  daß  dasjenige,  was  in 
ursprünglicher  Weise  erstrebt  wird,  irgend  ein  bestimmtes  Ding 
sei  Der  erwähnte  Nutzen  (der  Himmelsbewegungen  für  die 
snblunarische  Welt)  ist  aber  eine  Folgeerscheinung  und  etwas, 
was  erst  in  zweiter  Linie  erstrebt  ist  im  Verhältnis  zu  jenem 
ersten  Ziele.  Daher  ist  also  die  bestimmte  Richtung  (der 
Himmelsbewegung),  die  auf  etwas  Gutes  gerichtet  ist  (das  Wohl 
der  Geschöpfe),  nicht  in  erster  Linie  und  per  se  erstrebt  auf 
Grund  dessen,  was  (als  Wirkung)  aus  ihr  folgt  (das  Wohl  der 
sublunarischen  Welt).»)  Es  muß  vielmehr  in  der  himmlischen 
Welt  eine  Vollkommenheit  bestehen,  die  im  Wesen  des  Dinges 
selbst  begründet  ist  und  die  auf  den  erwähnten  Nutzen  erst 
folgte)    Dadurch  erst  wird  dann  das  Sichverähnlichen  mit  dem 


*)  Das  Sichverähnlichen  ist  ein  rein  innerlicher  Prozeß,  der  weder  das 
Streben  nach  außen  noch  das  Empfangen  von  anßen  in  sich  begreift. 

')  Ziel  in  erster  Linie  wäre  dann  das  Empfangen  des  Guten,  Ziel  in 
zweiter  Linie  die  Substanz  des  Guten  in  sich. 

*)  In  diesem  Falle  wäre  das  Ziel  unvollkommener  als  die  media,  die 
himmlischen  Substanzen. 

*)  Dadurch,  daß  die  sublunarische  Welt  sich  im  Zustande  der  Ordnung 
befindet,  muß  also  für  die  himmlische  Welt  eine  Vollkommenheit  erreicht 
und  das  Sichverähnlichen  der  Sphärengeister  mit  Gott  leichter  herbeigeführt 
werden.  Das  Wohlsein  der  niederen  Welt  kann  also  nur  Medium  zur  Er- 
reichung eines  höheren  Zweckes  sein. 


Digitized  by 


Googk 


586 

ei-sten  Sein  vollzogen.  Wir  leugnen  also  nicht,  daß  die  Be- 
wegung selbst  in  vorzüglicher  Weise  und  erster  Linie  Ziel  sein 
kann.  Sie  kann  Ziel  sein,  weil  sie  ein  Sichverähnlichen^  mit 
dem  ersten  Seienden  bedeutet  in  der  Weise,  wie  wir  es  dar- 
gelegt haben.  Die  Bewegung  ist  femer  ein  Sichverähnlichen, 
das  in  zweiter  Linie  erstrebt  wird,  insofern  von  dem  ersten 
Seienden  die  Existenz  ausströmt^)  Dieses  erfolgt  jedoch,  nach- 
dem (in  erster  Linie)  das  vornehmste  Ziel  etwas  anderes  darstellt, 
das  auf  eine  höhere  Welt  gerichtet  ist  (und  die  Ordnung  des 
Ganzen,  nicht  den  Vorteil  eines  einzelnen  Individuum  intendiert). 
Was  nun  aber  die  Richtung  und  die  Beziehung  auf  die 
niedere  Welt  (wörtlich:  die  Rücksicht)  angeht  (d.  h.  den  Vortdl 
der  irdischen  Geschöpfe),  so  ist  folgendes  zu  sagen:  wenn  die 
ursprüngliche  Zielstrebigkeit  auf  die  Richtung  der  Bewegung 
hingehen  könnte,  so  daß  also  dieses  Ziel  zum  Sichverähnlichen 
mit  dem  ersten  Seienden  erst  in  zweiter  Linie  würde  und  ans 
dem  ersten  Ziele  resultierte,^)  dann  könnte  dieses  Ziel  gegeben 
sein  in  der  freien  Wahl  der  Bewegung  (die  eine  bestimmte 
Richtung  wählt,  weil  gerade  diese  Richtung  zum  Wohle  der 
Geschöpfe  gereicht).  Dann  wäre  die  Bewegung  auf  dasjenige 
gerichtet,  was  sich  notwendig  ergibt*)  Von  ihr  strömt  dann 
eine  Existenz  aus,  die  nicht  das  Sichverähnlichen  mit  d^ 
ersten  Seienden  bedeutet,  insofern  dieses  im  Sein  vollkommen  ist 
und  das  Objekt  der  Sehnsucht  darstellt.  Ein  solches  Ziel  (Gott) 
besteht  nur  für  sich  selbst  und  rücksichtlich  seiner  selbst  Es 
bildet  keinen  Teil*)  für  die  Existenz  anderer  Dinge,  die  von 
ihm  ausgehen,  um  die  Vollendung,  Ehre  und  Würde  seines 
Wesens  zu  erlangen.«)  Die  einzige  Art  und  Weise,  wie  Gott 
dem  Wohle  der  Geschöpfe  dient  (wörtlich:  sein  esse  partem) 
besteht  vielmehr  in  folgendem.    Sein  Wesen  existiert  so,  daß  es 


0  Dieses  ist  in  allen  Bewegungen  immer  das  eigentlich  letzte  Ziel 

')  Ziel  in  zweiter  Linie  sind  die  subjektiven  Vorteile,  die  sich  aas  dem 
ersten  Ziel  für  den  Strebenden  ergeben. 

*)  Avicenna  nimmt  den  umgekehrten  Fall  an,  daß  da^j  prim&re  Ziel 
der  Himmelsbewegungen  der  Nutzen  und  das  Wohlsein  der  sublunarischra 
Welt  sei,  das  sekundäre  erst  das  Sichverfthnlichen  mit  Gott. 

*)  Cod.  c  a:  „was  unten  ist".  Sie  hat  ihr  Ziel  in  der  sublunarischen  Wdt. 

^)  Das  Medium  ist  Teil  des  Strebens  zum  Ziele. 

•)  Gott  kann  nie  Medium  sein  fttr  ein  anderes  Ziel.  Er  kann  nie 
dienen  zum  Wohle  der  Geschöpfe. 


Digitized  by 


Googk 


587 

in  der  höchsten  Vollkommenheit  besteht,  und  daß  von  ihm  die 
Existenz  des  Weltalls  ausgeht,  nicht  etwa  auf  Grund  irgend 
eines  Verlangens  oder  irgend  einer  Zielstrebigkeit  (die  auf  ein 
anderes  außergöttliches  Ding  gerichtet  wäre). 

Daher  muß  also  das  Verlangen  nach  dem  ersten  Sein  her- 
vorgehen und  sich  vollziehen  nach  Art  des  Sichverähnlichens  in 
der  genannten  Weise,  nicht  insofern,  als  dem  ersten  Seienden 
dadurch  irgend  eine  Vollkommenheit  erwachsen  könnte.  Dagegen 
könnte  man  die  Schwierigkeit  erheben:  der  himmlische  Körper 
kann  durch  die  Bewegung  irgend  ein  Gut  und  eine  Vollkommen- 
heit erwerben,  und  auch  die  Bewegung  selbst  bedeutet  für  ihn 
(den  Tätigen)  eine  Aktualität  und  ein  letztes  Ziel.  So  ist  es 
ebenfalls  für  die  übrigen  Wirkungen  der  Sphären  möglich  (also 
für  die  Richtung  und  die  Schnelligkeit  und  Langsamkeit  ihrer 
Bewegungen).«)  Darauf  antworten  wir:  die  Bewegung  verleiht 
keine  Vollkommenheit  und  kein  Gut;  sonst  müßte  dasselbe  auf- 
hören mit  der  Bewegung.  Sie  selbst  ist  vielmehr  die  Vollendung 
selbst,  die  wir  dargelegt  haben.  2)  Sie  selbst  ist  die  Erhaltung 
irgend  einer  Art,  die  dem  Körper  des  Himmels  aktuell  zukommen 
kann.  Denn  das  ewige  Bestehen  des  Individuums  als  Stell- 
vertreter der  Art  ist  nicht  möglich.  Diese  Bewegung  aber 
gleicht  nicht  den  übrigen  Bewegungen,  die  auf  eine  ihnen  äußer- 
liche Vollkommenheit  gerichtet  sind.  Diese  Bewegung  vollendet 
vielmehr  durch  ihr  Sein  den  sich  Bewegenden  selbst;  denn  die 
Bewegung  selbst  ist  das  ewige  Bestehen  derselben  Lagen  und 
Orte  in  einer  aufeinanderfolgenden  Kette  von  Einzeldingen  (indem 
durch  die  kreisförmige  Bewegung  in  ewiger  Aufeinanderfolge 
immer  wiederum  dieselben  Lagen  und  Orte  eingenommen  werden. 
Die  Art  der  Bewegung  bleibt  also  erhalten,  die  einzelnen  In- 
dividuen d.  h.  die  Lagen  und  die  Teile  der  Kreisbewegung  gehen 
immerfort  zugrunde  und  entstehen  von  neuem.) 

Kurz,  wir  müssen  auf  dasjenige  zurückgehen,  was  wir  im 
vorbeigehenden  dargelegt  haben,  wo  wir  auseinandersetzten,  wie 
diese  Bewegung  der  himmlischen  Sphären  der  inneren  Vorstellung 
und  dem  Verlangen   (eines  seelischen  Prinzipes)  folgt.     Diese 


0  Diese  sind  also  nach  dem  Objizienten  Selbstzweck,  nicht  etwa  auf 
ein  anderes  Ziel  gerichtet. 

")  In  der  Bewegung  der  Sphären  soU  die  Erhaltung  der  Spezies  der 
himinlischen  Edrper  und  das  SichTerähnlichen  mit  Gott  gegeben  sein. 


Digitized  by 


Google 


588 

Bewegung  ist  homogen  und  zwar  in  ewiger  Dauer.  Dagegen 
könnte  man  die  Schwierigkeit  erheben,  daß  diese  Bewegung  die 
Vorsehung  Gottes  bezüglich  der  entstehenden  Dinge  unmöglich 
machen  würde,  wie  auch  die  in  der  Vorsehung  fest  gefügte  und 
von  Ewigkeit  vorher  bestimmte  Leitung  des  Weltalls,  Später 
wollen  wir  dasjenige  anführen,  was  diese  Schwierigkeiten  löst 
und  wollen  nunmehr  erklären,  auf  welche  Art  die  Vorsehung 
des  Schöpfers  erfolgt,  und  auf  welche  Art  sich  die  Vorsehung 
jeder  einzelnen  Ursache  (der  himmlischen  Geister  und  Seelen), 
die  auf  die  Vorsehung  folgt,  betätigt,  und  wie  die  Vorsehung 
auf  die  entstehenden  Dinge  unserer  Welt  wirkt,  ausgehend  von 
den  ersten  Prinzipien  und  den  zweiten  Ursachen,  die  sich  zwischen 
dem  Schöpfer  und  der  niederen  Welt  befinden.  Aus  dem,  was 
wir  dargelegt  haben,  ist  bereits  klar,  daß  es  nicht  möglich  ist, 
daß  irgend  eine  Ursache  durch  ihre  Wirkung  per  se  eine  Voll- 
endung erlange.  Dieses  kann  höchstens  per  accidens  erfolgen. 
Es  wurde  femer  dargelegt,  daß  die  Handlung  nicht  wegen  der 
Wirkung  als  Endziel  von  den  Ursachen  erstrebt  wird,  auch  wenn 
du  nicht  durch  diese  Darlegung  und  Kenntnis  überzeugt  worden 
bist.  Das  Verhältnis  der  Zielstrebigkeit  ist  vielmehr  so,  wie 
das  Wasser,  das  in  sich  aktuell  kalt  wird,  damit  es  seine  Art 
erhalte,  nicht  etwa  aus  dem  Grunde,  damit  es  einen  anderen 
Gegenstand  ebenfalls  kalt  mache.  Es  ist  jedoch  eine  notwendige 
Begleiterscheinung,  daß  es  auch  einen  anderen  Körper  abkühle. 
Das  Verhältnis  liegt  ferner  so  wie  das  Feuer,  das  in  sich  selbst 
aktuell  heiß  wird,  damit  es  seine  Art  erhalte.  Es  wird  nicht 
deshalb  heiß,  damit  es  einen  anderen  Körper  erhitze.  Es  haftet 
ihm  jedoch  notwendigerweise  als  Begleiterscheinung  an,  daß  es 
einen  fremden  Körper  erhitze.  Femer:  die  begehrende  Kraft 
verlangt  nach  dem  sinnlichen  Genuß  der  körperlichen  Vereini- 
gung, damit  sie  die  überflüssige  Nahrang»)  ausstoße  und  diesen 
Genuß  ganz  koste,  nicht  etwa,  damit  aus  dem  Vorgange  der 
Erzeugung  ein  Junges  entstehe.  Daß  ein  Junges  entsteht,  ist 
vielmehr  eine  notwendige  Konsequenz  des  erstrebten  Genusses. 
Ein  anderes  Beispiel  des  finis  per  accidens  ist  die  Gesundheit 
Sie  ist  Gesundheit  in  ihrer  Substanz  und  in  sich  selbst.  Sie 
ist  nicht  darauf  hingerichtet,  daß  der  Kranke  von  ihr  irgend 
welchen  Nutzen  habe.    Der  JJutzen,  den  der  Kranke  von  ihr  hat, 

0  Der  Same  wurde  als  überflüssiger  Teil  der  Nahrung  bezeichnet. 


Digitized  by 


Googk 


589 

ist  jedoch  eine  resultierende  Erscheinung.  Ebenso  wie  es  diese 
Beispiele  zeigen,  liegt  das  Verhältnis  betreffs  der  Ursachen,  die 
vorausgehend)  In  der  himmlischen  Welt  jedoch  besteht  zudem 
noch  ein  allumfassendes  Wissen  von  allem,  was  wirklich  ist, 
und  eine  Kenntnis  davon,  in  welcher  bestimmten  Weise  und 
nach  welchem  Maßstabe  die  Ordnung  und  das  Gute  betreffs  der 
Weltdinge  erfolgen  müssen.  Diese  Bestimmungen  finden  sich 
nicht  in  den  eben  aufgezählten  Beispielen  der  causae  per  acci- 
dens.2) 

Wenn  sich  die  Sachlage  nun  so  verhält,  dann  besitzen  die 
himmlischen  Körper  gemeinsam  die  kreisförmige  Bewegung  nur 
auf  Grund  des  Verlangens  nach  einem  Gegenstande,  und  dieses 
Verlangen  besitzen  sie  alle  in  gleicher  Weise.  Eine  Verschieden- 
heit tritt  nur  dadurch  auf,  daß  die  Prinzipien  und  die  Gegen- 
stände, die  sie  erstreben,  und  dasjenige,  was  das  Objekt  ihres 
Verlangens  darstellt,  selbst  vielfach  verschieden  ist.  Diese 
Verschiedenheit  jedoch  folgt  3)  auf  jenes  erste  (das  ihnen  allen 
gemeinsam  ist).  Daher  ist  es  uns  nicht  zweifelhaft,  wie  aus 
jedem  besonderen  Verlangen  sich  eine  besondere  Bewegung  nach 
einer  bestimmten  (wörtlich:  „dieser**)  Richtung  hin  notwendig 
ergibt.  Diese  Kenntnis  erklärt*)  das,  was  wir  bereits  gelehrt 
haben,  daß  nämlich  die  Bewegungen  verschieden  sind  auf  Grund 
der  verschiedenen  Objekte,  die  Gegenstand  des  Verlangens  sind 
(oder  der  vielfältigen  Prinzipien,  die  sich  nach  einem  Gegenstande 
sehnen  und  dadurch  die  Bewegung  herbeiführen.) 

Nach  diesen  Darlegungen  erübrigt  noch  eine  Erörterung. 
Man  könnte  sich  die  seelischen  Prinzipien,  die  auf  Grund  eines 
Verlangens  sich  bewegen  (oder  die  Objekte  der  Sehnsucht)  als 
verschiedene  Körper,  nicht  als  reine  Geister  vorstellen,  so  daß 
derjenige  Körper,  der  im  Sein  geringer  ist,  sich  mit  dem  Körper, 
der  höher  in  der  Seinsordnung  steht  und  edler  ist,  verähn- 
licht.  So  war  es  die  Lehre  jener  Anfänger  (wörtlich:  jener 
Knaben)  in  der  islamischen  Philosophie,  als  die  Philosophie  noch 
wenig  klar  geordnet  war.  Jene  Anfänger  verstanden  nämlich  nicht 


0  Es  smd  die  Ursachen  der  himmlischen  Welt  gemeint. 

•)  Wörtlich:  „und  es  ist  nicht  in  jenen". 

*)  Das  Allgemeinere  ist  das  Frühere  —  hier  die  Kreishewegung  —; 
das  Besondere  ist  das  Spätere  —  hier  die  Eigentümlichkeiten  jedes  Planeten 
nnd  jeder  Sphäre. 

*)  Wörtlich :  „wirkt  ein  auf  das  . . .". 


Digitized  by 


Google 


590 

die  Intentionen  der  alten  Philosophen.  Wir  antworten  also:  ihre 
Aufstellungen  sind  unmöglich.  Der  Grund  fftr  diese  Unmöglich- 
keit liegt  darin,  daß  das  Sichverähnlichen  mit  dem  ersten  Prin- 
zipe  des  Seins  zur  Folge  hat,  daß  der  sich  verähnlichende  eine 
ähnliche  Bewegung,  eine  ähnliche  Richtung  und  ein  ähnliches 
Ziel  erstrebt,  als  dasjenige,  das  ihm  zum  Vorbilde  dient  Weim 
nun  die  Unfähigkeit,  zu  derselben  Seinsstufe  (wie  Grott)  zu  ge- 
langen, irgend  etwas  zur  Folge  hat,  so  ist  es  nur  die  Kraft- 
losigkeit in  der  Wirkung  und  Tätigkeit,  nicht  die  Verschiedoi- 
heit  in  derselben  (die  Entfernung  von  dem  ersten  Prinzipe 
erklärt  also  nicht  die  Verschiedenheit  der  Bewegungen,  sondern 
höchstens  die  Langsamkeit  derselben).  Sie  bewirkt  keine  Ve*- 
schiedenheit,  so  daß  der  eine  Körper  zu  dieser,  der  ssii&t 
zu  jener  Wirkung  sich  hinbewegte.  Ebensowenig  kann  mm 
sagen,  die  Ursache  dieser  Verschiedenheit  sei  die  Natur  dieses 
•  Körpers.  Dann  müßte  die  Natur  dieses  Körpers  dem  widerstreböi 
daß  der  Körper  sich  von  A  nach  B  bewegte,  jedoch  nicht  dem 
anderen,  daß  er  sich  von  B  nach  Ä  bewegte.  Dies  ist  jedoch 
unmöglich;  denn  der  Körper  als  Körper  hat  nicht  diese  bestimmte 
Bewegung  zur  Folge,  und  die  Naturkraft  als  Naturkraft  emfö 
Körpers  verlangt  nur  einen  natürlichen  Ort,  ohne  daß  damit 
eine  bestimmte  natürliche  Lage  (der  Teile  zueinander  und  zum 
Weltall)  gegeben  sei  Würde  der  Körper  und  die  körperliche 
Natur  notwendigerweise  irgend  eine  bestimmte  La^  erfor- 
dern, dann  wäre  das  Entfernen  des  Körpers  aus  dieser  Lage 
eine  Zwangsbewegung,  und  dann  würde  in  die  Bewegung  der 
himmlischen  Sphäre  etwas  (eine  ratio)  eintreten,  das  sich  ver- 
hielte wie  eine  Zwangsbewegung.  Femer  kann  sich  jeder  der 
Teile  der  Himmelssphäre  in  jeder  möglichen  Beziehung  (zu 
anderen)  befinden,  soweit  diese  in  der  Natur  des  Himmels  möglich 
ist.  Daher  ist  es  also  nicht  erforderlich,  daß  ein  Teil  sich  sehr 
wohl  aus  einer  bestimmten  Lage  entfernen  kann,  während  es 
unmöglich  ist,  daß  er  sich  aus  einer  anderen  Lage  entferne  und 
zwar  entsprechend  der  Natur.*)  Sonst  müßte  in  der  Sphäre  des 
Himmels  eine  bestimmte  Natur  vorhanden  sein,  die  die  Be- 
wegung  nach   einer   bestimmten  Richtung  hin  bewirkte.     Es 


*)  Wörtlich:  „auf  das  er  hinstrebt". 

*)  Die  Natur  der  Sphären  verhält  sich  vielmehr  indifferent  xn  bestimmten 
EiühtQDgen.    Sie  kann  alle  in  gleicher  Weise  einschlagen. 


Digitized  by 


Googk 


591 

ergäbe  sich  dann  notwendig  eine  Bewegung  nach  dieser  be- 
stimmten £ichtung  mit  Ausschluß  einer  anderen  nach  einer 
anderen  Richtung,  wenn  die  Sphäre  von  der  ihr  natürlichen 
Richtung  zurückgehalten  sein  soUte.  Wir  haben  bereits  dar- 
gelegt, daß  das  Prinzip  dieser  (bestimmten)  Bewegung  nicht  ein 
Naturprinzip  sein  kann.  Ebensowenig  ist  in  der  himmlischen 
Sphäre  eine  Naturkraft  vorhanden,  die  eine  bestimmte,  indivi- 
duelle Lage  zur  Folge  hätte,  ohne  zugleich  auch  die  Möglichkeit 
für  verschiedene  Richtungen  der  Bewegung  zu  belassen.  Daher 
existiert  also  in  der  Substanz  des  Himmels  keine  (blinde)  Natur- 
kraft, die  hindern  würde,  daß  die  Seele  der  Sphäre  nach  irgend 
einer  beliebigen  Richtung  hin  bewegt  würde.  Ebensowenig  ist 
diese  Notwendigkeit  vorhanden  seitens  der  Seele  der  Sphäre. 
Sonst  müßte  die  Natur  dieses  seelischen  Prinzipes  so  beschaffen 
sein,  daß  sie  notwendigerweise  diese  bestimmte  Lage  wollen  (und 
einschlagen)  müßte,  es  sei  denn,  daß  das  Ziel,  das  durch  die 
Bewegung  erstrebt  wird,  nur  durch  diese  bestimmte  Richtung 
der  Bewegung  erreicht  werden  könnte.  0  Denn  (die  Wahl  und) 
der  WiUe,  der  die  Bewegung  hervorbringt,  folgt  dem  Ziele,  auf 
welches  die  Bewegung  gerichtet  ist;  es  verhält  sich  aber  nicht 
umgekehrt  so,  daß  das  Ziel  (und  die  Aufstellung  dieses  Zieles 
für  die  Bewegung)  auf  die  Wahl,  die  die  Bewegung  hervorbringt, 
folgte.  Wenn  es  sich  nun  so  verhält,  dann  ist  die  Ursache  (für 
die  verschiedene  Richtung  und  Lage  der  Sphären)  die  Ver- 
schiedenheit des  Zieles. 

Daher  besteht  kein  Hindernis  (für  die  Vielfältigkeit  der 
Bewegungen)  vonseiten  der  körperlichen  Natur  noch  vonseiten 
der  Naturkraft  noch  vonseiten  des  seelischen  Prinzipes,  das 
mit  der  Sphäre  verbunden  ist.  Die  einzige  Ursache  für  die 
Verschiedenheit  ist  nur  die  Vielfältigkeit  des  Endzweckes-  Eine 
auf  Grund  eines  Zwanges  hervorgebrachte  Bewegung  ist  aber 
das  am  weitesten  von  allen  zurückliegende  Prinzip,  (das  diese 
Verschiedenheiten  erklären  könnte).  Daher  ergibt  sich:  wenn 
das  Ziel  der  Bewegungen  der  Sphären  das  Sichverähnlichen  mit 
einem  bestimmten  himmlischen  Körper  wäre,  —  dieses  Ziel 
würde  naturgemäß  auf  das  erste  folgen,  also  auf  das  Sichver- 


^)  Wortlich:  „sonst  müßte  das  Ziel  als  proprium  diese  Bichtung  haben", 
nnd  dum  ergäbe  sich  diese  Richtung  der  Bewegung  notwendig,  ohne  auf 
blinder  Naturkraft  zu  beruhen. 


Digitized  by 


Googk 


592 

ähnlichen  mit  dem  ersten  Prinzipe,»)  —  dann  mfißte  die  Be- 
wegung erfolgen  in  der  Art  der  Bewegung  jenes  anderen  Körpers. 
Sie  könnte  dann  nicht  von  ihm  verschieden  sein,  noch  auch 
schneller  als  diese  erfolgen,  wenigstens  nicht  in  vielen  Lagen.-) 
Ebenso  verhält  es  sich,  wenn  das  Ziel  für  den  Beweger  dieser^) 
Sphäre  das  Sichverähnlichen  mit  dem  Beweger  jener  anderen*) 
Sphäre  wäre.  Es  wurde  bereits  dargelegt,  daß  der  Endzweck 
dieser  Bewegungen  nichts  sein  kann,  das  durch  die  Bewegung 
erreicht  wird.*)  Der  Endzweck  muß  vielmehr  ein  von  dem  sich 
Bewegenden  getrenntes  Ding  sein.  Es  ist  also  jetzt  klar,  dal 
derselbe  kein  Körper  sein  darf.  Daher  bleibt  nur  noch  die 
einzige  Möglichkeit,  daß  der  letzte  Endzweck  für  jede  Sphäre 
ein  Sichverähnlichen  sein  muß  mit  einem  anderen  Dinge  als  die 
Substanzen  der  Sphären  selbst,  also  etwas  anderes  als  ihre 
Materien  und  ihre  seelischen  Prinzipien.  Es  ist  nun  aber  un- 
möglich, daß  das  Sichverähnlichen  der  Sphären  sich  erstrecken 
könne  auf  die  elementaren  Körper  und  das,  was  aus  diesen  ent- 
steht, oder  auf  die  (zusammengesetzten)  Körper  oder  ihre  seeli- 
schen Prinzipien,  d.  h.  andere  Seelen  als  diese  (d.  L  die  Himmel).*) 
Daher  bleibt  nur  noch  die  eine  Möglichkeit  übrig,  daß  jede 
der  einzelnen  Sphären  ein  Verlangen  hat,  sich  mit  einer  rdn 
geistigen,')  unkörperlichen  Substanz,  die  ihr  in  spezieller  Weise 
verbunden  ist,  zu  verähnlichen.  Daher  sind  die  Bewegungai 
und  die  Zustände  der  Sphären  so  verschieden,  wie  diese  geistigen 
Substanzen  selbst  in  sich  verschieden  sind.  Diese  Verschieden- 
heit ist  ihnen  eigen  zwecks  jener. »)    Wir  stellen  diese  Lehre 


>)  Wörtlich :  „nach  dem  Ersten".  Das  andere  bliebe  also  in  jedem  Falle 
ein  sekundäres  Ziel. 

')  Wenn  die  erste  Sphäre  den  kleineren  Durchmesser  hat  und  sich 
innerhalb  der  anderen  befindet,  ist  ihre  Bewegung  langsamer ,  hat  sie  einea 
größeren  Durchmesser  dann  schneUer.  Sie  muß  aber  immer  der  anderes 
parallel  bleiben. 

•)  Cod.  c  GL :  „d.  h.  der  niederen,  unteren  Sphäre". 

*)  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  der  oberen  Sphäre". 

*)  Dann  müßte  die  Sphärenbewegung  an  diesem  Orte  zur  Euhe  gelangen. 

^  Das  Vollkommenere  kann  sein  natürliches  Streben  nicht  darin  haben, 
sich  mit  etwas  UnvoUkonuneneren  zu  verähnlichen. 

^  Dadurch  ist  erreicht,  daß  jede  Sphäre  einem  yoUkommneren  Prinzipe 
zustrebt,  als  sie  selbst  ist. 

*)  Die  Verschiedenheit  der  höheren  Sphären  hat  lüso  den  Zweck,  die 
Verschiedenheit  der  niederen  hervorzurufen.  Diese  letzte  ist  ferner  notwendig, 
um   die  Verschiedenheit  der  Weltdinge   zu   verursachen.     Damit   ist    aber 


Digitized  by 


Googk 


593 

au^  selbst  wenn  wir  nicht  wissen,  wie  und  wie  groß  jene  Ver- 
hältnisse notwendig  sein  müssen. 

Daher  ist  also  die  erste  Ursache  (der  kreisförmigen  Be- 
wegungen der  Sphären)  die  allen  gemeinsame  Sehnsucht  nach 
einem  Gegenstande.  Dieses  ist  auch  die  Lehre,  die  die  alten 
Philosophen  ausdrücken  wollten,  indem  sie  sagten,  das  Weltall 
habe  einen  einzigen  Beweger,  der  sich  verhalte  wie  das  Objekt 
der  Liebe.  Denn  jede  sich  bewegende  Sphäre  hat  einen  besonderen 
Beweger  und  ein  Prinzip,  das  sich  verhält  wie  das  Objekt  der 
Liebe,  das  ihr  in  eigentümlicher  Weise  zugeordnet  ist  Daher 
hat  also  jede  himmlische  Sphäre  ein  seelisches  Prinzip,  das  be- 
wegt und  das  das  Gute  bewirkt  Sie  hat  femer,  weil  sie  mit 
dem  Körper  verbunden  ist,  Vorstellungen  der  kombinierenden 
oder  der  vorstellenden  Phantasie,  die  sich  auf  die  individuellen 
Dinge  erstrecken,  und  sie  hat  femer  Willenstätigkeiten,  die  auf 
Güter  gerichtet  sind.  Dasjenige,  was  diese  Seele  von  dem  ersten 
Seienden  begrifflich  faßt  und  das,  was  sie  von  ihrem  nächsten 
geistigen  Prinzip,  das  ilir  zugeordnet  ist  und  ihr  nahe  steht, 
denkt,  —  dieser  geistige  Inhalt  ist  erstes  Prinzip  für  ihr  Ver- 
langen, sich  zu  bewegen.  Daher  besitzt  also  jede  Sphäre  einen 
unkörperlichen,  für  sich  bestehenden  Geist,  der  sich  zu  ihrer 
Seele  verhält,  wie  der  aktive  Intellekt  zu  unserer  Seele.  Er 
verhält  sich  wie  ein  universelles  und  geistiges  Vorbild  (Modell)  zu 
der  Art  der  Tätigkeit  der  Sphäre.  Das  andere  aber  sucht  sich 
ihm  zu  verähnlichen. 

Kurz,  jede  sich  bewegende  Sphäre  muß  ein  geistiges  Ziel 
erstreben,  und  dieses  Ziel  stammt  her  von  einem  geistigen  Prin- 
zipe,  das  das  erste  Gute,  die  Gottheit,  erfaßt  Die  Substanz  des 
geistigen  Prinzipes  ist  unkörperlich.  Du  hast  bereits  gesehen, 
daß  alles,  was  begrifflich  denken  kann,  seinem  Wesen  nach  eine 
unkörperliche  Substanz  ist  (und  von  der  Materie  getrennt  besteht). 
Femer  muß  jedes  sich  Bewegende  und  jede  sich  bewegende 
Sphäre  ein  Prinzip  für  die  körperliche  Bewegung  haben,  d.  h. 
etwas,  das  zur  körperlichen  Natur  hinführt  (und  mit  ihr  in 
Eontiüct  steht).    Du  hast  bereits  gesehen,  daß  die  Bewegung 


dnrchaiis  nicht  gesagt,  das  VoUkommenere  sei  auf  ein  weniger  Vollkommeneres 
wie  anf  sein  letztes  Ziel  gerichtet;  denn  die  Verschiedenheit  der  niederen 
^Uren  nnd  der  Weltdinge  ist  in  keiner  Weise  letztes  Ziel  der  Sphären.  Es 
bcty  wie  Avicenna  ausführte,  nur  Mittel  zu  einem  letzten  Ziele  nnd  dieses  ist 
das  Streben  nach  Qott  und  die  Harmonie  des  ganzen  Weltalls. 
Horten,  Dm  Buoh  der  Oenetung  der  Seele.  38 


Digitized  by 


Google 


594 

der  himmlischen  Sphäre  eine  auf  einem  [seelischen  Prinzipe  be- 
ruhende ist,  die  von  einer  himmlischen  Seele  ausgeht.  Diese  ist 
tätig  indem  sie  sich  nach  freier  Wahl  entschließt  und  immer  wieder 
neue  WiUensentschlttsse  in  kontinuierlicher  Kette  hervorbringt, 
indem  das  eine  sich  an  das  andere  anschließt. 

Die  Zahl  der  reinen  Geister,  die  auf  das  erste  Seiende 
folgen,  ist  also  bestimmt  durch  die  Zahl  der  Bewegungen.  Wenn 
daher  das  erste  Prinzip,  das  in  den  himmlischen,  räumlich  aus- 
gedehnten Sphären  vorhanden  ist  und  die  Bewegung  der  Sphäre 
jedes  einzelnen  Sternes  hervorbringt,  eine  Kraft  ist,  die  von  den 
Sternen  selbst  ausströmt,  dann  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  daß 
die  Zahl  der  geistigen  Substanzen  zu  bemessen  ist  nach  der 
Zahl  der  Sterne,  die  ihnen  zugeordnet  sind,  nicht  nur  nach  der 
Zahl  der  Sphären. 

Die  Zahl  der  Sphären  ist  abgesehen  von  dem  ersten  Seienden 
zehn.  Der  erste  Geist  ist  der  Geist,  der  bewegt,  ohne  daß  er 
bewegt  wird. »)  Seine  Bewegung  und  seine  bewegende  Tätigkeit 
erstreckt  sich  auf  die  Umgebungssphäre.  Auf  ihn  folgt  derjenige 
Geist,  der  dem  ersten  ähnlich  ist  und  der  mit  der  Sphäre  der 
Fixsterne  verbunden  ist.  Darauf  folgt  ein  weiterer,  ihm  ähn- 
licher, der  zur  Sphäre  des  Saturn  gehört.  So  geht  die  Reihen- 
folge weiter  bis  sie  zu  dem  Verstände  hingelangt,  der  die  geistigen 
Inhalte  auf  unsere  Seelen  ausströmen  läßt.  Dieser  ist  der  Geist 
der  irdischen  Welt.    Wir  nennen  ihn  den  aktiven  Intellekt 

Wenn  sich  die  Sache  nun  nicht  so  verhält,  (d.  h.  wenn  die 
Zahl  größer  ist  als  zehn)  und  wenn  vielmehr  jede  sich  bewegende 
Sphäre  ein  besonderes  Gesetz  für  ihre  eigene  Bewegung  hat,  und 
(wenn)  ebenso  für  jeden  Stern  (ein  besonderes,  bewegendes  Prin- 
zip existiert,)  dann  ist  die  Zahl  der  unkörperlichen  Substanzen 
größer.  Nach  der  Lehre  des  ersten  Meisters,  des  Aristoteles,  ist 
die  Zahl  ungefähr  fünfzig  oder  noch  mehr.  Die  letzte  dieser 
geistigen  Substanzen  ist  der  aktive  Intellekt  In  unseren  Dar- 
legungen in  den  mathematischen  Büchern,  besonders  in  der 
Astronomie,  2)  hast  du  unsere  definitive  Ansicht  betreffs  der  Zahl 
der  geistigen  Substanzen  kennen  gelernt 

^)  Vgl.  Arist.,  Metaph.  1012  b  81:  fori  ii  o  iel  xivel  tä  xivovfjieva,  xal 
ro  uQixttov  xivof>v  äxivTiTov  avto,  ebens.  Phys.  260 a  3. 17 j  698a 9;  698b  13. 
*)  Mathemat.  IV.  Teil. 


Digitized  by 


Googk 


595 


Sechstes  Kapitel. 

Die  Seinsordnung  der  Geister,  Seelen  und  himmlischen  KSrper  in 
Beziehung  zum  ersten  Prinzipe. 

In  dem,  was  wir  vorausgeschickt  haben,  ist  es  klar  geworden, 
daß  der  notwendig  Seiende  in  seinem  Wesen  nur  einer  ist  femer, 
daß  er  kein  Körper  noch  auch  in  einem  Körper  noch  auch  in 
irgend  welcher  Weise  körperlich  teilbar  sei.  Die  Existenz  aller 
wirklichen  Dinge  leitet  sich  daher  von  ihm  ab.  Er  selbst  kann 
kein  erstes  Prinzip  in  irgend  welcher  Weise  haben,  noch  auch 
irgend  eine  Ursache,  weder  eine  solche,  von  der  aus  ein  Ding 
ins  Dasein  kommt  (od^ev  ?)  xlvrjöig  die  Wirkursache),  noch  auch 
eine  solche,  in  der  oder  durch  die  die  Wirkung  entsteht  (causa 
materialis  und  formalis)  noch  auch  eine  solche,  auf  die  das  Werden 
des  Dinges  gerichtet  ist  (causa  flnalis),  so  daß  Gott  also  eines 
anderen  Dinges  wie  eines  Zweckes  wegen  vorhanden  wäre. 
Daher  ist  es  nicht  möglich,  daß  das  Weltall  aus  Gott  in  der 
Weise  hervorgeht,  daß  Gott  für  das  Werden  und  die  Existenz 
des  Weltalls  irgend  ein  Ziel  erstrebte  in  der  Weise,  wie  wir  ein 
Ziel  erstreben;  dann  müßte  er  eines  anderen  Dinges  wegen  han- 
delnd sein.  Diese  Lehre  haben  wir  bereits  vollständig  dargelegt 
in  einem  anderen  Kapitel»)  An  diesem  war  die  Lehre  klarer  wie 
auch  die  Darlegung  der  verwandten  Thesis:  es  sei  unmöglich,  daß 
Gott  die  Existenz  des  Weltalls  als  seine  Wirkung  erstrebe,  weil 
nämlich  dieses  zu  einer  Vielheit  in  seinem  Wesen  führe.  Denn  in 
diesem  Falle  müßte  in  Gott  ein  Ding  vorhanden  sein,  auf  Grund 
dessen  er  zielstrebig  wirkt.  Dieses  Ding  wäre  seine  Kenntnis  und 
sein  Wissen  von  der  Notwendigkeit  jener  Ziele,  oder  sein  Verlangen 
nach  diesem  Ziele,  oder  irgend  eine  Eigenschaft  in  dem  erstrebten 
Objekte,  die  jenes  zur  Folge  hätte.  Darauf  würde  eine  Ziel- 
strebigkeit folgen,  sodann  ein  Nutzen,  den  das  Streben  nach 
dem  Ziele  dem  Handelnden  mitteilt,  wie  wir  es  vorher  dargelegt 
haben.  Dies  ist  jedoch  (für  die  Gottheit  selbst)  unmöglich. 
Daher  erfolgt  also  das  Hervorgehen  des  Weltalls  aus  Gott  nicht 
nach  Art  des  natumotwendigen  Hervorgehens,  so  daß  die  Exi- 
stenz des  Weltalls  auf  Grund  dieser  Naturnotwendigkeit  erfolgte, 
nicht  auf  Grund   einer  Erkenntnis  oder  eines  Wohlgefallens») 


»)  Vgl.  Abh.  YUI,  2  und  3. 

38* 


Digitized  by 


Googk 


596 

Gottes  an  der  Welt*)  "Wie  könnte  dieses  auch  richtig  sein, 
da  ja  Gott  ein  reiner  Verstand  ist,  der  sein  Wesen  denkt?  Es 
ist  also  notwendig,  daß  er  denke,  die  Existenz  des  Weltalls 
ergebe  sich  in  notwendiger  Konsequenz  aus  ihm.  Denn 
er  denkt  sein  Wesen  in  durchaus  geistiger  Weise,  so  äd 
er  zugleich  erste  Ursache  ist  Er  denkt  die  Existenz  des  Welt- 
alls, wie  es  von  ihm  ausgeht,  nur  insofern  und  weil  er  erste 
Ursache  des  Weltalls  ist  In  seinem  Wesen  besteht  kein 
Hindernis  noch  irgend  ein  Widerwille  gegen  das  Hervoi^ehen 
der  Geschöpfe  aus  seinem  Wesen.  Sein  Wesen  selbst  weiß,  dafi 
seine  Vollkommenheit  und  die  Hoheit  seiner  Existenz  so  be- 
schaffen ist,  daß  von  ihr  das  Gute  ausströmt  Diese  Bestimmung 
gehört  zu  den  notwendigen  Bestimmungen  seiner  Majestät,  die 
für  ihn  selbst  per  se  Objekt  der  Liebe  ist  Jedes  Wesen  aber, 
das  dasjenige  erkennt,  was  aus  ihm  hervorgeht,  und  mit  dem 
sich  kein  hinderndes  Prinzip  verbindet,  jedes  Wesen,  das  sich 
vielmehr  so  verhält,  wie  wir  dargelegt  haben,  empfindet  ein 
Wohlgefallen  an  dem,  was  von  ihm  ausgeht 

Daher  hat  also  das  erste  Prinzip  des  Seins  ein  Wohlgefallen 
an  der  Emanation  des  Weltalls  aus  seinem  Wesen.  Die  erste 
Tätigkeit  des  ersten  Wahren  und  die  Tätigkeit,  die  auf  Grand 
seines  Wesens  erfolgt,  besteht  jedoch  darin,  daß  er  sein  Wesen 
denkt,  und  dieses  Wesen  ist  in  und  durch  sich  selbst  erstes 
Prinzip  für  die  Ordnung  des  Guten  in  dem  Seienden  (den  Ge- 
schöpfen). Er  denkt  daher  die  Ordnung  des  Guten  in  dem 
Seienden,  wie  sie  sein  muß.  Er  denkt  sie  nicht  in  einer  Art  vaA 
Weise  des  Denkens,  die  von  der  Potenzialität  zur  Aktualität 
übergeht,  noch  auch  in  einer  Art  und  Weise  des  Denkens,  die 
sich  von  einem  Begriff  zu  einem  anderen  bewegt  Sein  Wesen 
ist  ja  rein  von  jeder  Potenzialität  in  jeder  Hinsicht^  wie  wir 
vorhin  dargelegt  haben.')  Er  denkt  viehnehr  die  Dinge  alle 
gleichzeitig  in  einem  und  demselben  Denken  und  femer  denkt 
er  die  Ordnung  des  Guten  in  dem  Seienden  (der  realen  Auß«i- 
welt).  Mit  diesem  innergöttlichen  Denken  ist  notwendig  verbunden^ 
daß  er  denkt,  wie  diese  Ordnung  möglich  sei,  und  wie  ^  in  der 
höchsten  Vollendung  zur  Tatsache  werde,  daß  die  Existenz  des 
Weltalls  entsprechend  dem,  was  er  denkt,  wirklich  werde.   Denn 


>)  Cod.  c  OL:  „Es  ergäbe  sich  dann,  daß  Gott  yervoUkommnet  würde'. 
«)  Vgl  Abh.  Vm,  4  bis  7. 


Digitized  by 


Googl( 


597 

das  begrifflich  gefaßte,  reale  Wesen  des  Dinges  im  Wesen  Gottes 
ist  in  seiner  numerischen  Einheit,  wie  du  gesehen  hast,  zugleich 
Wissen,  Macht  und  Willensentschluß.  So  ist  das  Verhältnis  für 
die  Gottheit  Für  die  Menschen  ist  es  ein  anderes.  Wir  be- 
dürfen genauer  Detaillierung  dessen,  was  wir  uns  zwecks  eines 
bestimmten  Zieles,  einer  bestimmten  Bewegung  und  eines  Willens- 
entschlusses vorstellen,  so  daß  die  Wirkung  zur  Existenz  gelangt 
In  Gott  jedoch  ist  dieses  nicht  möglich  noch  zutreffend,  weil 
sein  Wesen  frei  ist  von  der  Zwiespältigkeit  auf  Grund  alles 
dessen^  was  wir  im  einzelnen  dargestellt  haben. 

Daher  ist  sein  begriffliches  Denken  Ursache  für  die  Exi- 
stenz entsprechend  dem,  was  er  denkt  und  es  ist  Ursache  für 
die  Existenz  dessen,  was  aus  seinem  Wesen  hervorgeht,  nach 
Art  der  notwendigen  Folge,  die  sich  aus  seinem  Dasein  ergibt 
und  die  aus  seiner  Existenz  resultiert  Der  Schöpfungsprozeß 
verhält  sich  nicht  so,  daß  die  Existenz  Gottes  wie  auf  ein  Ziel 
hingeordnet  wäre  auf  die  Existenz  irgend  eines  anderen  Dinges, 
das  verschieden  ist  von  Gott  Er  verursacht  das  Weltall  in 
dem  Sinne,  daß  er  der  Existierende  ist,  von  dem  jede  Existenz 
ausgeht  und  zwar  in  der  Weise,  daß  die  Wirkung  getrennt  von 
seinem  Wesen  existiert  Er  verursacht  das  Weltall  femer,  weil 
alles,  was  aus  dem  ersten  hervorgeht,  nur  nach  Art  der  not- 
wendigen Folge  sich  ergibt;  denn  es  ist  richtig,  daß  der  seinem 
Wesen  nach  notwendig  Seiende  in  jeder  Beziehung  notwendig 
Seiender  ist  Wir  haben  dieses  bereits  früher  auseinanderge- 
setzt (Abh.  Vm.  4  ff.). 

Das  erste  der  existierenden  Dinge,  die  aus  seinem  Wesen 
hervorgehen,  d.  h.  der  anfangslos  geschaffenen  Substanzen,  kann 
nicht  eine  Vielheit 0  in  sich  enthalten,  weder  eine  numerische 
noch  eine  solche,  die  in  der  Teilbarkeit  des  Wesens  in  Materie 
und  Form  besteht^)  Denn  das  notwendige  Hervorgehen  der 
Substanz,  die  sich  aus  seinem  Wesen  ergibt,  erfolgt  auf  Grund 
seines  Wesens,^)  nicht  auf  Grund  irgend  eines  anderen  Dinges. 
Die  Bichtung  und  Seinsweise  aber,  die  in  seinem  Wesen  vor- 


')  Cod.  c  GL:  „d.h.  eine  VieUieit  nach  Art  des  Hervorgehens  zweier 
Dinge  ans  Gott". 

*)  Cod.  c  GL:  „dies  ist  der  Beweis  der  Thesis,  daß  ans  dem  Einen  nur 
Eines  hervorgehen  kann". 

*)  Weil  dieses  nnn  einfach  ist,  kann  auch  |das  Eesnltierende  nur  einfach 
and  nur  eines  sein. 


Digitized  by 


Googk 


598 

banden  und  das  notwendiges  Prinzip  für  jene  Wirkung  ist,  ist 
nicht  ebendieselbe  Richtung  und  Seinsweise  seines  Wesens,  die 
aus  sich  nicht  dieses,  sondern  ein  anderes  Ding  ergibt ^  Denn 
wenn  sich  aus  dem  Wesen  des  ersten  Seienden  zwei  der  Sub- 
stanz und  dem  Bestände  nach  voneinander  getrennte  Dinge  not- 
wendig ergeben,  oder  zwei  Dinge,  die  in  der  Weise  voneinander 
unterschieden  sind,  daß  aus  ihnen  beiden  ein  drittes  Ding  ent- 
steht, wie  Materie  und  Form,  die  sich  gleichzeitig  (simul)  aus 
dem  ersten  Prinzip  ergeben,  so  folgen  diese  aus  dem  Wesen  der 
ersten  Ursache  nur  auf  Grund  von  zwei  formellen  Hinsichten, 
die  in  dem  Wesen  Gottes  verschieden  sind.  Diese  Hinsichten 
erwecken,  wenn  sie  nicht  in  dem  Wesen  Gottes  selbst  existieren, 
sondern  ihm  nur  wie  notwendige  Akzidenzien  anhaften,  immer 
wieder  die  weitere  Frage  betreffs  ihres  notwendigen  Hervor- 
gehens (aus  dem  einen  einfachen  Prinzipe),  so  daß  sie  aus  dem 
Wesen  Gottes  entstehen  können.  Dann  aber  müßte  sein  Wesen 
dem  Begriffe  nach  teilbar  sein.  Dieses  haben  wir  jedoch  früher 
ausgeschlossen  und  die  Unmöglichkeit  dieser  Annahme  nach- 
gewiesen. 

Es  ist  daher  klar,  daß  das  erste  der  existierenden  Dinge, 
das  von  der  ei-sten  Ursache  ausgeht,  nur  eines  der  Zahl  nach 
sein  kann.  Sein  Wesen  und  seine  Substanz  ist  nur  eine.^)  Sie 
besteht  nicht  in  einer  Materie  und  kann  kein  Ding  aus  dem 
Bereiche  der  Körperwelt  sein  noch  auch  aus  dem  der  Wesens- 
formen, die  die  Vollendung  der  Körper  sind.  Ein  solches  kann 
nicht  unvermittelte  (wörtlich:  nächste)  Wirkung  Gottes  sein. 
Die  erste  und  unvermittelte  Wirkung  des  ersten  Seienden  ist 
vielmehr  ein  reiner  Verstand.  Denn  dieser  ist  eine  Wesensform, 
die  nicht  in  einer  Materie  existiert.  Dieser  Verstand  ist  der 
erste  der  reinen  Geister,  die  wir  aufgezählt  haben.  Er  kann 
das  erste  bewegende  Prinzip  sein  für  die  Umgebungssphäre, 
indem  er  das  Objekt  des  Verlangens  (für  das  seelische  Prinzip 
dieser  Himmelssphäre)  bildet. 

*)  Avlcenna  will  die  Vielheit  der  Dinge  erklären.  Zugleich  aher  mufi 
das  philosophische  Grundprinzip  gewahrt  bleiben:  ex  uno  non  sequitnr  nisi 
unum.  Eine  Vielheit,  die  direkt  aus  Grott  hervorginge,  würde  in  Gott  selbst 
eine  Vielheit  bedingen,  insofern  der  formelle  Grund  für  die  Erschaffung  dieses 
oder  jenes  Dinges  verschieden,  in  Gott  verschieden  sein  müßte.  Die  Vielheit 
und  Verschiedenheit  der  Dinge  kann  also  nur  durch  Vermittlung  eines 
anderen  aus  Gott  hervorgehen. 

*)  Cod.  c2:  „und  seine  Definition  besteht  nicht  in  . . .". 


Digitized  by 


Googk 


599 

Dagegen  könnte  man  einwenden:  es  ist  nicht  unmöglich, 
daß  dasjenige,  was  aus  dem  ersten  Prinzipe  des  Seins  entsteht, 
eine  materielle  Wesensform  sei.  (In  sich  würde  sie  zunächst 
keine  Materie  besitzen;)  die  Existenz  einer  Materie  würde  sich 
aus  ihr  jedoch  wie  eine  notwendige  Folge  ergeben  (da  die 
Materie  nicht  direkt  von  Gott  ausströmen  kann).  Darauf  ant- 
worten wir:  aus  dieser  Lehre  würde  sich  ergeben,  daß  die 
Dinge,  die  auf  jene  Wesensform  und  jene  Materie  folgen,  Dinge 
dritter  Ordnung  seien  in  der  Stufe  der  verursachten  Wesen- 
heiten und  femer,  daß  die  Existenz  dieser  Dinge  durch  die 
Vermittlung  der  Materie  (dieses  ersten  Geschöpfes)  erfolgte. 
Dann  wäre  also  die  Materie  Ursache  für  die  Existenz  der 
Wesensformen  der  (individuellen)  Vielheit  der  Körper  des  Welt- 
alls und  ihrer  Fähigkeiten.  Dies  ist  jedoch  unmöglich;  denn 
die  Existenz  der  Materie  besteht  nur  darin,  daß  sie  aufnehmen- 
des Prinzip  ist.  Sie  ist  nicht  Ursache  für  die  Existenz  irgend 
eines  anderen  Dinges  in  einer  anderen  Weise,  als  daß  sie  auf- 
nehmendes Prinzip  sei.  Wenn  nun  irgend  ein  materielles  Ding 
sich  nicht  in  dieser  (passiven)  Weise  verhält,  so  kann  es  nicht 
Materie  sein.  Es  kann  höchstens  in  übertragener  Bedeutung 
(aequivoce)  so  bezeichnet  werden.  Daher  ergibt  sich:  wenn  das 
vorausgesetzte  Ding  ein  ewiges  und  unvergängliches  ist,  so  kann 
dieses  nur  in  übertragener  Bedeutung  die  Eigenschaft  der  Materie 
besitzen  und  als  solche  bezeichnet  werden.  Die  erste  Wirkung 
(der  Nüs)  kann  sich  auf  dieses  Prinzip  nicht  so  beziehen,  wie 
die  Wesensform  auf  die  Materie,  es  sei  denn  in  uneigentlichem 
Sinne.  Wenn  sich  nun  aus  diesem  zweiten^)  Prinzipe  diese 
Materie  ergibt  zufolge  einer  gewissen  Hinsicht^  und  die  Wesens- 
form eines  anderen  Dinges  zufolge  einer  anderen  Hinsicht,  so 
daß  also  in  dieser  Annahme  die  Wesensform  des  anderen  Dinges 
nicht  durch  Vermittlung  der  Materie  zur  Existenz  gelangt, 
dann  bringt  die  materielle  W^esensform  eine  Tätigkeit  hervor, 
die  zu  ihrem  Hervorgehen  der  Materie  nicht  bedarf.  Jedes 
Ding  aber,  das  seine  Tätigkeit  bewirkt,  ohne  daß  es  einer 
Materie  bedarf,  ist  in  seinem  Wesen  ursprünglich  selbständig 
und  frei  von  der  Materie  (also  geistiger  Natur),  und  daher  wäre 
also  die  materielle  Wesensform  selbständig  und  frei  von  der 
Materie. 


*)  Cod.  c  2 :  „dem  ersten"  Verursachten,  dem  zweiten  nach  Gott. 


Digitized  by 


Google 


600 

Kurz,  wenn  auch  die  materielle  Wesensform  Ursache  für 
die  Materie  ist,  indem  sie  dieselbe  zur  aktuellen  Existenz  und 
zur  Vollkommenheit  bringt,  so  verhält  sie  sich  doch  in  der 
Weise,  daß  auch  die  Materie  auf  die  Existenz  der  Wesensform 
irgend  eine  Einwirkung  ausübt  Diese  Einwirkung  besteht 
darin,  daß  die  Materie  die  Wesensform  individualisiert  und 
determiniert.  Wenn  nun  aber  das  erste  Prinzip  des  Seins  ohne 
eine  Materie  existiert,  wie  du  bereits  gesehen  hast,  dann  ist 
also  jedes  einzelne  von  diesen  beiden  Prinzipien  (die  Materie 
und  die  Wesensform)  Ursache  für  das  andere  in  irgend  einer 
bestimmten  Hinsicht,  und  bezüglich  einer  bestimmten  Realität, 
nicht  in  einer  und  derselben  Hinsicht  Wenn  dieses  nicht  der 
Fall  wäre,  dann  besäße  die  materielle  Wesensform  keine  not- 
wendige Abhängigkeit  von  der  Materie  in  irgend  welcher  Weise 
(weil  sich  beide  nicht  zu  einem  Ganzen  ergänzen  würden).  In 
diesem  Sinne  haben  wir  schon  früher  auseinandergesetzt,  da£ 
zur  Existenz  der  Materie  nicht  die  Wesensform  allein  genüge. 
Die  Wesensform  verhält  sich  vielmehr  nur  wie  ein  Teil  der 
Ursache.  0  Wenn  dieses  sich  aber  so  verhält,  dann  kann  die 
Wesensform  nicht  in  jeder  Beziehung  als  Ursache  für  die  Materie 
bezeichnet  werden,  indem  sie  zugleich  in  sich  selbst  unabhängig 
von  der  Materie  und  selbständig  wäre.  Daher  ist  es  klar,  daß 
die  erste  Wirkung  keine  materielle  Wesensform  (d.  h.  keine  für 
die  Materie  bestimmte  Wesensform)  sein  kann.  Daß  dieselbe 
keine  Materie  (selbst)  sein  kann,  ist  noch  mehr  einleuchtend. 
Daher  ist  es  also  notwendig,  daß  die  erste  Wirkung  eine  dui'chaus 
unmaterielle  Form  sein  muß,  ja  sogar  ein  reiner  Geist  Du 
weißt,  daß  in  der  himmlischen  Welt  (wörtlich:  hier)  Geister 
und  unkörperliche  Seelen  in  großer  Zahl  existieren.  Ihre  Exi- 
stenz kann  daher  nicht  durch  Vermittlung  einer  Substanz  erfolgen, 
die  selbst  ihrerseits  nicht  wiederum  reiner  Geist  ist  Du  weißt, 
daß  in  der  Summe  aller  Dinge,  die  von  dem  ersten  Sein  aus- 
gehen, viele  Körper  vorhanden  sind; 2)  denn  du   hast   bereits 

»)  Vgl.  Abb.  VI  ganz. 

^)  Codd.  b  und  d  add.:  Du  hast  zogleicb  gesehen,  daß  wir  uns  den  Be> 
griff  des  Möglieben  nicbt  in  der  Weise  denken  dürfen,  wie  er  betre&  einiger 
f rüber  erwäbnten  Begriffe  erklärt  wurde,  und  daß  dasjenige  Mögliebe,  mit 
dem  sieb  die  Existenz  in  ewiger  Weise  verbindet,  (so  daß  es  anfangslos  exi- 
stiert), Ursaebe  für  die  Existenz  eines  anderen  unkörperlieben  Wesens  sein 
kann".  Cod.  d.:  „Hier  liegen  versebiedene  Ünklarbeiten ,  die  jedoch  bereits 
aufgeklärt  wurden". 


Digitized  by 


Googk 


601 

gesehen,  daß  jeder  Körper,  in  sich  betrachtet,  nur  der  Möglich- 
keit nach  existiert.  Er  ist  daher  durch  einen  anderen  not- 
wendig hervorgebracht')  Du  hast  femer  gesehen,  daß  er  nicht 
von  dem  ersten  Seienden  ohne  Vermittlung  eines  anderen  Wesens 
herstammen  kann.*)  Daher  entstehen  also  die  körperlichen 
Substanzen  aus  dem  ersten  Seienden  durch  irgend  eine  Ver- 
mittlung. Du  weißt  ferner,  daß  diese  Vermittlung  nicht  eine 
reine  Einheit  bilden  kann.  Das  Eine  insofern  es  Eines  ist,  kann 
nur  eine  weitere  Einheit  hervorbringen.  Daher  kann  also  die 
Materie  und  die  Körperwelt  von  den  ewig  geschaffenen,  ersten 
Substanzen  nur  durch  Vermittlung  einer  Zweiheit^)  hervorgehen, 
die  in  diesen  notwendigerweise  vorhanden  ist,  oder  durch  Ver- 
mittlung einer  Vielheit  in  irgendwelcher  Weise. 

In  den  unkörperlichen  Substanzen  kann  aber  keine  Viel- 
heit existieren,  es  sei  denn  in  der  Weise,  die  jetzt  auseinander- 
gesetzt werden  soll.  Die  Wirkung  ist,  in  sich  selbst  betrachtet, 
nur  der  Möglichkeit  nach  existierend.  Durch  das  erste  Seiende 
existiert  sie  notwendig.  <)  Die  Notwendigkeit  ihrer  Existenz 
besteht  darin,  daß  diese  erste  Wirkung,  der  Nüs,  ein  reiner 
Verstand*)  ist.  Er  denkt  sein  Wesen  und  er  denkt  zugleich 
notwendigerweise  das  erste  Seiende.  Daher  muß  in  ihm  irgend 
etwas  (eine  ratio)  wie  eine  Vielheit  vorhanden  sein,  nämlich  der 
Umstand,  daß  dieses  erste  Seiende  (der  Nüs)  sein  eigenes  Wesen 
(reflexiv)  erfaßt  —  dieses  Wesen  ist  jedoch  nur  der  Möglichkeit 
nach  wirklich,  wenn  man  es  in  sich  selbst  betrachtet  —  und 
femer  der  Umstand,  daß  es  denkt  und  erkennt,  daß  die  Existenz 
seines  Wesens  notwendig  aus  dem  ersten  Prinzipe  erfolgt,  das 
seinem  Wesen  nach  geistiger  Natur  ist,  und  drittens  der  Um- 
stand, daß  es  das  erste  Seiende  erkennt  Die  Vielheit,  die  ihm 
zukommt,  stammt  nicht  von  dem  ersten  Seienden;  denn  die 
Möglichkeit  seiner  Existenz  ist  eine  Bestimmung,  die  ihm  durch 
sein  Wesen  zukommt,  nicht  auf  Gmnd  des  ersten  Seienden 
(das   diesen   ersten  Verstand   hervorbringt).     Auf  Gmnd   des 


0  Vgl.  Abh.  I,  6  und  7. 

^  Dies  würde  eine  Vielheit  in  Qott  voraussetzen. 

*)  Cod.  c  61. :  „denn  jedes  ens  contingens  ist  ein  Paar  (eine  Zweiheit), 
das  dnrch  Zusammensetzung  entsteht". 

*)  Vgl.  F&r&b!,  Ringsteine  Nr.  2. 

*)  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  eine  besondere  Art  der  Existenz"  also  nicht  das 
absolute  Sein,  die  reine  Aktualität,  sondern  eine  definierbare  Wesenheit. 


Digitized  by 


Google 


602 

ersten  Seienden  besitzt  dieser  erste  Vei-stand  die  Notwendigkeit 
seiner  Existenz  (das  esse  necessarium  ab  alio  id  est  esse  cau- 
satum).  Die  Vielheit,  die  dadurch  gegeben  ist,  daß  dieses  erste 
geschöpfliche  Sein  die  erste  Ursache  und  auch  sein  Wesen 
denkt,  ist  eine  Vielheit,  die  der  Existenz  seiner  Einheit,  die 
(direkt)  von  dem  ersten  stammt,  wie  ein  notwendiges  Akzidens 
anhaftet.  Wir  leugnen  aber  nicht,  daß  von  einem  einheitlichen 
Dinge  ein  einheitliches  Wesen  hervorgeht  (wie  das  einheitliche 
Wesen  des  ersten  Verstandes),  und  daß  dann  auf  dieses  Wesen 
eine  Vielheit  durch  eine  Art  von  Relation  folgt  —  eine  Viel- 
heit, die  nicht  in  dem  ersten  Augenblick  seiner  Existenz  gegeben 
ist,  noch  auch  in  das  Prinzip  seines  Bestandes  als  Teil  eintritt 
Das  Eine  kann  vielmehr  nur  ein  Einfaches  und  nur  Mnes  zur 
Wirkung  haben.  Dieses  Einfache  kann  jedoch  wiederum  in 
gewisser  Weise  bestimmt  werden  durch  ein  Seinsgesetz,  einen 
gewissen  Zustand,  eine  Eigenschaft  oder  wiederum  eine  Wirkung. 
Die  Wirkung  ist  wiederum  nur  eine.  Aus  dem  Wesen  dieser 
Wirkung  ergibt  sich  dann  per  se  und  notwendig  ein  gewisses 
Ding  und  durch  die  Verbindung  (der  Substanz  des  Nus)  mit 
jenem  notwendigen  Akzidens  ein  anderes  (ein  drittes).  In  dieser 
Weise  ergibt  sich  eine  Vielheit,  die  dem  Wesen  des  ersten  Ver- 
standes anhaftet. 

Eine  solche  Vielheit  kann  daher  die  Ursache  dafür  sein, 
daß  die  Existenz  der  Vielheit  in  den  Dingen,  d.  h.  den  ersten 
Wirkungen  (des  ersten  Seienden)  entstehen  kann.  Wenn  diese 
Vielheit  nicht  existierte,  dann  könnte  aus  Ihm  nur  eine  Einheit 
folgen.    Ein  Körper  könnte  sich  aus  ihm  nicht  ergeben. 

Die  Möglichkeit  einer  Vielheit  besteht  in  jener  Greisterwelt 
nur  in  dieser  Art  und  Weise.  Aus  dem,  was  früher  erklärt 
wurde,  geht  hervor,  daß  die  reinen  Geister  der  Zahl  nach  viele 
sind.  Sie  existieren  also  dann  nicht  zugleich  (d.  h.  in  derselben 
Seinsstufe)  als  Wirkung  des  ersten  Seienden.  Der  höchste  jener 
Geister  muß  vielmehr  das  erste  Wirkliche  bilden,  das  von  der 
Gottheit  ausgeht.  Auf  dieses  folgt  ein  anderer  G^ist,  auf  diesen 
ein  dritter  u.  s.  w.  Weil  sich  aber  unter  jedem  Geiste  eine 
Himmelssphäre  befindet,  zusammengesetzt  aus  einer  Materie  und 
einer  Wesensform,  welche  letztere  die  Seele  ist,  und  weil  femer 
unter  jedem  Verstände  ein  weiterer  Verstand  sich  anreiht,  so 
sind  also  unter  jedem  Verstände  drei  Wirklichkeiten  0  enthalten. 

^)  Wörtlich;  „drei  Dinge  ia  dem  Sein''. 


Digitized  by 


Googk 


603 

Deshalb  ist  es  notwendig,  daß  die  Möglichkeit  für  die  Existenz 
dieser  drei  Wirklichkeiten  sich  aus  jenem  ersten  Verstände 
ergebe,  der  die  erste  Stufe  in  der  Seinsordnung  und  in  der  an- 
fangslosen Schöpfung  einnimmt.  Diese  Dreiheit  geht  aus  dem 
ersten  Verstände  hervor  wegen  der  (S.  601)  erwähnten  Dreiheit,  die 
in  ihm  selbst  vorhanden  ist.  Das  Vollkommenste  hat  in  verschie- 
dener Art  und  Weise  wiederum  je  das  Vollkommenste  zur  Folge 
(so  daß  also  aus  dem  ersten  Verstände  je  nach  seinen  drei  ver- 
schiedenen Tätigkeiten  und  Beziehungen  drei  verschiedene 
Wirkungen,  ein  anderer  Verstand,  ein  seelisches  Prinzip  und  eine 
materielle  Sphäre  sich  ergeben). 

Daher  folgt  also  aus  dem  ersten  Verstände,  insofern  er  das 
erste  Seiende  denkt,  die  Existenz  eines  unter  ihm  sich  befindenden 
Verstandes,  insofern  er  aber  sein  Wesen  selbst  denkt,  die  Exi- 
stenz der  Wesensform  der  Umgebungssphäre  und  ihre  Voll- 
kommenheit, nämlich  des  seelischen  Prinzipes.  Auf  Grund  der 
PotenzialitäV)  die  in  dem  ersten  Verstände  enthalten  ist,  und 
die  eine  Reihe  aufeinanderfolgender  Stufen  zuläßt  durch  die 
Selbstbetrachtung 2)  des  ersten  Verstandes,  entsteht  drittens  die 
Existenz  der  körperhaften  Natur  der  Umgebungssphäre.  Diese 
bildet  eine  untere  Stufe  in  rfem  ganzen  Wesen  der  Umgebungs- 
sphäre, entsprechend  ihrer  Art  (als  dem  unvollkommensten  Teile 
dieser  Sphäre).  Daraus  entsteht  dasjenige  Wirkliche,  das  sich  mit 
Potenzialität  verbindet.  Insofern  der  erste  Verstand  das  erste 
Seiende  denkt,  ergibt  sich  aus  ihm  ein  anderer  Verstand;  insofern 
er  aber  in  sich  selbst  nach  seinen  zwei  Seiten  hin  (in  der  Selbst- 
betrachtung liegt  eine  Teilung  des  Wesens  in  Subjekt  und  Objekt) 
individuell  bestimmt  ist,  ergibt  sich  aus  ihm  die  erste  Sphäre  mit 
ihrem  Körper, 3)  d.  h.  mit  ihrer  Materie  und  ihrer  Wesensform. 
Die  Materie  besteht  durch  Vermittlung  der  Wesensform  und  in 
Verbindung  mit  ihr.  In  gleicher  Weise  wird  dasjenige,  was  der 
Möglichkeit   nach    existiert,    zur   aktuellen  Existenz  gebracht 

>)  Wörtlich:  „der  Natur  der  Möglichkeit". 

')  Die  Selbstbetrachtnng  kann  immer  wiederum  auf  ihre  eigene  Tätig- 
keit zurückgehen  und  so  eine  endlose  Kette  reflexiver  Denktätigkeiten  ergeben. 
Eine  andere  Möglichkeit  der  Übersetzung  ist:  „die  eine  untere  Stufe  bildet 
in  dem  Wesen  des  Nüs,  indem  er  sich  selbst  betrachtet". 

')  In  dieser  Teilung  des  Wesens  liegt  die  Potentialität  ausgedrückt. 
Der  eine  Teil  verhält  sich  in  der  reflexiven  Denktätigkeit  passiv,  der  andere 
aktiv.    Der  eine  bewirkt  also  die  Materie,  der  andere  die  Wesensform. 


Digitized  by 


Google 


604 

durch  die  Aktualität  desjenigen  Prinzipes,  das  der  Wesensform 
der  Sphäre  gegenübersteht  und  entspricht J)  Ebenso  verhält  es 
sich  bei  jedem  einzelnen  Verstände  und  jeder  einzelnen  Sphäre, 
so  daß  die  Reihenfolge  dieser  Geister  und  Sphären  schließlich 
endigt  bei  dem  aktiven  Intellekte,  der  unsere  Seelen  leitet 
Diese  Kette  (wörtlich:  diese  ratio)  der  Geister  geht  nicht  ins 
Unendliche  fort,  so  daß  unter  jedem  immateriellen  Prinzipe  ein 
weiteres  gleiches  Prinzip  existierte. 

Wir  lehren  daher:  wenn  sich  aus  den  rein  geistigen 
Prinzipien  eine  Vielheit  ergibt,  so  besteht  diese  nur  auf  Grund 
der  Vielheit,  2)  die  in  diesen  geistigen  Prinzipien  enthalten  sind. 
Diese  unsere  Aussage  kann  aber  nicht  konvertiert  werden,  so 
daß  ein  jeder  Verstand,  in  dem  diese  Vielheit  vorhanden  ist, 
aus  sich  notwendigerweise  die  Vielheit  dieser  verursachten 
Dinge  ergäbe.  Die  genannten  reinen  Geister  stimmen  sodann 
nicht  in  ihren  Arten  überein;  dann  müßten  auch  die  notwendig 
aus  ihrem  Wesen  (wörtlich:  ihren  rationes)  sich  ergebenden 
Dinge  übereinstimmen. 

Wir  wollen  diese  Gedanken,  in  einer  anderen  Weise,  von 
vorne  beginnend,  darlegen  und  lehren  daher:  die  Himmelssphären 
bilden  eine  Zahl,  die  größer  ist  als  diejenige  Zahl,  die,  wie 
erwähnt,  in  dem  Wesen  der  ersten  Wirkung,  dem  Nus,  enthalten 
ist.  Dieses  ergibt  sich  besonders,  wenn  man  jede  Sphäre  zerlegt 
in  ihre  Wesensform  und  ihre  Materie.  Das  erste  Prinzip  dieser 
Sphäre  kann  nicht  ein  einziges  sein,  d.  h.  nicht  die  erste  Wirkung, 
der  Nüs,  noch  kann  auch  jeder  Körper  der  Sphären,  der  jedes- 
mal der  einer  anderen  Himmelssphäre  übergeordnet  ist,  Ursache 
für  den  auf  ihn  folgenden  Körper  sein.  Denn  der  Körper  als 
solcher  kann  nicht  erstes  (aktives)  Prinzip  für  einen  anderen 
Körper  sein.  Insofern  er  eine  seelische  Kraft  besitzt,  kann  er 
ebensowenig  erste  Ursache  für  einen  Körper  sein,  der  eine 
andere  seelische  Kraft  besitzt  Denn  wir  haben  bereits  dar- 
gelegt, daß  jedes  seelische  Prinzip,  das  einer  jeden  Himmels- 
sphäre zukommt,  die  Vollendung  (Entelechie)  und  die  Wesens- 
form für  diese  bedeutet  Dieses  seelische  Prinzip  ist  also  nicht 
eine  für  sich  existierende  geistige  Substanz;  sonst  müßte  es  ein 


*)  Der  Fonn  der  untergeordneten  Sphäre  entspricht  in  der  Übergeordneten 
ein  fonnverleihendes,  aktives  Prinzip. 

*)  Wörtlich:  „der  rationes  der  Vielheit". 


Digitized  by 


Googk 


605 

reiner  Geist  sein  und  stellte  nicht  mehr  ein  seelisches  Prinzip 
dar.  Es  könnte  dann  nicht  die  Bewegung  hervorbringen,  es 
sei  denn  in  der  Weise,  daß  es  Objekt  des  Verlangens  für  ein 
anderes  Ding  wäre.  Ebensowenig  könnte  aus  der  Bewegung  des 
Körpers  in  diesem  geistigen  Prinzipe  eine  Veränderung  entstehen 
und  ebensowenig  durch  die  Verbindung  mit  dem  Körper  eine 
Phantasievorstellung  oder  eine  innere  Wahrnehmung  (intentio). 
Diese  Verhältnisse  haben  wir  bereits  früher  betreffs  der  Seelen 
der  Sphären,  wie  du  weißt,  betrachtet  und  bewiesen.  Wenn  sich 
die  Verhältnisse  nun  so  gestalten,  dann  können  von  den  Seelen 
der  Sphären  keine  Tätigkeiten  auf  andere  Körper  als  auf  die 
eigenen  der  Sphären  übergehen.  Ein  solcher  Übergang  könnte 
nur  erfolgen  durch  Vermittlung  ihrer  eigenen  Körper.  Denn 
die  Wesensformen  und  Vollkommenheiten  der  Körper  verhalten 
sich  nach  zwei  Arten.  Es  sind  entweder  Wesensformen,  die 
dem  Körper  durch  Vermittlung  der  Materie  dieser  Körper  den 
Bestand  verleihen,  oder  ohne  diese  Vermittlung.  Ebenso  wie 
daher  der  Bestand  dieser  Körper  (in  dem  ersten  Falle)  durch 
die  Materie  jener  Körper  erfolgt,  ebenso  entsteht  auch  dasjenige, 
was  aus  dem  Bestände  dieser  Körper  hervorgeht,  durch  Ver- 
mittlung der  Materie  dieser  Körper  aus  ihnen.  Aus  diesem 
Grunde  erhitzt  das  Feuer  mit  seiner  Hitze  nicht  irgend  welches 
beliebige  Ding,  sondern  nur  dasjenige,  was  mit  dem  Körper  des 
Feuers  in  Kontakt  tritt  oder  sich  in  bestimmter  Weise  zu  ihm 
verhält  Aus  demselben  Grunde  erleuchtet  die  Sonne  nicht 
jedes  Ding,  sondern  nur  dasjenige,  was  zu  dem  Körper  der 
Sonne  in  Opposition  tritt.  Der  zweite  Fall  nannte  Wesensformen, 
die  den  Körpern  ihren  Bestand  verleihen  durch  ihr  eigenes 
Wesen,  nicht  durch  Vermittlung  der  Materien  der  Körper. 
Solche  (selbständige)  Wesensformen  sind  die  Seelen.  Jede  Seele 
ist  als  besonderes  Prinzip  für  einen  bestimmten  Körper  nur 
dadurch  bestimmt,  daß  sie  ihre  Tätigkeit  durch  diesen  Körper 
und  in  ihm  ausübt  ^  Wäre  sie  eine  in  ihrem  Wesen  und  zugleich 
in  ihrer  Tätigkeit  von  diesem  bestimmten  Körper  getrennt  exi- 
stierende Substanz,  dann  würde  sie  seelisches  Prinzip  für  jedes 
beliebige  Ding,  nicht  seelisches  Prinzip  für  diesen  bestimmten 


*)  Diese  VorsteUungen  von  der  Verbindiing  zwischen  Leib  und  Seele 
sind  platonische,  obwohl  Natnrw.  \^.  Teil,  I.  Iff.  die  aristotelischen  Gedanken 
angenommen  wurden. 


Digitized  by 


Google 


606 

Körper  allein  sein  (weil  sie  dann  ebensowohl  durch  jeden  anderen 
Körper  wirken  könnte). 

Nach  allen  diesen  Ausführungen  ist  also  klar,  daß  die 
himmlischen  Kräfte,  die  in  die  Natur  der  himmlischen  Körper 
eingeprägt  sind,  nur  durch  Vermittlung  ihrer  Körper  wirken. 
Es  ist  aber  unmöglich,  daß  sie  durch  Vermittlung  des  Körpers  ein 
seelisches  Prinzip  erzeugen;  denn  der  Körper  kann  nicht  die 
Vermittlung  bilden  zwischen  einer  Seele  und  der  anderen.  Wenn 
die  Seelen  daher  eine  Seele  hervorbringen  ohne  Vermittlung  des 
Körpers,  dann  bestehen  diese  Prinzipien  für  sich  allein  ohne  den 
Körper  und  sie  sind  gekennzeichnet  und  bestimmt  durch  eine 
Handlung,  die  unkörperlicher  Natur  und  getrennt  von  der  Seele 
und  dem  Körper  existiert.  Dies  ist  aber  ein  anderer  Gegenstand 
als  derjenige,  mit  dem  wir  uns  beschäftigen  (indem  wir  von 
einem  seelischen  Prinzipe  handeln).  Wenn  das  seelische  Prinzip 
aber  keine  Seele  hervorbringt,  dann  bringt  es  auch  keine  himm- 
lischen Körper  hervor;  denn  die  Seele  geht  als  Vorbedingung 
dem  Körper  voraus  in  der  Stufenfolge  der  Existenz  und  in  der 
Vollkommenheit.  Man  könnte  nun  für  jede  Himmelssphäre  eine 
Kraft  (wörtlich:  ein  Ding)  voraussetzen,  von  der  eine  Wirkung 
und  eine  Tätigkeit  in  der  zugehörigen  Sphäre  ausgeht,  ohne 
daß  diese  Kraft  ganz  in  Anspruch  genommen  würde  durch  die 
Beschäftigung  mit  jenem  Körper,  i)  Das  Wesen  dieser  Kraft  bliebe 
jedoch  in  seinem  Bestände  und  seiner  Tätigkeit  von  jenem 
Körper  getrennt.  Die  Richtigkeit  dieser  Voraussetzung  leugnen 
wir  nicht  Einen  solchen  Gegenstand  bezeichnen  wir  als  un- 
körperlichen Geist.  Er  verursacht  dasjenige,  was  der  Existenz 
nach  auf  ihn  folgt.  Diese  Substanz  kann  sich  jedoch  zum  Körper 
nicht  in  dem  (gesuchten)  passiven  Verhältnisse  befinden.  Sie 
ist  nicht  mit  ihm  verbunden  und  verschieden  von  demjenigen, 
was  sich  durch  Vermittlung  des  Körpers  zu  einer  individuellen 
Form  gestaltet  und  von  demjenigen,  was  in  der  Weise  entsteht, 
wie  wir  es  von  den  unkörperlichen  Prinzipien  aufgestellt  haben^ 
als  wir  die  Existenz  dieser  Seele  (der  Sphären)  nachwiesen. 
Daher  ist  es  klar  und  richtig,  daß  die  himmlischen  Sphären 
erste  Prinzipien  des  Wirkens  haben,  die  nicht  körperlicher 
Natur  noch  auch  Wesensformen  von  Körpern  sind,  und  daß  jede 


1)  Cod.  c  GL:  „So  verhält  sich  die  unkörperliche  Seele  und  die  in  einen 
Körper  eingepräg^te". 


Digitized  by 


Googk 


607 

Himmelssphäre  ein  besonderes  Prinzip  hat,  und  daß  die  Summe 
aller  Sphären  gemeinsam  Teil  nimmt  an  einem  ersten  Prinzipe 
des  Seins  (indem  sie  ihre  „Sehnsucht"  auf  dieses  Prinzip 
richtet). 

Ganz  unbestritten  ist,  daß  sich  in  der  himmlischen  Welt 
einfache,  körperlose  Geister  befinden,  die  zugleich  entstehen  mit 
dem  Entstehen  der  Körper  der  Menschen,  ohne  daß  sie  jedoch 
dem  Untergange  geweiht  wären.  Sie  bleiben  vielmehr  (ewig) 
bestehen.  In  den  Naturwissenschaften*)  wurde  dies  bereits 
klargestellt  Diese  Substanzen  gehen  nicht  aus  der  ersten 
Ursache  hervor;  denn  sie  bilden  eine  Vielheit,  trotz  der  Einheit 
der  Art  (d.  h.  sie  bilden  eine  numerische  Vielheit)  und  sie  sind 
Substanzen,  die  zeitlich  entstehen.  Diese  Substanzen  sind  also 
von  dem  ersten  Sein  verursacht  durch  irgend  eine  Vermittlung. 
Die  Wirkursachen,  die  zwischen  der  ersten  Ursache  und  den 
körperlichen  Dingen  vermitteln,  können  aber  nicht  in  der  Seins- 
ordnung unter  ihnen  (den  Weltdingen  stehen).  Sie  können 
auch  keine  reinen,  von  der  Materie  getrennten,  Geister  sein.  Denn 
diejenigen  Ursachen,  die  die  Existenz  verleihen,  sind  vollkommner 
im  Sein  (als  ihre  Wirkung).  Was  aber  das  aufnehmende  Prinzip 
für  die  Existenz  angeht,  so  nimmt  dieses  die  niedrigste  Stufe 
in  der  Ordnung  des  Seins  ein.  Daher  muß  also  die  erste  Wirkung 
ein  Geist  sein  und  zwar  ein  dem  Wesen  nach  nur  einer. 

Aus  diesem  ersten  Prinzipe  kann  ferner  keine  Vielheit 
entstehen,  die  in  einer  Art  übereinstimmt  (also  keine  numeiische 
Vielheit).  Denn  die  vielfältigen,  in  der  Art  vorhandenen  Prinzipien 
(rationes),  —  durch  diese  ist  die  Existenz  der  Vielheit  innerhalb 
dieser  Art  möglich,  wenn  dieselbe  überhaupt  aus  verschiedenen 
realen  Wesenheiten  besteht  —  verhalten  sich  so,  daß  jedes 
einzelne  von  ihnen  ein  bestimmtes  Ding  hervorbringt,  und  daß 
dieses  verschieden  ist  von  dem,  was  ein  anderes  hervorbringt, 
und  zwar  innerhalb  der  Art.  Dasjenige,  was  sich  aus  jedem 
einzelnen  von  ihnen  ergibt,  ist  nicht  dasselbe  wie  das,  was  von 
dem  anderen  hervorgebracht  wird.  Es  ist  vielmehr  eine  andere 
Natur.  Wenn  alle  Einzeldinge  nun  aber  in  ihrem  Wesen  über- 
einstimmen, wodurch  unterscheiden  sie  sich  dann  voneinander 
und  bilden  eine  Vielheit?  Eine  teilbare  Materie  darf  ja  nicht 
in  jener  Welt  existieren! 


^)  Natarwissenschaften  IL  Teil,  1, 10. 


Digitized  by 


Google 


608 

Die  erste  Wirkung  (der  Nüs)  kann  also  nicht  aus  sich 
heraus  die  Existenz  einer  Vielheit  ergeben.  Die  Existenz  der 
Vielheit,  die  sich  aus  der  ersten  Wirkung  ergibt,  kann  nur  eine 
der  Art  nach  verschiedene  Vielheit  sein.  Aber  auch  diese 
irdischen  Seelen  (die  eine  Vielheit  von  Arten  darstellen),  ent- 
stehen nicht  ohne  die  Vermittlung  irgend  welcher  realen  Ursache 
aus  der  ersten  Wirkung,  dem  Nüs.  In  dieser  Weise  ergibt 
sich  aus  jeder  Wirkung,  die  vorhergeht  und  höher  steht,  eine 
andere  Wirkung,  so  daß  man  (als  zum  letzten  Gliede  der  Kette) 
zu  einer  Wirkung  gelangt,  die  gleichzeitig  mit  den  Elementen 
besteht,  die  für  das  Entstehen  und  Vergehen  aufnahmefähig 
sind  und  eine  numerische  und  zugleich  eine  spezifische  Vielheit 
bilden.  Daher  ist  also  die  Vielheit  des  aufiiehmenden  Prin- 
zipes  0  die  Ursache  für  die  Vielheit,  die  sich  in  der  Wirkung 
eines  seinem  Wesen  nach  einen  ersten  Prinzipes  zeigt  Diese 
Vielheit  tritt  zudem  erst  auf,  nachdem  die  Existenz  aller  himm- 
lischen Körper  vollendet  ist.  Daher  ergibt  sich  immer  eine 
geistige  Substanz  nach  der  anderen,  bis  daß  schließlich  die 
Sphäre  des  Mondes  entsteht.  Sodann  entstehen  die  Elemente, 
und  diese  werden  disponiert  für  die  Aufnahme  einer  der  Art 
nach  einheitlichen,  der  Zahl  nach  aber  vielfachen  Einwirkung, 
die  ausgeht  von  dem  letzten  Verstände  (d.  h.  dem  Geiste  der 
Mondsphäre).  Denn  wenn  die  Ursache  (für  die  Vielheit  der 
Dinge)  nicht  in  der  Wirkursache  vorhanden  ist,  so  muß  sie  not- 
wendigerweise in  dem  aufnehmenden  Prinzipe  sein.  Daher  ist 
es  also  notwendig,  daß  aus  jedem  Verstände  ein  unter  diesem 
sich  befindender  Verstand  geschaffen  wird.  Die  Kette  dieser 
Verursachungen  endigt  dort,  wo  die  geistigen  Substanzen  teilbar 
und  zur  numerischen  Vielheit  werden  auf  Grund  der  Vielheit, 
die  in  den  Ursachen  besteht  (in  der  Materialursache),  und  dort 
(unter  dem  Monde)  endigt  die  Kette. 

So  ist  es  also  einleuchtend  und  klar,  daß  jedes  geistige 
Prinzip  in  der  Seinsordnung  das  höchste  ist  (höher  als  das 
seelische  und  materielle  Prinzip).  Es  besteht  durch  ein  begriff- 
liches Wesen  (ratio),  das  in  ihm  vorhanden  ist  Dadurch  daß 
jenes  geistige  Prinzip  das  erste  Seiende  begrifflich  erfaßt,  ergibt 
sich  aus  ihm  die  Existenz  eines  anderen  Verstandes,  der  unter 


*)  Avicenna  bezeichnet  so  die  durch  das  eine  materieUe  Prinzip  ent- 
standene Vielheit. 


Digitized  by 


Googk 


609 

ihm  ist.  Dadurch,  daß  jenes  geistige  Prinzip  sich  selbst  denkt, 
ergibt  sich  eine  Himmelssphäre,  die  besteht  aus  ihrem  seelischen 
Prinzipe  und  ihrem  Körper.  Der  Körper  der  Himmelssphäre 
entsteht  aus  diesem  Greiste  und  bleibt  in  seinem  Bestände  er- 
halten durch  Vermittlung  des  seelischen  Prinzips  der  Sphära 
Denn  jede  Wesensform  ist  Ursache  dafür,  daß  ihre  Materie 
aktuell  existiert,  da  die  Materie  in  sich  selbst  keinen  Bestand  hat. 


Siebentes  Kapitel. 

Die  Art  des  Entstehens  der  Elemente  aus  den  ersten  Ursachen. 

Nachdem  die  Sphären  des  Himmels  ihre  Zahl  vollständig 
erlangt  haben,  folgt  auf  sie  die  Existenz  der  Elemente.  Der 
Grund  dafür,  daß  die  Elemente  an  die  letzte  Stelle  treten 
müssen,  liegt  darin,  daß  die  elementaren  Körper  entstehen  und 
vergehen.  Daher  müssen  ihre  nächsten  Prinzipien  Dinge  sein, 
die  eine  Art  von  Veränderung  und  Bewegung  in  sich  aufnehmen 
können.  Ein  weiterer  Grund  ist  der,  daß  dasjenige,  was  reiner 
Verstand  ist,  für  sich  allein  nicht  Ursache  sein  kann  für  die 
Existenz  der  Elemente.  Dies  bewahrheitet  sich  durch  die  Prin- 
zipien, die  wir  häufig  erwähnt  haben  und  die  wir  darlegten 
und.  feststellten.  Die  elementaren  Körper  besitzen  eine  Materie, 
die  ihnen  allen  gemeinsam  ist,  und  sodann  Wesensformen,  durch 
die  sie  sich  von  einander  unterscheiden.  Die  Verschiedenheit 
ihrer  Wesensformen  muß  als  dasjenige  Prinzip  gelten,  auf  Grund 
dessen  (wörtlich:  „in  dem")  eine  Verschiedenheit  in  den  Zuständen 
der  himmlischen  Sphären  bestimmt  wird,^)  und  die  Überein- 
stimmung ihrer  Materie  als  dasjenige  Prinzip,  in  dem  und  auf 
Grund  dessen  eine  Übereinstimmung  der  Zustände  der  Himmels- 


*)  Aus  der  Verschiedenheit  der  Wirkung  schließt  man  auf  die  Ver- 
schiedenheit der  Ursachen  für  jede  Wesensform  der  sublunarischen  Dinge. 
Für  jede  Art  der  Weltdinge,  muß  also  eine  besondere  Ursache  in  der  himm- 
lischen Welt  vorausgesetzt  werden.  Die  himmlischen  Geister  sind  demzufolge 
in  sich  subsistierende  Arten,  ohne  durch  eine  Materie  individualisiert  zu 
sein.  Wenn  sie  also  durch  Emanation  die  Arten  der  sublunarischen  Dinge 
hervorbringen,  so  bewirken  sie  das,  was  ihr  Wesen  besagt. 

Horttn.  Daa  Bacb  der  Genftsimg  der  Seele.  89 


Digitized  by 


Googk 


610 

Sphären  angegeben  werden  kann.  Die  himmlischen  Sphären 
stimmen  darin  überein,  daß  ihre  Natur  eine  kreisförmige  Be- 
wegung hervorbringt  Die  notwendige  Folge  dieser  Naturkraft 
hat  ihre  eigentümliche  Wirkung  in  der  Existenz  der  Materie.') 
Dasjenige  femer,  in  dem  die  Elemente  verschieden  sind,  ist  ein 
Prinzip  für  die  Disposition  der  Materie  zur  Aufnahme  der  ver- 
schiedenen Wesensformen.  Die  individuell  verschiedenen  Dinge, 
die  in  der  Art  und  dem  Genus  übereinstimmen,  sind  jedoch 
nicht  für  sich  allein  genommen,  ohne  Verbindung  und  Unter- 
stützung eines  anderen,  besonders  ad  hoc  determinierten  Prinzipes 
Ursache  für  ein  bestimmtes  Wesen,  das  in  sich  selbst  überein- 
stimmend (homogen)  und  einfach  ist^)  Es  kann  nur  eine  andere 
Wirkursache  sein,  die  diesen  Prinzipien  die  Kraft  verleiht  Diese 
eine  und  homogene  Wirkung  gelangt  also  nur  dann  durch  sie 
zur  Existenz,  wenn  die  verschiedenen  Agenzien  in  Verbindung 
treten  mit  einem  anderen  Agens,  das  sie  zu  einer  einheitlichen 
Wirkung  dirigiert  und  (jede  Abschweifung  von  der  einheitlichen 
Eichtung)  zurückweist ') 

Die  reinen  Geister  und  besonders  der  letzte  in  ihrer  Kette, 
der  uns  am  nächsten  steht,  muß  also  dasjenige  Prinzip  darstellen, 
von  dem  in  Verbindung  mit  den  himmlischen  Bewegungen  etwas 
(in  die  erste  Materie)  emaniert,  in  dem  ein  Umriß  der  Wesens- 
formen der  niedrigsten  Gebiete  des  Welt^dls  enthalten  ist  und 
zwar  in  passiver  Welse.  Dementsprechend  ist  in  jenem  Geeiste 
(dem  aktiven  Intellekte)  oder  in  jenen  Geistern  der  Umriß  der 
Wesensformen  enthalten  und  zwar  in  aktiver  Weise.*)  Sodann 
emanierten  aus  diesem  Verstände  die  Wesensformen  in  indivi- 
dueller Determination  in  die  Materie,  aber  nicht  wie  aus  einem 

>)  Das  Gemeinsame  der  himmlischen  KOrper,  die  Kreisbewegung, 
muß  Ursache  sein  f&r  das  Gemeinsame  der  irdischen  Dinge,  die  erste 
Materie.  Die  Verschiedenheiten  der  himmlischen  K5rper  sind  fol^ch  die 
Ursache  für  die  Verschiedenheit  der  irdischen  d.h.  die  Kräfte  und  Wesens- 
formen jener  disponieren  die  in  sich  homogene,  sablnnarische  Materie  zor 
Aufnahme  der  Wesensformen,  die  zugleich  aus  den  himmlischen  Substanzen 
emanieren. 

')  Eine  Vielheit  von  Agenzien  kann  nur  dann  etwas  Einheitliches 
bewii^en,  wenn  sie  durch  eine  einheitliche  Kraft  zusammenge&tfit  wird. 

*)  Cod.  c  GL:  „dies  ist  der  aktive  InteUekt''. 

^)  Die  Archetypen  der  Ideenwelt  sind  aktive  Prinzipien.  Die  Geister- 
welt Avicennas  ist  inhaltlich  identisch  mit  der  Ideenwelt  Piatos.  Codd.  b.  u.  d.: 
„so  daß  eine  Unterscheidung  durch  Differenzen  bewirkt  wird''. 


Digitized  by 


Googk 


611 

selbständigen  Wesen;')  denn  das  Eine  wirkt  (nur)  auf  das  Eine 
und  bringt  nur  ein  Einziges  hervor,  wie  du  gesehen  hast  Die 
Geister  der  oberen  Welt  wirken  vielmehr  in  Verbindung  mit  den 
himmlischen  Körpern.  Wenn  daher  dieses  bestimmte  Ding  durch 
irgend  eine  Einwirkung  der  himmlischen  Körper  ohne  Ver- 
mittlung eines  elementaren  Körpers  oder  auch  durch  Vermittlung 
desselben  determiniert  wird  —  diese  Einwirkung  verleiht  ihm 
eine  besondere  Disposition,  nachdem  es  vordem  in  allgemeiner 
Weise  disponiert  war,  nämlich  in  seiner  Substanz  —  dann  strömt 
von  diesem  unkörperlichen  Prinzipe  (dem  reinen  Geiste)  eine 
individuelle  Wesensform  hernieder  und  zeichnet  sich  ein  in  diese 
bestimmte  Materie. 

Du  weißt,  daß  das  Eine  nicht  ein  anderes  Einziges 
mit  einem  bestimmten,  ihm  eigentümlichen  Kennzeichen  deter- 
miniert, insofern  jedes  von  beiden  ein  Einziges  ist,  (weil  die 
Wirkung  nicht  mehr  enthalten  kann,  als  die  Ursache).  Es  ist 
vielmehr  erforderlich,  daß  in  der  himmlischen  Welt  Prinzipien 
existieren,  die  die  individuelle  Determination  herbeiführen  und 
die  zugleich  verschieden  voneinander  sind.  Die  Prinzipien,  die 
das  individuelle  Sein  der  Materie  herbeiführen,  sind  diejenigen, 
die  ihr  die  Disposition  verleihen.  Dasjenige  aber,  was  die  Materie 
disponiert,  ist  ein  solches  Prinzip,  von  dem  aus  in  dem  zu  dis- 
ponierenden Objekte  etwas  Reales  entsteht  Dieses  ist  so  be- 
schaffen, daß  eine  Beziehung  und  Proportion  jenes  Realen  zu 
einem  individuellen  Dinge  näher  liegt  und  eher  eintritt  als  eine 
Beziehung  auf  ein  anderes  Ding.^)  Diese  Disponierung  der 
Materie  gibt  den  Ausschlagt)  für  das  Zustandekonmien  der 
Existenz  dessen,  was  dem  bestimmten  Dinge  eher  zukommt  (als 
einem  anderen).  Sie  wird  ihm  zuteil  von  den  Prinzipien,  die 
die  Wesensform  mitteilen.  Befände  sich  die  Materie  in  der 
ursprünglichen  Disposition,  dann  wäre  ihre  Beziehung  zu  den 

*)  Die  Formen  emanieren  aus  dem  Verstände,  nicht  insofern  er  eine 
rein  geistige  Substanz  ist  und  frei  Ton  der  Materie  existiert,  sondern  insofern 
er  durch  Vermittlung  der  Weltseelen  mit  der  Materie  in  Verbindung  steht. 
Im  ersteren  Falle  müßten  die  Wesensformen  rein  geistige  Substanzen  sein. 

*)  pie  Disposition  bewirkt,  daß  die  Form  zu  dem  disponierten  Dinge 
in  näherer  Beziehung  steht,  als  zu  einem  anderen.  Avicenna  sucht  zu  er- 
klären, weshalb  die  Wesensform,  die  an  und  für  sich  in  dem  ganzen  Bereiche 
der  materia  prima  auftreten  kann,  gerade  in  dieser  individuellen  Materie 
wirklich  wird.    Die  Disposition  zieht  die  Form  gleichsam  an. 

')  Wörtlich:  „läßt  die  Wagschale  für  die  Existenz  überwiegen". 

39* 


Digitized  by 


Googk 


612 

beiden  konträren  Dingen  (z.  B.  zu  den  konträren  Formen  des 
Heißen  und  Kalten)  gleick  Die  Wagschale  keines  von  beiden 
würde  überwiegen.')  Damit  eines  zur  aktuellen  Existenz  ge- 
langt, ist  ein  neuer  Zustand  erforderlich,  durch  den  sich  die 
auf  die  Materie  einwirkenden  Prinzipien  unterscheiden  (so  daß 
die  eine  Wirkung  eher  auftritt,  als  die  andere). 

Daher  lehren  wir:  diese  Verschiedenheit  wird  ebenfalls  in 
einer  und  derselben  Weise  auf  alle  Arten  der  Materie  zurück- 
geführt^)  Sie  kann  deshalb  nicht  einer  positiven  Materie  allein 
mit  Ausschluß  der  anderen  zukommen,  es  sei  denn  auf  Grund 
eines  Dinges  (der  Disposition),  das  ebenfalls  in  dieser  Materie 
existiert  Dieses  kann  nur  die  vollkommene  Disposition  sein. 
Die  Disposition  ist  nichts  anderes,  als  eine  vollkommene  Be- 
ziehung auf  ein  bestimmtes,  individuelles  Ding  (die  Form). 
Letzteres  ist  dasjenige,  auf  das  die  Disposition  gerichtet  ist 
Dieses  verhält  sich  wie  das  Wasser.  Ist  seine  Hitze  außer- 
gewöhnlich groß,  dann  findet  sich  die  dem  Wasser  fremde  Hitze 
und  die  Wesensform  des  Wassers  zusammen.  Die  Hitze  ist 
zudem  weit  verschieden  von  der  Wesensform  des  Wassers  und 
sehr  nahe  verwandt  der  Wesensform  des  Feuers.  Wenn  daher 
die  Hitze  außerordentlich  intensiv  und  die  Verwandtschaft  zum 
Wasser  sehr  groß  wird,  dann  ist  die  Disposition  (zur  Aufnahme 
der  Form  des  Feuers)  sehr  mächtig.  Es  liegt  dann  in  der  Natur 
der  Wesensform  des  Feuers,  daß  sie  in  das  Wasser  einströmt, 
und  in  der  Wesensform  des  Wassers,  daß  sie  vernichtet  wird. 

Weil  nun  die  Materie  nicht  ohne  Wesensform  bestehen 
kann,  so  erhält  sie  also  ihren  Bestand  nicht  allein  von  dem, 
was  von  den  ersten  Prinzipien  der  himmlischen  Welt  auf  dieses 
Bestehen  wirkte)  Sie  erhält  ihr  Bestehen  vielmehr  von  diesen 
Beziehungen  (d.  h.  der  Disposition)  und  zugleich  von  der  Wesens- 
form.  Weil  nun  die  Wesensform,  die  dieser  individuellen  Materie 
im  jetzigen  Augenblicke  ihren  Bestand  verleiht,  früher  nicht  in 
der  Materie  vorhanden  war,  so  daß  die  Materie  ohne  diese 


>)  Weder  das  Kalte  noch  das  Heifle  gelang  znr  Existenz. 

*)  Die  Gesamtheit  der  Materie  ist  in  gfleicher  Weise  dispositionsfShi^ 
für  die  Formen.  In  ihr  müssen  also  Unterschiede  auftreten,  wenn  hier  dieses, 
dort  jenes  Ding  entstehen  soU. 

')  wortlich:  „auf  diesen  Bestand  bezogen  wird**.  Es  ist  damit  die 
materia  prima  bezeichnet,  die  eine  Wirkung  der  allen  Sphären  gemeinsamen 
Kreisbewegung  ist. 


Digitized  by 


Googk 


613 

bestimmte  Wesensform  ihren  Bestand  hatte,  so  ist  also  der 
Bestand  der  Materie  nicht  von  der  Wesensform  allein  abhängig, 
sondern  er  hängt  von  dieser  und  zugleich  von  den  ewigen 
Prinzipien  der  himmlischen  Welt  ab,  indem  er  durch  deren 
Vermittlung  oder  durch  die  Vermittlung  eines  anderen  Dinges 
zustande  kommt,  das  ihnen  ähnlich  ist  Käme  dieses  Bestehen 
der  Materie  von  den  Prinzipien  der  Hochwelt  allein  zustande 
(die  die  homogene  materia  prima  erzeugen),  dann  bedürfte  die 
Materie  nicht  der  Wesensform.  Stammte  das  Bestehen  der 
Materie  aber  von  der  Wesensform  allein  ab,  dann  könnte  die 
Materie,  behaftet  mit  einer  anderen  Wesensform,  nicht  früher 
existieren.  Die  Sache  verhält  sich  Jedoch  anders.  In  der  himm- 
lischen Welt  ist  allen  Körpern  das  Eine  gemeinsam,  daß  sie 
eine  kreisförmige  Bewegung  haben.  Dieses  Gemeinsame  ist  not- 
wendiges Akzidens  einer  Naturkraft>  die  durch  die  besonderen 
Naturbeschaffenheiten,  die  jeder  einzelnen  Sphäre  zukommen, 
ihren  Bestand  erhält.  Ebenso  wie  dieses  verhält  sich  die  Materie 
hier,  in  der  sublunarischen  Welt.  Die  Einwirkungen  der 
besonderen  Naturbeschaffenheiten,  d.  h.  also  die  Wesensform, 
verleihen  ihr  den  Bestand*)  zugleich  mit  der  gemeinsamen 
Naturkraft,  (die  die  materia  prima  darstellt).  Ebenso  wie  die 
Bewegung  derjenige  Zustand  ist,  der  in  der  himmlischen  Welt 
die  geringste  Seinsffille  besitzt,  ebenso  ist  die  Materie  dasjenige 
Wesen,  das  in  der  unteren  Welt  die  geringste  Wirklichkeit  in 
sich  schließt  Wie  femer  die  Bewegung  in  der  himmlischen 
Welt  sich  aus  der  (bestimmten)  Naturkraft  ergibt,  die  (an  sich) 
in  der  Potenz  existiert,  ebenso  verhält  sich  die  Materie  in  der 
unteren  Welt  Sie  ist  verbunden  mit  dem  und  begleitet  ständig 
das,  was  in  der  Potenz  existiert.  Wie  femer  in  der  himmlischen 
Welt  die  besonderen  und  die  gemeinsamen  Naturkräfte,  (an  denen 
alle  Sphären  in  gleicher  Weise  Teil  nehmen),  erste  Prinzipien 
oder  helfende  Agenzien  sind  sowohl  für  die  besonderen  Kräfte  als 
auch  die  gemeinsame  Naturkraft  in  der  unteren  Welt^  ebenso  ver- 
halten sich  die  beiderseitigen  Propria.  Das,  was  den  besonderen 
und  gemeinsamen  Naturkräften  in  der  himmlischen  Welt  not- 
wendig anhaftet,  nämlich  die  verschiedenartigen  Beziehungen, 
die  sich  abwechseln  und  die  in  den  Sphären  auf  Grund  der 
Bewegung   eintreten,   ist   ein   erstes   (aktives)  Prinzip  für  die 


^)  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  in  den  Elementen" 


Digitized  by 


Google 


614 

Veränderung  der  Zustände  und  ihr  beständiges  Abwechseln 
in  der  sublunarischen  Welt  In  gleicher  Weise  ist  auch  die 
Vermischung  der  Beziehungen  der  Zustände  in  der  himmlischen 
Welt  (z.  B.  das  Zusammentreffen  verschiedener  Konjunktionen 
oder  Oppositionen  der  Gestirne)  Ursache  für  das  Durcheinander- 
wirken ^  der  Beziehungen  dieser  sublunarischen  Elemente  oder 
(wenigstens)  ein  helfendes  Agens  für  sie.  Die  himmlischen 
Körper  üben  eine  Einwirkung  auf  die  Körper  dieser  subluna- 
rischen Welt  aus  durch  Vermittlung  der  Qualitäten,  die  ihnen 
eigentümlich  sind.  Von  diesen  Körpern  der  himmlischen  Welt 
strömen  sie  aus  auf  diese  sublunarische  Welt^)  Die  Seelen  der 
Hochwelt  üben  ebenfalls  eine  Einwirkung  aus  auf  die  Seelen 
dieser  sublunarischen  Welt 

Durch  alle  diese  Gredanken  erkennst  du,  daß  die  Naturkraft, 
die  die  Körper  dieser  niederen  Welt  leitet  und  die  sich  verhält 
wie  die  Vollkommenheit  und  die  Wesensform,  zeitlich  entsteht 
aus  der  Seele,  die  in  der  Sphäre  des  Himmels  zum  Dasein  ge- 
langt, oder  wenigstens  mit  der  Unterstützung  dieser  Seele.  Einige 
Philosophen,  die  sich  zu  den  Männern  der  Wissenschaft  rechnen, 
behaupten:  die  Himmelssphäre  muß  sich,  weil  sie  sich  in  einer 
kreisförmigen  Bewegung  befindet,  um  einen  festen  Punkt  (den 
Pol),  der  innerhalb  der  Kugelgestalt  ist,  drehen.  Dann  aber 
muß  die  Sphäre  sich  an  diesem  Punkte  reiben  und  erhitzen,  so 
daß  sie  in  Feuer  verwandelt  wird.  Dasjenige  aber,  was  von 
dieser  Stelle  des  Feuers  (der  äußersten  Sphäre)  entfernt  ist, 
bleibt  in  Ruhe,  erkaltet  dann  und  verdichtet  sich,  so  daß  es  zur 
Erde  wird.  Was  nun  dem  Feuer  nahe  steht,  wird  teils  heiß, 
jedoch  ist  es  weniger  heiß  als  das  Feuer  selbst.  Dasjenige, 
was  der  Erde  nahe  steht,  wird  teils  dicht,  jedoch  ist  es  weniger 
dicht,  als  die  Erde.  Die  geringe  Intensität  einesteils  der  Hitze 
und  andemteils  der  Verdichtung  ergeben  die  Feuchtigkeit  des 
betreffenden  Elementes.  Die  Trockenheit  entsteht  entweder  aus 
der  Hitze  oder  aus  der  Kälte.  Das  feuchte  Element,  das  der 
Erde  nahe  steht,  ist  jedoch  kälter;  dasjenige,  was  dem  Feuer 
nahe  steht,  ist  heißer. 

>)  Wörtlich:  „die  Mischung«. 

*)  Welche  Einwirkung  z.  B.  den  einzelnen  Planeten  zukommen,  führt 
Ayicenna  aus  in  seiner  Ahhandlung  „über  die  Körper  der  himmlischen  Weif 
gedr.  Konstantinopel  1298  d.  H.,  in  dem  Sammelbande  ^Neun  Abhandlungen 
Avicennas"  S.  40. 


Digitized  by 


Googk 


615 

Dieses  ist  also  die  Ursache  für  das  Entstehen  der  Elemente, 
und  es  ist  zugleich  die  Lehre  der  Philosophen.  Sie  kann  jedoch 
nicht  durch  syllogistische  Deduktionen  bewiesen  werden,  noch 
ist  sie  in  der  genauen  Untersuchung  unzweifelhaft  sicher.  Die 
Sachlage  könnte  sich  eventuell  auch  nach  anderen  Gesetzen 
vollziehen  und  es  könnte  der  Fall  sein,  daß  diese  Materie,  die 
durch  die  Verbindung  mehrerer  Prinzipien  entsteht,  von  den 
himmlischen  Körpern  eine  Einwirkung  empfängt,  entweder  von 
vier  Körpern  oder  von  einer  Anzahl  derselben,  die  eingeschlossen 
ist  in  der  Vierzahl.  Es  könnte  sein,  daß  auf  diese  Materie  eine 
Einwirkung  (wörtlich:  „ein  Tragen")  herabströmt  von  jedem 
einzelnen  dieser  himmlischen  Körper,  und  diese  Einwirkung  dis- 
poniert sie  für  die  Wesensform  eines  einfachen  Körpers.  Ist 
dann  der  einfache  Körper  weiter  disponiert  worden,  dann  empfängt 
er  die  Wesensform  von  demjenigen,  der  die  Wesensform  verleiht 
(dem  Demiurgen  d.  h.  dem  aktiven  Intellekte).  Der  Prozeß  kann 
jedoch  auch  so  verlaufen,  daß  die  ganze  Summe  (dieser  Dis- 
positionen und  Formen)  von  einem  einzigen  Körper  ausströmt. 
In  der  himmlischen  Welt  kann  ferner  eine  Ursache  existieren, 
die  eine  Teilung  der  Ursachen  herbeiführt,  die  uns  verborgen 
sind,  und  die  nur  diesen  Teil  auf  uns  wirken  läßt. 

Wenn  du  die  schwache  Seite  der  Behauptung  jener  Philo- 
sophen erkennen  wiUst,  dann  betrachte  ihre  Aussagen,  die  sie 
aufstellten:  „die  Existenz  kommt  in  ereter  Linie  einem  Körper 
zu,  der  in  sich  selbst  keine  der  Wesensformen  besitzt,  die  ihm 
den  Bestand  verleihen,  abgesehen  von  der  Wesensform  der 
Körperlichkeit  Dieser  (universelle)  Körper  erwirbt  sodann  die 
übrigen  Wesensformen  nur  durch  die  Bewegung  und  Ruhe  und 
zwar  erst  in  zweiter  Linie."  Vor  diesen  Ausführungen  haben 
wir  bereits  die  Unmöglichkeit  dieser  Ansicht  dargetan,  0  und 
wir  haben  bewiesen,  daß  der  Körper  in  seiner  Existenz  nicht 
zur  Vollkommenheit  gelangt  durch  die  Wesensform  der  Körper- 
lichkeit allein,  wenn  nicht  mit  dem  Körper  zugleich  auch  eine 
andere  Wesensform  verbunden  wird.  Die  Wesensform  des 
Körpers,  die  der  Materie  den  Bestand  verleiht,  sind  nicht  die 
Dimensionen  allein; 2)    denn   die  Dimensionen   folgen   in   ihrer 


*)  Es  sind  die  Darlegungen,  in  denen  Avicenna  zeigt,  daß  das  Univer- 
sale logischer  Ordnung  ist.    Abh.  V. 
«)  VgL  Abh.  n,  1. 


Digitized  by 


Google 


616 

Existenz  auf  andere  Wesensformen,  die  den  Dimensionen  voraus- 
gehen. Wenn  du  willst,  so  betrachte  den  Vorgang  der  Ver- 
flüchtigung eines  Körpers  infolge  der  Hitze  und  der  Verdichtung 
desselben  infolge  der  Kälte.  Der  Körper  wird  vielmehr  nicht 
zum  Körper,  bis  es  eintrifft,  daß  er  auf  etwas  anderes  folgt  in 
der  Bewegung.  0  Indem  der  Körper  jener  Bewegung  Folge 
leistet,  wird  er  erhitzt  Diese  Bewegung  ist,  wie  wir  dargelegt 
haben,  nicht  eine  gewaltsame,  sondern  eine  naturgemäße,  es 
müßte  denn  sein,  daß  seine  Natur  bereits  zur  Vollkommenheit 
gelangt  ist.^)  Ist  jedoch  seine  Natur  vollkommen  geworden, 
dann  kann  dieselbe  an  den  günstigsten  Orten  erhalten  bleiben, 
dadurch,  daß  er  selbst  an  jenen  Orten  bleibt.  Denn  die  Hitze 
wird  dort  erhalten,  wo  die  Bewegung  ist,  die  Kälte  bleibt  dort 
bestehen,  wo  die  Ruhe  ist. 

Jene  Philosophen  übergingen  femer  die  Frage,  weshalb  es 
für  einige  Teile  jener  ^)  Materie  notwendig  ist,  daß  sie  zum 
Mittelpunkte  der  Kugel  hinfällt,  und  daß  ihr  dann  die  Qualität 
der  Kälte  zukommt,  und  weshalb  es  für  einen  anderen  Teil 
jener  Materie  notwendig  ist,  daß  sie  den  hohen  Teilen  des 
Himmelsgewölbes*)  benachbart  bleibt  Für  unsere  heutige  5feit 
aber  ist  die  Ursache  für  diese  Vorgänge  bekannt  Die  Ursache 
für  die  universellen  Bestimmungen  dieser  Eigenschaften  und  Vor- 
gänge sind  die  Leichtigkeit  und  die  Schwere,  die  für  den  parti- 
kulären Vorgang  in  einem  einzelnen  Elemente  liegt  in  folgendem. 
Es  ist  richtig,  daß  die  Teile  der  Elemente  entstehen.  Wenn  nun 


')  Avicenna  will  vielleicht  sagen,  der  verflüchtigte  Körper  wird  nur 
dann  wieder  zu  einem  festen,  wenn  er  den  Verdichtungsprozeß  wieder  durch- 
macht (der  Bewegung  eines  anderen  folgt?)  oder  der  flüssige  Körper  wird 
nur  dann  verflüchtigt  und  nimmt  dadurch  ein  anderes  Wesen  an,  dafi  er 
von  der  Bewegung  eines  heißen  Körpers  ergriffen  wird.  In  jedem  Falle  ist 
aber  der  Körper  nicht  so  konstituiert,  daß  er  in  einer  Phase  des  Prozesses 
der  Veränderung  nur  mit  der  Wesensform  der  Körperlichkeit  ausgestattet 
wäre  ohne  jede  andere  Wesensform. 

»)  Dann  ist  die  Bewegung,  in  der  er  einem  anderen  Körper  folgt,  eine 
unnatürliche. 

*)  Jene  Materie  bezeichnet  die  der  Sphären.  Es  wird  also  die  Frage 
gestellt,  weshalb  einige  Teile  der  himmlischen  Materie  von  den  Sphären  ab- 
bröckeln und,  zum  Mittelpunkt  des  Weltalls  fallend,  die  Erde  bilden,  andere 
Teile  nicht.  Die  Griechen  haben  dieses  Problem  leichtfertig  übergangen. 
Zur  Zeit  Avicennas  war  die  Erklärung  dieser  Tatsache  nicht  mehr  zweifelhaft. 

*)  Wörtlich:  „dem  Oberen". 


Digitized  by 


Googk 


ein  Teil  eines  Elementes  an  einem  bestimmten  Orte  entstellt, 
dann  muß  notwendigerweise  eine  Fläche  dieses  Elementes  an  den 
oberen  Teil  grenzen.  Bewegt  sich  nnn  diese  Fläche  nach  oben, 
so  kommt  es  derselben  eher,  als  einer  anderen  Fläche  zu,  höher 
zu  sein.  In  dem  ersten  Entstehen  des  Elementes  bewegt  eine 
Fläche  sich  nach  oben  und  eine  andere  Fläche  nach  unten  und 
zwar  nur  aus  dem  Grunde  weil  es  notwendig  ist,  daß  der  Körper 
sich  durch  eine  bestimmte  Bewegung  verändert,  und  daß  die 
Bewegung  notwendigerweise  im  Körper  eine  gewisse  Lage 
hervorbringt 

Das,  was  mir  am  wahrscheinlichsten  scheint  und  was 
bereits  früher  unsere  Ansicht  war  und  ich  (auch)  jetzt  vermute, 
ist,  daß  diese  Lehre,  die  jener  Philosoph  aufstellte  betreffs  des 
Entstehens  der  Elemente,  annähernd  das  Wahre  trifft  So  ist 
es  die  Überzeugung  eines  (Freundes)  aus  der  großen  Menge  der 
Philosophen,  der  ihm  brieflich  seine  Ansicht  mitteilte.  Die 
Nachfolger  jenes  Philosophen  stellten  sodann  die  bestimmte 
Behauptung  auf,  jener  Freund,  der  solches  geschrieben  habe, 
verwickele  sich  in  große  Schwierigkeiten  und  Zweifel. 


Achtes  Kapitel 

Die  Vorsehung  Gottes  und  die  Art  und  Weise,  wie  das  Böse  sich  im 
göttlichen  Ratschlüsse  befindet 

Es  ist  nun  naturgemäß,  nachdem  wir  bis  zu  diesem  Punkte 
in  der  Darlegung  gelangt  sind,  daß  wir  über  die  Vorsehung 
Gottes  sprechen.  Aus  dem,  was  bereits  bewiesen  worden  ist, 
ist  es  unzweifelhaft  klar  zu  ersehen,  daß  die  Ursachen  der 
himmlischen  Welt  nicht  etwa  unseretwegen  ihre  Wirkungen 
ausüben  können  oder  daß,  kurz  gesagt,  die  Geister  jener  Welt 
um  irgend  ein  Ding  (dieser  Welt)  Sorge  hätten,  oder  daß  sie 
angetrieben  würden  durch  ein  Motiv,  das  ihnen  eine  bestimmte 
Auswahl  auferlegte.  Die  wunderbaren  Wirkungen  in  dem  Ent- 
stehen des  Weltalls,  der  Teile  des  Himmels,  der  Pflanzen  und 
Tiere  kannst  du  in  keiner  Weise  leugnen.  Alles  dieses  kann 
nicht  durch  Zufall  entstehen;  es  erfordert  vielmehr  eine  Welt- 


i 


Digitized  by 


Googk 


618 

leitung.  Du  mußt  daher  wissen,  daß  die  Vorsehung  Gottes  darin 
besteht,  daß  das  erste  Seiende  durch  sein  eigenes  Wesen, 0  das 
Seiende  erkennt  nach  der  ganzen  Ordnung  des  Guten,  auf  die 
es  gegründet  ist,  und  daß  Gott  durch  sich  selbst  Ursache^)  ist 
für  das  Gute  und  die  Vollkommenheit,  insoweit  dieses  möglich 
ist.  Er  hat  femer  Wohlgefallen  an  dem  erkannten  Guten  in 
der  dargelegten  Weise,  er  denkt  daher  die  Ordnung  des  Guten 
in  der  vollkommensten  und  vollendetsten  Weise,  die  möglich  ist 
Deshalb  strömt  von  ihm  dasjenige  aus,  was  er  denkt,  in  einer 
bestimmten  Ordnung  und  nach  der  Art  des  Guten  in  der  voll- 
kommensten Weise,  die  er  denkt,  und  in  einer  Emanation,  die 
in  der  vollendetsten  Weise  zur  Ordnung  hinführt,  soweit  es 
möglich  ist  Dies  ist  das,  was  man  unter  göttlicher  Vorsehung 
versteht 

Der  Ausdruck  „das  Böse",  wisse,  wird  in  verschiedenen  Be- 
deutungen gebraucht.  Man  bezeichnet  mit  böse  einen  Mangel,  der 
sich  verhält  wie  die  Unwissenheit,  die  Schwachheit  und  irgendwie 
Tadelnswertes  in  der  Naturanlage.  Femer  wird  als  Böses 
bezeichnet  etwas,  das  sich  verhält  wie  Schmerz  und  Kummer. 
Es  ist  eine  Art  des  Erfassens  (Innewerdens)  von  irgend  einer 
(positiven)  Ursache,  nicht  nur  des  Mangels  einer  solchen.  Denn 
die  Ursache,  die  dem  Guten  widerstrebt,  das  Gute  hindert  und 
seine  Nichtexistenz  herbeiführt,  ist  vielfach  getrennt  von  dem 
Subjekte,  so  daß  dieses,  das  Schaden  leidet,  die  Ursache  nicht 


0  Vgl.  Thomas  Sum.  th.  I  14,  2  c:  Cnm  igitnr  Dens  nihU  potentialitatis 
habeat,  sed  sit  actus  purus,  oportet  quod  in  eo  intellectns  et  inteUectnm  sint 
idem  omnibns  modis;  ita  sdlicet  ut  neque  careat  specie  inteUigibili  sicut 
intellectus  noster,  cum  intelligit  in  potentia,  neque  spedes  inteUigibilis  sit 
alind  a  substantia  inteUectus  divini,  sicut  accidit  in  inteUectu  nostro,  cnm 
est  actu  intelligens;  sed  ipsa  species  inteUigibilis  est  ipse  inteUectus  divinus 
et  sie  se  ipsum  per  se  ipsum  (arab.  li^ätihi)  intelligit.  Ib.  Ae:  intelligere  Dei 
est  eius  substantia.  Nam  si  intelligere  Bei  sit  aUud  quam  eins  substantia, 
oporteret  quod  aliquid  aliud  esset  actus  et  perfectio  substantiae  divinae,  ad 
quod  se  haberet  substantia  divina  sicut  potentia  ad  actum,  quod  est  omnino 
impossibile.  .  .  Sicut  enim  supra  dictum  est,  intelligere  non  est  actio  pro- 
grediens  ad  aliquid  extrinsecum,  sed  mauet  in  operante  sicut  actus  et  i>er- 
fectio  eius,  prout  esse  est  perfectio  existentis.  Sicut  enim  esse  consequitur 
formam,  ita  intelligere  sequi tur  speciem  intelligibüem.  In  Deo  autem  non 
est  forma,  quae  sit  aliud  quam  suum  esse,  ut  supra  ostensum  est.  Unde  cum 
ipsa  sua  essentia  sit  etiam  species  inteUigibilis,  praecipue  ex  necessitate 
sequitur,  quod  ipsum  eius  inteUigere  sit  eius  essentia  et  eins  esse. 

«)  Vgl  Thomas,  Sum.  th.  I  44. 


Digitized  by 


Google 


619 

erkennen  kann.  So  verhält  sich  z.  B.  die  Wolke,  wenn  sie 
Schatten  bringt  und  das  Aufleuchten  der  Sonne  für  denjenigen 
hindert^  der  der  Sonnenstrahlen  bedürftig  ist,  um  zur  vollkommenen 
Natur  zu  gelangen.  Ist  nun  dieses  Subjekt,  das  der  Sonnen- 
strahlen bedürftig  ist,  ein  mit  erkennenden  Kräften  ausgestattetes, 
so  erkennt  dasselbe,  daß  es  den  erwarteten  Nutzen  nicht  erhält. 
Jedoch  erkennt  es  als  solches  (d.  h.  in  dem  Selbstbewußtsein) 
nicht,  daß  die  Wolke  dazwischen  getreten  ist  Es  erkennt  dieses 
vielmehr  nur,  insofern  es  sehen  kann.  Insofern  es  aber  sehen 
kann,  erleidet  es  keinen  Schmerz,  keinen  Schaden  oder  einen 
Verlust*)  durch  diesen  Vorgang.  Es  erleidet  einen  solchen  nur, 
insofern  es  etwas  anderes  ist  2)  (d.  h.  in  einer  anderen  formellen 
Hinsicht).  Manchmal  ist  die  Ursache  des  Schmerzes  mit  dem 
Subjekte  verbunden.  Es  erkennt  diese  Ursache  zugleich,  wenn 
es  sich  bewußt  wird,  daß  ihm  die  Integrität  seiner  Natur  fehlt 
So  verhält  sich  derjenige,  der  dadurch  Schmerz  empfindet,  daß 
der  Zusammenhalt  eines  Gliedes  durch  die  Hitze,  die  zerstörend 
und  zerreißend  wirkt,  aufgelöst  wird.  Denn  insofern  er  aus  dem 
Zerrissen  werden  3)  des  Gliedes  eine  (zerstörende)  Kraft  in  diesem 
Gliede  erkennt,  erkennt  er  auch  zugleich  die  Ursache,  die  ihm 
Schmerz  zufügt,  nämlich  die  Hitze.  Darin  vereinigen  sich  also 
zwei  Arten  des  Erkennens.  Auf  diese  eine  Art  erkennt  er  in 
der  Weise,  wie  wir  die  Dinge  erkennen,  die  nicht  mehr  existieren; 
auf  die  andere  Art  erkennt  er  in  der  Weise,  wie  wir  die  exi- 
stierenden Dinge  erkennen.  Beides  wurde  bereits  erklärt.  Dieses 
positive  Objekt  des  Erkennens  ist  nichts  in  sich  Böses;  es  ist 
nur  etwas  Böses  in  Beziehung  zu  diesem  individuellen  Dinge. 

Die  Privation  seiner  Vollkommenheit  aber  und  der  Inte- 
grität seines  Körpers  ist  nicht  etwas  Böses  in  Beziehung  auf 
ihn  allein,  so  daß  also  dieser  Gegenstand,  der  das  Böse  bedeutet, 
eine  positive  Existenz  besitzt,  durch  die  er  nicht  böse  ist  Die 
Existenz  des  Übels  ist  vielmehr  nur  ein  Böses  in  dem  Subjekte 
und  in  der  (relativen)  Weise,  in  der  es  etwas  Böses  ist*)  Das 
Beispiel  dafür  ist  der  Blinde.  Die  Blindheit  kann  nur  in  dem 
Auge  stattfinden,  und  in  dem  Auge  als  solchem  kann  sie  nur 

')  Cod.  c  Gl. :  „weil  ihm  das  Erwänntwerden  fehlt". 
^  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  insofern  er  einen  Tastsinn  besitzt". 
*)  Wörtlich:  „infolge  des  Verlustes  der  Kontinuität". 
*)  Codd.  b  d :  Sogar  die  Existenz  dieses  Gegenstandes  (des  Feuers)  in  dem 
Subjekte  (dem  Gliede  des  Körpers)  ist  nichts  Böses  an  sich. 


Digitized  by 


Google 


620 

vom  Übel  sein.   Sie  kann  keine  andere  Hinsicht  und  Auffassungs- 
weise besitzen,  wodurch  sie  etwa  nicht  vom  Übel  wäre.*) 

Wenn  aber  die  Hitze  z.  B.  in  Beziehung  zu  [demjenigen, 
der  durch  dieselbe  Schmerz  empfindet,  ein  Böses  bedeutet,  so 
besitzt  sie  auch  eine  andere,  formelle  Beziehung,  durch  die  sie 
nicht  böse  ist.  Dementsprechend  ist  also  das  per  se  Böse  das 
Nichtseiende,  jedoch  ist  nicht  alles  Nichtseiende  böse,  sondern 
etwas  Nichtseiendes  betreffs  eines  Gegenstandes,  der  für  die 
Natur  eines  Dinges  notwendig  wäre  2)  und  der  zu  den  sekundären 
Vollkommenheiten  dieser  Natur,  die  der  Art  und  der  Naturkraft 
des  Dinges  folgen,  gehört.  Das  akzidentelle  Böse  ist  die  Pri- 
vation oder  dasjenige,  was  die  Vollkommenheit  des  Dinges  von 
dem  ihr  zukommenden  Grade  zurückhält  Das  Nichtseiende  im 
allgemeinen  enthält  durchaus  kein  Gutes,  es  sei  denn  das  des 
Wortes  allein.  Das  absolute  non  ens  ist  dann  also  nichts 
wirklich  Böses.  Besäße  das  absolute  Nichtsein  eine  gewisse 
Eealität,  dann  wäre  es  das  universelle  Böse.  3)    Keinem  Dinge, 

*)  Vgl.  Thomas  Sum.  th.  1 48,  2  ad  2:  Ens  dupliciter  dicitnr,  nno  modo 
secundom  qnod  significat  entdtatem  rei,  pront  diyiditnr  per  decem  praedica- 
menta;  et  sie  convertitur  cum  re,  et  hoc  modo  nuUa  privatio  est  ens  nnde 
nee  malnm.  Alio  modo  dicitur  ens  qnod  significat  yeritatem  propositionis, 
qnae  in  compositione  consistit,  coins  nota  est  hoc  yerbom  „esf  et  hoc  est 
ens  quo  respondetnr  ad  quaestionem,  an  est;  et  sie  caedtatem  dicimns  esse 
in  ocolo,  vel  qnamcnmque  aliam  privationem.  Et  hoc  modo  etiam  malnm 
dicitur  ens.  Propter  huius  autem  distinctionis  ignorantiam  aliqui  considerarentes 
quod  aliquae  res  dicuntur  malae,  vel  quod  malum  dicitur  esse  in  rebus, 
crediderunt,  quod  malum  esset  res  quaedam. 

*)  Vgl.  Th.  ib.  c:  Sicut  igitur  perfectio  universitatis  rerum  requirit,  ut 
non  solum  sint  entia  incorruptibilia  sed  etiam  corruptibilia,  ita  perfectio 
universi  requirit,  ut  sint  quaedam,  quae  a  bonitate  deficere  possint,  ad 
quod  sequitur  ea  interdum  deficere.  In  hoc  aatem  consistit  ratio  mali,  ut 
scilicet  aliquid  deficiat  a  bono.  Ib.  1  c:  bonum  est  omne  id  quod  est  appetibile 
et  sie  cum  omnis  natura  appetat  suum  esse  et  suam  perfectionem,  necesse 
est  dicere,  quod  esse  et  perfectio  cuiuscumque  naturae  rationem  habeat  bonitatis. 
Unde  non  potest  esse  quod  malum  significet  quoddam  esse  aut  quamdam 
formam  siye  naturam.  Relinquitur  ergo  quod  nomine  mali  significetur  quae- 
dam absentia  boni.  Et  pro  tanto  dicitur  quod  malum  neque  est  existens  nee 
bonum.  Quia  cum  ens  inquantum  huius  modi  sit  bonum|,  eadem  est  remotio 
utrorumque. 

•)  Vgl.  Thomas  Sum.  th.  1 49,  3  omn. :  Dicendum  non  esse  unum  primum 
principium  malorum,  sicut  est  unum  primum  principium  bonorum.  Primo 
quidem,  quia  primum  principium  bonorum  est  per  essentiam  bonum.  Nihil 
autem  potest  esse  per  suam  essentiam  malnm.  Ostensum  est  enim,  quod 
omne  ens,  inquantum  est  ens,  bonum  est,  et  quod  malum  non  est  nisi  in  bono 


Digitized  bV 


Googk 


621 

das  seine  Existenz  in  der  vollendetsten  Weise  besitzt  und  in 
dem  nichts,  was  Potenzialität  in  sich  schließt,  enthalten  ist, 
haftet  irgend  ein  Böses  an.  Das  Böse  haftet  nur  demjenigen  an, 
in  dessen  Natur  eine  Potenzialität  enthalten  ist.  Eine  Poten- 
zialität entsteht  aber  nur  auf  Grund  der  Materie.  Daher  haftet 
also  das  Böse  der  Materie  an  und  zwar  entweder  auf  Grund 
einer  ursprünglichen  Bestimmung  (wörtlich:  eines  Dinges),  die 
der  Materie  selbst  zukommt,  oder  auf  Grund  eines  Dinges,  das 
ihr  (in  zweiter  Linie  erst)  von  außen  beigefügt  wird.^) 

Was  nun  das  Böse  angeht,  das  der  Materie  per  se  anhaftet 
(auf  Grund  einer  ihr  ursprünglich  und  wesentlich  zukommenden 
Bestimmung),  so  haften  der  Materie  manchmal  Bestimmungen  an, 
die  in  dem  ersten  Augenblicke  ihrer  Existenz  äußere  Ursachen 
des  Bösen  sind.  Aus  diesem  entsteht  irgend  eine  Form,  und  diese 
Form  hindert  die  individuelle  Disposition  der  Materie  für  die 
Vollkommenheit,  die  in  ihrem  Wachsen  das  Böse  als  parallele 
Erscheinung  ihres  Entstehens  mit  sich  bringt  So  verhält  sich 
die  Materie,  aus  der  ein  Mensch  oder  ein  Pferd  entsteht.  Er- 
hält sie  von  den  äußeren  Ursachen  etwas,  was  sie  schlecht 
disponiert,  zu  einer  sehr  untauglichen  Mischung  und  zu  einer 
unbrauchbaren  Substanz  macht,  dann  nimmt  diese  nicht  eine 
feste  Umgrenzung  durch  Linien  oder  durch  Gestaltungen  an; 
ebenso  erhält  sie  keine  entsprechenden  Bestandteile.  2)  Dann 
wird  die  Gestalt  dieses  werdenden  Dinges  eine  häßliche.  Das 
verlangte  Maß  der  Vollkommenheit  der  Mischung  und  der 
Gestalt  ist  dann  nicht  vorhanden;  denn  die  Wirkursache  wurde 
nicht  etwa  gehindert  in  ihrer  Wirkung,  sondern  das  passive 
Element  nahm  die  Wirkung  nicht  auf.    Das  von  außen  Hinzu- 


Qt  in  subiecto  ....  Sammnm  malnm  esse  non  potest;  quia  etsi  malam 
semper  diminuat  bonum,  nunquam  tarnen  iUud  potest  totaUter  consumere,  et 
sie  semper  remanente  bono  non  potest  esse  aliquid  integre  malnm  . . .  Tertio, 
qnia  ratio  maU  repngnat  rationi  principii;  tum  quia  malum  causatur  ex  bono, 
tum  qnia  malnm  non  potest  esse  causa  nisi  per  accidens  et  sie  non  potest 
esse  prima  causa,  qnia  causa  per  accidens  est  posterior  ea  quae  est  per  se. 
Vgl.  Arist.  Eth.  1126  a.  q. :  ^  cJ*  vTteQßoXrj  xaxa  navxa  fxlv  ylvexai '  xal  yoQ 
olq  ov  Set  xal  ^<p  oIc  ov  öeZ  xal  fi&Xkov  ^  Sei,  xal  d^ßnov  xal  nXelw  xqovov 
ov  fifjv  anavxa  ye  x<p  avr(p  vnoQxei,  ov  yoQ  av  övvaix  slvarxo  yoQ  xaxov 
xal  iavxo  änoXXvai,    xav  bXoxXijQOv  y,  afpOQrjftov  ylvexai, 

>)  Wörtlich:  „das  ihr  (von  außen)  angeflogen  kommt". 

^  Nach  aufien  und  innen  wird  das  Lebewesen  also  unvollkommen. 
Vgl.  Färabl,  Ringsteine  Nr.  51. 


Digitized  by 


Google 


622 

kommende  (das  das  Böse  verursacht)  ist  eines  von  zwei  Dingen: 
entweder  hindert,  verändert  oder  entfernt  es  das  Ding  von 
dem  vervollkommnenden  Prinzipe,  oder  es  tritt  der  Einwirkung 
konträr  und  unvermittelt  entgegen  und  vernichtet  die  Voll- 
kommenheit 

Wie  das  erste  verhalten  sich  die  Wolken,  die  in  großer 
Zahl  auftreten,  und  sich  häufen,  und  der  Schatten  hoher 
Berge,  der  die  Einwirkung  der  Sonne  z.  B.  auf  die  Früchte 
hindert,  so  daß  sie  nicht  zur  vollkommenen  Reife  kommen  können. 
Wie  das  zweite  verhält  sich  die  Zeit')  der  Kälte  für  die  Pflanzen, 
die  die  Vollkommenheit  des  Wuchses  vernichtet,  so  daß  die 
besondere  Disposition  der  Materie  und  das,  was  dieser  Dis- 
position folgt,  zu  Grunde  geht 

Alle  Ursachen  des  Bösen  finden  sich  ausschließlich  in  der 
Welt,  die  unter  der  Sphäre  des  Mondes  ist  Alles,  was  sich 
unter  dem  Monde  befindet,  ist  unvollkommen  im  Verhältnis  zu 
den  übrigen  Dingen,  wie  du  bereite  kennen  gelernt  hast  Das 
Böse  trifft  femer  nur  einzelne  Personen  und  Individuen,  und 
auch  diese  nur  zu  bestimmten  Zeiten.  Die  Arten  aber  bleiben 
trotzdem  wohlerhalten.  Das  eigentliche  Böse  erfaßt  nicht  die 
größere  Anzahl  der  Individuen.  Diese  wird  höchstens  betroffen 
von  einer  gewissen  Art  des  Bösen  (die  im  eigentlichen  Sinne 
kein  Böses  ist,  sondern  nur  einen  Mangel  bedeutet). 

Wisse,  das  Böse,  das  eine  Privation  darstellt,  ist  entweder 
ein  Böses  inbezug  auf  etwas  Notwendiges  2)  oder  auf  etwas 
Nützliches,  das  dem  Notwendigen  nahe  verwandt  ist,  oder  es 
ist  nichte  Böses  in  dieser  Hinsicht  (d.  h.  inbezug  auf  wesentliche 
Teile  des  Dinges),  sondern  etwas  Böses  in  Beziehung  auf  andere 
Teile,  die  sich  nur  in  den  wenigsten  Fällen  verwirklichen  (sicut 
in  paucioribus).  Existierte  dieses  wirklich,  dann  existierte  es 
nach  Art  dessen,  was  ein  Übermaß  derjenigen  Vollkommenheiten 
bedeutet,  die  auJE  die  sekundären  Vollkommenheiten  folgen  (also 
Eigenschaften  dritter  Ordnung  sind).  Dieses  Böse  hat  kein 
anderes  Wirkliche  zur  Folge  bezüglich  der  Naturanlagen  des 
zufälligen  Dinges,  in  dem  das  Böse  ist  Diese  Art  des  Bösen 
ist  aber  eine  andere,  als  diejenige,  mit  der  wir  uns  nun  beschäf- 


>)  Cod.  c:  „die  Kälte,  die  die  Pflanze  trifft". 

>)  Die  Teile  des  Geg^enstandes  sind  „notwendig*^  entweder  fOr  seinen 
Bestand  oder  zur  Erreichung  eines  Zieles. 


Digitized  by  VjOOQIC 


623 

tigen')  und  wir  haben  sie  von  der  Darlegung  ausgeschlossen. 
Sie  ist  kein  Böses  inbezug  auf  die  Art,  sondern  nur  ein  Böses 
in  Beziehung  auf  etwas,  das  den  notwendigen  Bestandteilen  der 
Art  hinzugefügt  wird.  So  verhält  sich  die  Unwissenheit  betreffs 
der  Philosophie  und  der  Geometrie  oder  anderer  Dinge.  Diese 
Unwissenheit  ist  nichts  Böses,  insofern  wir  die  menschliche 
Natur  besitzen,  sondern  sie  ist  etwas  Böses  inbezug  auf  eine 
Vollkommenheit,  die  der  Natur  zum  größeren  Wohlbefinden  hinzu- 
gefügt wird.  Wir  definieren  dieses  dahin  weiter,  daß  wir  sagen: 
etwas  ist  in  Wahrheit  ein  Übel,  wenn  eine  menschliche  Person 
oder  ein  Individuum  selbst^)  dasselbe  hervorbringt  und  an  sich 
trägt.  Eine  menschliche  Person  hat  dieses  aber  nicht  zur  Folge, 
weil  sie  Mensch  ist  oder  ein  selbständiges  Individuum  darstellt, 
sondern  nur  deshalb,  weil  die  Vollkommenheit  jener  Eigenschaft 
(Cod.  c.  Gl.  d.  h.  der  Kenntnis  der  Philosophie  oder  Geometrie) 
für  sie  unbezweifelt  feststeht,  oder  weil  sie  ein  Verlangen  nach 
dieser  Vollkommenheit  besitzt.  Dadurch  wurde  sie  für  dieselbe 
disponiert,  wie  wir  sogleich  darlegen  werden. 

Vor  dem  Eintreten  dieser  Bestimmung  3)  ist  jenes  Gut  nicht 
etwas,  auf  das  das  Ding  hinstrebt,  um  das  dauernde  Bestehen 
seiner  Art  zu  erreichen,  in  der  gleichen  Weise  der  Hinordnung 
wie  die  sekundären  Vollkommenheiten,  die  den  primären  Voll- 
kommenheiten (dem  Dasein  und  den  Bestandteilen  der  Art 
und  des  Individuums)  folgen.  Ist  nun  diese  Vollkommenheit 
nicht  vorhanden,  dann  bedeutet  sie  eine  Privation  betreffs  eines 
Dinges  (z.  B.  des  Wissens),  das  sich  aus  den  Naturanlagen 
ergeben  könnte.  Das  Böse,  das  in  den  Individuen  der  Dinge 
existiert,  ist  nur  gering.  Trotzdem  ist  die  Existenz  dieses 
Bösen  in  den  Dingen  notwendigerweise  eine  Folgeerscheinung 
der  Hinordnung  der  Dinge  auf  das  Gute.  Wären  z.  B.  die 
Elemente  sich  nicht  einander  entgegengesetzt  und  ständen  sie 
nicht  in  passivem  Verhältnisse  zu  dem  mächtigeren  Elemente, 
dann  könnten  die  Arten  dieser  Weltdinge,  die  doch  vollkommen 
sind,  nicht  aus  ihnen  entstehen.  Durch  das  Element  des  Feuers 
werden  die  sich  widerstrebenden  Einwirkungen  der  Elemente, 

*)  Avicenna  will  sich  mit  der  Art  des  Bösen  beschäftigen,  das  einen 
Mangel  an  zu  erwartenden  Vollkommenheiten  bedeutet. 

')  Cod.  c :  „d.  h.  seine  spezifische  Wesensform". 

■)  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  vor  dem  es  jener  Person  feststeht,  daß  diese  Eigen- 
schaft etwas  Gutes  ist". 


Digitized  by 


Google 


624 

die  im  Werdegange  des  Weltalls  eintreten,  notwendig  herbei- 
gefülirt  Kommt  es  nun  in  dem  Spiel  der  Elemente  dazn,  daß 
das  Feuer  den  Mantel  eines  edlen  Menschen  erfaßt,  dann  muß 
es  denselben  verbrennen.  Träte  diese  (böse)  Wirkung  nicht  ein, 
dann  konnte  das  Feuer  nicht  den  allgemeinen  Nutzen  haben« 
(Es  müßte  seine  Natur  verändern,  die  doch  für  das  universelle 
Gute  erhalten  werden  muß.) 

Daher  ist  es  notwendig,  daß  das  Gute,  das  in  diesen  Welt- 
dingen möglich  ist,  nur  dann  ein  (wahres)  Gut  ist,  wenn  die 
Existenz  dieser  erwähnten  Arten  des  Bösen  auch  möglich  ist, 
indem  diese  entweder  durch  das  Gute^  oder  zugleich  mit  ihm 
existieren.  Das  Mitteilen  und  Erlangen  des  Guten  hat  aber 
nicht  zur  Folge,  daß  das  häufigere  und  notwendigere  Gute  aus- 
geschlossen wird  auf  Grund  des  Bösen,  vor  dem  man  sich  hütet 
Der  Ausschluß  dieses  Guten  wäre  ein  größeres  Übel,  als  jenes 
andere.*)  Denn  die  Privation  dessen,  was  auf  Grund  der  Natur- 
anlagen der  Materie  wirklich  existieren  kann,  ist  ein  größeres 
Übel  als  die  Privation  eines  einzigen.  Im  anderen  Falle  würden 
zwei  Privationen  (die  des  minus  malum  und  des  bonum)  eintreten. 
Aus  diesem  Grunde  wählt  der  verständige  Mann,  daß  man  ihn 
mit  Feuer  behandele  (daß  man  seine  Wunde  ausbrenne)  unter 
der  Bedingung,  daß  er  dadurch  am  Leben  erhalten  bleibe.  Er 
erwählt  das  Brennen  des  Feuers  eher  als  den  Tod  ohne  Schmerz. 
Wollte  man  die  genannte  Kategorie  des  Guten  aus  dem  Welt- 
ganzen ausscheiden,  dann  wäre  dieses  ein  größeres  (universelleres) 
Übel  als  jenes  andere  (d.  h.  das  partikuläre  malum),  das  durch 
die  Existenz  des  Guten  entsteht  Der  Creist,  der  die  Qualität 
und  Art  der  notwendigen  Ordnung  in  der  Harmonie  des  Guten 
erkennt,  erfordert  konsequenterweise,  daß  diese  Art  der  Dinge 
(die  partikuläre  mala  bedeuten  können)  existieren  müsse,  und 
gibt  zu,  daß  zugleich  mit  derselben  notwendigerweise  eine 
bestimmte  Art  des  Bösen  existiert  Daher  ist  es  also  notwendig, 
daß  er  auch  jenem  Guten  die  Existenz  mitteile. 

Dagegen  könnte  man  einwenden:  es  wäre  möglich  gewesen, 
daß  der  erste  Ordner  des  Weltalls  ein  reines  Gut  erschuf, 
das  frei  wäre  von  dem  Bösen.    Dagegen  antwortet  man:  dieses 


*)  Das  B5se  ist  also  vielfach  eine  Wirkung  des  Guten. 
')  Das  minus  malum  hat  den  Charakter  des  Guten  und  ist  zu  wShlen, 
wenn  sonst  ein  größeres  Übel  eintreten  würde. 


Digitized  by 


Googl( 


625 

ist  nicht  möglich  in  dieser  Art  der  Existenz  (der  sublunarischen 
Dinge),  wenn  es  auch  möglich  ist  in  dem  absoluten  Sein.  Denn 
jene  Art  der  Existenz  ist  nur  eine  besondere  Art  des  absoluten  ) 
Seins,  das  frei  ist  von  dem  Bösen,  und  diese  ist  nicht  jene  | ' 
Art  des  absoluten  Seins.  Die  andere  Art  (die  des  vollkommenen  ; 
Seins)  ist  aber  dasjenige,  was  aus  der  ersten  Weltleitung  hervor- 
gegangen ist  Es  existiert  in  den  geistigen,  seelischen  und 
himmlischen  Dingen.  Daher  besteht  diese  Art  des  Guten  (das 
mit  Bösem  verbunden  ist)  in  der  Möglichkeit,  i)  Das  Gute  darf 
man  nicht  von  der  Existenz  ausschließen  wegen  des  Bösen,  das 
sich  mit  ihm  vermischt  Würde  die  erste  Ursache  desselben 
durchaus  nicht  existieren  und  wäre  dieses  Gute  vom  Weltganzen^ 
ausgeschlossen,  damit  nicht  dieses  (partikuläre)  Böse  existiere, 
so  wäre  das  ein  größeres  Übel,  als  daß  es  existiert  Daher  ist 
also  die  Existenz  (des  partikulären  Bösen)  das  Bessere  von  zwei 
Übeln.  Femer  ergäbe  sich,  daß  auch  die  guten  Ursachen,  die 
weiter  zurück  liegen,  als  diese  zum  Bösen  hinführenden  Agenzien 
dieser  sublunarischen  Dinge,  per  accidens  nicht  existierten. 
Denn  die  Existenz  dieser  unvollkommenen  Dinge  geht  hervor 
aus  der  Existenz  jener.  (Das  letztere  ist  in  den  ersteren  be- 
gründet) Dadurch  würde  der  größte  Bruch  in  der  Ordnung 
des  universellen  Guten  entstehen.  Die  Sache  verhält  sich  viel- 
mehr wie  folgt:  wenn  wir  nicht  auf  jenes  (das  partikuläre 
Böse)  achten  und  unseren  Blick  ausschließlich  auf  dasjenige 
richten,. worin  die  Potenzialität  des  Seins  sich  teilen  läßt  d.h. 
in  die  Arten  der  existierenden  Dinge,  die  in  ihren  Zuständen 
verschiedenartig  sind,  dann  scheint  es  fast,  als  ob  das  vom  Bösen 
freie  Wirkliche  tatsächlich  existierte.  Es  besteht  in  einer  indi- 
viduellen Art  des  Seienden  und  es  existiert  nur  in  dieser  Art 
und  Weise;  seine  Nichtexistenz  wäre  ein  größeres  Übel,  als  Seine 
Existenz.  Daher  ist  es  also  erforderlich,  daß  Gott  ihm  die 
Existenz  verleihe  insofern  von  diesem  wiederum  die  Existenz 
ausgeht,  die  das  Bessere  ist  in  der  genannten  Weise  und  die 
sich  so  verhält,  wie  wir  es  dargelegt  haben. 

Wir  lehren  vielmehr,  bei  dem  ersten  Punkte  der  Diskussion 
wiederum  beginnend,  daß  das  Böse  in  vielfacher  Weise  gebraucht 
wird.    Als  böse  bezeichnet  man  die  tadelnswerten  Handlungen 


1)  Sie  haftet  nur  dem  potenzieUen  Sein  an  d.  h.  der  Welt  des  Entstehens 
und  Vergehens  nnd  des  beständigen  Wechseins  der  Wesensformen. 

Hofi«n,  Dm  Booh  der  OoMsaog  der  Seele.  40 


Digitized  by 


Googk 


626 

und  ferner  diejenigen  Prinzipien  der  ethischen  Dispositionen, 
aus  denen  die  bösen  Handlungen  hervorgehen.  Als  böse  be- 
zeichnet man  ferner  die  Schmerzen  und  den  Kummer  und  ähnliche 
Vorgänge.  Sodann  bezeichnet  man  als  böse  den  Mangel  jedes 
Dinges  in  seiner  (natürlichen)  Vollkommenheit,  den  Verlust  der 
Vollkommenheit  und  den  Verlust  dessen,  was  einem  Dinge  zu- 
kommen müßte.  Die  Schmerzen  und  der  Kummer  folgen,  auch 
wenn  sie  positive  Dinge,  nicht  etwa  Privationen  bezeichnen, 
doch  auf  Privationen  und  auf  Zustände  der  ünvollkommenheit 
Das  Böse,  das  sich  in  den  ethischen  Handlungen  befindet,  wird 
ebenfalls  nur  gegeben  durch  die  Beziehung  auf  ein  Subjekt, 
dessen  Vollendung  verloren  geht  durch  die  Verbindung  mit 
jenem  (Bösen).  So  verhält  sich  der  Frevel  Oder  das  ethische 
Böse  wird  bestimmt  in  Beziehung  auf  ein  etwas,  das  von 
einer  Vollkommenheit  verloren  geht,  die  in  der  Leitung  anderer 
Menschen  oder  in  einer  Stadtgemeinde  notwendig  ist.  So  ver- 
hält sich  der  Ehebruch.  Die  Charaktereigenschaften  sind  nur 
böse,  insofern  diese  bösen  Handlungen  aus  ihnen  hervorgehen. 
Sie  sind  verbunden  mit  Zuständen  der  Privation,  durch  die  die 
Seele  die  ihr  notwendig  zukommenden  Vollkommenheiten  nicht 
besitzt.  Wir  finden  keine  Handlung,  die  als  böse  bezeichnet 
wird,  ohne  daß  sie  in  irgend  einer  Weise  eine  Vollkommenheit 
bedeutete  auf  Grund  ihrer  Wirkursache.  Vielleicht  ist  sie  nur 
ein  Böses  in  Beziehung  zur  aufnehmenden  Ursache  (der  Materie) 
oder  inbezug  auf  eine  andere  Wirkursache,  die  die  Tätigkeit 
des  Subjektes  in  jener  Materie  hindert,  und  die  eine  Handlung 
unmöglich  macht,  die  in  diesem  Subjekte  vollkommener  wäre 
und  ihm  eher  zukäme,  als  eine  andere.  So  entsteht  z.  B.  der 
Frevel  aus  einer  Fähigkeit,  die  die  Überwindung  des  Gegners 
erstrebt,  und  dieses  ist  z.  B.  die  Fähigkeit  des  Zornes.  Die 
Besiegung  des  Gegners  ist  adäquates  Objekt  (wörtlich:  Entelechie 
Vollkommenheit)  für  die  zornmütige  Fähigkeit,  und  auf  dieses 
Objekt  hin  wurde  diese  Fähigkeit  der  irascibilis  geschaffen,  d.  h. 
sie  wurde  geschaffen, 0  damit  sie  sich  hinrichte  auf  die  Über- 
windung des  Gegners,  diese  erstrebe  und  sich  an  ihr  erfreue.^) 

^)  Allst.  TUipvxe,  passim. 

*)  Die  Aufeinanderfolge  dieser  Phasen  ist  also:  allgemeine  Hinordnong 
anf  das  Ziel  —  Erstreben  desselben  durch  die  media  necessaria  —  Erreichen 
des  Zieles,  verbunden  mit  gaudium  et  laetitia.  YgL  Thomas  Sum.  th.  I— 11 
q.  22—49. 


Digitized  by 


Googl( 


62^ 

Diese  Tätigkeit  ist  also  in  Beziehung  auf  die  Fähigkeit  ein 
Gutes,  selbst  wenn  die  Fähigkeit  zu  schwach  ist,  die  Handlung 
auszuführen.  Dieses  ist  dann  für  die  Fähigkeit  ein  Böses.  Die 
Überwindung  des  Gegners  ist  aber  ein  Böses  nur  für  den  über- 
wundenen und  geschädigten  Gegner  oder  für  die  vernünftige 
Seele,  deren  adäquates  Objekt  und  Vollendung  (nämlich  die 
Sanftmut  und  Gerechtigkeit)  sich  verhält  wie  ein  „Böses"  für 
diese  Fähigkeit  (die  irascibilis,  insofern  sie  Unrecht  ausüben  will), 
und  deren  adäquates  Objekt  in  der  Beherrschung  dieser  Fähig- 
keit besteht.  Ist  sie  zu  schwach,  die  irascibilis  zu  beherrschen, 
so  ist  dies  für  den  Geist  ein  „Böses". 

Ebenso  liegen  die  Verhältnisse  für  denjenigen,  der  den 
Schmerz  und  das  Verbrennen  verursacht  Verbrennt  z.  B.  das 
Feuer  einen  Gegenstand,  so  ist  diese  Tätigkeit  des  Verbrennens 
eine  Vollkommenheit  (Entelechie)  für  das  Feuer.  Sie  ist  jedoch 
etwas  Böses  in  Beziehung  zu  demjenigen,  der  die  Unversehrtheit 
seines  Körpers  dadurch  verliert,  weil  er  dasjenige  verliert,  was 
er  zu  seiner  Vollkommenheit  notwendig  hat.  Dasjenige  Böse 
aber,  das  durch  einen  Mangel  und  durch  eine  Unfähigkeit  der 
Natur  herbeigeführt  wird  und  das  nicht  zugleich  Wirkursache 
für  eine  bestimmte  Tätigkeit  ist,  das  vielmehr  darin  besteht, 
daß  die  Wirkursache  ihre  Tätigkeit  nicht  ausübt,  dieses  ist  in 
Wirklichkeit  kein  Gutes  in  Beziehung  auf  irgend  einen  Gegen- 
stand. 

Was  nun  die  Arten  des  Bösen  angeht,  die  sich  mit  Dingen 
verbinden,  die  in  sich  selbst  gut  sind,  so  entstehen  diese  Arten 
aus  zwei  Ursachen.  Die  eine  Ursache  liegt  auf  Seiten  der  Materie 
und  besteht  darin,  daß  diese  aufnahmefähig  ist  für  die  Wesens- 
form und  ihre  Privation.  Eine  andere  Ursache  liegt  auf  Seiten 
der  Wirkursache  und  besteht  in  folgendem.  Es  ist  bekanntlich 
notwendig,  daß  z.  B.  die  materiellen  Dinge  aus  der  Wirkursache 
entstehen.  Femer  ist  es  unmöglich,  daß  erstens  die  Materie  die 
Existenz  der  Existenz  besitze,  die  einer  Materie  die  Selbständig- 
keit (einer  Substanz)  verleihen  würde.  0  Diese  bewirke  sodann 
die  Tätigkeit  der  Materie;  jedoch  muß  sie  aufnahmefähig  sein 


>)  Die  Substanz  besteht  in  sich  selbst,  das  Akzidens  in  der  Snbstanz. 
Das  Akzidens  besitzt  also  eine  Existenz,  die  gegründet  ist  anf  eine  andere 
Existenz.  Der  Substanz  eignet  also  eine  primäre  Existenz,  die  Avicenna  mit 
existentia  existentiae  bezeichnet. 

40* 


Digitized  by 


Googk 


628 

für  die  Wesensform  und  die  Privation  (derselben);  zweitens  ist 
es  unmöglich,  daß  die  Materie  nicht  aufnahmefähig  ist  für  die 
Opposita,  und  drittens  ist  es  unmöglich,  daß  die  wirkenden  Kräfte 
Handlungen  hervorbringen,  die  mit  anderen  Tätigkeiten,  die 
bereits  real  existieren,  in  konträrem  Gegensätze  stehen.  Jene 
brächten  dann  ihre  Wirkungen  nicht  hervor.  Denn  es  ist  un- 
möglich, daß  durch  die  genannte  Objektion  das  erreicht  werde, 
was  durch  das  Beispiel  des  Feuers  bewiesen  werden  soll,  während 
es  den  Gregenstand  nicht  verbrennt 0  Das  Weltall  2)  ist  femer 
viertens  nur  dadurch  vollkommen,  daß  in  ihm  Substanzen  exi- 
stieren, die  erhitzt  werden,  und  daß  zugleich  in  ihm  Substanzen 
existieren,  die  verbrennen  und  erhitzen.  Wenn  dieses  alles  nun 
eintrifft,  dann  ist  es  unumgänglich  notwendig,  daß  auf  das 
bonum  utile,  auf  das  die  Existenz  dieser  zwei  Substanzen  hin- 
geordnet ist,  irgend  welche  schädlichen  Vorgänge  folgen,  die 
sich  infolge  des  Brennens  und  Verbrennens  ereignen.  So  ver- 
brennt das  Feuer  das  Glied  eines  frommen  Menschen. 

Das  sicut  in  pluribus  sich  Ereignende  ist  das  Eintreffen 
des  Guten,  das  durch  die  Natur  beabsichtigt  ist,  und  auch  das 
ewig  Bestehende  (oder  das  ewig  sich  Wiederholende).  Das  sicut 
in  pluribus  sich  Ereignende  ist  z.  B.  darin  gegeben,  daß  die 
meisten  Individuen  der  irdischen  Arten  in  dem  Besitze  der  Inte- 
grität ihres  Körpers  behütet  sind  vor  dem  Verbrennen.  Das  ewig 
bestehende  Gute  ist  dadurch  gegeben,  daß  viele  Arten  nur  durch 
die  Existenz  eines  Elementes  wie  z.  B.  das  des  Feuers  ewig  er- 
halten bleiben,  indem  dieses  das  Verbrennen  ausübt  In  den  sel- 
tensten Fällen  (sicut  in  paucioribus)  ereignet  sich  dasjenige,  was 
durch  das  Feuer  an  schädlichen  Wirkungen  hervorgebracht  wird, 
nämlich  die  Zerstörungen,  die  von  ihm  ausgehen. 

Ebenso  verhält  es  sich  bei  den  übrigen  Ursachen,  die  diesen 
gleichen.    Es  ist  nicht  angebracht,  die  sicut  in  pluribus  sich 

^)  Oder:  „es  ist  niunögUch,  daß  der  Zweck  ^geschaffen^  wer^e,  der  mit 
dem  Feuer  beabsichtigt  ist,  wenn  es  nicht  verbrennt.''  Es  ist  also  besser,  dafi 
die  universeUe  Natur  des  Feuers  erhalten  bleibe,  als  daß  es  im  einzelnen 
Falle  den  Gegenstand  nicht  verbrenne.  Ein  Wunder,  das  im  einzelnen  FaUe 
ein  Übel  yerhindem  kQnnte,  berücksichtigt  Avicenna  nicht.  Sein  Gottesbegriff 
erfordert  dasselbe  nicht,  und  sein  Denken  bewegt  sich  in  rein  naturwissen- 
schaftlichen Vorstellungen,  ohne  religiösen  Illusionen  seine  Beachtung  zu 
schenken.  Dadurch  erleichtert  er  sich  wesentlich  die  Erklärung  der  Existenz 
des  Übels  in  der  Welt. 

*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  die  Ordnung  des  Weitaus«. 


Digitized  by 


Googl( 


629 

ereignenden  und  die  ewigen,  gesetzmäßigen,  nützlichen  Wirkungen 
aus  dem  Weltalle  auszuschließen  auf  Grund  von  bösen  Wirkungen, 
die  zufällig  erfolgen  und  nur  in  seltenen  Fällen  sich  ereignen. 
Die  guten  Wirkungen  sind  also  ursprünglich  beabsichtigt,  und 
sie  entstehen  aus  diesen  Dingen  in  ursprünglicher  Zweckordnung, 
so  wie  man  sagen  kann,  daß  Gott  die  Dinge  „wolle".  Damit 
ist  zugleich  auch  das  Böse  gewollt,  freilich  nur  in  akzidenteller 
Weise;^  denn  Gott  weiß,  daß  es  notwendigerweise  entsteht  (und 
aus  dem  Guten  resultiert).  Er  beachtet  es  jedoch  nicht  Das 
Gute  aber  wird  in  seinem  Ratschlüsse  selbst  per  se  beschlossen. 
Das  Böse  wird  nur  per  accidens  beschlossen;  „alles  aber  ist  in 
seinem  Maße  durch  Gott  bestimmt".    Koran  54,  49. 

Betreffs  der  Materie  ist  bekannt,  daß  sie  viele  Dinge  nicht 
herstellen  kann.  Sie  besitzt  in  vielen  Dingen  nicht  die  (ent- 
sprechenden) Vollkommenheiten.  Durch  sie  wird  jedoch  das- 
jenige vollendet,  was  keine  positive  Beziehung  inbezug  auf  eine 
Vielheit  (von  Individuen)^)  in  sich   enthält  zu  dem,  was  die 

>)  Vgl.  Thomas  Sttm.  th.  I  49, 1  c:  Cansatar  antem  malam  in  re  aliqua 
qtiandoque  ex  yirtute  agentis,  non  tarnen  in  proprio  effectu  agentis,  quandoqne 
autem  ex  defectu  ipsins  vel  materiae.  Ex  yirtute  quidem  vel  perfectione 
agentiS)  quando  ad  formam  inteutam  ab  agente  sequitnr  ex  necessitate  alterins 
formae  privatio,  sictit  ad  formam  ignis  sequitnr  priyatio  formae  aeris  yel  aquae. 
Sicut  ergo  quanto  ignis  fuerit  perfectior  in  yirtute,  tanto  perfectius  imprimit 
formam  suam,  ita  etiam  tanto  perfectius  cormmpit  contrarium.  Unde  malum 
et  cormptio  aeris  et  aquae  est  ex  perfectione  ignis;  sed  hoc  est  per  accidens, 
quia  ignis  non  intendit  priyare  formam  aquae,  sed  inducere  formam  propriam ; 
sed  hoc  faciendo  cansat  et  illud  per  accidens.  Sed  si  sit  defectus  in  effectu 
proprio  ignis,  puta  quod  deficiat  a  calefaciendo ,  hoc  est  vel  propter  defectum 
actionis,  qui  redundat  in  defectum  alicuius  principii,  vel  ex  dispositione 
materiae,  quae  non  recipit  actionem  ignis  agentis.  Sed  et  hoc  ipsum  quod 
est  esse  deficiens,  accidit  bono,  cui  per  se  competit  agere  und  ib.  3  ad.  5: 
malum  non  potest  habere  causam  nisi  per  accidens.  Unde  impossibile  est  fieri 
reductionem  (arab.  der  gleiche  Ausdruck:  junsab  ila)  ad  aliquid,  quod  sit  per 
se  causa  mall.  Quod  autem  (in  objectione)  dicitur,  quod  malum  est  ut  in 
pluribus,  simpliciter  falsum  est.  Nam  generabilia  et  corruptibilia,  in  quibus 
solum  contingit  esse  malum  naturae,  sunt  modica  pars  totius  uniyersi.  Et 
iterum  in  unaquaque  spede  defectus  naturae  accidit  ut  in  paucioribus.  In 
solis  autem  hominibus  malum  videtur  esse  ut  in  pluribus;  quia  bonum  hominis 
secundum  sensum  corporis  non  est  bonum  hominis  inquantum  homo,  et  secun- 
dum  rationem.  Plures  autem  sequuntur  sensum  quam  rationem.  Vgl.  auch 
I—n  75,1c. 

*)  Durch  die  Materie  wird  die  Vielheit  der  Individuen  herbeigeführt. 
Diese  steht  nicht  in  notwendiger  Beziehung  zur  Form,  denn  jede  Art  kann 
unbestimmt  viele  Individua  in  sich  enthalten. 


Digitized  by 


Googk 


630 

Materie  nicht  erreichen  kann.  Wenn  dieses  sich  nun  so  verhält, 
dann  ist  es  für  die  göttliche  Weisheit  nicht  angebracht,  daß  sie 
die  so  reichlich  vorhandenen,  sowohl  unvergänglichen  (himm- 
lischen), ewigen,  als  auch  die,  in  den  meisten  Fällen  sich  ereignen- 
den Güter  ausschließe  wegen. der  bösen  Wirkungen,  die  nur  in 
individuellen  Dingen  und  zwar  in  solchen,  die  nicht  ewig  sind, 
(sicut  in  paucioribus)  sich  ereignen. 

Wir  lehren  vielmehr:  die  Dinge,  die  wir  uns  vorstellen, 
sind  entweder  solche,  die,  wenn  man  sie  sich  als  existierend 
denkt,  nur  böse  sein  können  im  absoluten  Sinne,  oder  Dinge,  die 
in  ihrer  Existenz  gut  sind  und  die  nicht  böse,  noch  auch  mangel- 
haft sein  können,  oder  drittens  Dinge,  in  denen  die  gute  Natur 
vorherrscht,  wenn  sie  so  existieren,  wie  es  ihrer  Natur  ent- 
spricht —  sie  können  dann  nicht  auf  Grund  ihrer  Natur  in  anderer 
Weise  dasein  —  oder  viertens  Dinge,  in  denen  die  böse  Natur 
vorherrscht  oder  fünftens  Dinge,  in  denen  die  beiden  Naturen 
sich  die  Wagschale  halten. 

Diejenigen  Dinge  nun,  in  denen  kein  Böses  enthalten  ist, 
sind  in  den  Naturen  der  Weltdinge  vorhanden.  Gegenstände 
aber,  die  ihrer  ganzen  Natur  nach  böse  sind,  oder  in  denen  der 
größere  Teil  der  Natur  böse  ist  oder  auch  solche  in  denen  das 
Böse  und  das  Gute  sich  die  Wagschale  halten,  existieren  nicht 
Denjenigen  Dingen,  in  denen  >)  das  Gute  die  Oberhand  besitzt, 
kommt  es  in  vorzüglicher  Weise  zu,  das  Dasein  zu  besitzen, 
wenn  das  Gute  bei  weitem  die  Oberhand  hat 

Dagegen  könnte  man  den  Einwand  erheben:  weshalb  wird 
die  böse  Natur  in  dem  Dinge  nicht  absolut  verhindert,  so  daß 
seine  ganze  Natur  gut  wäre?  Dagegen  kann  man  antworten: 
in  diesem  Falle  könnte  die  Natur  des  Dinges  nicht  eben  diese 
bestimmte  Natur  (diese  Art  z.  B.  das  Feuer)  sein,  weil,  wie  wir 
schon  auseinander  gesetzt  haben,  die  Existenz  der  Dinge  der 
Natur  eine  so  beschaffene  sein  muß,  daß  sie  irgend  ein  bestimmtes 
Böse  zur  Folge  hat  Wird  diese  Natur  daher  so  verändert,  daß 
mit  ihr  dieses  bestimmte  Böse  nicht  als  Wirkung  verbunden  ist, 
dann  ist  die  Existenzweise  dieser  Natur  nicht  so  beschaffen,  wie  sie 
sein  müßte.   Sie  würde  dann  zur  Existenzweise  anderer  Dinge,*) 


*)  Wörtlich:  „in  deren  Existenz". 

')  Das  Feuer  würde  nicht  mehr  Feuer  sein,  sondern  Luft  oder  Wasser 
werden  oder  einer  der  himmlischen  Körper. 


Digitized  by 


Googk 


631 

die  real  existieren,  indem  sie  von  der  ersten  Natur  verschieden 
sind.  Diese  Dinge  (die  kein  malum  zur  Folge  haben,  die  himm- 
lischen Körper  und  Geister)  sind  aber  aktuell  existierend,  d.  h.  es 
sind  so  beschaffene  Dinge,  daß  ihnen  das  Böse  nicht  notwendig 
und  in  ursprünglicher  Weise  verbunden  ist. 

Beispiel  dafür  ist  z.  B.  das  Feuer;  seine  Existenzweise 
besteht  darin,  daß  es  verbrennen  kann.  Die  Natur  (wörtlich: 
Existenzweise)  einer  solchen  Substanz,  die  verbrennen  kann, 
besagt  aber,  daß  sie  das  Kleid  eines  Armen,  wenn  sie  es  berührt 
auch  verbrennt,  wenn  zugleich  das  Kleid  des  Armen  so  beschaffen 
ist,  daß  es  aufnahmefähig  ist  für  die  Verbrennung.  Die  Exi- 
stenzweise jedes  einzelnen  dieser  beiden  Dinge  ist  so  beschaffen, 
daß  ihr  verschiedene  Arten  der  Bewegung  zukommen  können. 
Die  Existenzweise  dieser  verschiedenen  Arten  der  Bewegung 
in  dieser  Weise  ergibt,  daß  sich  unter  Umständen  beide 
Substanzen  treffen.  Trifft  nun  die  Wirkursache  und  das 
aufnehmende  Prinzip  zusammen,  so  ist  damit  die  natürliche 
Bedingung  geschaffen,  daß  aus  diesem  Zusammentreffen  einesteils 
das  Wirken,  andemteils  das  Leiden  sich  ergibt.  Existieren  aber 
die  sekundären  Ursachen  nicht,  dann  existieren  ebensowenig  die 
primären.  Das  Weltall  besteht  also  in  seiner  Harmonie  nur 
dadurch,  daß  in  ihm  öie  wirkenden  und  die  leidenden  Kräfte, 
sowohl  die  des  Himmels  als  auch  die  der  irdischen  Welt,  die 
rein  natürlichen  und  die  seelischen  Kräfte  geordnet  sind,  so  daß 
sie  hinleiten  zu  der  universellen  Ordnung  des  Weltalls.  Zugleich 
ist  es  unmöglich,  daß  alle  diese  Naturen  so  beschaffen  sind,  wie 
sie  wirklich  sind,  ohne  daß  sich  irgend  welche  bösen  Folgen 
aus  ihnen  ergeben. 

Daher  resultiert  aus  den  Verhältnissen  des  Weltalls,  — 
aus  den  Beziehungen  des  einen  Teiles  zum  anderen,  —  daß  in 
irgend  einer  Seele  eine  falsche  und  schlechte  Vorstellung  oder 
ein  gotteslästerlicher  Gedanke  oder  ein  anderes  Böse  entsteht, 
sowohl  in  einer  Seele,  wie  in  einem  Körper.  Denn  wenn  dieses 
Böse  nicht  entstände,  dann  könnte  die  universelle  Ordnung  des 
Weltalls  nicht  erhalten  bleiben.  Daher  achte  man  nicht  (auf 
das  Böse)  und  man  wende  seine  Aufmerksamkeit  nicht  auf  die 
notwendigen  Begleiterscheinungen  (des  Guten),  die  vergänglich 
sind  und  die  sich  mit  unabänderlicher  Notwendigkeit  ergeben. 

Dagegen  wendet  man  ein:  jene  Menschen  wurden  für  das 
Höllenfeuer  vorher  bestimmt,  ohne  daß  die  Gründe  dafür  bekannt 


Digitized  by 


Googk 


632 

wären,*)  und  jene  anderen,  individuellen  Menschen  wurden  in 
gleicher  Weise  für  das  Paradies  vorher  bestimmt  Man  sagt 
femer:  2)  für  jeden  ist  dasjenige  leicht  auszuführen,  für  das  er 
von  Natur  geschaffen  ist  Wenn  daher  weiterhin  jemand  die 
Schwierigkeit  macht:  das  Böse  ist  nicht  etwas,  was  nur 
selten  sich  ereignet  und  nur  in  den  geringsten  Fällen,  sondern 
es  ereignet  sich  in  den  meisten  Fällen,  so  verhiQt  sich  die  Sache 
nicht  so.^)  Das  Böse  ist  vielmehr  etwas,  was  zwar  häufig 
geschieht,  aber  es  ist  nichts,  was  in  den  meisten  Fällen  ein- 
tritt Es  ist  aber  ein  großer  Unterschied  zwischen  dem,  was  in 
den  meisten  Fällen  eintritt,  und  dem,  was  nur  häufig  geschieht; 
denn  viele  Dinge  sind  auf  Erden  häufig,  sie  ereignen  sich  aber 
deshalb  noch  nicht  in  den  meisten  Fällen,  so  z.  B.  die  Krank- 
heiten. Sie  sind  sehr  häufig,  jedoch  ereignen  sie  sich  nicht 
in  den  meisten  Fällen.  Wenn  du  über  diese  Art  des  Bösen, 
die  wir  jetzt  erwähnen,  nachdenkst,  dann  findest  du,  daß  das 
Böse  seltener  ist  als  das  Gute,  das  zu  ihm  in  Opposition 
steht  und  in  derselben  Materie  wie  das  Böse  existiert,  gamicht 
zu  sprechen  von  den  anderen,  ewigen  Gütern  (der  himmlischen 
Welt). 

Freilich  sind  die  Arten  des  Bösen,  die  in  verschiedenen 
Mängeln  an  secundären  Vollkommenheiten  bestehen,  in  den 
meisten  Fällen  vorhanden.  Jedoch  ist  diese  Art  nicht  das 
eigentliche  Böse,  noch  auch  diejenige  Art,  über  die  wir  jetzt 
sprechen.  Diese  Arten  des  Bösen  verhalten  sich  wie  die  Un- 
wissenheit betreffs  der  Geometrie  oder  wie  das  Hinwelken 
jugendlicher  Schönheit  oder  ähnliche  Dinge,  die  in  den  primären 
Vollkonmienheiten  der  Substanzen  keinen  Schaden  hervorbringen, 
noch  auch  in  den  Vollkommenheiten,  die  sich  an  diese  an- 
schließen und  deren  Nutzen  einleuchtend  ist  Diese  Arten  des 
Bösen  entstehen  nicht  durch  die  Tätigkeit  einer  wirkenden  Ur- 
sache. Sie  entstehen  vielmehr  dadurch,  daß  die  Wirkursache 
nicht  tätig  ist  und  zwar  aus  dem  Grunde,  weil  das  aufnehmende 
Prinzip  nicht  disponiert  ist,  noch  sich  zu  der  Aufnahme  der 
betreffenden  Form  hinbewegt    Diese  Arten  des  Bösen  sind  also 


')  Wörtlich :  „ohne,  daß  ich  es  beachte"  d.  h.  als  ob  dies  keine  wichtige 
Sache  w&re.    Cod.  c  GL :  „dies  ist  Tradition  des  Propheten". 
«)  Cod.  cGL:  „Worte  des  Propheten". 
^  Wörtlich:  Thomas  loc.  dt 


Digitized  by 


Googl( 


633 

Privationen  des  Guten  und  gehören  in  die  Kategorie  dessen, 
was  zu  dem  Bestände  des  Dinges  hinzukommt  und  ihm  anhaftet. 
(Sie  bilden  keine  wesentlichen  Bestandteile.) 


Zehntes  Kapitel. 
Das  jenseitige  Leben. 

Es  ist  nun  unsere  Aufgabe,  die  Zustände  der  menschlichen 
Seelen  darzustellen,  wenn  sie  sich  von  ihren  Körpern  getrennt 
haben,  und  zu  zeigen,  in  welcher  Lage  sie  sich  befinden.  Wir 
behaupten  also:  du  mußt  wissen,  daß  betreffs  des  jenseitigen 
Lebens  einige  Wahrheiten  auf  Grund  des  Eeligionsgesetzes  fest- 
stehen, ohne  daß  man  diese  beweisen  könnte,  es  sei  denn  auf 
Grund  der  Bestimmungen  der  Religion  und  des  Glaubens  an 
das  Wort  des  Propheten.  Diese  Dinge  (die  man  nicht 
beweisen  kann)  erstrecken  sich  auf  den  Körper  bei  der  Auf- 
erstehung. Das  Gute  und  das  Böse,  das  dem  Körper  zustößt, 
ist  bekannt  und  braucht  nicht  weiter  auseinandergesetzt  zu 
werden.  Die  wahre  Religion,  die  uns  durch  unseren  Meister 
und  Herrn,  den  Propheten  Mohammed  —  die  Huld  Gottes  walte 
über  ihm,  über  seinem  Volke  und  seinen  Anhängern  —  zukam, 
hat  bereits  dargelegt,  welches  der  Zustand  des  Glückes  und  der 
Strafe  sei,  die  sich  auf  den  Körper  erstreckt. 

Andere  Wahrheiten  betreffe  des  jenseitigen  Lebens  sind 
durch  den  Verstand  und  durch  den  demonstrativen  Beweis 
erkennbar.  Die  Prophetie  hat  auch  diese  bestätigt  Es  ist  die 
Glückseligkeit  und  die  Strafe,  die  beide  durch  Demonstration 
erwiesen  werden  können  ^)  und  die  den  Seelen  zustoßen.  Sie 
können  bewiesen  werden,  selbst  wenn  unsere  Vorstellung  zu 
schwach  ist,  sich  beide  in  diesem  Leben  nach  den  Erkenntnissen 
zu  vergegenwärtigen,  die  betreffs  der  höchsten  Ursachen  ein- 
leuchtend sind. 


*)  Avicenna  hebt  diesen  Punkt  mit  Nachdrack  hervor,  weil  er  sich  gegen 
die  herrschende  theologische  Schule  richtet.  Nach  derselben  sind  alle  Jenseits- 
fragen reine  Glaubenssachen.  Die  Wissenschaft  würde  dem  Glauben  Abbruch 
tun,  wenn  sie  hier  aus  eigener  Einsicht  demonstrative  beweisbare  Behaup-^ 
tungen  aufstellen  wollte. 


Digitized  by 


Google 


634 

Die  Theologen  sind  mehr  bestrebt,  diese  Glückseligkeit, 
die  der  Seele  eignet,  richtig  zu  definieren,  als  jene  andere,  die 
dem  Körper  zustoßt.  Sie  verhalten  sich  darin  fast  so,  als  ob 
sie  auf  jenes  (körperliche  Glück  und  Unglück)  in  keiner  Weise 
achtgeben,  obwohl  ihnen  die  Lehre  betreffs  desselben  von 
Gott  geoffenbart  wurde.  Sie  schätzen  dasselbe  im  Vergleich 
mit  diesem  Glücke,*)  (das  der  Seele  zukommt)  nicht  hoch.  Das 
Glück,  das  der  Seele  zukommt,  ist  die  Verbindung  mit  dem  ersten 
Wahren,  so  wie  wir  es  gleich  beschreiben  werden. 

Wir  wollen  daher  dieses  Glück  und  dieses  Unglück,  das 
dem  Zustande  der  Glückseligkeit  konträr  ist,  definieren.  Die 
körperlichen  Strafen  und  Belohnungen  lassen  wir  bei  Seite. 
Sie  ^nd  in  der  Offenbarung  dargestellt.  Wir  lehren  daher:  für 
jede  seelische  Fähigkeit  ist  ein  besonderes  Glück  und  ein  Gut 
bestimmt,  das  ihr  in  eigentümlicher  Weise  zukommt.  Ebenso 
ist  für  sie  eine  Strafe  und  ein  Böses  bestimmt.  So  besteht  z.  B. 
der  Genuß  und  das  Gut  der  begehrenden  Kraft  darin,  daß  eine 
sinnlich  wahrnehmbare  und  konforme  Qualität  durch  Vermittlung 
der  fünf  Sinne  zu  ihr  gelangt  Der  Genuß  des  Zornes  ist  der 
Sieg  über  den  Gegner;  die  Lust  der  Ästimativa  ist  die  Er- 
wartung von  etwas  Günstigem;  die  Lust  der  Gedächtniskraft 
ist  das  Andenken  an  die  vergangenen,  günstigen  Vorgänga  Der 
Schmerz  jeder  einzelnen  dieser  Fähigkeiten  ist  das,  was  der  Lust 
konträr  ist  Alle  stimmen  in  einer  gewissen  Weise  darin  über- 
ein, daß  ihre  eigentümliche  Lust  und  ihr  Gut  in  dem  Sichbewußt- 
werden eines  entsprechenden  und  konformen  Objektes  besteht 
Das,  was  jeder  einzelnen  Fähigkeit  ihrem  Wesen  nach  und  in 
Wirklichkeit  konform  ist,  ist  das  aktuelle  Eintreten  derjenigen 
Vollendung  (Entelechie),  die  in  Beziehung  zu  dieser  bestimmten 
Fähigkeit  eine  aktuelle  Vollendung  bedeutet  Dies  ist  ein  (erstes) 
Grundprinzip.^) 

Diese  Kräfte  sind  femer,  wenn  sie  auch  in  den  eben  dar- 
gestellten Begriffen  übereinstimmen,  in  ihrer  Rangordnung  in 
Wirklichkeit  sehr  verschieden.   Diejenige  Kraft,  deren  adäquates 


>)  Es  wäre  ein  grofier  Irrtum,  woUte  man  den  sensns  verbidis  der 
koranischen  Aassagen  über  das  andere  Leben  als  Lehre  der  mnalimischen 
Theologen  hinstellen. 

*)  Vgl  dazu  die  Polemik  Hoseinis.  Horten,  das  Buch  der  Ringsteine 
Fär&bis  S.  403-412. 


Digitized  by 


Google       \ 


635 

Objekt  vollkommener  und  edler,  reicher  und  dauernder  ist,0 
und  zugleich  sich  inniger  mit  der  Fähigkeit  verbindet  2)  und  in 
höherem  Maße  in  ihr  aktuell  wird,  ferner  in  sich  selbst  eine 
größere  aktuelle  Vollkommenheit  bedeutet,  reicher  an  Sein  ist 
und  intensiver  erkannt  wird,  ist  notwendigerweise  auch  in  ihrem 
Genießen  vollkommener  und  reicher.  Dieses  ist  ein  (zweites) 
Grundprinzip. 

Das  Hervorgehen  aus  der  Potenz  zum  Akte  geschieht  femer 
in  Beziehung  auf  ein  adäquates  Objekt,  insofern  dieses  erkannt 
wird  als  real  existierend  und  ei-strebenswert  Die  Qualität 
dieses  Objektes  stellt  man  sich  nicht  vor  noch  wird  man  sich 
des  Genusses  des  Objektes  bewußt,^)  solange  das  Objekt  nicht 
im  Subjekte  wirklich  geworden  ist.  Dasjenige  aber,  das  man 
nicht  kennt,  wird  auch  nicht  erstrebt  und  bildet  kein  Objekt 
des  Verlangens.  So  verhält  sich  der  Blöde.  Es  ist  offenbar, 
daß  in  dem  geschlechtlichen  Genüsse  eine  Lust  liegt;  jedoch 
verlangt  oder  strebt  er  nicht  nach  dieser  in  der  Art  des  Ver- 
langens und  Strebens,  die  dem  genannten  Genüsse  eigentümlich  ist. 
Er  verlangt  nach  diesem  Genüsse  nur  in  einer  anderen  Weise 
des  Verlangens,  wie  derjenige  danach  verlangt,  der  aus  Neugierde 
eine  Probe  anstellen  will,  damit  er  durch  diesen  Genuß  eine 
gewisse  Kenntnis  erwerbe,  selbst  wenn  diese  Kenntnis  verbunden 
wäre  mit  Unlust.  Kurz,  er  stellt  sich  das  Objekt  nicht  in  seiner 
Phantasie  vor.  Ebenso  verhält  sich  der  blind  Geborene  betreffs 
der  schönen  Formen  und  der  Taube  betreffs  der  melodischen 
Klänge. 

Aus  diesem  Grunde  darf  der  verständige  Mann  sich  nicht 
denken,  daß  jede  Lust  sich  ebenso  verhalte,  wie  die  des  Esels 
betreffs  der  Speise  und  des  Erzeugens,  noch  darf  er  denken,  daß 
jene  ersten  Prinzipien  des  Seins,  die  dem  Gotte  des  WeltaUs 
nahe  stehen,  keine  Seligkeit  empfänden,  noch  glücklich  wären, 
noch  daß  der  Herr  des  Weltalls  in  seiner  Macht,  eigentümlichen 
Majestät  und  unendlichen  Kraft  nicht  im  Besitze  der  höchsten 
Tugend,  Ehre  und  Vollendung  wäre,  die  zu  erhaben*)  ist,  als 
daß  sie  Genuß  genannt  werden  dürfte.     Die  Esel  und  Tiere 


1)  Wörtlich:  „mehr  die  Natur  des  Ewigen  hat". 

2)  oder;  „leichter  erreichbar  ist". 

•)  Ck)d.  a  add. :  durch  eine  einfache  Vorstellung. 
*)  Wörtlich:  „weit  entfernt  ist". 


Digitized  by 


Google 


636 

befinden  sich  freilich  in  einem  Zustande  des  Grenießens  und  des 
Wohlseins.  Doch  wie  kann  man  den  Genuß  der  erhabenen 
Fähigkeit  (des  Geistes)  vergleichen  mit  dem  dieser  niedrigen 
und  gemeinen!  Wir  stellen  uns  diesen  sinnlichen  Genuß  jedoch 
in  unserer  Phantasie  vor  und  erleben  ihn,  ohne  daß  wir  jenen 
(geistigen)  in  unserem  Selbstbewußtsein  empfinden.  Wir  sind 
desselben  viehnehr  nur  gewiß  durch  Deduktion.  Wir  verhalten 
uns  zu  jenem.  Genüsse  wie  der  Taube,  der  seit  seiner  Geburt 
nicht  hören  und  sich  den  G^nuß  von  Melodieen  daher  nicht 
vorstellen  kann.  Er  ist  jedoch  fiberzeugt  davon,  daß  mit  dieser 
Empfindung  ein  Genuß  verbunden  ist  Dies  ist  ein  (drittes) 
Grundprinzip. 

Das  adäquate  Objekt*)  und  der  konforme  Gregenstand  ist 
für  die  erfassende  Fähigkeit  vielfach  leicht  zu  erreichen;  jedoch 
befindet  sich  dort  auch  ein  hinderndes  Moment  oder  etwas,  was 
die  Seele  ablenkt  Dann  empfindet  sie  Widerwillen  und  erwählt 
das  Gegenteil  des  adäquaten  Objektes.  So  verhält  sich  der 
Widerwille  mancher  Kranken  an  dem  süßen  und  ihr  Verlangen 
nach  ekelhaften  Geschmacke,  die  ihrem  Wesen  entsprechend 
von  der  Natur  abgewiesen  werden.^)  Manchmal  entsteht  nicht 
ein  eigentlicher  Widerwille  gegen  das  adäquate  Objekt,  sondern 
es  tritt  nur  der  Mangel  am  Empfinden  des  Genusses  ein.  Das 
Letztere  findet  sich  z.  B.  in  dem  Furchtsamen.  Er  erlangt  den  Sieg 
und  den  Genuß  (an  dem  Siege),  jedoch  empfindet  er  ihn  nicht,  noch 
genießt  er  denselben.    Dieses  ist  ein  (viertes)  Grundprinzip. 

Die  erfassende  Fähigkeit  wird  manchmal  durch  das  Gegen- 
teil ihres  adäquaten  Objektes  auf  die  Probe  gestellt  Sie  nimmt 
dasselbe  sinnlich  wahr,  ohne  sich  von  ihm  abzuwenden.  Ent- 
schwindet dann  dasjenige  Prinzip,  was  die  Schmerzempfindung 
hinderte,  aus  dem  Subjekte  und  kehrt  dasselbe  wieder  zu  seiner 
Natur  zurück,^)  dann  empfindet  es  Schmerz  an  ihm  wie  z.  B.  der 
Gallsuchtige.  Er  empfindet  häufig  nicht  den  bitteren  Geschmack, 
der  in  seinem  Munde  ist,  bis  seine  körperliche  Mischung  wieder 
die  richtige  ist,  und  zugleich  seine  Organe  vollständig  gereinigt 
sind.  Dann  wendet  er  sich  ab  von  dem  Zustande  (des  bitteren 
Geschmackes),  der  ihm  zugestoßen  ist 


>)  Der  arab.  Tenninas  bezeichnet  die  VoUendnng,  die  Entelechie. 

«)  VgL  F&r&bi,  Ringsteine  Nr.  20  ff. 

^  VgL  F&r&b!,  Bingstdne  Nr.  19.    Ende. 


Digitized  by 


Googl( 


637 

Aus  dem  gleichen  Grunde  verlangen  die  Tiere  manchmal 
durchaus  nicht  nach  Speise.  Sie  haben  vielmehr  einen  Wider- 
willen gegen  dieselbe.  Dieser  Zustand  ist  aber  dann  dem  Tiere 
wohlbekömmlich,  so  daß  es  in  diesem  Zustande  eine  lange  Zeit 
hindurch  verbleiben  kann.  Schwindet  dann  das  Moment,  das 
diesen  krankhaften  Zustand  herbeiführte,  aus  dem  Körper  des 
Tieres,  so  kehrt  dasselbe  zu  dem  zurück,  was  seiner  Natur  ent- 
sprechend <)  ist,  und  dann  ist  sein  Hunger  und  das  Verlangen 
nach  Speise  groß,  so  daß  es  diesen  Zustand  nicht  ertragen  kann 
und  zu  Grunde  geht,  wenn  es  keine  Speise  erhält  Die  Ursache 
des  großen  Schmerzes  ist  manchmal  z.  B.  das  Brennen  des  Feuers 
und  die  Einwirkung  der  Ätherkälte.  (Der  Sinn  nimmt  die 
Empfindung  nicht  wahr,  wenn  er  durch  irgendwelche  Krankheit 
unempfindlich  gemacht  worden  ist),  jedoch  leidet  er  unter  dem 
Einfiusse  des  äußeren  Reizes.  Der  Körper  empfindet  keinen 
Schmerz  durch  denselben,  bis  der  krankhafte  Zustand  gewichen 
ist    Dann  empfindet  er  den  großen  Schmerz. 

Nachdem  diese  Grundsätze  aufgestellt  worden  sind,  wenden 
wir  uns  zu  dem  Ziele  hin,  auf  das  wir  zustreben  und  daher 
lehren  wir:  das  adäquate  und  eigentümliche  Objekt  der  ver- 
nünftigen Seele  besteht  darin,  daß  sie  begrifflich  erkennend  wird, 
indem  in  sie  die  Wesensform  des  Weltalls  und  der  begrifflich 
erfaßbaren  Ordnung  desselben  eingezeichnet  wird  wie  auch  die 
Wesensform  des  Guten,  das  von  dem  ersten  Prinzipe  des  Alls 
beginnend,  auf  das  Weltall  emaniert  Es  bewegt  sich  zunächst 
von  der  Gottheit  ausgehend  zu  den  edlen,  geistigen  Substanzen, 
die  universell  sind.  Sodann  geht  es  weiter  zu  den  geistigen 
Substanzen,  die  in  gewisser  Weise  mit  den  Körpern  (der  Sphären) 
in  Verbindung  stehen.  Sodann  geht  es  weiter  über  zu  den 
Körpern  der  himmlischen  Welt,  entsprechend  ihren  Gestalten 
und  Fähigkeiten.  Darauf  geht  es  weiter,  bis  schließlich  die 
G^talt  des  Wirklichen  in  seiner  ganzen  Summe  vollkommen 
dargestellt  ist  Dann  wird  dieses  von  Gtott  emanierende  Gute 
verwandelt  in  eine  erkannte  Welt  (im  Geiste  des  Menschen),  die 
parallel  ist  dem  Weltall  der  Außenwelt  in  seiner  G^amtheit, 
und  in  eine  sinnlich  wahrgenommene  Welt,  entsprechend  dem, 
was  das  universelle  Gute  und  Schöne  und  das  wahrhaft  Edle 
bedeutet   Diese  Welt  ist  dann  verbunden,  mit  ihm  (dem  mensch- 


*)  Wörtlich:  „notwendig  xnkommt*'. 


Digitized  by 


Google 


638 

liehen  Greiste)  und  wird  in  ihn  durch  entsprechende  Erkenntnis- 
bilder und  Erkenntnisformen  eingeprägt.  Auf  dem  Wege  der 
Emanation  trennt  sich  das  von  Gott  emanierende  Gute  und  tritt 
heraus  aus  seiner  Substanz.  ^)  Vergleicht  man  dieses  mit  den- 
jenigen Vollkommenheiten,  die  die  Objekte  der  Liebe  sind  für 
andere  Fähigkeiten  (die  sinnlichen),  dann  befindet  sich  das 
geistige  Sein  in  einer  Stufe  der  Vollkommenheit,  von  der  man 
sagen  kann,  daß  sie  edler  und  vollkommener  ist  als  die  andere 
(die  der  sinnlichen  Vollkommenheit).  Ja,  es  kann  gar  kein 
Vergleich  mit  dieser  in  irgend  welcher  Weise  stattfinden  inbezug 
auf  Vollendung,  VoUkommenheit,  Fülle  des  Seins  und  die  übrigen 
Bestimmungen,  wodurch  der  G^nuß  an  dem  erfaßten  Objekte, 
wie  erwähnt,  zur  Vollendung  gelangt  Was  nun  die  ewige 
Dauer  angeht,  wie  kann  da  dasjenige,  was  ewig  besteht,  ver- 
glichen werden  mit  dem  Bestände  des  Veränderlichen  und 
Vergänglichen?  Was  femer  die  Intensität  der  Verbindung  des 
Objektes  mit  dem  Subjekte  beim  Zustandekommen  des  Genusses 
anbetrifft,  wie  kann  da  der  Zustand  dessen,  was  sich  durch 
Zusammentreffen  von  körperlichen  Flächen  verbindet  (im  sinn- 
lichen Genüsse),  verglichen  werden  mit  dem,  was  in  die  Substanz 
des  Aufnehmenden  (des  Geistes)  hineindringt  (im  geistigen 
Genüsse),  so  daß  der  Aufnehmende  sich  so  verhält^  als  ob  er 
jenes  Objekt,  das  in  ihn  hineindringt,  wäre,^)  ohne  daß  dieses 
sich  von  ihm  trennte;  denn  der  Verstand,  der  Denkende  und 
das  Gredachte  sind  eines  und  dasselbe  oder  fast  eines.  Daß  nun 
der  Erkennende  in  sich  selbst  vollkommener*)  ist,  ist  etwas 
Unzweifelhaftes.  Daß  er  (der  G^ist)  zudem  intensiver  erfaßt 
(als  der  Sinn),  ist  ebenfalls  etwas,  was  man  durch  die  geringste 
Überlegung  und  das  geringste  Nachdenken  über  das,  was  wir 
dargelegt  haben,  erkennt  Denn  der  vernünftigen  Seele  steht  eine 
größere  Anzahl  von  Objekten  zu  geböte.  Sie  ist  in  höherem  Maße 
frei  von  Fesseln,  um  das  Objekt  zu  erfassen,  und  mehr  befähigt, 
dasselbe  von  den  hinzugefügten  Bestimmungen,  die  nicht  in  den 


0  Dadurch  ist  das  Prinzip  der  UnvoUkommeiiheit  des  außergOttlichen 
Seins  gegeben.  Jemehr  die  emanierende  Welt  sich  von  Qott  entfernt,  um  so 
nnyoUkommener  wird  de. 

*)  inteUectns  aotn  fit  inteUectom  acta. 

*)  Der  Erkennende  ist  in  dem  einen  Falle  der  Geist  des  Menschen, 
in  dem  anderen  seine  sensitiven  Fähigkeiten,  die  er  (vgl.  Fär&bi,  Ringsteme 
Nr.  31,  Ende)  mit  den  Tieren  gemeinsam  hat. 


Digitized  by 


Googk 


639 

Wesensbegriff  (ratio)  des  Objektes  gehören,  zu  abstrahieren.  Sie 
wird  daran  nur  gehindert  durch  ein  Akzidens  (durch  den  Körper 
und  krankhafte  Zustände).  Der  Seele  kommt  ein  tiefes  Ein- 
dringen in  das  Innere  des  erkannten  Objektes  und  zugleich  in 
seine  äußeren  Erscheinungen  zu.  Wie  kann  also  dieses  Erkennen 
verglichen  werden  mit  jenem  (der  sinnlichen  Gegenstände)  oder 
wie  kann  diese  Lust  (des  geistigen  Schauens)  mit  jener  sinn- 
lichen und  tierischen  Lust  und  dem  Genüsse  der  zornmütigen 
Kraft  verglichen  werden?  So  lange  wir  jedoch  in  dieser  unserer 
Welt  und  in  diesem  unserem  Körper  sind  und  uns  versenken  in 
unwürdige  Handlungen,  empfinden  wir  nicht  jene  Lust,  wenn 
in  uns  etwas  (ein  Erkenntnisinhalt)  präsent  wird  aus  der  Welt 
der  Ursachen  jenes  geistigen  Genusses,  wie  wir  es  an  einigen 
früheren  Stellen,  wo  wir  die  Prinzipien  klar  legten  (zu  Anfang 
dieses  Kapitels),  aufgestellt  haben.  Aus  diesem  Grunde  verlangen 
wir  nicht  nach  dem  geistigen  Genüsse,  noch  streben  wir  nach 
ihm.  Wir  streben  nach  demselben  nur  dann,  wenn  wir  die 
Schlingen  der  Begehrlichkeit,  des  Zornes  und  der  übrigen  Leiden- 
schaften von  unseren  Schultern  abgeworfen  haben  und  etwas 
von  jener  geistigen  Lust  erschauen.  Dann  stellen  wir  uns  ein 
unvollständiges  und  schwaches  Bild  von  ihr  vor,  besonders  wenn 
die  Bedenken  in  uns  beseitigt  werden,  und  die  ersehnten  Objekte, 
die  im  eigentlichen  Sinne  wahrhaft  existieren,  uns  klar  werden. 
Der  Genuß,  den  wir  an  diesen  Objekten  haben,  verhält  sich  zu 
jenem  anderen  Genüsse  (an  den  sinnlichen  Objekten),  wie  die 
sinnliche  Lust  beim  Einatmen  der  Gerüche  von  angenehmen 
Speisen  zu  dem  Genüsse,  wenn  wir  diese  Speise  kosten.  Ja,  der 
Unterschied  ist  noch  viel  größer  und  läßt  sich  nicht  feststellen. 
Betrachtest  du  ein  Problem  der  verborgenen  Welt,*)  das 
deine  ganze  Aufmerksamkeit  fesselt,  und  regt  sich  in  dir  ein 
Verlangen,  und  wird  dir  zugleich  die  freie  Wahl  gelassen 
zwischen  den  beiden  Siegen  2)  (dem  Sieg  über  die  sinnliche 
Natur  oder  über  das  Geistige),  dann  verachtest  du  die  Begierde, 
wenn  du  edeldenkend  bist  Auch  die  Seelen  der  gemeinen 
Menschen  verachten  manchmal  die  Begierden,  die  sich  ihnen 
darbieten,  und  sie  ziehen  die  Mühen  und  heftigen  Schmerzen 


1)  Ck)d.  c  Gl.  d.  h.:  „eine  schwierige  Angabe". 

*)  Ck)d.  cG^.:  „zwischen  dem  Großen,  Schwierigen,  Bedeutenden,  and 
der  Begierde". 


Digitized  by 


Google 


640 

vor  wegen  irgend  einer  Schande,  einer  Schmach,  eines  Tadels  oder 
aus  Verlangen  nach  dem  Geistigen^)  Alles  dies  sind  Zustande, 
die  rein  geistiger  Natur  sind.  Es  wirken  diese*)  und  die  Kontraria 
von  ihnen  auf  das  von  der  Natur  (des  Menschen)  Erwählte  *) 
ein  und  geben  derselben  Ausdauer  im  Verharren  bei  Objekten, 
die  ihr  naturgemäß  widerstreben.  Aus  dieser  Darlegung  erkennst 
du,  daß  die  geistigen  Ziele  sogar  schon  in  den  verächtlichen 
Dingfen  der  Welt  für  die  Seelen  der  Menschen  mehr  Anziehungs- 
kraft besitzen  und  als  edler  gelten.  Um  wieviel  mehr  sind  also 
diese  geistigen  Dinge  in  den  erhabenen  Gegenständen  der 
geistigen  Welt  edel  und  vollkommen?  Die  niedrigen  Seelen 
empfinden  freilich  das  Gute  und  Böse  nur  an  den  verächtlichen 
Gegenständen,  ohne  daß  sie  zugleich  auch  das  kosten,  was  den 
edlen  Substanzen  anhaftet  So  wurde  es  betrete  der  unerreich- 
bar erhabenen  Objekte  klargestellt 

Sind  wir  aber  von  dem  Körper  getrennt,  und  hatte  unsere 
Seele,  während  sie  im  Körper  war,  ihre  Aufmerksamkeit  gerichtet 
auf  ihr  adaequates  Objekt  (ihre  Entelechie)  (jene  geistigen  (gegen- 
stände), die  den  Gegenstand  ihrer  Liebe  bildet,  ohne  daß  sie 
dasselbe  jedoch  erreichte,  obwohl  sie  naturgemäß  nach  ihm 
verlangte,  dann  trifft  folgendes  ein.  Denkt  die  Seele  aktuell, 
daß  diese  Gegenstände  existieren,  indem  jedoch  ihre  Ablenkung 
durch  den  Körper,  wie  wir  dargelegt  haben,  sie  ihr  eigenes 
(besseres)  Selbst  und  den  Gegenstand  ihrer  Liebe  in  etwa  ver- 
gessen ließ,  so  läßt  die  Krankheit  den  Kranken  das  Bedür&iis 
vergessen,  die  aus  dem  Körper  ausgeschiedenen  Substanzen  der 
Speise  zu  ersetzen,  und  ebenso  läßt  die  Krankheit  den  Menschen 
vergessen,  daß  er  sich  an  Süßem  erfreut  und  nach  ihm  verlangt 
und  zugleich  den  Kranken  Objekte  erstreben,  die  in  Wahrheit 
ekelerregend  sind,  —  dann  empfindet  die  Seele  Schmerz,  wenn  sie 
ihr  eigentliches  Objekt  verloren  hat,  ebensoviel  als  sie  von  der 
Lust  genießt,  deren  Existenz  wir  in  dem  Bereiche  des  Geistigen 
nachgewiesen  haben  und  von  der  wir  zeigten,  daß  sie  eine  hohe 
Rangstufe  einnimmt.  Diese  Unlust  ist  dann  die  Strafe  und  die 
Pein,  der  nicht  gleichkommt  jener  Schmerz,  den  man  empfindet, 
wenn  das  Feuer  die  Glieder  zerreißt  und  dieselben  zerstört  und 


1)  (M.  c.  „wegen  einer  Gteringschätzong". 

^  oder:  „ein  Teil  von  Ihnen*'. 

*)  oder:  „die  Agensien  der  Natur". 


Digitized  by 


Googk 


641 

wenn  die  große  Kälte  die  Mischung  des  Körpers  verändert. 
Diese  Unlust,  die  wir  dann  in  geistiger  Weise  empfinden,  verhält 
sich  wie  die  Unlust  des  Empfindungslosen,  den  wir  im  Vorher- 
gehenden erwähnten,  oder  wie  die  Unlust  desjenigen,  auf  dessen 
Organ  man  entweder  Feuer  oder  große  Kälte  einwirken  ließ.  Die 
umgebende  Materie  hinderte  jedoch  das  Zustandekommen  der 
sinnlichen  Empfindung  und  des  Bewußtwerdens  des  Schmerzes. 
Daher  empfand  er  keinen  Schmerz.  Trifft  es  sich  aber,  daß  das 
hindernde  Moment,  das  die  Schmerzempfindung  nicht  zustande 
kommen  ließ,  verschwindet,  dann  empfindet  er  den  großen 
Schmerz.  Erreicht  die  Fälligkeit  des  Verstandes  einen  Teil 
(wörtlich:  Grenze,  Definition)  ihres  adäquaten  Objektes,  dann 
vermag  sie,  im  Besitze  desselben,  und  durch  dasselbe,  wenn  sie 
sich  vom  Körper  getrennt  hat,  zu  ihrer  entsprechenden  Voll- 
kommenheit zu  gelangen.  Sie  verhält  sich  dann  wie  der 
Empfindungslose,  wenn  er  die  schönste  Speise  genießt  und  in 
den  angenehmsten  Zustand  versetzt  wird,  während  er  sich 
desselben  nicht  bewußt  ist.  Dann  verläßt  ihn  aber  seine 
Empfindungslosigkeit  und  er  erschaut  mit  einem  Male  die  höchste 
Seligkeit  Diese  Seligkeit  ist  in  keiner  Weise  so  geartet,  wie 
die  sinnliche  und  tierische;  sondern  sie  ist  eine  Seligkeit,  die 
dem  Zustande  der  Glückseligkeit  entspricht,  die  den  rein  geistigen 
und  „lebenden"  *)  Substanzen  zukommt  Diese  Seligkeit  ist 
voUkonmiener  und  edler  als  jede  andere. 

Dieses  ist  also  die  Glückseligkeit  und  jenes  die  Unglttck- 
seligkeit  Letztere  wird  nicht  jedem  Menschen  zu  teil,  der  in 
seiner  Disposition  mangelhaft  geblieben  ist,  sondern  nur  den- 
jenigen, die  in  ihrer  geistigen  Fälligkeit  die  Sehnsucht  nach 
jener  geistigen  Vollkommenheit  erworben  haben.  Es  entspricht 
diese  Lehre  der  anderen,  die  wir  darlegten,  daß  das  Erkennen 
der  Wesenheit  des  Weltalls  der  Seele  naturgemäß  zukommt 
Sie  erwirbt  dadurch  die  Erkenntnis  des  noch  Unbekannten 
aus  bereits  bekannten  Prämissen  und  sie  erlangt  dadurch 
aktuell  ihre  Vollkommenheit  Diese  ist  aber  noch  nicht 
naturgemäß  in  ihr  ursprünglich  vorhanden,  noch  auch  in  ihren 
anderen  Fähigkeiten.  Daß  die  meisten  Fähigkeiten  sich  ihrer 
adäquaten   Objekte   bewußt   werden,    trifft   vielmehr   nur   ein, 

>)  Das  wahre  Leben  findet  sich  erst  in  der  himmlischen  Welt  in  der 
Betäti^ng  des  Geistes. 

Horten,  Dm  Bach  der  Genetung  der  Seele.  41 


Digitized  by 


Googl( 


642 

nachdem  bestimmte  Bedingungen  (wörtlich:  Ursachen)  erfüllt 
sind.  Die  Seele  und  die  rein  geistigen  Fähigkeiten  verhalten 
sich  wie  die  Materie,  die  als  Substrat  für  das  Empfinden  der 
Seligkeit  gilt  und  die  jenes  Verlangen  nach  ihr  noch  nicht 
erworben  hat;  denn  dieses  Verlangen  tritt  in  der  Seele  nur 
in  einem  zeitlichen  Entstehen  auf,  und  wird  in  die  Substanz 
der  Seele  hineingelegt,  wenn  den  Fähigkeiten  der  Seele  gezeigt 
wird,  daß  Dinge  existieren,  deren  Kenntnis  sie  durch  die  Defi- 
nitionen erlangt,  die  sich  zwischen  zwei  Extremen  befinden^ 
wie  du  gesehen  hast')  Bevor  dieser  Beweis  erbracht  wird, 
entsteht  nicht  das  Verlangen  nach  diesem  Gegenstande.')  Denn 
dieses  Verlangen  folgt  auf  eine  Überzeugung,  weil  jedes  Ver- 
langen auf  eine  Erkenntnis  folgt  Diese  Erkenntnis  ist  aber 
der  Seele  nicht  ursprünglich  angeboren,  sondern  ist  eine  er- 
worbene. Wenn  daher  jene  Menschen  diese  Erkenntnis  von  den 
Gütern  des  jenseitigen  Lebens  erworben  haben,  so  folgt  daraus, 
daß  die  Seele  notwendig  nach  ihnen  verlangt  Trennt  sich  aber 
der  Geist  von  dem  Körperlichen,  und  ist  dann,  nach  der  voll- 
ständigen Trennung  mit  demselben  nicht  mehr  dasjenige  ver- 
bunden, womit  er  in  diesem  Leben  sich  begnügte,  dann  verfällt 
er  in  jene  Art  des  Unglücks,  das  ewig  dauert  Denn  die 
wichtigsten  Prinzipien  des  Habitus  des  Wissens  werden  nur 
durch  den  Körper  erworben,  nicht  in  anderer  Weise.^)  Dieses 
wurde  bereits  dargetan.^)  Diese  Menschen  lassen  entweder  das 
eifrige  Streben  nach  dem  Erwerbe  des  adäquaten  Objektes,  das 
das  vollkommenste  ist,  beiseite  oder  sie  widerstreben  diesem, 
leugnen  dasselbe  und  treten  in  Gruppen  zusammen,  die  schlechte 
Ansichten  au&tellen,  die  den  guten  (der  Entelechie)  entgegen- 
stehen. Sie  verwerfen  in  ungebürlicher  Weise  das  Wahre,  folgend 
den  Vorstellungen,  die  der  wahren  Vollendung  konträr  sind* 
Wie  viele  Vorstellungen,  und  Begriffe  müssen  in  der  Seele  des 
Menschen  wirklich  werden,  so  daß  er  diejenigen  Grenzen  über- 
schreitet, innerhalb  deren  ihm  die  Strafe  zuteil  wird   Lidem  er 


*)  Durch  den  temdnns  medins  des  SyUogismns  wird  das  Erkennen 
Termittelt  und  die  Konklusion  „erworben**.    Vgl  Logik  lY.  n.  V.  TeiL 

*)  Ignoti  nnUa  cnpido. 

*)  Das  Studium  der  Wissenschaften  ist  also  dem  Glauben  und  dem 
Glücke  der  Seele  nur  dienlich.  Die  gesamte  Entwicklung  des  Denkens  im 
Oriente  ist  durch  den  Kampf  zwischen  Glauben  und  Wissen  charakterisiert. 

*)  Naturw.  VL  Teil  IV  und  V. 


Digitized  by 


G 


^ogk 


643 

aber  den  Bereich  jener  Strafe  überschreitet  und  überwindet, 
erlangt  er  die  Hoffnung  auf  jene  Glückseligkeit.  Dieselbe  kann 
ich  nicht  in  eingehender  Weise  darstellen.  Ich  kann  dieselbe 
nur  andeuten.  Meine  Meinung  ist  also,  daß  jenes  Glück  darin 
besteht  (und  dadurch  vorbereitet  wird),  daß  die  Seele  des  Menschen 
sich  die  geistigen  Prinzipien  in  einer  wahren  Vorstellung  ver- 
gegenwärtigt. Durch  dieselben  erlangt  sie  die  feste  und  evidente 
Überzeugung  von  deren  Existenz  in  der  Außenwelt.  Diese  wird 
erworben  durch  den  demonstrativen  Beweis  und  die  Definition 
der  Zweckursachen  für  die  in  den  universellen  ^  Bewegungen 
sich  befindenden  Weltdinge,  mit  Ausschluß  der  partikulären 
Bewegungen,  die  unendlich  an  Zahl  sind.  (Sie  lassen  daher 
weniger  leicht  eine  Zweckursache  erkennen.)  (Jenes  Glück 
besteht  sodann  darin,)  daß  das  Vorstellungsbild  des  Weltalls  ^ 
sich  im  Menschen  fest  ausbildet  und  mit  ihm  zugleich  die 
Beziehungen  der  Teile  des  Weltalls  zueinander  und  der  Ordnung, 
die  von  dem  ersten  Seienden  ausgeht  und  hingelangt  zu  dem 
letzten  der  existierenden  Dinge,  die  in  der  Ordnung  des  Weltalls 
zum  Dasein  gelangen. 

Wir  stellen  uns  daher  die  göttliche  Weltleitung  und  die 
Art  und  Weise,  wie  sie  sich  vollzieht,  vor  und  beweisen,  welche 
Art  und  Weise  der  Existenz  jenem  Wesen,  das  dem  Weltall 
vorausgeht,  eigen  ist,  und  in  welcher  Form  der  Einheit  es 
existiert.  Wir  zeigen  femer,  wie  die  göttliche  Substanz  zu 
definieren  ist,  so  daß  ihr  nicht  der  Begriff  der  Vielheit  oder  der 
der  Veränderung  in  irgend  einer  Weise  anhaftet;  femer,  wie 
die  Ordnung  der  existierenden  Dinge  zu  ihr  zu  denken  sei.  So 
oft  der  Betreffende  (in  diesem  Leben)  in  seiner  Betrachtung 
intensiver  denkt,  vermehrt  sich  auch  die  Disposition  für  seine 
Glückseligkeit  Der  Mensch  kann  nicht  frei  werden  von  dieser 
materiellen  Welt  und  den  Dingen,  die  mit  ihr  verbunden  sind, 
wenn  er  nicht  die  Verbindung  mit  jener  anderen  Welt  fest 
knüpft;  dann  entsteht  aber  in  ihm  ein  Verlangen  nach  der 
jenseitigen  Welt  und  eine  Liebe  zu  dem,  was  dort  ist.  Diese 
hält  ihn  ab,  die  Summe  alles  desjenigen  zu  betrachten,  was 
anders  ist,  als  jene  Welt. 


')  Mit  oniverseU  werden  die  Bewegungen  der  Sphären  bezeichnet ,  da 
sie  ihren  Einflufi  ausüben  auf  eine  unbestimmt  große  Anzahl  subiunarischer 
Dinge.  In  diesen  Bewegungen  ist  zunächst  die  Ordnung  des  WeltaUs  zu 
erkennen. 

41* 


Digitized  by 


Google 


644 

Wir  lehren  femer,  daß  dieses  wahrhafte  Gluck  nur  dadurch 
in  vollkommener  Weise  zustande  kommt,  daß  der  ethisch  tätige 
Teil  der  Seele  0  zu  seiner  Vollendung  gebracht  wird.  Wir 
schicken  dieser  Erkenntnis  eine  Prämisse  (wörtlich:  Vorwort) 
voraus,  die  wir  im  Früheren*)  schon  erwähnt  haben.  Deshalb 
lehren  wir:  die  natürliche  Anlage  ist  ein  Habitus,  durch  den 
aus  der  Seele  Tätigkeiten  in  leichter  Weise  hervorgehen,  ohne 
daß  ein  psychischer  Inhalt  (wie  eine  Vorstellung  und  bewußte 
Überlegung)  vorausgeht*)  In  den  Büchern  der  Ethik  wurde 
bereits  die  Forderung  aufgestellt,  daß  die  Mittelstraße  zwischen 
den  beiden,  sich  konträr  gegenüberstehenden,  natürlichen  An- 
lagen eingehalten  werde.  Es  wurde  nicht  behauptet,  man  voll- 
ziehe die  Handlungen,  die  sich  auf  der  Mittelstraße  bewegen, 
%  ohne  daß  man  zugleich  den  Habitus  dieser  Handlungen  erwerbe. 
Man  erwirbt  vielmehr  den  Habitus  dieser  Handlungen,  die  sich 
zwischen  den  beiden  Extremen  bewegen.*)  Dieser  Habitus 
medü  existiert  in  der  vernünftigen  Seele  und  zugleich  in  den 
animalischen  Fähigkeiten.  In  diesen  zeigt  er  sich  dadurch,  daß 
in  den  tierischen  Potenzen  die  dispositio  des  Grehorchens  auftritt 
(gegenüber  dem  Geiste).  In  den  vernünftigen  Fähigkeiten  zeigt 
er  sich,  indem  in  ihnen  die  dispositio  des  Befehlens,  nicht  die 
des  sich  passiven  Verhaltens  erworben  wird.  Ebenso  existiert 
der  Habitus  des  Zuviel  und  Zuwenig  betreffe  der  Handlungen 
real  in  der  vernünftigen  Kraft  und  zugleich  in  den  animalischen 
Fähigkeiten.  Jedoch  verhält  er  sich  umgekehrt  (wie  der  Habitus 
der  Handlungen,  die  sich  zwischen  diesen  beiden  Extremen 
bewegen).  Es  ist  bekannt,  daß  das  Zuviel  und  Zuwenig  in  den 
Handlungen  Folgeerscheinungen  der  animalischen*)  Fähigkeiten 


1)  Wie  die  Philosophie  in  eine  theoretische  und  praktische  zerfäUt,  so 
teilt  man  anch  die  Seele  ein  in  eine  pars  (/JilQog)  practica  nnd  pars  theoretica. 

«)  Cod.  c  GL:  „in  dem  Buche  über  die  Seele"  Naturw.  VL  Teil,  L  4—5 
V.  1  und  6  und  Metaph.  I.  1. 

*)  Auf  Grund  von  Thomas  Sum.  th.  L— IL  49,i  lautet  die  scholastische 
Lehre:  Habitus  sunt  necessarii  ad  tria,  sdlicet  ad  ftrmitatem,  promptitudinem 
et  delectationem  in  opere. 

*)  Wörtlich:  „den  Habitus  der  Mitte".  Wenn  daher  in  den  ethischen 
Büchern  nur  von  den  Handlungen  gesprochen  wird,  so  ist  damit  die  Existenz 
des  Habitus  nicht  geleugnet. 

*)  Das  ethisch  Gute  (der  habitus  medü)  hat  seinen  Sitz  im  geistigen 
Teile,  das  ethisch  Schlechte,  die  Habitus  des  Zuviel  und  Zuwenig  haben  ihren 
Sitz  in  der  sensitiven  Seele. 


Digitized  by 


Googk 


645 

sind.  Sind  die  animalischen  Kräfte  stark  und  besitzen  sie  den 
Habitus,  über  die  anderen  (geistigen)  Fälligkeiten  zu  herrschen, 
dann  tritt  in  der  vernünftigen  Seele  der  Zustand  ein,  daß  sie 
den  sinnlichen  Kräften  gehorcht  und  von  ihnen  in  passiver 
Weise  Einwirkungen  empfängt,  die  in  die  vernünftige  Seele 
eindringen.  Dieser  Zustand  ist  so  beschaffen,  daß  er  die  Seele 
innig  verbindet  mit  dem  Körper  und  sie  dem  Körperlichen  sehr 
zuwendet 

Der  Habitus  der  Handlungen,  die  sich  zwischen  den  beiden 
Extremen  bewegen,  bedeutet  das  Freisein  von  Dispositionen,  die 
besagen,  daß  sich  die  Seele  leiten  lasse  von  den  sinnlichen 
Kräften  und  zugleich,  daß  sie  ungeschmälert  in  ihrer  geistigen 
Natur  verbleibe.  Zugleich  erlangt  sie  dadurch  den  Zustand, 
durch  den  sie  über  die  sinnlichen  Fähigkeiten  herrscht  und  frei 
Lst  von  Materiellem.  Dieser  Zustand  widerstrebt  nicht  ihrer 
Substanz,  noch  neigt  er  die  Seele  zu  dem  Körperlichen»)  hin; 
er  richtet  sie  vielmehr  auf  eine  andere  Seite  (auf  das  Geistige). 
Denn  der  mittlere  Zustand  der  Handlungen  ist  dadurch  bestimmt, 
daß  er  sich  von  den  zwei  Extremen  immer  frei  hält  Was  die 
Substanz  der  Seele  angeht,  so  hat  der  Körper  auf  dieselbe  nur 
die  Wirkung,  daß  er  sie  hindert  an  ihrer  Tätigkeit,  sie  hinabzieht 
in  das  Irdische  und  sie  ablenkt  von  dem  Verlangen,  das  der 
Seele  eigen  sein  muß,  und  von  dem  Suchen  nach  derjenigen 
Vollkommenheit  (Entelechie),  die  ihr  zukommt  und  sie  das  Ob- 
jekt ihrer  Glückseligkeit  nicht  empfinden  läßt,  wenn  es  sich 
mit  ihr  verbindet  und  sie  ebensowenig  den  Schmerz  wahrnehmen 
läßt,  wenn  die  Seele  zu  schwach  ist,  die  Glückseligkeit  (Ente- 
lechie) zu  erreichen.  Die  Seele  wird  sich  dann  nicht  bewußt, 
daß  sie  versenkt  ist  in  den  Körper  oder  ganz  in  ihm  aufgeht 
(Dieser  Zustand  haftet  der  Seele  jedoch  an)  weil  sie  mit  dem 
Körper  eine  Verbindung  eingeht,')  und  diese  Verbindung  muß 
darin  bestehen,  daß  sie  naturgemäß  danach  verlangt,  den  Körper 
zu  leiten  (nicht  sich  von  ihm  leiten  zu  lassen)  und  sich  mit  den 
körperlichen  Beschäftigungen  und  den  Akzidenzien,  die  sie  dem 
Körper  verleiht,  und  den  Gewohnheiten  der  Seele ^)  abzugeben 
in   denen  der  Körper  seinen  festen  Bestand  hat    Dann  aber 

')  Wörtlich:  „nach  der  Seite  des  KOrpers". 

*)  Wörtlich:  „wegen  der  Verbindung  beider". 

')  Wörtlich:  „den  Gewohnheiten  des  Prinzipes  der  Akzidenzien". 


Digitized  by 


Google 


646 

trennt  die  Substanz  der  Seele  sich  von  dem  Körper.  Zugleich 
besteht  in  ihr  eine  aktuelle  Gewohnheit,  die  durch  die  Ver- 
bindung mit  dem  Körper  entstanden  ist.  Jedoch  ist  die  Ver- 
bindung der  Seele  mit  dem  Körper  etwas  Universelles  und  nahe 
verwandt  mit  dem  Zustande,  der  der  Seele  eigentlich  zukommt 
Er  befindet  sich  in  diesem.  0  Läßt  aber  die  Seele  von  jenem 
(der  Verbindung  mit  dem  Körper)  ab,^)  dann  hört  der  Zustand 
auf,  daß  sie  sich  abwandte  von  dem  Verlangen  nach  dem  Voll- 
kommenen (der  Entelechie,  dem  Geistigen),  das  der  Seele  zu- 
kommt Insoweit  aber  der  Seele  die  Beziehung  zum  Körperlichen 
noch  erhalten  bleibt  (nach  der  Trennung  von  dem  Körper), 
ist  sie  gehindert  3)  an  der  reinen  (körperlosen)  Verbindung  mit 
dem  Orte,  wo  sie  ihr  Glück  genießen  sollte.  Dann  entsteht  in 
der  Seele  (die  das  ihrer  geistigen  Natur  entsprechende  Objekt 
im  Jenseits  nicht  erreichen  kann),  der  Zustand  ungeordneter 
Strebungen,<)  die  ihren  großen  Schmerz  herbeiführen.  Diese 
körperliche  Disposition  ist  der  (geistigen)  Substanz  der  Seele 
entgegengesetzt  und  fügt  ihr  Pein  zu.  Die  Seele  wurde  aber 
nur  unfähig  gemacht,  diese  geistigen  Objekte  zu  kosten,  durch 
den  Körper  und  daduixh,  daß  sie  ganz  in  das  Körperliche  ver- 
senkt war. 

Trennt  sich  daher  die  Seele  von  dem  Körper,  dann  erkennt 
sie  diesen  großen  Gegensatz  (der  zwischen  Körperlichem  und 
Geistigem  besteht)  und  empfindet  heftigen  Schmerz  über  denselben 
(wenn  sie  das  Greistige  nicht  zu  erreichen  vermag).  Diese  Pein 
und  dieser  Schmerz  jedoch  wird  nicht  durch  ein  notwendig  an- 
haftendes, sondern  ein  der  Natur  der  Seele  fremdes  und  zu- 
fälliges Akzidens  (die  Richtung  der  Seele  auf  das  Sinnliche) 
herbeigeführt.  Das  zufällige  und  fremde  Akzidens  aber  bleibt 
nicht  ewig  bestehen,  noch  ist  es  unveränderlich.  Es  läßt  nach 
und  verschwindet,  wenn  die  Tätigkeiten  aufhören,  die  diese 
körperliche  Disposition  durch  ihre  häufige  Wiederholung  hervor- 
riefen. Eb  ist  also  notwendig,  daß  der  Zustand  dieser  Pein,  der 
auf  Grund  jener  Richtung  der  Seele  auf  das  Sinnliche  entsteht, 


')  Nach  dem  Tode  befindet  sich  die  Seele  noch  in  unbestimmter  Ver- 
bindung mit  dem  Körper. 

«)  Oder:  „dadurch  daß  sie  .  .  .  abläßt,  hört  d.  Zust.  auf". 
»)  Wörtlich:   „Terschleiert". 
*)  Wörtlich:  „Bewegungen". 


Digitized  by 


Googl( 


647 

nicht  ewig  dauern  kann  (Beweis  f ftr  die  Existenz  des  Fegfeuers). 
Er  wird  vernichtet  und  schwindet  allmählich  dahin,  so  daß  die 
Seele  rein  wird  und  zu  dem  Glücke  gelangt,  das  ihr  eigen* 
tflmlich  ist 

Was  nun  aber  die  geistig  unfähigen  Seelen  angeht,  die 
das  Verlangen  nach  dem  Geistigen  nicht  ei'worben  haben,  so 
gilt  von  ihnen:  trennen  sie  sich  von  dem  Körper,  ohne  daß  sie 
sich  eine  schlechte  Disposition  erworben  hatten,  dann  gelangen 
diese  Seelen  zu  der  Barmherzigkeit')  Grottes  und  kommen  zu 
einer  Art  der  Ruhe.  Haben  aber  diese  Seelen  die  bösen  Dis- 
positionen inbezug  auf  das  Materielle  erworben  und  ist  zugleich 
mit  ihnen  nicht  eine  andere  (gute)  Disposition  gegeben  (die  sie 
auf  das  Geistige  richtet),  noch  auch  irgend  etwas  (ratio),  was 
das  Böse  hindert  und  zurückdrängt,  dann  werden  diese  Seelen 
notwendigerweise  wegen  ihres  Verlangens  zu  den  ihnen  ent- 
sprechenden (materiellen)  Objekten  gequält  und  sie  leiden  heftige 
Pein  darüber,  weil  sie  den  Körper  und  seine  Objekte  verloren 
haben,  ohne  daß  sie  zu  dem  Gegenstande  ihres  Verlangens 
gelangen  können.  Dieses  vermögen  sie  deshalb  nicht,  weil  das 
Organ,  mit  dem  sie  das  Körperliche  genießen,  vernichtet  wurde, 
während  jedoch  die  Naturanlage,  die  sie  mit  dem  Körperlichen 
verknüpft,  noch  bestehen  bleibt. 

Dasjenige,  was  ein  Gelehrter^)  gesagt  hat,  kann  wahr 
sein.  Er  sagt:  setzen  wir  den  Fall,  daß  die  Seelen  sich  Rein- 
heit erworben  haben  und  sich  von  dem  Körper  trennen.  Zugleich 
besitzen  sie  einen  gewissen  Glauben  an  das  andere  Leben,  das 
den  gleichgesinnten  Seelen  oder  den  Menschen  zustößt,  so  wie 
wir  es  dem  gewöhnlichen  Volke  predigen  und  wie  infolge  davon 
die  Vorstellungen  sich  in  ihren  Seelen  ausbilden.  Trennen  diese 
Seelen  sich  von  ihren  Körpern,  ohne  daß  zugleich  in  ihnen 
irgend  etwas  besteht,  was  sie  zu  der  höheren  (geistigen)  Welt 
hinzieht  —  dadurch  hätten  sie  vervollkommnet  und  disponiert 
werden  können  zu  jener  Art  des  Glückes  —  und  haben  sie  femer 
kein  Verlangen  nach  einem  höheren  Glücke,  dann  werden  sie 
in  dieser  Weise  unglücklich  im  anderen  Leben.  Ja,  alle  ihre 
seelischen  Dispositionen  sind  auf  das  Niedrige  gerichtet  und 
hingezogen  zu  den  Körpern.     Es  besteht  in  den  Stoffen  der 


*)  Wörtlich:  „einer  Weite  der  Barmherzigkeit". 
«)  Cod.  c  GL:  F&r&hl. 


Digitized  by 


Google 


648 

himmliscUeu  Körper  nichts,  was  diese  Seelen  hindert,  Objekt 
irgend  einer  Einwirkung  der  himmlischen  Seelen  zu  sein  (so 
daß  sie  unter  deren  Einwirkung  leiden  können). 

Man  stellte  die  Ansicht  auf,  die  Seelen  bildeten  sich  Phan- 
tasievorstellungen von  allem,  was  sie  in  ihrem  irdischen  Leben 
betreffs  des  anderen  Lebens  geglaubt  haben.  Das  Organ,  durch 
welches  sie  sich  Phantasievorstellungen  bilden  können,  ist  also 
einer  der  Körper  des  Himmels,  so  daß  diese  Seelen  dann  alles 
erschauen,  was  ihnen  von  religiösen  Lehren  über  das  Leben  des 
Jenseits  (wörtlich:  den  Zustand  des  Grabes  und  der  Auferstehung 
und  den  Gütern  des  anderen  Lebens)  im  irdischen  Leben  mit- 
geteilt wurde.  Die  bösen  Seelen  sehen  dann  ebenfalls  die  Strafe 
nach  Maßgabe  dieser  Phantasievorstellung,  die  sie  im  Leben 
erworben  haben,  und  dieses  bringt  ihnen  Pein;  denn  das  Phan- 
tasiebild ist  nicht  unvermögender,  als  die  sinnliche  Wahrnehmung. 
Es  ist  vielmehr  intensiver,  als  die  sinnliche  Empfindung  inbezug 
auf  ihre  Wirkung  und  Reinheit  In  dieser  Weise  erkennt  man 
auch  Gegenstände  im  Schlafe.  Der  Traum  ist  manchmal  be- 
deutender (und  intensiver),  als  das  gleiche  Vorstellungsbild,  wenn 
es  sinnlich  wahrgenommen  wird.  Die  Phantasievorstellung  im 
Jenseits  ist  also  intensiver;  denn  die  inneren  Vorstellungen 
dringen  im  anderen  Leben  noch  tiefer  ein,  als  das  im  Traume 
auftretende  Bild,  weil  jene  Vorstellungen  kaum  Hinderungen 
erfahren,  und  weil  femer  das  aufnehmende  Substrat  (die  körper- 
lose Seele)  von  reinerer  Natur  (d.  h.  weniger  materiell)  ist 
Das  Vorstellungsbild,  das  wir  im  Schlafe  sehen,  ja  sogar  der 
Empfindungsinhalt,  den  wir  im  wachen  Zustande  wahrnehmen, 
ist,  wie  du  gesehen  hast,^  nichts  anderes,  als  dasjenige,  was  in 
die  Seele  (durch  äußere  Reize)  eingezeichnet  wird.  Der  Unter- 
schied zwischen  beiden  ist  nur  der,  daß  der  Inhalt  des  Einen 
(des  Traumbildes)  aus  dem  Lineren  beginnt  und  herabsteigt  zum 
Materiellen,  während  das  Zweite  (das  sinnlich  wahrgenommene) 
von  außen  beginnt  und  hinau&teigt  zum  Geistigen  der  inneren 
Vorstellung.  Wird  daher  dieser  Inhalt  in  die  Seele  eingezeichnet, 
dann  ist  in  derselben  das  intuitive  Erkennen  vollständig  und 
es  ist  nur  dieses  (Abbild  des  Wirklichen,  das  in  der  Seele  ein- 
gezeichnet wird),  was  das  Empfinden  der  Lust  oder  des  Schmerzes 
im  eigentlichen  Sinne  dss  Wortes  bereitet    Lust  und  Schmerz 


0  Naturw.  VI,  Teü  m,  1  f. 


Digitized  by 


Googl( 


649 

bereitet  nicht  etwa  das  in  der  Außenwelt  Existierende^)  So 
oft  also  der  psychische  Inhalt  in  die  Seele  eingezeichnet  wird, 
bringt  er  seine  Tätigkeit  hervor,  selbst  wenn  für  diesen  psychi- 
schen Znstand  keine  reale  Ursache  in  der  Außenwelt  (wie  z.  B. 
im  Traume)  existiert  Denn  die  wesentliche  Ursache  ist  (nicht 
das  Ding  der  Außenwelt),  sondern  nur  derjenige  Inhalt,  der  in 
die  Seele  eingezeichnet  wird.  Das  Ding  der  Außenwelt  ist  nur 
per  accidens  Ursache  für  die  Empfindung  oder  mit  anderen 
Worten  nur  „Ursache  der  Ursache".  (Er  verursacht  in  uns  eine 
Erkenntnisform  und  diese  ihrerseits  bewirkt  die  Empfindung.) 

Dieses  ist  also  der  Zustand  der  Glückseligkeit  und  des 
Unglückes  (der  geistig  hoch  veranlagten  Seelen)  und  die  zwei 
Zustände,  die  den  unvollkommenen  Seelen  zukommen.  Der  Zu- 
stand aber,  der  für  die  heiligen  Seelen  (der  Propheten)  bestimmt 
ist,  ist  weit  entfernt,  sich  in  gleicher  Weise  zu  verhalten.  Die 
heilige  Seele  verbindet  sich  mit  dem  Objekte  ihrer  Glückselig- 
keit durch  ilu-  eigenes  Wesen  (per  se)  und  sie  versenkt  sich 
ganz  und  gar  in  die  wahre  Glückseligkeit,  indem  sie  sich 
vollständig  reinigt  von  Gedanken  an  das,  was  hinter  ihr  liegt 
(an  das  irdische  Leben)  und  an  ihre  Gewohnheiten,  die  sie  im 
körperlichen  Leben  erworben  hatte.  Wenn  irgend  etwas  von 
diesen  körperlichen  Dispositionen,  entweder  eine  Disposition 
der  Überzeugung  oder  eine  Disposition  der  Naturanlage  in 
ihr  zurückbliebe,  dann  würde  sie  dadurch  Schmerz  empfinden. 
Sie  würde  zurückgesetzt  auf  Grund  dieser  Beziehungen  zum 
Materiellen  und  zurückstehen  hinter  der  Stufe  der  höchsten 
Bewohner  des  Himmels,  bis  sie  sich  ganz  loslöst  (vom  Materiellen 
und  zum  höchsten  Himmel  aufsteigt)« 

*)  Der  subjektivistische  Zug  dieser  Darlegungen  ist  hervorzuheben. 
Das,  was  unsere  Empfindung  bewirkt,  sind  nicht  die  Dinge  der  Außenwelt, 
sondern  ihre  Einwirkung  auf  uns,  d.  ii.  der  psychische  Inhalt,  den  sie  in  uns 
erzeuge. 


Digitized  by 


Google 


Zehnt«  Abhandlung. 


Ethik.  0 

Erstes  Kapitel. 

Das  erste  Sein  und  das  jenseitige  Leben  ^)  im  allgemeinen. 

Die  göttlichen  Eingebungen,  die  Gebetserhorungen,  die  Strafen  des 

Himmels,  die  Prophetie  und  die  Sterndeuterei. 

Beginnt  das  Seiende  von  dem  ersten  Prinzipe  des  Seins,  so 
reiht  es  sich  in  ununterbrochener  Kette  aneinander  an,  eine 
Stufe  an  die  andere,  indem  die  zweite  immer  niedriger  steht  als 
die  vorhergehende  im  Vergleiche  zum  ersten  Seienden.  So  steigen 
die  Stufen  immerfort  herunter.  Die  erste  Stufe  ist  die  der  rein 
geistigen  Engel,  die  Geister  genannt  werden.  Darauf  folgen ') 
die  Stufen  der  geistigen  Engel,  die  Seelen  genannt  werden. 

*)  Die  Ethik  ist  in  Form  eines  Anhanges  der  Metaphysik  angefügt. 
Sie  steht  in  der  Ordnung  der  Wissenschaften  dem  theoretischen  Wissen  gegen- 
über (vgl.  Einleitung  zur  Psychologie)  auf  Grund  folgenden  Systemes  der 
Wissenschaften : 

I.  Propädeutik  zur  Philosophie 
n.  die  Philosophie 

A.  die  theoretische  Philosophie 

1.  Naturwissenschaften 

2.  Mathematik 

3.  Metaphysik 

B.  die  praktische  Philosophie 

1.  Ethik  (Individuum) 

2.  Ökonomik  (Hausgemeinde) 

3.  Politik  (Stadt  und  Staat). 
2)  Wörtlich :  „die  Rückkehr". 

*)  Vgl.  Horten,  Buch  der  Ringsteine  F&r&bis,  S.  162  und  392. 


Digitized  by 


Google 


651 

Dieses  sind  die  wirkenden,  tätigen  EngelJ)  Darauf  folgt  die 
Stufe  der  himmlischen  Körper.  Sie  verhält  sich  so,  daß  der  eine 
Körper  immer  vollkommener  ist,  als  der  andere,  (von  der  Um- 
gebungssphäre an  gerechnet  bis  zur  Mondsphäre)  bis  man  zu 
dem  letzten  hingelangt.  Später  als  diese  Körper  „beginnt"  die 
Materie,  die  aufnahmefähig  ist  für  die  Wesensformen,  die  ent- 
stehen und  vergehen.  Zuerst  umkleidet  sie  sich  mit  der  Wesens- 
form der  Elemente;  dann  steigt  sie  langsam,  Schritt  für  Schritt, 
auf.  Das  erste  Seiende,  das  in  der  Materie  besteht,  ist  niedriger 
und  unvollkommener  in  seiner  Seinsstufe,  als  dasjenige,  was  auf 
dieses  erste  folgt.  Am  niedrigsten  steht  in  ihm  die  Materie. 
Darauf  folgen  die  Elemente,  dann  die  zusammengesetzten,  festen 
Körper,  dann  die  Pflanzen.  Das  vollkommenste  Lebewesen  ist 
der  Mensch.  Auf  ihn  folgen  die  Tiere  und  dann  die  Pflanzen. 
Der  vollkommenste  Mensch  ist  aber  derjenige,  dessen  Seele  im 
aktuellen  Denken  vervollkommnet  wurde  und  dessen  Seele 
zugleich  mit  ethischen  Eigenschaften  ausgestattet  ist,  die  prak- 
tische Tugenden  sind.  Der  vollkommenste  dieser  Menschen  ist 
derjenige',  der  für  die  Rangstufe  der  Prophetie  disponiert  ist. 
Er  ist  dadurch  ausgezeichnet,  daß  in  seinen  seelischen  Kräften 
drei  Eigenschaften  vorhanden  sind,  die  wir  früher  bereits  erwähnt 
haben:  er  vernimmt  das  Wort  Gottes;  sodann  sieht  er  die 
Engel  Gottes  und  stellt  sich  auch  in  einem  Phantasiebilde  diese 
Engel  vor.  Wir  haben  bereits  erklärt,  wie  dieses  möglich  ist 
und  auch  dargestellt,  daß  der  mit  einer  Offenbarung  Begnadigte 
sich  die  Engel  in  Bildern  vorstellt.  In  seinem  Gehöre  ertönt 
dann  eine  Stimme,  die  er  vernimmt  und  die  vom  Throne  Gottes 
und  aus  der  Welt  der  Engel  herkommt.  Er  hört  sie,  ohne  daß 
diese  Stimme  ein  wirkliches  Wort  sei,  das  von  Menschen  aus- 
gesprochen wird  oder  von  anderen  irdischen  Lebewesen  stammt 
Sobeschaffen  ist  der  mit  einer  Offenbarung  Begnadigte. 

Die  erste  Stufe  der  entstehenden  Dinge  ist  von  dem 
Anfange  ausgehend  bis  zu  der  Stufe  der  Elemente  (also  in 
absteigender  Linie  der  Verstand).  Darauf  folgt  die  Seele,  dann 
der  Körper.  In  der  niederen  Welt  aber  beginnt  das  Seiende 
bei   dem    Körper.     Darauf   entstehen    die   Seelen,    darauf   die 


^)  Die  Engel  der  höchsten  Stufe  sind  in  die  Vision  Gk>tte8  versenkt 
und  stehen  nicht  zu  Körpern  in  Beziehung;  die  der  zweiten  Stufe  sind  mit 
Körpern  in  Verbindung  und  wirken  auf  diese. 


Digitized  by 


Google 


652 

Geister.  Die  Wesensformen  dieser  sinnlichen  Dinge  strömen 
notwendigerweise  nur  von  diesen  Prinzipien  der  himmlischen 
Welt  aus,  und  die  Dinge,  die  in  der  niederen  Welt  zeitlich 
entstehen,  werden  durch  das  Zusammenwirken  der  aktiven 
himmlischen  Kräfte  und  der  passiven  irdischen  zum  Entstehen 
gebracht.  Dieses  letztere  Zusammenwirken  folgt  auf  das  der 
aktiven  himmlischen  Kräfte.  Was  nun  die  irdischen  Kräfte 
angeht,  so  wird  dasjenige,  was  aus  ihnen  zeitlich  entsteht  (die 
zusammengesetzten  Körper  und  die  Lebewesen),  wirklich  durch 
zwei  Ursachen.  Die  eine  bilden  die  aktiven  Kräfte  in  ihnen, 
seien  es  nun  die  Naturkräfte,  oder  die  Kräfte  des  Willens.  Die 
zweite  Ursache  bilden  die  passiv  sich  verhaltenden  Fähigkeiten, 
die  ebenfalls  entweder  natürliche  oder  seelische  sind.  Die  himm- 
lischen Kräfte  sind  Ursachen  für  ihre  Wirkungen  in  den  Körpern 
dieser  Welt,  die  der  himmlischen  untergeordnet  ist^  in  dreifacher 
Weise.  Erstens  sie  treten  der  irdischen  Welt  gegenüber,  ohne 
daß  eine  (direkte)  Kausalwirkung  von  ihnen  zu  den  irdischen 
Dingen  hin  irgendwie  vorhanden  ist.*)  Diese  Einwirkungen 
treten  ein  entweder  auf  Grund  der  Naturen  und  der  Kräfte  der 
himmlischen  Körper  2)  nach  Maßgabe  der  Gestaltungen  und 
Formierungen,  die  aus  der  himmlischen  Welt  entstehen  zugleich 
in  Verbindung  mit  den  irdischen  Kräften  und  nach  Maßgabe 
der  Proportionen  und  (der  Verwandschaft),  die  zwischen  beiden 
bestehen.  Zweitens  entstehen  die  irdischen  Wirkungen  (direkt) 
aus  den  Naturen  der  seelischen  Substanzen 3)  der  himmlichen 
Welt  Die  dritte  Art  und  Weise  hat  (in  ihrem  Wirken)  manches 
gemeinsam  mit  den  irdischen  Verhältnissen.  In  ihr  ist  ein 
(direktes)  ursächliches  Einwirken  der  himmlischen  Körper,  in 
gewisser  Weise  wenigstens,  gegeben.  In  dieser  Weise  lehre  ich: 
die  Seelen  der  himmlischen  Körper  haben,  wie  es  bereits  dar- 
gelegt wurde,  irgend  welchen  Verkehr  und  irgend  welche 
Verbindung  mit  den  individuellen  Dingen  (rationes)  nach  einer 
Art  des  Erkennens  und  des  Erfassens,  die  nicht  rein  geistig 
ist  Auf  Grund  dieses  Erfassens  können  solche  Seelen  die  parti- 
kulären und  zeitlich  entstehenden  Individuen  erkennen.  Die 
genannte  Art   des   Erkennens   ist  möglich,  weil  sie  die  viel- 


^)  Es  scheint  hier  die  Idee  einer  operatio  in  distans  vorzuliegen. 
^)  Cod.  c  GL:  „Hinweis  auf  die  in  einen  Körper  eingeprägte  Seele*^ 
')  Cod.  c  GL:  „dies  bedeutet  die  unkOrperliche  Seele". 


Digitized  by  VjOOQIC 


\ 


653 

fältig  zerstreuten  Ursachen,  also  die  aufnehmende  und  die 
wirkende  Ursache,  die  als  solche  wirklich  sind,  erkennen  und 
auf  Grund  davon  auch  dasjenige,  was  jene  Ursachen  bewirken. 
Sie  erkennen  femer,  daß  diese  Ursachen  hinleiten  (auf  höhere 
Ursachen)  i  h.  auf  eine  Naturkraft  oder  einen  Willensentschluß, 
der  aktiv  tätig  ist.  Die  Einwirkung  eines  freien  Willens- 
entschlusses ist  keine  unsichere,  sondern  eine  endgültige,  defini- 
tive.*) Diese  Ursachen  führen  nicht  hin  zu  einer  unfreiwilligen 
Bewegung  (als  ihrer  ersten  Ursachen);  denn  eine  solche,  die  aus 
Zwang  hervorgeht,  ist  entweder  ein  Zwang,  der  von  einer 
Naturkraft,  oder  ein  solcher,  der  von  einem  freien  Willen 
ausgeht.  Zu  diesen  zwei  (d.  h.  einer  dieser  beiden)  Arten  des 
Willens  wird  man  hingeführt,  wenn  man  alle  unfreiwilligen 
Bewegungen  analysiert. 

Alle  Willensentschlüsse  entstehen,  nachdem  sie  nicht  vor- 
handen waren.2)     Daher  müssen  auch  sie  Ursachen  besitzen. 


')  Cod.  c  Gl. :  „d.  h.  sie  ist  keine  nicht  notwendig  wirkende". 

«)  Vgl.  F&r&bt,  Ringsteme  Nr.  49.  ad.  2 :  vgl.  Thomas  Sum.  th.  I— 11 9, 4  c : 
Secundum  quod  voluntas  movetur  ab  obiecto,  manifestum  est,  quod  moveri 
potest  ab  aliquo  exteriori.  Sed  eo  modo  quo  movetur  quantum  ad  exercitium 
actus,  adhuc  necesse  est  ponere  voluntatem  ab  aliquo  prindpio  exteriori 
moveri.  Omne  enim,  quod  quandoque  est  agens  in  actu  et  quandoque  in 
potentia  indiget  moveri  ab  aliquo  movente.  Manifestum  est  autem,  quod 
voluntas  incipit  velle  aliquid,  cum  hoc  prius  non  vellet.  Necesse  est 
ergo,  quod  ab  aliquo  moveatur  ad  volendum.  Et  quidem  ipsa  movet  se  ipsam 
inquantum  per  hoc  quod  vult  finem,  reducit  se  ipsam  ad  volendum  ea  quae 
sunt  ad  finem.  Hoc  autem  non  potest  facere  nisi  consilio  mediante.  Et 
si  quidem  ipsa  moveret  se  ipsam  ad  volendum,  oportuisset  quod  mediante 
consilio  hoc  ageret  ex  aliqua  voluntate  praesupposita.  Hoc  autem  est 
procedere  in  infinitum.  Unde  necesse  est  ponere,  quod  in  primum  motum 
voluntatis  voluntas  prodeat  ex  instinctu  alicuius  exterioris  moventis  ut 
Aristoteles  (Pseudoaristoteles)  condudit  in  quodam  cap.  Etbic.  Eudemicae 
(Eth.  Eudem.  n.  6,  1222  b  20:  tcqoq  6h  xovxoiq  i  y  ivB^gomog  xal  nga^emr 
tivdv  ianv  agxv  t^ovov  tiSv  t,(p(ov '  x<ßv  yoQ  aXXwv  ovöhv  etnoifisv  av  Ttgatreiv ' 
x(Sv  d*  oQX&v  8aai  toiaiytai,  SS^ev  TiQdnov  aX  xiv^oeiq,  xvgiai  Xiyovxai, 
fjiaXiara  6h  öixaloiq  atp*  wv  fji^  ivötxsTai  ccXkatgt  cov  Xomq  S  O^eoi  ccgx^')  ^nid 
Thomas  ib.  5  c:  Eo  modo  quo  voluntas  movetur  ab  exteriori  obiecto,  mani- 
festum est  quod  voluntas  potest  moveri  a  corporibus  coelestibus,  inquantum 
scilicet  Corpora  exteriora  et  etiam  ipsa  Organa  potentiarum  sensitivarum 
Bubiacent  motibus  coelestium  corporum. . . .  Quia  appetitus  inteUectivus  quo- 
dammodo  movetur  ab  appetitu  sensitivo,  indirecte  redundat  modus  coelestium 
corporum  in  voluntatem,  inquantum  scilicet  per  passiones  appetitus  sensitivi 
voluntatem  moveri  contingit. 


Digitized  by 


Googl( 


654 

und  diese  Ursachen  folgen  aufeinander  und  bringen  die  Hand- 
lungen notwendig  hervor.  Ein  Willensentschluß  kann  nicht 
immer  wieder  hervorgerufen  sein  durch  einen  anderen;  sonst 
würde  die  Kette  dieser  Ursachen  ins  Unendliche  weiter  gehen. 
Ebensowenig  kann  ein  solcher  Willensentschluß  herkommen  von 
der  Naturkraft,  die  in  dem  wollenden  ist;  sonst  mußte  dieser 
Willensentschluß  notwendig  so  lange  vorhanden  sein  als  diese 
Naturkraft  besteht.  Die  Willensentschlüsse  entstehen  vielmehr 
auf  Grund  des  Auftretens^)  von  Ursachen,  die  die  notwendig 
wirkenden  Ursachen  und  die  antreibenden  Motive  sind,  und  diese 
Ursachen  lassen  sich  zurückführen  auf  irdische  und  himmlische 
Dinge.  Sie  sind  notwendig  wirkend  und  bringen  diese  indivi- 
duellen Willensentschlüsse  unabwendbar  hervor.  Die  Natur- 
kräfte sind,  wenn  sie  ewig  bestehen,  ein  erstes  Prinzip  für  das 
Wirken.  Wenn  sie  aber  zeitlich  entstanden  sind,  dann  müssen 
auch  diese  notwendig  zurückgehen  auf  himmlische  oder  irdische 
Kräfte  (als  ihre  Ursachen). 

Alles  dieses  hast  du  bereits  in  früheren  Darlegungen 
erkannt  (Metaphysik  IX,  9).  Das  Sichhäufen  dieser  Ursachen, 
ihr  Zusammenwirken  und  ihre  Beständigkeit  in  der  Ordnung 
werden  vollendet  unter  dem  Einflüsse  der  Bewegungen  des 
Himmels.  Erkennst  du  nun  aber  die  ersten  Prinzipien  als 
solche  und  die  Art  und  Weise,  wie  sie  die  zweiten  Ursachen  aus 
sich  hervorbringen  und  auf  sie  übergreifen,  dann  kennst  du 
notwendigerweise  auch  die  zweiten  Ursachen.  Aus  allen  diesen 
Voraussetzungen  erkennst  du,  daß  die  himmlischen  Seelen  und 
alles,  was  höher  steht,  als  diese  (die  Geister),  die  materiellen 
Individua  erkennen.  Das  Wissen  derjenigen  Substanz  (Grottes) 
aber,  die  höher  ist,  als  die  geistigen  Substanzen,  erstreckt  sich 
auf  die  materiellen  Individuen  nur  in  universeller  Weise. 
Das  Wissen  der  seelischen  Substanzen  aber  erstreckt  sich  auf 
die  Individuen  in  partikulärer  Weise,  und  es  verhält  sich  wie 
das  Erkennen  desjenigen,  der  das  Objekt  sinnlich  berührt,  oder 
desjenigen,  das  überleitet  zu  dem,  was  durch  Berührung  oder 
Sehen  erkannt  wird,  durch  Vermittlung  der  äußeren  Sinne.  Daher 
müssen  diese  Substanzen  auch  das  erkennen,  was  vorhanden  ist. 
Notwendigerweise  erkennen  sie  in  vielen  Dingen  dasjenige,  was 


*)  Diese  Ursachen   sind  selbst  zeitlich  entstanden,    sonst  müßte  der 
Willensentschlufi,  ihre  Wirkung,  ewig  sein. 


Digitized  by 


Googk 


655 

das  Beste  und  das  Richtigste  ist,  und  was  dem  reinen  Guten 
von  zwei»)  möglichen  Dingen  sich  am  meisten  nähert.  Die 
Vorstellungen,  die  jene  wirkenden  Ursachen  der  himmlischen 
Welt  haben,  sind,  wie  wir  gezeigt  haben,  Seinsprinzipien  der 
Dinge,  die  in  der  niederen  Welt  jene  Wesensformen  besitzen, 
wenn  diese  noch  im  Zustande  der  Möglichkeit  sini  (Aus  diesem 
Zustande  der  Möglichkeit  werden  sie  dann  in  den  der 
Wirklichkeit  versetzt  durch  die  Einwirkung  der  himmlischen 
Welt.) 

In  der  himmlischen  Welt  existieren  keine  überirdischen 
Ursachen,  die  stärker  sind,  als  diese  Vorstellungen,  noch  irgend 
ein  Prinzip,  das  der  Ordnung  nach  früher,  ist  als  sie,  und  das 
sich  in  eine  von  zweien  der  drei  genannten  Kategorien  ein- 
rechnen ließe,  mit  Absehnng  von  der  dritten.^)  Wenn  sich  die 
Sachlage  nun  so  verhält,  dann  muß  das  der  Möglichkeit  nach 
existierende  Ding  real  existierend  werden  nicht  etwa  auf  Grund 
einer  irdischen  Ursache,  noch  auf  Grund  einer  Naturkraft,  die 
im  Himmel  besteht,  sondern  nur  auf  Grund  eines  gewissen  Ein- 
wirkens,  das  die  Dinge  dieser  Welt  haben  auf  die  Dinge  des 
Himmels.  Dieses  aber  ist  nicht  eine  Einwirkung  im  eigentlichen 
Sinne  des  Wortes.  Eine  solche  Einwirkung  kommt  nur  den 
Prinzipien  für  das  Sein  dieses  (irdischen)  Dinges  zu.  Sie  geht 
aus  von  den  Substanzen  der  himmlischen  Welt.  Denken  diese 
Substanzen  die  rein  geistigen  Substanzen,  dann  denken  sie  auch 
jenes  (irdische)  Ding  (das  entstehen  soll).  Denken  sie  aber  nun 
dieses  Ding,  dann  denken  sie  zugleich  dasjenige,  was  am  meisten 
geeignet  ist,  wirklich  zu  werden.  Denken  sie  aber  dieses,  dann 
ist  es  zugleich  entstanden,  wenn  dem  Entstehen  dieses  Dinges 
kein  Hindernis  gegenübersteht.  Das  einzige,  was  das  Ent- 
stehen verhindern  könnte,  ist  das  Nicht  existieren  einer  natür- 
lichen, irdischen  Ursache  oder  auch  die  Existenz  einer  natür- 
lichen Ursache.  Die  Nichtexistenz  dieser  Ursache  besteht  z.  B. 
darin,  daß  jenes  (himmlische)  Ding  die  Hitze  hervorbringt; 
jedoch  existiert  keine  Naturkraft,  die  (zuerst  die  himmlische 
Einwirkung  in  sich  aufnähme  und  dann)  die  Hitze  (in  anderen 
Körpern)  hervorbrächte.    Jene  Hitze  bringt  dann  die  geistige 


*)  Cod.  c  GL:  „d.  h.  dem  Sein  und  dem  Nichtsein". 
')  Es   sind  die  drei  Arten  der  Einwirkung  der  himmlischen  Wesen 
gemeint. 


Digitized  by 


Google 


656 

Vorstellung  in  der  himmlischen  Substanz  hervor,  weil  die  Natur 
der  Hitze  in  sich  Gutes  0  enthält.  Dieser  Vorgang  verhält  sich 
ebenso  wie  auch  die  Hitze,  die  in  den  Körpern  der  Menschen  durch 
Einwirkungen  von  außen  und  auf  Grund  von  psychischen  Vor- 
stellungen der  Menschen  entsteht,  wie  du  früher  gesehen  hast 
Ein  Beispiel  für  die  zweite  Art  des  Wirkens  besteht  darin, 
daß  dasjenige,  was  das  Entstehen  des  Dinges  hindert,  nicht 
allein  die  Privation  einer  Ursache  für  das  Erhitzen  ist,  sondern 
die  Existenz  einer  Kraft,  die  abkühlt  Die  psychischen  Vor- 
stellungen der  himmlischen  Substanzen  erstrecken  sich  also  auf 
das  Gute  und  wirken  hin  auf  die  Existenz  des  Konträren  von 
dem,  was  der  abkühlende  Körper  in  jenem  G^enstande  ver- 
ursacht (sie  bewirken  also  die  Hitze),  selbst  wenn  dieses  eine 
für  die  abkühlende  Ursache  zwangsmäßige  Wirkung  (coactio) 
wäre.  In  gleicher  Weise  übt  auch  unsere  Vorstellung,  die  in 
uns  das  Gefühl  des  Zornes  hervorbringt,  nach  Art  einer  zwangs- 
mäßigen Wirkung  die  Abkühlung  aus.*)  Die  Arten  dieser 
Kategorie  des  Wii*kens  sind  also  Veränderungen,  die  herbei- 
geführt sind  durch  Naturkörper  oder  Einwirkungen  von  der 
himmlischen  Welt,  die  sich  mit  dem  zu  bewirkenden  G^en- 
stande  oder  mit  einem  anderen  kontinuierlich  verbinden.  Oder 
die  Veränderungen  werden  herbeigeführt  durch  eine  Kombinierung 
dieser  (beiden  Arten),  indem  eines  von  ihnen  oder  auch  die 
Summe  beider  hinführt  zu  dem  Ziele,  das  Nutzen  bringt  Das 
demütige  Gebet  verhält  sich  zu  demjenigen,  was  diese  Kraft 
(als  ihre  Wirkung  beansprucht,  wie  das  Denken  der  cogitativa 
zu  dem,  wozu  der  Beweis  hinführt,^)  (und  was  er  klar  legen 
will).  Alles  aber  ist  eine  Emanation  aus  der  himmlischen  Welt 
Diese  aber  folgt  nicht  den  psychischen  Vorstellungen  der  himm- 
lischen Substanzen.  Das  erste  Seiende,  der  Wahre,  weiß  viel- 
mehr alles  dieses  in  der  Weise,  wie  wir  es  dargelegt  haben 

^)  Das  Gnte  ist  das  obiectum  formale  der  himmlischen  Seelen.  Alles, 
was  also  die  Natur  des  Guten  hat,  kann  die  Sph&renseele  sich  vorsteUen. 

«)  Cod.  a  c  add. :  „So  entsteht  also  das  Gute". 

')  Das  Denken  der  cog^itativa  bestimmt  nicht  aktiv  den  Gang  des 
Beweises.  Es  bewegt  sich  vielmehr  nur  in  singulären  YorsteUungen  und 
kann  dem  Geiste,  der  demonstrativ  beweisen  wiU,  nur  das  Objekt  vorhalten. 
Das  Gebet  kann  die  himmlischen  Geister  nicht  aktiv  bestimmen,  denn  das 
Vollkommenere  kann  nicht  in  Abhängigkeit  stehen  von  dem  weniger  VoU- 
kommenen.  Am  wenigsten  kann  Gott  abhängig  sein  von  den  Menschen. 
Das  Gebet  disponiert  also  nur  den  Empfänger  für  die  Aufnahme  der  Gnaden. 


Digitized  by 


Googk 


657 

und  wie  es  sich  für  ihn  ziemt.  Bei  ihm  entsteht  das  Werden 
alles  dessen,  was  entsteht;  jedoch  entsteht  dasselbe  durch  Ver- 
mittlung anderer  Ursachen.  In  dieser  Weise  ist  auch  Sein 
Wissen  beschaffen.O  Auf  Grund  dieser  Verhältnisse  sind  die 
Gebetserhörungen  und  die  erfolgreichen  Opfer,  besonders  aber 
die  Gebetserhörungen  um  Regen  und  andere  Dinge  erklärlich. 
Auf  Grund  derselben  Verhältnisse  muß  man  auch  die  gleichen 
Wirkungen*)  betreffs  des  Bösen »)  fürchten,  und  dieselben 2)  be- 
treffs des  Guten  erwarten.  In  der  unveränderlichen  Wahrheit 
dieser  Verhältnisse  ist  zugleich  eine  Warnung  vor  dem  Bösen 
gegeben.  Daß  dieses  unveränderlich  wahr  ist,  leuchtet  ein  durch 
die  Zeichen  Gottes.  Diese  Zeichen  sind  die  Existenz  der  indivi- 
duellen Dinge.  Das  Verhältnis  dieser  Wirkungen  der  himmlischen 
Körper  ist  Gegenstand  des  geistigen  Erfassens  für  die  Prinzipien 
der  höheren  Welt.  Diese  geistigen  Inhalte  müssen  daher  real 
existieren;  denn  wenn  sie  nicht  existierten,  so  würde  in  der 
himmlischen  Welt  ein  Geheimnis  und  eine  Ursache  existieren,*) 
die  wir  nicht  erkennen  könnten,  oder  irgend  eine  andere  Ursache, 
die  die  Wirkung  hindert.  Das  Erstere  existiert  aber  eher  und 
ist  vorzüglicher  als  dieses  Letztere.  Daß  beides  aber  zugleich 
existiere,  ist  unmöglich.  Du  verlangst  zu  wissen,  ob  die  Dinge, 
die  von  den  Substanzen  der  himmlischen  Welt  gedacht  werden, 
die  Nutzen  bringen  und  zum  Wohlsein  dienen,  bereits  in  der 
Naturkraft  existieren  in  der  Art  und  Weise  des  Geschaffenseins, 
die  du  bereits  kennen  gelernt  und  erfahren  hast.^)  Wenn  du 
dieses  alles  noch  weiter  erkennen  willst,  so  betrachte,  wie  die 
Glieder  der  Lebewesen  Nutzen  bringen  für  die  Tiere  und  Pflanzen. 
Jeder  einzelne  dieser  Teile  ist  zu  betrachten,  wie  er  von  Natur 


^)  Es  ist  nicht  abhftngig  von  den  Dingen;  vielmehr  sind  die  Dinge 
abhängig  von  ihm. 

•)  Wörtlich :  „das  reziproke  Verhältnis".  Dieses  Wort  gibt  die  Ansicht 
Avicennas  treffend  wieder.  Wird  das  Gebet  gesprochen,  dann  tritt  auch  die 
himmlische  Wirkung  auf.  Beide  verhalten  sich  reziprok.  Ersteres  ist  nicht 
„Ursache"  fttr  die  himmlische  Wirkung.    Beides  sind  paraUele  Vorgänge. 

*)  Der  Mensch  darf  sich  nicht  zum  BOsen  disponieren,  weil  gleichzeitig 
mit  dieser  Disposition  eine  verhängnisvoUe  Einwirkung  des  Himmels  eintreten 
könnte.  Aus  denselben  Gründen  muß  sich  der  Mensch  für  die  Einwirkung 
des  Guten  durch  das  Gebet  disponieren. 

*)  Cod.  a:  eine  Wirkung  aus  Zwang  hervorgehen. 

^)  In  der  Natur  liegen  die  Dispositionen  dieser  Dinge.  Die  Einwirkungen 
des  Himmels  führen  diese  PotenziaUtät  zur  Aktualität. 

Horten,  Dai  Baoh  der  Oenecong  der  Seele.  42 


Digitized  by 


Google 


658 

geschaffen  ist.  Es  besteht  in  ihm  irgendwelche  natürliche  Ur- 
sache für  die  Lebensvorgänge.  Das  erste  Prinzip  (das  diese 
Teile  auf  ihr  Ziel  hinrichtet)  ist  jedoch  notwendigerweise  die 
göttliche  Vorsehung,  die  in  der  Weise  wirkt,  wie  du  es  bereits 
kennen  gelernt  hast.  Glaube  daher  an  die  Wahrheit  dieser 
Sätze  (rationes)  durch  die  Existenz  dieser  geistigen  Inhalte; 
denn  diese  hängen  ebenso  wie  jene  (himmlischen  Dinge)  ab  von 
der  göttlichen  Weltleitung,  wie  du  es  früher  betreffs  der  Vor- 
sehung») gesehen  hast 

Wisse,  daß  das  meiste,  was  wir  der  großen  Menge  nahe 
legen,  zu  dem  wir  unsere  Zuflucht  nehmen  (betreffs  der  reli- 
giösen Wahrheiten)  und  was  wir  lehren,  wahr  ist.  Jene  Philo- 
sophen, die  sich  wie  W^eise  gerieren,  weisen  diese  Wahrheiten 
ab  nur  aus  Unwissenheit  über  die  Ursachen  und  Bedingungen 
des  Werdens.  Über  diese  Wahrheiten  haben  wir  bereits  ein 
Buch  geschrieben,  das  Buch  „des  reinen  Charakters  und  der 
Sünde",*)  und  daher  betrachte  die  Erklärung  dieser  Lehren  in 
jenem  Buche. 

Glaube  die  Wahrheiten  betreffs  der  göttlichen  Strafen,  die 
durch  die  Offenbarung  und  durch  göttlichen  Batschlufi  über  die 
(im  Koran  erwähnten)  bösen  Städte  und  über  einzelne  frevel- 
hafte Personen  verhängt  wurden.  Betrachte  aber,  wie  die  Wahr- 
heit (in  bildlichen  Ausdrücken)  verständlich  gemacht  wird,  und 
betrachte  ebenso,  daß  die  Ursache  für  die  Notwendigkeit  des 
Gebetes  und  ebenso  der  guten  Werke  bei  uns  liegt») 

Ebenso  verhält  es  sich  betreffs  des  Entstehens  des  Frevels 
und  der  Sünde.  Auch  diese  entstehen  durch  Einwirkungen  aus 
der  höheren  Welt;*)  denn  die  ersten  Prinzipien  dieser  Vorgänge 


»)  Vgl  Thomas  SnnL  th.  I  22. 

*)  VieUeicht  identisch  mit  Brockelmann  G.  d.  Arab.  Litt.  I  456  Nr.  38: 
„Die  Charaktereigenschaften". 

')  Die  Ursache  liegt  nicht  bei  Gott,  so  daß  wir  durch  religiöse 
Handlangen  etwa  Gott  einen  GefaUen  oder  einen  Nutzen  erweisen  könnten. 

*)  Vgl.  Thomas  I  49,  2c:  Malum  quod  in  corruptione  rerum  aliquarum 
consistit,  reducitur  in  Deum  sicut  in  causam.  Et  hoc  patet  tam  in  natura- 
libus  quam  in  voluntarüs.  Dictum  est  enim,  quod  aUquod  agens,  inqnantnm 
sua  Yirtute  producit  aliquam  formam  ad  quam  seqnitur  cormptio  et  defectus, 
causat  sua  yirtute  iUam  corruptionem  et  defectum.  Manifestum  est  autem, 
quod  forma  quam  principaliter  Dens  intendit  in  rebus  creatis,  est  bonum 
ordinis  universi.  Ordo  autem  universi  requirit,  quod  quaedam  sint,  quae 
deficere  possint  et  interdum  deficiant.    Et  sie  Dens  in  rebus  causando  bonuni 


Digitized  by 


Google 


659 

weisen  hin  utid  führen  schließlich  zu  der  naturgemäß  wirkenden 
Kraft,  dem  freien  Willen  (der  Geister  oder  Gottes)  oder,  drittens, 
dem  Zufall.  Die  Naturkraft  hat  ihre  erste  Ursache  in  der 
himmlischen  Welt.  Der  Willensentschluß,  der  unser  inneres 
Eigentum  ist,  entsteht,  nachdem  er  vordem  nicht  bestand. i) 
Alles  aber,  was  entsteht,  nachdem  es  früher  nicht  war,  hat  eine 
Ursache.  Daher  hat  also  jeder  Willensentschluß  in  uns  eine 
Ursache.  Die  Ursache  dieses  Willensentschlusses  ist  aber  nicht 
wiederum  ein  anderer  Willensentschluß,  so  daß  dadurch  eine 
unendliche  Reihe  von  Ursachen  entstände.  Die  Ursache  desselben 
sind  vielmehr  Dinge,  die  von  außen  auf  uns  wirken,  irdische 
oder  himmlische.  Die  irdischen  Dinge  führen  schließlich  hin  zu 
den  himmlischen.  Das  Zusammenwirken  aller  dieser  Ursachen 
bringt  notwendigerweise  die  Existenz  des  freien  Willensent- 
schlusses hervor.  Was  nun,  drittens,  das  zufällige  Geschehen 
angeht,  so  entsteht  dieses  auf  Grund  des  Zusammenwirkens 
dieser  Ursachen.  Analysiert  man  daher  alle  Vorgänge,  so  sieht 
man,  daß  sie  zurückweisen  auf  erste  Prinzipien  des  Wirkens, 
und  diese  kommen  her  von  der  Gottheit.^)  Der  göttliche  Rat- 
schluß geht  aus  von  Gott  und  er  bildet  die  erste  Voraussetzung 
(positio  prima),  die  durchaus  einfach  ist.  Die  Schicksalsbestim- 
mung 5)  Gottes  ist  dasjenige,  wozu  der  Ratschluß  hinführt,  indem 
er  sich  stufenweise  den  Geschöpfen  nähert,  und  er  verhält  sich 


ordinis  uniyersi,  ex  consequenti  et  quasi  per  accidens  cansat  corrnptiones 
reniin.  1—1179,  2  c:  actus  peccati  est  ens  et  est  actus  et  ex  utroque 
habet,  quod  sit  a  Deo.  Omne  enim  ens,  quocumque  modo  sit,  oportet  quod 
derivetur  a  primo  Ente.  Omnis  autem  actio  causatur  ab  aliquo  existente  in 
actu;  quia  nihil  agit  nisi  secundum  quod  est  actu.  Omne  autem  ens  actu 
reducitur  in  primum  actum,  scilicet  Deum,  sicut  in  causam,  qui  est  per  suam 
essentiam  actus.  Unde  relinquitur  quod  Dens  sit  causa  omnis  actionis,  in- 
quantum  est  actio.  Sed  peccatum  nominat  ens  et  actionem  cum  quodam 
defectu.  Defectus  autem  iUe  est  ex  causa  creata  scilicet  libero  arbitrio,  in- 
quantum  deficit  ab  ordine  primi  agentis,  scilicet  Dei. 

*)  F&r&bS,  Eingsteine  Nr.  49;  Thomas  loc.  cit. 

•)  Oder:  „deren  notwendiges  Wirken  ausgeht  von  Gott". 

*)  Es  bestand  eine  Streitfrage  unter  den  Theologen,  ob  die  Schicksals- 
bestimmung dem  Ratschlüsse  vorausging  oder  ihm  folgte.  Avicenna  ent- 
scheidet sich  für  das  Letztere,  da  das,  was  bestimmt  werden  soU,  zuerst 
gewußt  und  überlegt  sein  muß.  Vgl.  A.  de  Vlieger,  Kitäb  al-Qadr.  La 
Doctrine  de  la  Prädestination  dans  la  Theologie  musulmane.  Leyde  1903;  und 
Krehl  „über  die  koranische  Lehre  von  der  Praedestination".  Berichte  der 
KOn.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  phil.-hist.  Klasse  1870  S.  40—114. 


42' 


)* 


Digitized  by 


Googk 


660 

wie  eine  Wirkung,  die  notwendig  hervorgebracht  ist  durch  das 
Zusammentreten  von  einfachen,  wirkenden  Prinzipien,  die  alle, 
insofern  sie  einfache  Prinzipien  sind,  auf  den  göttlichen  Ratschluß 
und  den  göttlichen  Befehl  (den  Logos)  hinweisen. 


Die  Sterndeuterei. 

Wenn  ein  Mensch  alle  entstehenden  Vorgänge  erkennen 
könnte,  die  auf  der  Erde  und  am  Himmel  sich  ereignen  und 
ihre  Naturen  wüßte,  dann  verstände  er  auch,  wie  alles,  was  in 
der  Zukunft  geschieht,  entsteht.  Dieses  beansprucht  der  Stern- 
deuter, der  das  Wahrsagen  aus  den  Sternen  als  richtig  verteidigt^ 
trotzdem  seinö  ersten  Voraussetzungen  und  Prämissen  sich  nicht 
auf  einen  demonstrativen  Beweis  stützen.  In  seinen  Behauptungen 
verläßt  er  sich  vielfach  auf  Erfahrung  oder  Offenbarung.  Manch- 
mal ist  er  bemüht,  syllogistische  Beweise,  die  aber  mehr  poetischer 
Natur  sind  und  viele  Fehler  enthalten,  aufzustellen,  um  seine 
Behauptungen  zu  beweisen.  Er  lehrt  nur,  indem  er  sich  auf 
induktive  Beweise  stützt,  die  einer  einzigen  Kategorie  der 
Ursachen  der  entstehenden  Dinge  angehören,  nämlich  der 
Kategorie  der  Geschehnisse  im  Himmel,  jedoch  in  der  Weise, 
daß  er  in  seinem  Wissen  nicht  alle  Verhältnisse  umspannt,  die 
sich  in  der  himmlischen  Welt  ereignen.  Wenn  er  auch  die 
Richtigkeit  aller  dieser  Verhältnisse  uns  vollständig  garantieren 
könnte,  so  könnte  er  doch  weder  uns  noch  sich  dazu  bringen, 
daß  wir  alle  diese  Verhältnisse  in  jeder  bestimmten  Zeit  erkennen, 
selbst  wenn  alle  diese  Verhältnisse  nach  ihren  Wirkungen  und 
Naturanlagen  uns  bekannt  wären.  Denn  alles  dieses  reicht  nicht 
hin,  uns  zu  beweisen,  daß  dieses  bestimmte  Ereignis  sich  tat- 
sächlich vollzogen  hat  oder  nicht  Es  ist  aus  demselben  Grunde 
durchaus  nicht  hinreichend,  daß  du  weißt,  das  Feuer  sei  heiß, 
könne  einen  andern  Körper  erhitzen  und  diese  oder  jene 
Wirkung  hervorbringen,  damit  du  erkennst,  es  habe  in  einem 
konkreten  Falle  einen  Körper  erhitzt,  so  lange  du  noch  nicht 
weißt,  daß  dieses  in  der  Tat  wirklich  geworden  ist  Welche 
Weise  der  Berechnung  könnte  uns  dazu  verhelfen,  alles,  was  im 
Himmel  entsteht  und  wird,  zu  erkennen?  Wenn  der  Sterndeuter 
uns  und  sich  soweit  in  der  Erkenntnis  fördern  könnte,  daß  wir 
die  reale,  konkrete  Existenz   aller  dieser  Vorgänge  erkennten, 


Digitized  by 


Googk 


661 

könnten  wir  damit  noch  nicht  auf  die  verborgenen  Dinge 
schließen;  denn  die  verborgenen  Dinge,  die  erst  in  der  Ent- 
wicklung zum  Werden  sind,  gelangen  nur  dadurch  zur  Voll- 
kommenheit (d.  h.  zur  Existenz),  daß  die  Substanzen  der  himm- 
lischen Welt  sich  mischen  (i  h.  zusammenwirken)  mit  den 
irdischen.  Die  ersteren,  das  geben  wir  zu,  haben  wir  in  ihrer 
ganzen  Zahl  erkannt  Die  Substanzen  der  irdischen  Welt  sind 
zeitlich  später')  und  (teilweise)  gleichzeitig  (wörtlich:  anhaftend) 
mit  aktiven  und  passiven  Prinzipien,  mit  Naturkraft  oder  freiem 
Willen.  Die  Vorgänge  der  Welt  und  die  entstehenden  Dinge 
gelangen  nicht  durch  die  Einwirkung  der  himmlischen  Körper 
allein  zur  Vollendung.  Solange  wir  daher  nicht  alles,  was 
sowohl  in  der  himmlischen,  als  auch  in  der  irdischen  Welt  vor- 
handen ist,  vollständig  erkennen,  und  solange  wir  nicht  dasjenige 
verstehen,  was  jede  einzelne  dieser  beiden  Welten  in  besonderer 
Weise  hervorbringen  kann,  besonders  inbezug  auf  alles  das,  was 
im  Entstehen  begriffen 2)  ist,  können  wir  nicht  von  den  real 
existierenden  Dingen  auf  das  Verborgene  schließen. 

Daher  können  wir  den  Behauptungen  der  Sterndeuter  keinen 
Glauben  beimessen,  selbst  wenn  wir  aus  eigenem  Antriebe 
(nicht  bewogen  durch  ihre  Reden)  zugeben,  daß  alles,  was  sie 
an  Prämissen  philosophischen  Inhaltes  uns  vorlegen,  richtig  ist 


Zweites  Kapitel. 

Die  Notwendigkeit 3)  der  Offenbarung.    Die  Art  des  Gebetes  des 
Propheten  zu  Gott  und  das  jenseitige  Leben. 

Wir  behaupten  jetzt:  es  ist  bekannt,  daß  der  Mensch  sich 
von  den  anderen  belebten  Wesen  dadurch  unterscheidet,  daß 
sein  Leben  dann  nicht  in  vollkommener  Weise  geführt  wird, 
wenn  er  als  Individuum  für  sich  allein  dasteht  und  seine  Ver- 
hältnisse ordnet,  ohne  daß  er  einen  Gefährten  hat,  der  ihm 


^)  Wörtlich:  „deren  Wirkursache  . . .  vorausgeht". 

*)  Wörtlich:  „was  verborgen  ist". 

•)  Wörtlich:  „Beweis  für  die  Existenz  der  Offenbarung". 


Digitized  by 


Google 


662 

inbezug  auf  die  notwendigen  Dinge  des  täglichen  Lebens  hilft*) 
Der  Mensch  muß  also  unterstützt  werden  durch  einen  anderen, 
der  der  gleichen  Art  angehört,  indem  zugleich  auch  dieser 
andere  wiederum  durch  den  ersten  unterstutzt  wird  und  zugleich 
durch  einen  weiteren-  Dieser  erste  bringt  z.  B.  die  Frfichte  zu 
jenem,  jener  andere  stellt  für  den  ersten  das  Brot  her.  Dieser 
(dritte)  verfertigt  Kleidungsstücke  für  den  anderen  und  letzterer 
verfertigt  die  Nadel  für  jenen.  Wenn  sie  sich  alle  zusammentun, 
so  ist  ihr  Zusammenleben  ausgestattet  mit  allem  Notwendigen. 
Daher  sind  also  die  Menschen  gezwungen,  sich  in  Städten  und 
Gemeinschaften  zu  vereinigen.  Ein  Mensch,  der  in  einer  solchen 
Gemeinschaft  nicht  eingerechnet  ist,  die  nach  Art  einer  stadti- 
schen Gemeinschaft  und  auf  Grund  von  bestimmten  Gesetzen 
zusammengetreten  ist,  und  der  sich  mit  ihm  Gleichstehenden 
nur  zu  einem  gewissen  Zusammensein  und  Nebeneinanderleben 
vereinigt,  ist  nur  in  entfernter  Weise  zu  vergleichen  mit  den 
in  Städten  lebenden  Menschen.  Er  entbehrt  dasjenige,  was  den 
Menschen  ein  vollkommenes  Leben  ermöglicht,  und  trotz  allem 
muß  er  sich  mit  ihm  Gleichstehenden  in  irgend  einer  Art  ver- 
binden, indem  er  dadurch  den  in  Städten  lebenden  Menschen 
gleicht 

Wenn  dieses  also  klar  ist,  so  muß  der  Mensch,  damit  er 
sein  Leben  erlange  und  erhalte,  sich  mit  anderen  vereinigen. 
Diese  Vereinigung  mit  anderen  kann  aber  nur  durch  gemein- 
sames Handeln  zustande  kommen,  wie  auch  ebenso  für  das 
gemeinsame  Leben  die  übrigen  Ursachen,  die  mit  dem  mensch- 
lichen Leben  verbunden  sind,  in  Tätigkeit  treten  müssen.  Damit 
aber  nun  eine  gemeinsame  Tätigkeit  und  ein  sozialer  Verkehr 
zustande  komme,  bedarf  der  Mensch  menschlicher  Satzungen  und 
gerechter  Vorschriften.  Die  Satzungen  und  gerechten  Vor- 
schriften setzen  aber  einen  Gesetzgeber  und  einen  nach  G^ 
rechtigkeit  ordnenden  Leiter  voraus.  Dieser  muß  mit  den 
Menschen  reden  und  sie  zu  den  Satzungen  verpflichten  können. 
Ein  solcher  muß  daher  notwendigerweise  ein  Mensch  sein.   Gott 


*)  Vgl.  Arist.  Eth.  1097  b  8:  to  yag  xikeiov  ayaS-ov  avtagxeg  Hvai 
Soxel' to  6*  avxoQxsq  ?Jyofji£v  ovx  avtip  fiovqt  x^  tßvxi  ßiov  fiovtiujv,  iXXa 
xal  yove€oi  xal  xixvoiq  xal  yvvaixl  xal  Sl<oq  rote  q>iXoig  xal  TioXixmg, 
ineid^  ifvau  TioXnixoq  av^goTiog  und  ib.  1169  b  18:  ov^üg  yoQ  iXoit  av 
xad^  ai'xov  xä  navx  i'/eiv  aya^a' nokixixbv  yaQ  i  ard^omog  xal  cv^^ 
n&fvx<oq. 


Digitized  by 


Googk 


663 

kann  die  Menschen  und  ihre  Ansichten  betreffs  des  gemeinsamen 
Lebens  nicht  ohne  diese  Hilfe  lassen.  Sie  würden  sich  nicht 
einigen  können.  Jeder  einzelne  hielte  dann  für  richtig,  was  ihm 
gerecht  zu  sein  schiene,  (für  gut,  was  ihm  Nutzen  brächte)  und 
für  schlecht,  was  ihm  Schaden  zufügte.  Der  Mensch  bedarf  daher 
eines  solchen  Gesetzgebers,  damit  die  menschliche  Art  erhalten 
bleibe  und  sein  Dasein  vollkommen*)  sei.  Er  bedarf  eines 
solchen  Gesetzgebers  in  höherem  Maße,  als  z.  B.  der  Haare  an 
den  Augenbrauen  und  Wimpern,  der  Krümmung  der  Fußsohle 
und  anderer  Dinge,  die  ihm  in  seinem  körperlichen  Leben 
nützlich  sind,  ohne  für  das  Erhalten  der  Art  des  Menschen 
notwendig  zu  sein.  Die  meisten  dieser  Bedingungen  des  körper- 
lichen Lebens  sind  so  beschaffen,  daß  sie  auf  die  Erhaltung  der 
menschlichen  Art  hinzielen.  Die  Existenz  eines  solchen  Menschen, 
der  geeignet  ist,  Gesetzesvorschriften  und  gerechte  Bestimmungen 
aufzustellen,  ist  daher  möglich,  wie  wir  früher  erwähnt  haben. 

Es  ist  folglich  nicht  zuzugeben,  daß  die  ursprüngliche, 
göttliche  Weltleitung  das  Verlangen  nach  jenen  nützlichen 
Gegenständen  herbeiführt  und  sie  als  notwendig  erscheinen  läßt, 
ohne  daß  sie  zu  gleicher  Zeit  diejenigen  Bedingungen  schafft, 
die  das  Fundament  für  diese  nützlichen  Dinge  sind.  Ebenso 
wenig  ist  es  möglich,  daß  das  erste  Prinzip  des  Seins  und  die 
geistigen  Substanzen,  die  auf  ihn  folgen,  diese  Dinge  (die  das 
menschliche  Leben  angehen)  erkennen,  ohne  daß  sie  zugleich  das 
andere  (den  Gesetzgeber)  erkennen.  Gleichfalls  ist  es  nicht  zuzu- 
geben, daß  dasjenige,  was  Gott  erkennt  inbezug  auf  die  Ordnung 
der  möglichen  Dinge,  die  notwendigerweise  entstehen  müssen, 
damit  die  Ordnung  des  Guten  sich  ausbreite  und  bestehen  bleibe, 
nicht  zur  Existenz  gelange.^)  Wie  könnte  es  überhaupt  möglich 
sein,  daß  diese  Dinge  nicht  wirklich  würden?  Alles,  was  von 
der  Existenz  Gottes  abhängt,  und  was  sich  auf  Seine  Existenz 
gründet,  ist  dann  zugleich  auch  selbst  existierend. 

Daher  ist  es  notwendig,  daß  ein  Prophet  auftrete  und 
ebenso  ist  es  notwendig,  daß  dieser  ein  Mensch  sei.  Er  muß 
femer  besondere  Eigentümlichkeiten  besitzen,  die  den  übrigen 


*)  Wörtlich:  „aktualisiert  sei"  d.h.  daß  er  aktueU  alles  besitze,  was 
ihm  zukommen  muß. 

*)  Das  Erkennen  Gottes  ist  alleinige  Ursache  für  die  Existenz  der 
Dinge.  Der  Wille  Gottes  ist  absolut  identisch  mit  dem  Erkennen  und  die 
Emanation  ist  ein  intellektueller  Vorgang. 


Digitized  by 


Googk 


664 

Menschen  nicht  zukommen,  so  daß  die  Menschen  an  ihm  Dinge 
sehen,  die  ihnen  sonst  nicht  vor  die  Augen  treten.  Durch  diese 
unterscheidet  er  sich  von  ihnen.  Er  muß  also  Wunder  wirken, 
wie  wir  solche  auch  von  unseren  Propheten  gehört  haben.  Wenn 
daher  dieser  Mensch  wirklich  existiert,  so  muß  er  den  Menschen 
gesetzliche  Vorschriften  bezüglich  ihres  Zusammenlebens  mit- 
teilen mit  der  Erlaubnis  Gottes  und  auf  Grund  des  göttlichen 
Befehles,  der  göttlichen  Offenbarung  und  der  Herabsendung  des 
heiligen  Geistes  auf  den  Propheten.  Die  erste  Voraussetzung 
für  alles,  was  er  als  gesetzliche  Vorschriften  aufstellt,  ist  die, 
daß  er  die  Menschen  lehrt,  daß  ein  Schöpfer  für  sie  existiert, 
der  nur  Einer  ist  und  Macht  hat;  daß  dieser  sowohl  das  Geheime 
wie  auch  das  Offenbare  erkennt,  daß  femer  jeder  seinem  Befehle 
gehorchen  muß;  denn  demjenigen  kommt  das  Eecht  zu  befehlen 
zu,  der  die  Schöpfung  der  Welt  ausgeführt  hat  Ferner  muß 
er  den  Menschen  zeigen,  daß  dieser  Gott  für  denjenigen,  der 
ihm  gehorcht,  ein  glückliches,  und  für  denjenigen,  der  ihm  nicht 
gehorcht,  ein  unglückliches  Jenseits  bereitet  hat.  Auf  diese 
Weise  erlangt  die  große  Menge  Kenntnis  von  der  Offenbarung, 
die  von  Gott  und  den  Engeln  ausgeht  in  der  Sprache  der 
Menschen,  indem  sie  die  Worte  hören  und  dem  Befehle  gehorchen. 
Der  Prophet  darf  den  Menschen  nichts  aufbürden,  was  inbezug 
auf  die  Erkenntnis  Gottes  höhere  Anforderungen  stellt,  als  das 
eben  Genannte,  d.  h.  (zu  glauben)  daß  Gott  der  Eine  und  der  Wahre 
ist  und  daß  er  keinen  Gleichen  neben  sich  hat.  Wenn  der  Prophet 
so  weit  gehen  wollte,  den  Menschen  aufzubürden,  die  Existenz 
Grottes  wissenschaftlich  zu  beweisen,  während  Gott  jedoch  nicht 
Gegenstand  eines  Hinweises  in  einem  bestimmten  Baume  sein 
kann,  noch  auch  nach  Art  der  Prädikation  teilbar  ist,  noch  auch 
außerhalb  oder  innerhalb  der  Welt  sich  befindet,  noch  irgend 
ein  Ding  darstellt,  das  beschaffen  ist,  wie  die  irdischen  Dinge, 
dann  würde  er  den  Menschen  damit  eine  übergroße  Last  auf- 
gebürdet und  die  religiösen  Vorstellungen  nur  verwirrt  haben. 
Er  hätte  sie  in  Schwierigkeiten  gebracht,  aus  denen  kein  Ent- 
kommen ist.  Diese  Gedanken  kann  nur  der  erfassen,  der  sich 
in  die  Betrachtung  vertieft  und  sich  absondert  von  den  übrigen 
Menschen,  um  ein  einsames  Leben  zu  führen.  Die  anderen  jedoch 
vermögen  sich  diese  geistigen  Inhalte  nicht  so  vorzustellen,  wie 
sie  vorgestellt  werden  müssen.  Sie  können  sie  sich  nur  in 
unvollkommener  Weise  vergegenwärtigen.  Nur  wenige  Menschen 


Digitized  by 


Googk 


665 

können  den  wahren  Begriff  der  Einheit  und  nnkSrperlichen 
Natur  Gottes  erkennen,  und  daher  zögern  viele  auch  gar  nicht, 
ein  solches  Sein  (wie  Gtott)  zu  leugnen  (wörtlich:  als  falsch  zu 
erklären).  Dadurch  verfallen  die  Menschen  auf  Streitigkeiten 
und  wenden  sich  eingehenden  Untersuchungen  und  Vergleichen 
zu,  die  sie  von  der  Ausführung  der  zum  gemeinsamen  Leben 
notwendigen  Handlungen  abhalten.  Vielfach  verleiteten  die 
wissenschaftlichen  Forschungen  über  religiöse  Fragen  die 
Menschen  zu  Ansichten,  die  dem  Glücke  des  Zusammenlebens 
der  Menschen  hinderlich  sind  und  die  der  Wahrheit  der  Offen- 
barung widersprechen.  Zugleich  werden  dadurch  Zweifel  und 
Bedenken  erregt.  Darin  liegt  die  Schwierigkeit  der  Aufgabe 
für  den  Gesetzgeber,  daß  er  die  Menschen  zurückhält  von 
diesen  Untersuchungen.  Nicht  jedem  ist  das  Verständnis  der 
theologischen  Probleme  leicht.  Auch  kann  der  Gesetzgeber 
nicht  zeigen,  daß  er  die  wahre  und  tiefe  Erkenntnis  besitzt, 
während  er  sie  jedoch  dem  Volke  vorenthält.  Er  darf  sich  nicht 
der  Gefahr  aussetzen,  auf  Widersprüche  zu  stoßen,  wenn  er 
solche  Gedanken  darlegt  Er  hat  vielmehr  die  Auifgabe,  den 
Menschen  die  Majestät  Gottes  und  seine  Macht  durch  (geheimnis- 
volle) Zeichen  und  Bilder  klar  zu  machen,  die  er  von  Dingen 
hernimmt,  die  von  den  Menschen  als  erhaben  und  groß  geachtet 
werden.  Er  teilt  den  Menschen  daher  durch  diese  Bilder  (oder 
„trotzdem"  d.  h.  trotz  der  unvollkommenen  Bilder)  jenes  Maß 
der  Erkenntnis  Gottes  mit,  d.  h.  er  lehrt  sie,  daß  keiner  Gott 
gleichsteht,  daß  Er  keinen  Gott  neben  sich  hat,  und  daß  kein 
Wesen  ihm  ebenbürtig  ist.  In  der  gleichen  Weise  muß  den 
Menschen  die  Lehre  über  das  Jenseits  klargestellt  werden  in 
einer  Art  und  Weise,  wie  sie  sich  dieses  Jenseits  überhaupt 
vorstellen  können  und  so,  daß  er  ihre  Seelen  beruhigt  Daher 
muß  er  die  Lehre  über  das  Glück  und  das  Unglück  des  jen- 
seitigen Lebens  in  Gleichnissen  vorführen,  die  hergenommen 
sind  aus  den  Vorstellungen,  die  die  Menschen  verstehen  und  sich 
innerlich  vergegenwärtigen  können. 

Die  eigentliche  Wahrheit  aller  dieser  Lehren  ist  den 
Menschen  jedoch  aus  der  Lehre  des  Propheten  nur  in  unbestimmter, 
allgemeiner  Weise  bekannt.  Sie  wissen  (nur),  daß  das  Jenseits 
eine  Welt  ist,  die  kein  Auge  gesehen,  noch  ein  Ohr  gehört  hat,^) 


»)  Vgl  F&r&bi,  Ringsteiiie  Nr.  22.    11.  Korinther  9. 


Digitized  by 


Google 


666 

daß  dort,  in  jener  Welt,  den  Geschöpfen  ein  Glück  znteil  wird, 
das  übergroß*)  ist,  oder  ein  Schmerz,  der  unbeschreiblich  ist 
Wisse,  Gott  erkennt,  daß  seine  Offenbaning  dasjenige  ist,  was 
für  diese  Welt  gut  ist 

Daher  muß  dasjenige,  was  betreffs  Gottes  gelehrt  wird,  so 
existieren,  wie  es  seiner  Natur  nach  existieren  kann  (d.  h.  in 
anderer  Weise,  als  es  in  den  religiösen  Lehren  bildlich  dar- 
gestellt wird),  wie  du  gesehen  hast.  Die  Predigt  des  Propheten 
muß,  darin  liegt  kein  Schade,  in  Zeichen  und  Andeutungen 
bestehen.  Diese  fordern  diejenigen,  die  durch  ihre  Naturanlage 
für  die  philosophische  Untersuchung  begabt  sind,  auf,  die  Wahr- 
heit wissenschaftlich  zu  erforschen.^) 


Drittes  Kapitel. 

Der  Gottesdienst  und  sein  Nutzen  für  das  diesseitige  und  jenseitige 

Leben. 

Diese  Person,  die  den  Propheten  darstellt,  ist  eine  Pei-son, 
deren  Existenz  nicht  in  jeder  Zeit  sich  wiederholt;  denn  die 
Materie,  die  eine  solche  Vollendung  (wie  sie  die  Wesensform 
des  Propheten  darstellt)  in  sich  aufnimmt,  findet  sich  nur  selten 
in  den  Mischungen  der  menschlichen  Natur,  und  daher  war  es 
notwendig,  daß  der  Prophet  für  das  ewige  Bestehen  dessen  An- 
ordnungen traf,  was  er  in  Gesetzesvorschriften  und  Satzungen 
betreffs  der  Wohlfahrt  der  Menschen  festgestellt  hat.  Das  erste 
Fundament  dieses  Bestehens  ist  unzweifelhaft  dadurch  gegeben, 
daß  die  Menschen  nicht  abweichen  von  der  Erkenntnis  Gottes 
und  des  anderen  Lebens.  Der  Körper  (und  die  körperliche 
Natur)  sind  nun  aber  Ursache  für  die  Vergeßlichkeit,  die  ein- 
treten könnte,  wenn  das  Jahrhundert,  das  auf  den  Propheten 
folgt,  verronnen  ist    Daher  muß  er  den  Menschen  Handlungen 

*)  Wörtlich:  „das  ein  übergroßer  Besitz  ist". 

^  Der  Koran  ist  also  der  Wissenschaft  nicht  nur  nicht  feindlich,  sondern 
macht  sie  sogar  in  gewissem  Sinne  zur  Pflicht.  Vgl.  dazu  Averroes,  Das 
Buch  der  Philosophie.    Kairo  1318» 


Digitized  by 


Googk 


667 

und  Verrichtungen  vorschreiben,  die  sie  in  bestimmten,  nicht  zu 
fem  voneinander  liegenden  Zeiten  wiederholen  müssen,  so  daß 
er,  dessen  Zeit  vergeht,  wirksame  Fürsorge  getroffen  hat  für 
alles,  was  später  folgt. 

Mit  diesen  Mitteln  (d.  h.  dem  äußeren  Kultus)  ruft  er 
immer  wiederum  von  neuem  das  Andenken  wach,  und  bevor  es 
ganz  verschwindet,  übernimmt  es  die  folgende  Generation^) 
Diese  Handlungen  des  äußeren  Kultus  müssen  verbunden  sein 
mit  Worten,  die  an  Gott  und  das  andere  Leben  notwendig 
erinnern,  sonst  haben  diese  Kultushandlungen  keinen  Nutzen. 
Eine  Erinnerung  wird  aber  nur  durch  Worte  wach  gerufen, 
die  ausgesprochen  werden,  oder  durch  Absichten  und  gute 
Meinungen,  die  man  in  der  inneren  Vorstellung  faßt.  Femer 
muß  den  Menschen  gesagt  werden,  daß  diese  Kultushandlungen 
sie  Gott  näher  bringen  und  daß  sie  durch  dieselben  höheres, 
überirdisches  Gut  erwerben;  femer:  daß  diese  Handlungen  im 
eigentlichen  Sinne  sich  so  verhalten  (d.  h.  in  bestimmter  Weise 
verrichtet  werden  müssen).  Solche  Handlungen  sind  z.  B.  die 
vorgeschriebenen  gottesdienstlichen  Handlungen.  Im  allgemeinen 
müssen  sie  so  beschaffen  sein,  daß  sie  auf  Gott  und  auf  das 
andere  Leben  hinweisen  und  warnen.  Solche  hinweisenden 
Handlungen  sind  entweder  Tätigkeiten  (wörtlich:  Bewegungen) 
oder  Unterlassungen  solcher,  die  den  Tätigkeiten  jedoch  gleich 
zu  rechnen  sind.  Tätigkeiten  sind  z.  B.  die  Gebete,  Unterlassung 
von  Tätigkeiten  ist  z.  B.  das  Fasten.  Wenn  dieses  auch  eine 
Privation  bezeichnet,  so  hat  es  doch  die  Wirkung,  daß  es  von 
dem  Gange  der  Natur  in  intensiver  Weise  ablenkt  und  den- 
jenigen, der  diese  Natur  besitzt,  darauf  hinweist,  daß  das  Fasten 
eine  nicht  gering  zu  schätzende  Sache  ist.  Infolgedessen  er- 
innert er  sich  der  Ursache,  auf  die  er  seine  Meinungen  richten 
muß.  Ferner  hat  der  Prophet  darzulegen,  daß  darin  die  An- 
nähemng  des  Menschen  an  Gott  gegeben  ist. 

Mit  diesen  äußeren  Kulthandlungen  muß  der  Prophet,  wenn 
möglich,  noch  andere  vorteilhafte  Dinge  verbinden,  damit  er  die 
Satzungen  der  Religion  und  ihre  Verbreitung  unter  den  Menschen 
verstärke.  Auch  der  Nutzen  inbezug  auf  das  diesseitige  Leben 
erfordert  es,  daß  der  Prophet  diese  Vorsorge  treffe.  Solche 
Handlungen  sind  z.  B.  der  Kampf  für  die  Religion  und  die 


»)  Wörtlich:  „haftet  es  dem  folgenden  an." 


Digitized  by 


Google 


668 

Pilgerfahrt  nach  Mekka.  Er  muß  Orte  von  Ländern  bestünmen 
und  zeigen,  daß  diese  bestinunten  Orte  für  den  Gottesdienst 
geeigneter  sind  und  daß  sie  Gott  in  vorzüglichem  Maße  lieb  sind. 
Er  muß  femer  die  Handlungen  bestimmen,  die  die  Menschen 
als  Kulthandlungen  verrichten  müssen.  Sodann  muß  er  lehren, 
daß  sie  sich  auf  Gott  selbst  erstrecken,  wie  z.  B.  die  Darbringung 
von  Opfern.  Der  Prophet  muß  lehren,  daß  diese  in  der  Weise, 
wie  es  für  diese  Kulthandlungen  bestimmt  wird,  eine  große  Hilfe 
sind,  um  zum  jenseitigen  Glücke  zu  gelangen.  Derjenige  Ort, 
der  betreffs  der  Kulthandlungen  den  genannten  Nutzen  mit  sich 
bringt  (indem  die  Kulthandlungen  an  diesem  Orte  Gott  besonders 
wohlgefällig  sind),  ruft,  weil  an  jenem  Orte  der  Gesetzgeber 
weilte  und  wohnte,  die  Erinnerung  auch  an  Gott  selbst  wach. 
Die  Erinnerung  an  den  Gesetzgeber  dient  in  zweiter  Linie  zu 
dem  genannten  Zwecke,  indem  sie  auf  das  Gebet  zu  Gott  und 
zu  den  Engeln  folgt  Der  Wohnort  des  Propheten,  dieser  einzige 
Ort,  kann  jedoch  nicht  Anteil  und  Wohnort  des  ganzen  Volkes 
sein.  Daher  muß  also  der  Gesetzgeber  die  Vorschrift  aufstellen, 
daß  die  Menschen  in  großen  Zügen  oder  auch  einzeln  zu  diesen 
Orten  hin  pilgern. 

Die  vorzüglichste  dieser  Kulthandlungen  ist  also  in  gewissem 
Sinne  dasjenige,  was  der  Prophet  als  immerfort  zu  wiederholende 
Pflicht  vorschreibt,  indem  der  Mensch  dadurch  mit  Gott  redete 
mit  ihm  allein  spricht,  zu  ihm  hineilt  und  sich  demütig  bittend 
vor  ihn  stellt  Diese  Kulthandlung  (die  edelste  von  allen)  ist 
das  Gebet  Daher  muß  der  Prophet  für  den  Betenden  alle  diese 
Verhältnisse  bestimmen,  durch  die  der  Mensch  für  das  Gebet 
sich  vorbereitet,  d.  h.  alles  dasjenige,  was  nach  der  Grewohnheit 
und  nach  dem  Urteil  der  Menschen  für  denjenigen  erforderlich 
ist,  der  einem  menschlichen  Könige  gegenübertritt,  nämlich  die 
Reinigung  und  Waschung.  Der  Prophet  muß  femer  betreffs 
der  Reinigung  und  Waschung  durchgreifende  Vorschriften  machen. 
Er  muß  alles  dasjenige  als  religiöse  Satzungen  aufstellen,  was 
die  Gewohnheit  für  den  Menschen  feststellt,  der  den  Königen 
gegenübertritt,  also  die  Demut  des  Bittstellers,  das  ruhige  Be- 
nehmen, das  Niederschlagen  der  Augen  und  das  Zusammenfassen 
der  Falten  des  Gewandes.  Femer  muß  er  vorschreiben,  daß 
der  Mensch  nicht  hin  und  her  blicke  und  sich  beim  Gebete 
nicht  unruhig  verhalte.  Ebenso  hat  er  für  jede  bestimmte  Zeit 
der  betreffenden  Gebete  löbliche  Sitten  und  Verhaltungsmaßregeln 


Digitized  by 


Googk 


669 

anzugeben.  Durch  alle  diese  Verhältnisse  wird  für  die  große 
Menge  der  Nutzen  herbeigeführt,  daß  das  Andenken  an  Gott 
und  das  Jenseits  sich  tief  in  ihre  Seelen  eingräbt.  Infolge  davon 
hängen  sie  unabwendbar  treu  an  den  Satzungen  und  Gesetzen. 
Wenn  diese  Momente,  die  das  Andenken  an  Gott  und  das  Jen- 
seits immer  wach  rufen,  nicht  vorhanden  wären,  dann  würden 
die  Menschen,  nachdem  ein  Jahrhundert  oder  zwei  nach  dem 
Tode  des  Propheten  verflossen  sind,  alle  geoffenbarten  Wahrheiten 
vergessen.  Alle  Kulthandlungen  bringen  ferner  auch  für  das 
jenseitige  Leben  den  großen  Nutzen,  daß  sie  den  Seelen  das 
verleihen,  womit  sie  sich  von  der  Anhänglichkeit  an  das  Irdische, 
wie  du  gesehen  hast,  befreien. 

Was  nun  die  besonderen  Kulthandlungen  angeht,  so  bezieht 
der  größte  Nutzen  derselben  für  die  Menschen  sich  auf  das  jen- 
seitige Leben.  Wie  das  jenseitige  Leben  im  eigentlichen  Sinne 
zu  denken  sei,  haben  wir  bereits  festgestellt  und  wir  haben 
bewiesen,  daß  das  Glück  des  anderen  Lebens  dadurch  erworben 
wird,  daß  die  Seele  sich  frei  macht  vom  Irdischen.  Sie  macht 
sich  aber  frei,  indem  sie  sich  davor  behütet,  körperliche  Dis- 
positionen zu  erwerben,  die  den  Ursachen,  die  das  jenseitige 
Glück  bewirken,  entgegenstehen.  Die  Befreiung  der  Seele  von 
der  Anhänglichkeit  an  das  Körperliche  wird  erreicht  durch 
Charaktereigenschaften  und  ethische  Dispositionen.  Diese  aber 
werden  erworben  durch  solche  Handlungen,  die  die  Seele  ab- 
wenden von  dem  Körper  und  dem  Sinnlichen  und  sie  beständig 
an  ihren  eigentlichen  Wohnort,«)  den  Himmel  erinnern.  Kehrt 
die  Seele  häufig  (in  der  Betrachtung  religiöser  Wahrheiten)  zu 
sich  selbst  zurück,  dann  steht  sie  nicht  unter  der  Einwirkung 
der  körperlichen  Verhältnisse  und  derjenigen  Momente,  die  ihr 
das  Körperliche  in  Erinnerung  bringen.  Sie  wird  im  Kampfe 
gegen  die  körperliche  Natur  unterstützt  durch  Vollziehen  von 
Handlungen,  die  den  Menschen  ermüden  und  die  nicht  zu  den 
natürlichen  Handlungen  der  menschlichen  Natur  gerechnet  werden 
(den  Gebetsübungen).  Sie  bringen  vielmehr  eine  große  An- 
strengung mit  sich  und  ermüden  den  Körper  und  die  animalischen 
Kräfte,  vernichten  die  Neigungen  (der  sensitiven  Seele),  die  be- 
strebt sind,  sich  der  Euhe  und  Trägheit  hinzugeben,  und  schließen 
zugleich  die  Widerspenstigkeit,  das  Erkalten  der  natürlichen 


>)  CJod.  cGL:  „d.  h.  die  Welt  der  rein  geistigen  Substanzen". 


Digitized  by 


Googl( 


670 

Begeisterung  aus  und  hindern  den  Menschen,  den  religiösen 
Übungen  aus  dem  Wege  zu  gehen.  Im  Gegenteil  veranlassen 
sie  den  Menschen,  die  tierischen  Genüsse  zu  vermeiden  und 
legen  der  Seele  die  Pflicht  auf,  nach  den  vorgeschriebenen 
Kulthandlungen  (wörtlich:  „Bewegungen")  dem  Gebete  zu  Gott 
und  zu  den  Engeln  und  der  Welt  des  jenseitigen  Glückes  zu 
verlangen,  freiwillig  oder  unfreiwillig.  Durch  das  Vollziehen 
dieser  Handlungen  wird  in  der  Seele  ein  Widerwille  erregt 
gegen  diesen  Körper  und  gegen  seine  Tätigkeiten,  und  es  wird 
zugleich  die  Disposition  hergestellt,  die  zur  Folge  hat,  daß  die 
Seele  über  den  Körper  herrscht.  Sie  steht  dann  nicht  mehr 
unter  der  Einwirkung  des  Körpers.  Wenn  daher  die  Seele  auch 
körperliche  Handlungen  vollzieht,  so  erhält  sie  durch  dieselbe 
nicht  die  Disposition  oder  den  Habitus,  den  diese  Handlungen 
naturgemäß  hervorbringen  würden,  wenn  die  Seele  beständig 
unter  dem  Einflüsse  dieser  Handlungen  stände  und  sich  in  jeder 
Weise  von  ihnen  leiten  ließe. 

Aus  diesem  Grunde  könnte  man  sagen:  die  Wahrheit  ist, 
daß  die  guten  Werke  die  bösen  Taten  aus  der  Seele  entfernen. 
Bleibt  nun  die  Ausführung  des  Guten  bestehen,  so  erwirbt  der 
Mensch  durch  dieselbe  die  Gewohnheit,  seinen  Geist  auf  die 
Wahrheit  und  Gott  zu  richten  und  ihn  von  dem  Nichtigen  ferne 
zu  halten  und  abzuwenden.  Dadurch  wird  er  gut  vorbereitet, 
um  das  wahre  Glück  im  vollsten  Sinne  des  Wortes  in  sich  auf- 
zunehmen, nachdem  er  sich  von  dem  Körper  getrennt  hat  Ver- 
richtet der  Mensch  die  genannten  Handlungen,  ohne  daß  er 
zugleich  weiß,  daß  sie  von  Gott  auferlegte  Pflichten  sind,  so 
muß  er  dennoch,  obwohl  er  die  eben  genannte  Meinung  hat,  in 
jeder  Handlung  Gottes  gedenken  und  sich  von  anderen  Gedanken 
femehalten.  Dann  wird  er  würdig,  jene  Eeinheit  und  jenes 
Glück  zu  erlangen.  Wie  könnte  dies  auch  anders  sein?  und 
besonders  in  dem  iFalle,  daß  jemand  diese  Handlungen  ausführt, 
der  weiß,  daß  der  Prophet  im  Auftrage  Gottes  gehandelt  hat  und 
eine  göttliche  Sendung  vollführte.  Entsprechend  göttlicher  Weis- 
heit ist  es  erforderlich,  daß  Gott  den  Menschen  einen  Propheten 
sende.  Alles,  was  dieser  an  göttlichen  Satzungen  au&tellt,  ist 
nur  das,  was  durch  den  göttlichen  Ratschluß  als  notwendig 
bezeichnet  wurde,  und  was  er  als  Satzung  aufetellte  war  Auftrag 
Gottes.  Daher  erhielt  also  der  Prophet  durch  Gott  den  Auftrag, 
den  Dienst  Gottes  festzusetzen.     Der  Zweck  und  der  Nutzen 


Digitized  by 


Googl( 


671 

der  gottesdienstlichen  Übungen  für  die  Gläubigen  besteht  darin, 
daß  durch  dieselben  die  göttliche  Satzung  und  das  ßeligions- 
gesetz  erhalten  und  in  Achtung  bleibt.  Diese  sind  die  Fun- 
damente des  Seins  (Leben)  der  Menschen.  Ein  anderer  Zweck 
ist  der,  daß  durch  diese  Handlungen  die  Menschen  im  jenseitigen 
Leben  Gott  näher  kommen  und  durch  ihre  ethische  Vollkommen- 
heit Gott  nahe  stehen. 

Der  von  Gott  gesandte  Prophet  ist  ein  Mensch,  der  beauf- 
tragt ist,  die  Verhältnisse  der  Menschen  zu  ordnen,  so  wie  es 
die  Umstände,  das  gemeinsame  Leben  und  das  Glück  des  Jenseits 
von  ihnen  verlangen.  Er  muß  ein  Mensch  sein,  der  sich  von 
den  übrigen  Menschen  durch  seinen  göttlichen  Charakter  unter- 
scheidet. 


Viertes  Kapitel 

Das  Leben  der  Städte  und  das  Hausleben,0  nämlich  die  Ehe  und  die 
allgemeinen  Gesetze  über  dieselbe. 

Der  erste  Zweck  des  Gesetzgebers,  wenn  er  Satzungen 
aufstellt,  ist,  das  Leben  der  Bürger  einer  Stadt  in  drei  Gruppen 
(wörtlich:  Teile)  zu  ordnen,  die  Leitenden,  die  Arbeiter  und 
die  Beschützer.  Seine  Tätigkeit  besteht  darin,  daß  er  jeder 
Klasse  dieser  Menschen  einen  Meister  vorstellt,  unter  dem 
wiederum  andere  Meister  sich  gruppieren.  So  ordnen  sich  unter 
dem  ersten  Meister  andere,  so  daß  von  diesen  beginnend  eine 
Ordnung  entsteht,  die  hinführt  zu  den  niedrigsten  Gruppen  der 
Bürger.  Dann  besteht  in  der  Stadt  kein  Mensch  mehr,  der 
unbeschäftigt  wäre  und  der  keinen  für  ihn  bestimmt  angegebenen 
Platz  einnähme.  Vielmehr  besitzt  jeder  von  ihnen  eine  nutz- 
bringende Tätigkeit  innerhalb  der  Stadt.  Der  Gesetzgeber  muß 
femer  die  Trägheit  und  das  Unbeschäftigtsein  verbieten  und 
femer  hindern,  daß  irgend  einem  Menschen  nicht  die  Möglichkeit 
geboten  werde,  durch  einen  anderen  irgend  welchen  Vorteil 
zu  erlangen,  der  ihm  zum  Leben  notwendig  ist.  An  seiner  Seite 
hat  dann  der  erste  (nach  dem  Prinzipe  der  Arbeitsteilung)  einen 


^)  Wörtlich:  „das  Verbinden  der  Stadt  und  des  Hauses". 


Digitized  by 


Google 


672 

Ersatz,  der  mit  keiner  Mühe  verbunden  ist.  Alle  diese  Menschen, 
die  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  keinen  bestimmten  Zweck 
haben,  muß  der  Gesetzgeber  in  jeder  Weise  abweisen.  Gelingt 
ihm  dieses  nicht,  so  muß  er  sie  von  der  Erde  entfernen  und 
vernichten.  Ist  aber  nun  die  Ursache  für  die  Untätigkeit  eine 
Krankheit  oder  irgend  ein  Mangel,  so  ist  es  Pflicht  des  Gesetz- 
gebers, diese  Menschen  abzusondern  an  einem  bestimmten  Orte, 
wo  sie  mit  ihresgleichen  weilen,  und  dann  muß  er  ihnen  einen 
Vorsteher  vorsetzen. 

In  der  Stadt  muß  ein  Kapital  bestehen,  das  den  Bürgern 
gemeinsam  ist.  Es  entsteht  teils  aus  den  Steuern,  die  den 
gewinnbringenden  Tätigkeiten  und  den  natürlichen  Früchten, 
wie  z.  B.  den  Früchten  der  Bäume  und  des  Feldes  auferlegt 
werden,  teils  aus  Bestrafungen,  teils  auch  aus  Gütern,  die  der 
Stadt  auf  Grund  der  gesetzlichen  Tradition  vermacht  werden 
oder  zufallen.  Es  sind  dies  die  Beuteanteile.  Dieses  Kapital 
muß  zum  allgemeinen  Glücke  dienen  und  den  Stand  und  die 
Mittel  der  Krieger  erhöhen,  die  selbst  kein  Handwerk  ausführen. 
Es  ist  femer  zu  verwenden  zu  Ausgaben  für  diejenigen,  denen  sich 
keine  Möglichkeit  mehr  darbietet,  Besitz  zu  erwerben,  weil  sie 
durch  Krankheiten,  Leiden  und  Schicksalsschläge  verhindert 
werden. 

Einige  sind  der  Ansicht,  die  hoffnungslos  unglücklichen 
und  verarmten  Menschen  zu  töten.  Diese  Ansicht  ist  jedoch 
eine  schlechte;  denn  die  Ernährung  jener  ist  keine  allzu  große 
Last  für  die  Stadt.  Wenn  daher  jene  Menschen  noch  Verwandte 
besizten,  die  in  reichlichem  Maße  für  den  Unterhalt  derselben 
eintreten  können,  so  wird  diesen  Verwandten  auferlegt,  die 
Unglücklichen  zu  unterstützen.  Die  Strafgelder  dürfen  nicht 
alle  und  ausschließlich  denjenigen  auferlegt  werden,  die  Ver- 
brechen begehen.  In  gleicher  Weise  müssen  vielmehr  auch 
diejenigen  betroffen  werden,  die  als  ihre  Freunde  jene  nicht 
zurückhielten  und  sie  nicht  tadelten  und  an  dem  Verbrechen 
hinderten.  Das,  was  ihnen  aber  auferlegt  wird,  muß  ein  milderes 
Maß  sein,  und  ihnen  muß  zugleich  eine  Reklamation  frei  stehen. 
So  sind  diejenigen  Vergehen  zu  behandeln,  die  aus  Leicht- 
fertigkeit begangen  werden.  Sie  dürfen  trotzdem  nicht  als 
geringfügig  übersehen  werden. 

Wie  es  notwendig  ist,  daß  die  Trägheit  durch  den  Gesetz- 
geber verboten  werde,  ebenso  ist  es  erforderlich,  daß  diejenigen 


Digitized  by 


Googl( 


673 

Beschäftigungen  die  den  Besitz  von  Gütern  und  nutzbringenden 
Gegenständen  von  einer  Person  zur  anderen  ohne  irgend  welchen 
Vorteil  fibertragen,  ebenfalls  verboten  werden.  Solche  Beschäf- 
tigungen sind  z.  B.  das  Glficksspiel.  Der  Spieler  nimmt  ein 
Gut  an  sich,  ohne  daß  er  dem  anderen  irgend  welchen  Nutzen 
gibt.  Der  Wechsel  von  Besitz  muß  vielmehr  so  vor  sich  gehen, 
daß  der  eine  aus  irgendwelcher  Beschäftigung  ein  Gut  gewinnt, 
so  daß  er  zugleich  durch  seine  Tätigkeit  einem  anderen  einen 
Nutzen  bringt,  der  an  Stelle  des  erworbenen  Gutes  tritt.  Der 
Ersatz  für  das  geleistete  Gute  ist  entweder  irgend  ein  sub- 
stantielles Ding,  oder  ein  Ersatz,  der  einen  Nutzen  bedeutet,  oder 
ein  Ersatz,  der  sich  darstellt  wie  das  Andenken  an  edle  Taten 
oder  andere  (geistige  und  moralische)  Gttter,  die  zu  den  wahrhaft 
wertvollen  menschlischen  Gütern  gerechnet  werden.  In  gleichem 
Sinne  muß  der  Gesetzgeber  auch  diejenigen  JBeschäftigungen  ver- 
bieten, die  hinführen  zu  den  Verhältnissen,  die  dem  Glücke  und 
dem  Nutzen  der  Bürger  konträr  sind.  Eine  solche  Beschäftigung 
ist  z.  B.  das  Erlernen  der  Kunst  zu  stehlen,  Raub  auszuführen, 
Bandenführer  zu  sein  und  ähnliches.  Ebenso  müssen  diejenigen 
Betätigungen  (wörtlich:  Künste)  verboten  werden,  die  die 
Menschen  in  den  Stand  setzen,  andere  Fertigkeiten,  die  einen 
wesentlichen  Bestandteil  des  bürgerlichen  Lebens  bilden,  zu 
entbehren  und  zu  vernachlässigen.  So  verhält  sich  der  Wucher. 
Der  Wucherer  verlangt  einen  allzu  großen  Gewinn,  ohne  daß 
er  eine  Tätigkeit  ausübt,  die  diesen  Gewinn  ihm  einbringt,  selbst 
wenn  seine  Tätigkeit  irgend  welchen  Nutzen  tatsächlich  bringt. 
In  gleicher  Weise  müssen  die  Handlungen  verboten  werden, 
die,  wenn  sie  überhand «)  nehmen,  zum  Gegenteil  dessen  führen, 
was  als  Fundament  für  das  Bestehen  der  Stadt  dient  So  ist 
z.  B.  zu  verbieten  der  außereheliche  Geschlechtsverkehr  und  die 
Sodomie,  die  den  Menschen  in  den  Stand  setzt,  das  vorzüglichste 
Fundament  des  städtischen  Lebens,  nämlich  die  Heirat  zu 
entbehren. 

Das  erste,  was  der  Gesetzgeber  vorschreiben  muß,  sind 
die  Bestimmungen  über  die  Ehe,  die  für  den  Nachwuchs  sorgt. 
Er  muß  zu  derselben  auffordern  und  anregen;  denn  durch  die 
Ehe  wird  das  Bestehen  der  Arten  ermöglicht.  Das  Bestehen 
der   menschlichen   Art  ist   ein  Beweis   für   die  Existenz   des 


')  Wörtlich:  ^zu  sehr  im  Preise  sinken". 

HoTt«n,  Dm  Bach  der  Q«nesnDg  der  SMle.  43 


Digitized  by 


Google 


674 

Schopfers.  Der  Gesetzgeber  muß  ferner  vorschreiben,  dafi  das 
Schließen  der  Ehe  offen  stattfindet,  damit  kein  Zweifel  aber  die 
Abstammung  bestehen  bleibt,  und  damit  auf  Grund  einer  heim- 
lichen Ehe  keine  Unterbrechung  (des  Stammbaumes)  und  keine 
Übertragung  von  Erbschaften  stattfindet  Letztere  sind  die 
Fundamente  des  Vermögens;  denn  das  Vermögen  ist  zum  Leben 
unbedingt  notwendig  (und  daher  muß  auch  dieses  der  Gesetzgeber 
in  seine  Bestimmungen  einbegreifen).  Das  Vermögen  ist  entweder 
Kapital  oder  Einkünfte.')  Das  Kapital  wird  erworben  durch 
Erbschaft,  Auffinden  oder  Schenkung.  Die  vorzuglichste  dieser 
drei  Arten  ist  (der  Erwerb  des)  Kapitals  durch  Erbschaft;  denn 
diese  Art  des  Erwerbens  hängt  nicht  allein  vom  Glück  und  Zufall 
ab.  Sie  besteht  vielmehr  in  einer  gewissen  natürlichen  Ordnung. 
Auf  Grund  dieses,  d  h.  des  Mangels  an  Öffentlichkeit  der  Ehe- 
schließungen entstehen  auch  Unordnungen  in  anderer  Hinsicht, 
wie  z.  B.  inbezug  auf  die  Pflicht  der  Erhaltung  der  Familie 
und  Verwandtschaft,  die  dem  einen  oder  anderen  zukommt,  die 
Pflicht  der  gegenseitigen  Unterstützung  und  ähnliche  Pflichten, 
die  der  verständige  Mann  sofort  einsieht,  wenn  er  über  dieselben 
nachdenkt 

Die  Verhältnisse  des  städtischen  Lebens  muß  der  Gresetz- 
geber  durch  die  Festigung  dieser  Verbindung  b^^ründen, 
so  daß  nicht  etwa  durch  das  Auftreten  jeder  abweichenden 
Meinung*)  ein  Zwiespalt  in  der  Ehe  entstehe.  Alle  diese  Be- 
stimmungen müssen  hinleiten  auf  den  festen  Zusammenhang,  der 
die  Kinder  und  die  Eltern  gemeinsam  umschließt,  und  dazu 
führen,  daß  jeder  Mensch  zu  einer  Eheschließung  schreitet^) 
Damit  können  leicht  vielfältige  Schäden  verbunden  sein.  Die 
vorzüglichsten  Ursachen  für  das  Glück  der  Menschen  liegen 
bekanntlich  in  der  (gegenseitigen)  Liebe.  Dieses  Band  aber 
wird  fest  geschlungen  nur  durch  Zusammenleben  und  Ge- 
wöhnung aneinander.  Das  Zusammenleben  besteht  nur  in 
der  Gewohnheit,  diese  entsteht  nur  nach  langer  Dauer,  während 
der  die  Menschen  miteinander  leben.  Diese  Festigkeit  in  der 
Ehe  hängt  ab  von  der  Frau,  und  der  Gesetzgeber  muß  dafür 


*)  Wörtlich:  „entweder  Wurael  oder  Zweig". 
^  Cod.  c  GL :  „d.  h.  Unbeständigkeit  und  Leichtfertigkeit*'. 
^  Wörtlich :  „daß  das  Bedürfnis  des  Menschen  zur  Eheschlieflong  immer 
wieder  von  nenem  (in  jeder  Generation)  auftritt**. 


Digitized  by 


Googk 


675 

sorgen,  daß  es  nicht  in  ihrer  Gewalt  liegt,  die  Trennung  herbei- 
zuführen; denn  sie  ist  in  Wahrheit  von  schwachem  Verstände 
und  leicht  dazu  geneigt  0,  der  Leidenschaft  und  dem  Zorne  zu 
gehorchen.  Dennoch  muß  eine  Möglichkeit  bestehen  bleiben,  daß 
eine  Ehe  getrennt  werde.  Diese  Möglichkeit  darf  nicht  durch- 
aus ausgeschlossen  sein;  denn  die  eigentlichen  Ursachen,  die  zu 
einer  Trennung  hinleiten,  setzen  im  allgemeinen  vielfältige 
Differenzen  und  Schäden  voraus.  Diese  stammen  teils  aus  der 
Natur  selbst;  denn  viele  Naturen  können  nicht  in.  friedlicher 
Weise  zusammenleben.  So  oft  der  Vei'such  gemacht  wird,  diese 
zu  vereinigen,  wird  das  Übel  nur  größer,  wie  auch  die  Ver- 
achtung und  die  Störung  des  Lebens.  Andere  kommen  von  den 
Menschen  selbst,  und  sie  treffen  solche,  die  mit  einer  Lebens- 
gefährtin verbunden  werden,  die  ihnen  nicht  gleich  steht,  noch 
auch  inbezug  auf  den  Lebenswandel  tadellos  ist,  und  deren 
natürliche  Veranlagung  sie  (zu  Unerlaubtem)  fortreißt.  Alles 
dieses  ist  ein  Grund,  der  das  Verlangen  rege  macht,  sich  einer 
anderen  Person  anzuschließen;  denn  die  Begierde  ist  natürlich. 
Häufig  führen  die  ungünstigen  Ehe  Verhältnisse  zu  Mißständen; 
denn  manchmal  unterstützen  sich  die  beiden  in  Ehe  lebenden 
Teile  nicht  gegenseitig  in  der  Erziehung  der  Kinder.  Wenn 
sie  jedoch  eine  andere  Ehe  eingehen,  so  werden  sie  ein  gemein- 
sames und  harmonisches  Leben  führen. 

Daher  ist  es  femer  notwendig,  daß  die  Möglichkeit  der 
von  beiden  Seiten  freiwillig  erfolgenden  Ehescheidung  frei- 
gelassen wird.  Dies  jedoch  darf  nicht  zu  leicht  gemacht  werden. 
Derjenige  der  beiden  Teile,  der  am  wenigsten  geistige  Einsicht 
besitzt,  der  jedoch  zugleich  am  meisten  zum  Mißverständnis  zur 
Trennung  und  Feindschaft  neigt,  darf  in  keiner  Weise  darüber 
verfügen  können.  Die  Entscheidung  über  die  Trennung  der 
Ehe  muß  vielmehr  der  Obrigkeit  überlassen  bleiben.  Wird  es 
in  diesem  Falle  klar,  daß  ein  Zusammenleben  mit  dem  anderen 
Teile  vom  Bösen  ist,  dann  werden  sie  getrennt.  Auf  Seiten  des 
Mannes  ist  sodann  erforderlich,  daß  ihm  infolge  der  Trennung 
der  Ehe  eine  Geldstrafe  auferlegt  werde.  Jedoch  darf  man 
nicht  zur  Verurteilung  schreiten,  bis  dieselbe  festgestellt  und 
als  zu  Recht  bestehend  in  jeder  Beziehung  erwiesen  ist  Trotz 
alledem  ist  es  das  Beste,  daß  der  Zwiespalt  sich  in  Frieden 


*)  Wdrtlich:  ^rasch  dazu  hineilend". 

43* 


Digitized  by 


Google 


676 

auflöst  ohne  viele  Ausflüchte;  sonst  wurde  es  allzu  nahe  liegen, 
daß  das  gemeinsame  Leben  unbeständig  werde  und  in  Verwirrung 
geriete.  Der  Gesetzgeber  muß  vielmehr  die  Scheidung  der  Ehe 
als  Fehltritt  bezeichnen  und  zwar  noch  mehr,  als  in  der  Zeit 
vor  ihm.*) 

Freilich  dasjenige,  was  der  beste  Gesetzgeber  angestellt  hat, 
besteht  darin,  daß  es  dem  Manne  nicht  erlaubt  ist,  nach  dem 
dritten  Male  die  Ehe  zu  scheiden,  sonst  muß  er  solche  Strafe 
auf  sich  nehmen,  wie  es  für  ihn  keine  größere  gibt  Er  muß 
nämlich  dafür  sorgen,  daß  ein  anderer  Mann  aus  dem  Kreise 
seiner  Freunde  seine  Frau  in  gültiger  Ehe  heirate  und  mit  ihr 
zusammenlebe.  (Diese  Bestimmung  soll  die  Ehescheidung  er- 
schweren); denn  wenn  eine  solche  Abmachung  zwischen  beiden 
Teilen  besteht,  so  schreitet  man  nicht  in  leichtfertiger  Weise 
zur  Scheidung,  es  sei  denn,  daß  man  eine  vollständige  Trennung 
beabsichtige  oder  daß  der  Grund  der  Scheidung  irgend  ein  großer 
Fehler  auf  einer  Seite  sei  Solche  Menschen  sind  nicht  würdig, 
daß  man  für  ihr  Glück  in  besonderer  Weise  besoi^  seL  Der 
Frau  ist  es  aufzuerlegen,  daß  sie  im  Hause  strenge  behütet 
werde;,  denn  sie  ist  leichtfertig*)  in  der  Liebe  und  selbst- 
süchtig. Zugleich  aber  ist  sie  mehr  der  Gefahr  ausgesetzt, 
sich  betrügen  zu  lassen,  und  leistet  weniger  dem  Verstände 
Gehorsam.  Die  Unbeständigkeit  in  der  Liebe  ist  eine  große 
Schande  und  ein  Fleck  an  der  Ehre.  Sie  ist  für  die  Frau 
ein  unvergleichliches  Übel.  Für  den  Mann  ist  sie  jedoch 
nicht  in  demselben  Maße  eine  Schande.  Sie  ist  vielmehr  ein 
Grund  des  Neides;  der  Neid  jedoch  ist  nichts,  das  der  Beach- 
tung wert  wäre.  Er  beruht  nur  auf  Verführungen  des 
Teufels. 

Daher  ist  es  erforderlich,  daß  der  Gesetzgeber  betreffis  der 
Frau  die  Bestimmung  aufstelle,  daß  sie  sich  verschleiere  und 
zurückgezogen  lebe.  Die  Frau  darf  daher  keine  gewinnbringenden 
Beschäftigungen  unternehmen,  wie  der  Mann,  und  aus  diesem 
Grunde  muß  der  Gesetzgeber  betreffe  ihrer  bestimmen,  daß  sie 
allen  Anforderungen  des  Haushaltes  entspreche  nach  den  Wünschen 
des  Mannes;  der  Mann  jedoch  muß  die  Auslagen  bestreiten. 
Als  Entgelt  dafür  erhält  der  Mann  ein  anderes  Gut  und  dieses 


1)  Wörtlich:  „als  im  Anfange*'. 

')  Wörtlich:  „universell  in  der  Begierde". 


Digitized  by 


Googk 


677 

besteht  darin,  daß  er  über  die  Frau  zu  befehlen  hat,  während 
sie  jedoch  nicht  über  den  Mann  herrscht.  Sie  darf  kein  Ver- 
hältnis mit  einem  anderen  Manne  eingehen.  Dem  Manne  aber 
ist  darin  keine  Einschränkung  auferlegt  Wenn  ihm  auch  verboten 
ist,  die  festgesetzte  Anzahl  zu  überschreiten,  so  darf  er  doch 
seine  Wünsche  auch  über  dieses  Maß  hinaus  befriedigen.  Ihm 
liegt  aber  die  Pflicht  des  Unterhaltes  ob. 

Dasjenige,  worüber  die  Frau  zu  verfügen  hat,  steht  dem 
gegenüber,  was  dem  Manne  rechtmäßig  zukommt.  Damit  meine 
ich  nun  nicht  den  ehelichen  Verkehr;  denn  der  Nutzen  ist  auf 
beiden  Seiten  gemeinsam.  Der  Genuß  der  Frau  ist  aber  größer, 
als  der  des  Mannes.  Ebenso  verhält  sich  die  Freude  und  das 
Glück  an  dem  Kinde.  Das,  was  der  Frau  vielmehr  zufällt, 
besteht  darin,  daß  sie  betreffs  des  Kindes  keinem  Fremden 
irgendwelche  Rechte  abzutreten  hat. 

Betreffs  des  Kindes  bestimmt  daher  der  Gesetzgeber,  daß 
beide  über  dasselbe  in  der  Erziehung  zu  befehlen  haben.  Die 
Mutter  befiehlt  über  das  Kind  betreffs  dessen,  was  ihr  zusteht, 
der  Mann  jedoch  betreffs  der  Auslagen  für  den  Lebensunterhalt. 
Femer  wurde  die  Bestimmung  gesetzt,  daß  das  Kind  beiden,  der 
Mutter  und  dem  Vater,  Dienste,  Gehorsam,  Achtung  und  Ehre 
zu  erweisen  habe;  denn  beide  sind  die  Ursachen  seiner  Existenz. 
Dabei  müssen  sie  die  Last  übernehmen,  den  täglichen  Lebens- 
unterhalt zu  bestreiten.  Was  dieser  bedeutet,  bedarf  keiner 
weiteren  Erklärung,  weil  es  offenkundig  ist 


Fünftes  Kapitel. 

Das  Kalifat,  das  Imämat  und  die  Pflicht,  beiden  zu  gehorchen. 
Politik,  Verkehr,  Sitten. 

Der  Gesetzgeber  muß  sodann  vorschreiben,  daß  die  Bürger 
demjenigen  zu  gehorchen  haben,  der  nach  ihm  seine  Stelle  ver- 
tritt Die  Bestimmung  zum  Kalifate  darf  entweder  nur  von 
ihm,  dem  ersten  Gesetzgeber,  ausgehen  oder  durch  die  Über- 


Digitized  by 


Google 


678 

einstimmuug  der  Wähler  erfolgen,  die  der  älteren  Generation 
angehören,  indem  man  übereinstimmt  in  der  Wahl  desjenigen, 
den  man  offen  in  der  Gesamtheit  der  Bürger  als  rechtmäßigen 
Nachfolger  bestimmt  Er  allein  soll  die  Herrschaft  ausüben,  einen 
ausgezeichneten  Verstand  besitzen  und  die  Tugenden  sein  eigen 
nennen,  nämlich  Mut,  Enthaltsamkeit  und  die  rechte  Leitung. 
Er  muß  femer  das  Religionsgesetz  kennen  und  zwar  in  einer 
solchen  Weise,  daß  keiner  da  ist,  der  mehr  und  genauer  in 
allem  unterrichtet  wäre.  Dies  muß  klar  und  evident  sein.  In 
seiner  Wahl  muß  die  Gemeinde  übereinstimmen.  Femer  hat 
der  Gesetzgeber  folgendes  anzuordnen.  Tritt  eine  Meinungs- 
verschiedenheit in  der  Wahl  des  Kalifen  auf,  und  trennt  man 
sich  in  verschiedene  Gmppen  je  nach  der  Neigung  und  den 
Wünschen  oder  stimmt  man  in  der  Wahl  eines  Kalifen  überein, 
der  nicht  nach  dem  Befinden  der  Gesamtheit  die  Würde  und 
das  Verdienst  besitzt,  so  begehen  diese  Bürger  den  Frevel  des 
Sichabwendens  von  Gott.^  Die  Wahl  des  Kalifen,  die  auf 
Gmnd  des  Korans  stattfindet,  ist  die  richtigste;  denn  dieses  führt 
nicht  zur  Trennung  in  bestimmte  Gmppen  noch  zu  gegenseitiger 
Feindschaft  und  Meinungsverscliiedenheit  Femer  ist  es  not- 
wendig, daß  in  dem  Gesetze  des  Propheten  bestimmt  werde,  daß 
jemanden,  der  das  Kalifat  duixh  seine  Macht  oder  sein  Vermögen 
für  sich  in  Anspmch  nehmen  will,  die  Gesamtheit  der  Bürger 
der  Stadt  bekämpfen  und  töten  müsse.  Vermögen  sie  ihn  zn 
töten,  ohne  daß  sie  diese  Tat  ausführen,  dann  sündigen  sie  gegen 
Gott  und  wenden  sich  von  ihm  ab.  Derjenige,  der  sich  an  der 
Ausfühmng  dieser  Tat  nicht  beteiligen  will,  wird,  wenn  er  die 
Möglichkeit  hat,  dieselbe  auszuführen,  für  vogelfrei  erklärt,^)  und 
zwar  nachdem  die  ersten  der  Bürgerschaft  sich  von  der  Sach- 
lage (d.  h.  seiner  Unterlassungssünde)  überzeugt  haben.  Femer 
muß  der  Gesetzgeber  die  Bestimmung  aufstellen,  daß  es,  abgesehen 
von  dem  Glauben  an  den  Propheten,  kein  Mittel  gebe,  sich  Gott 
mehr  zu  nahem,  als  die  Vernichtung  dieses  Tyrannen.  Wenn 
es  daher  für  die  Gegenkalifen  klar  wird,  daß  derjenige,  der  das 
Kalifat  bekleidet,  desselben  nicht  würdig  ist,  und  daß  er 
mit  Fehlem  behaftet  ist,  und  wenn  zugleich  dieser  Fehler  in 
den  Gegenkalifen  nicht  vorhanden  ist,  so  ist  es  das  Beste,  daß 

')  Wörtlich:  „sie  werden  Ungläubige". 
")  Wörtlich:  „sein  Blat  ist  erlaubt". 


Digitized  by 


Googk 


679 

die  Bürger  der  Stadt  sich  auf  seine  Person  (die  des  Gegenkalifen) 
einigen.  Als  würdig  des  Kalifates  und  des  Vertrauens  der 
Bevölkerung  ist  derjenige  zu  bezeichnen,  der  sowohl  am  meisten 
Geistesgaben  besitzt  als  auch  am  höchsten  die  Fälligkeit  hat, 
die  Führerschaft  der  Stadt  zu  übernehmen.  Wer  daher  in  den 
übrigen  Tugenden  nur  ein  mittelmäßiges  Maß  besitzt,  jedoch  in 
diesen  beiden  sich  hervortut,  ohne  daß  er  jedoch  die  anderen 
Tugenden  ganz  entbehrte,*)  oder  sogar  zu  dem  Gregenteil 
derselben  (den  konträren  Lastern)  hinneigte,  ist  würdiger  des 
Kalifates,  als  ein  anderer,  der  in  den  übrigen  Tugenden  sich 
hervortut,  ohne  daß  er  jedoch  dem  ersten  gleichkommt  in  den 
genannten  zwei  Eigenschaften.  Derjenige,  der  am  meisten 
Wissen  besitzt,  muß  sich  vereinigen  mit  demjenigen,  der  am 
meisten  Verstand  hat  und  ihm  helfen.  Der  scharfsinnigste  von 
beiden  muß  bei  dem  anderen  Unterstützung  suchen.  Sie  müssen 
handeln,  wie  es  Omar  und  Ali  taten. 

Betreffs  der  gottesdienstlichen  Handlungen  muß  der  Gesetz- 
geber femer  Vorschriften  aufstellen,  die  nur  durch  das  Kalifat 
in  der  würdigsten  Weise  ausgeführt  werden.  Nur  durch  den 
Kalifen  bestehen  dieselben  und  dienen  zugleich  dazu,  ihm  größere 
Macht  zu  verleihen.  Diese  durch  den  Gesetzgeber  zu  bestimmen- 
den Dinge  sind  diejenigen,  die  das  Kalifat  angehen,  z.  B.  die 
Feste.  Er  muß  daher  der  Gemeinde  Versammlungen  vorschreiben 
wie  diese  (die  uns  von  Mohammed  zur  Pflicht  gemacht  wurden); 
denn  in  diesen  ist  für  die  Menschen  ein  wichtiges  Motiv  gegeben, 
festzuhalten  an  der  Gemeinschaft  der  Bürger,  die  Mittel  zu 
ergreifen,  die  der  Mut  eingibt  (zur  Verteidigung  der  Stadt),  und 
zugleich  in  gemeinsamem  Wetteifern  darnach  zu  streben,  das 
Gute  zu  erwerben.  Durch  die  gemeinsame  Aufmunterung  werden 
die  Tugenden  erworben  und  durch  gemeinsames  Zusammenwirken 
in  religiösen  Versammlungen  werden  zugleich  Gebetserhörungen 
und  der  Segen  Gottes  auf  die  Verhältnisse  des  städtischen 
Lebens  herabgerufen,  die  du  aus  unseren  Darlegungen  kennen 
gelernt  hast. 

Ebenso  müssen  gesetzliche  Bestimmungen  festgesetzt  werden 
für  den  Verkehr.  Der  menschliche  Verkehr  setzt  viele  große 
Kategorien  (des  Zusammenlebens)  voraus,  und  dieses  sind  die 
Arten  des  Verkehrs,   die  hinleiten  zu  dem  Aufbau  der  zwei 


^)  W(}rtlich:  „ihnen  nicht  ganz  fremd  ist". 


Digitized  by 


Google 


680 

Fundamente  der  Stadt,  nämlich  der  ehelichen  Gemeinschaft  und 
dem  allgemeinen  Zusammenleben  der  Burger  (den  Freundschaften). 
In  gleicher  Weise  müssen  gesetzliche  Bestimmungen  getroffen 
werden  für  den  Verkehr,  der  hinführt  zum  Austausch  von 
Gütern;  im  Geben  und  Nehmen,  und  betreffs  dieses  Verkehrs 
müssen  diejenigen  Ursachen  bestimmt  werden,  die  einen  Irrtum 
und  Betrug  verhindern.  Solche  Verkehrsarten,  die  Betrug  in 
sich  enthalten,  müssen  verboten  werden,  ebenso  ein  Austausch 
von  Gütern,  in  dem  die  Qualitäten  der  Tauschobjekte  sich  ver- 
ändern, bevor  der  Kauf  in  Leistung  und  Gegenleistung  fertig 
ist.  Dieses  ist  z.  B.  das  Geldwechseln  und  der  Kauf  auf  Kredit 
(oder  Schuldenmachen)  und  ähnliches.  Der  Prophet  muß  femer 
den  Menschen  gesetzliche  Bestimmungen  darüber  geben,  daß  sie 
sich  gegenseitig  unterstützen,  sich  gegen  Feinde  verteidigen  und 
ihre  Güter  und  sich  selbst  behüten,  ohne  daß  jemand  freiwillige 
Gaben  spende  (um  die  Bürger  zum  gemeinsamen  Vorgehen  zu 
bestimmen). 

Was  nun  die  Feinde  der  Stadt  und  die  Gegner  des  Gesetzes 
angeht,  so  muß  der  Gesetzgeber  bestimmen,  daß  man  sie  mit 
Krieg  überziehe  und  vernichte,  nachdem  man  sie  aufforderte, 
zur  Wahrheit  zurückzukehren.  Ihr  Vermögen  und  ihr  Besitz 
fällt  den  Städten  anheim.  Denn  werden  diese  Güter  und  diese 
Besitzungen  (der  Staatsfeinde)  nicht  nach  der  Art  und  Weise 
der  Musterstadt  1)  verwaltet;  dann  gereichen  sie  nicht  zu  dem 
Vorteile  der  Gemeinde,  den  man  von  diesen  Gütern  erwartet. 
Da  es  femer  Diener  geben  muß,  so  müssen  jene  Menschen  (die 
Staatsfeinde)  bestimmt  werden  zu  Dienem  für  die  Bürger  des 
geordneten  Staates.  Als  solche  eignen  sich  jene,  die  weit 
entfemt  sind,  sich  Tugenden  zu  erwerben.  Solches  sind  die- 
jenigen, die  von  Natur  aus  Sklaven  sind,  wie  die  Türken 
und  Neger,  kurz  alle  jene,  die  nicht  in  günstigen  Klimaten 
leben.  Die  Verhältnisse  der  günstigen  Klimate  haben  die  Wir- 
kung, daß  in  ihnen  Völker  entstehen,  die  eine  vorzügliche 
körperliche  Mischung  haben  und  ausgezeichnete  Greistesgaben 
besitzen. 

Wenn  nun  außerhalb  der  Stadt  des  Gesetzgebers  eine 
andere  Stadt  besteht,  die  eine  gute  Staatsverfassung  besitzt, 
die  ihr  jedoch  nur  zuteil  geworden  ist  (durch  lange  Erfahrung), 


>)  Wörtlich:  „der  tugendhaften  Stadt". 


Digitized  by 


Googk 


681 

indem  die  Zeit  vielfache  Verbesserungen  eingeführt  hat  —  dabei 
steht  jedoch  fest,  daß »)  es  keine  eigentlich  gute  Staatsverfassung 
gibt  außer  derjenigen,  die  von  Gott  geoffenbart  wurde  —  so 
gilt  betreffs  dieser  Völker  und  Städte  folgendes.  Irrten  sie  vom 
richtigen  Wege  ab,  so  muß  ihnen  eine  Verfassung  gegeben 
werden;  denn  ihre  soziale  Verpflichtung  (zum  sozialen  Zusammen- 
leben) muß  befestigt  werden.  Ist  dies  aber  notwendig,  dann 
erfordert  die  Reorganisation  der  ungeordneten  Städte,  daß  sie 
nach  den  Gesetzen  des  ganzen  Weltalls  vollzogen  werde.^) 
(So  wie  die  Ordnung  in  den  Sternen  geschrieben  steht,  muß  sie 
auch  in  der  Stadt  durchgeführt  werden.) 

Wenn  daher  das  Volk  des  Idealstaates  auch  diese  andere 
Verfassung  als  gut  und  edel  ansieht,  und  wenn  es  zugleich  davon 
überzeugt  ist,  daß  durch  die  Veränderung  der  Verfassung  die 
Zustände  eines  dem  Verderben  geweihten  Staates  wiederum  zur 
Ordnung  und  zum  Glücke  zurückgeführt  würden,  (so  ist  es  ver- 
pflichtet, die  Religion  des  Propheten  anzunehmen).  Erklärt  nun 
jener  Staat,  unsere  (koranische)  Gesetzgebung  müsse  nicht  not- 
wendigerweise angenommen  werden,  und  bezeichnet  er  den 
Gesetzgeber  (Mohammed)  als  einen  Lügner  in  seinem  Ansprüche, 
seine  Gesetzgebung  sei  eine  geoffenbarte  und  sie  sei  bestimmt 
für  alle  Städte  (also  den  ganzen  Erdkreis),  dann  liegt  in  diesem 
Verhalten  ein  großer  Mangel  und  eine  moralische  Schwäche,  die 
der  Verfassung  anhaftet.  Die  ihr  Entgegentretenden  haben  darin 
eine  Handhabe,  dieselbe  von  sich  abzuweisen,  indem  das  Volk 
jener  Stadt  sich  weigert,  die  Verfassung  anzunehmen.  Auch 
jene  Leute  müssen  dann  bestraft  und  bekämpft  werden,  jedoch 
in  einer  bestimmten  Art  des  Krieges,  nicht  in  einer  solchen 
Art,  wie  sie  gegen  die  vollständig  Abtrünnigen  und  Irrgläubigen 
geführt  wird,  oder  es  müssen  ihnen  Strafgelder  auferlegt  werden 
entsprechend  dem,  was  man  für  sie  (als  Strafe)  auswählt  und  wie 
man  ihre  Schuld  bestimmt,  d.  h.  ob  sie  (die  göttliche  Offenbarung) 
zunichte  machen  und  mißachten  und  inwiefern  sie  davon  freizu- 
sprechen sind.   Sie  entzogen  sich  dem  Gehorsam  gegenüber  dem 


•)  Wörtlich:  „indem  es  keine". 

*)  Wörtlich:  „daß  von  den  Städten  das  ganze  Weltall  prädiziert  werde". 
Die  Stadt  muß  also  dieselben  Gesetze  in  sich  enthalten,  die  das  WeltaU  im 
großen  zeigt.  Die  Stadt  ist  für  sich  eine  kleine  Welt.  Oder:  „auf  die  Städte 
muß  das  ganze  WeltaU  übertragen  werden". 


Digitized  by 


Google 


682 

Gesetze,  das  Gk)tt  geoffenbart  hat.  Wenn  sie  zu  Grunde  gehen, 
so  verdienen  sie  diese  Strafe.  Durch  ihren  Untergang  wird  ihre 
Person  (ihr  Körper)  vernichtet,  zugleich  aber  ein  dauernder 
Nutzen  geschaffen,  besonders  dann,  wenn  die  neu  auftretende 
Verfassung  vollkommener  und  edler  ist  (als  die  frühere). 

Betreffs  ihrer  bestimmt  der  Gesetzgeber  femer:  wird  der 
Zustand  des  friedlichen  Zusammenlebens  (d.  h.  die  Strafen  für 
Totschlag)  geordnet  nach  den  Vorschriften  des  Loskaufes  von 
der  Blutschuld  und  des  Kopfgeldes,  so  möge  man  diese  Be- 
stimmung belassen.  Der  Prophet  darf  femer  jene  und  die 
anderen  Menschen  nicht  in  derselben  Weise  leiten.  Er  muß 
Strafen,  Grenzen  und  Hindemisse  aufetellen,  die  die  Menschen 
hindern,  widerspenstig  zu  sein  gegen  das  göttliche  Gesetz.  Jedö 
Mensch  jedoch  ist  nicht  so  angelegt,  daß  er  sich  zurückhält 
ließe  durch  das,  was  er  betreffe  des  anderen  Lebens  fürchtet 
Daher  müssen  die  meisten  Bestimmungen  sich  gegen  diejenigen 
gesetzwidrigen  Vergehen  richten,  die  die  Ordnung  des  Ganzen 
zu  zerstören  drohen,  wie  z.  B.  gegen  den  Diebstahl,  den  Ehebrudi 
und  die  Sodomie,  ebenso  gegen  die  Feinde  der  Stadt  und  andere. 
Wenn  jedoch  damit  zugleich  ein  Schade  für  die  Person  eines 
einzelnen  gegeben  ist,  so  ist  dies  (nicht  nur  kein  Übel,  sondern) 
sogar  erforderlich,  daß  in  ihnen  eine  gevrtsse  Züchtigung  vor- 
gesehen seL  Mit  der  (theoretischen)  Vorschrift  allein  kann  man 
sich  nicht  begnügen.  Es  ist  daher  erforderlich,  daß  die  gesetz- 
lichen Vorschriften  betreffs  der  Kultushandlungen  und  der  Strafen 
sich  im  richtigen  Maße  befinden,  ohne  (nach  der  einen  oder 
anderen  Seite  hin)  zu  übertreiben,  noch  auch  irgend  etwas 
zu  vernachlässigen.  Femer  müssen  viele  Verhältnisse  mit 
gesetzlichen  Bestimmungen  betroffen  werden,  besonders  in 
Verkehrsverhältnissen,  die  mit  Schwierigkeiten  zu  kämpfen 
haben;  denn  die  Zeiten  haben  gewisse  Eigentümlichkeiten, 
denen  man  nicht  gerecht  werden,  kann  (ohne  bestimmte  Vor- 
schriften, die  nach  den  Zeiten  zu  verändern  sind). 

Um  nun  den  Verkehr  der  Stadt  zu  erhalten,  muß  die 
Kenntnis  folgender  Momente  vorhanden  sein:  der  Ordnung,  der 
Krieger,  der  Einkünfte  und  Ausgaben  (Export),  der  Herstellraig 
der  Waffen,  der  Steuern,  der  Grenzstädte,  Grenzen  und  juideres. 
Daher  ist  es  erforderlich,  daß  die  Ordnung  dieser  Verhältnisse 
dem  Ordner  der  Gesellschaft  überlassen  werde,  insofern  er  der 
Nachfolger  des  Propheten  (und  der  Stellvertreter  Gottes)  ist 


Digitized  by 


Googl( 


683 

In  diesen  Bestimmungen  stellte  er  keine  Satzungen  auf,  die 
sich  auf  einzelne  Fälle  beziehen;  denn  in  der  Vorschrift  von 
solchen  Geboten  ist  ein  großer  Mangel  enthalten,  weil  diese 
Gebote  sich  mit  dem  Wechsel  der  Zeiten  verändern  müssen. 
Die  Aufstellung  von  allgemeinen  Satzungen  aber  ist,  obwohl  sie 
alle  Fälle  nennt  und  vor  allen  Übeln  behütet,  (im  einzelnen) 
nicht  durchführbar.  Daher  muß  diese  Anwendung  der  all- 
gemeinen Satzungen  auf  die  einzelnen  Fälle  wohlberatenen 
Männern  überlassen  werden. 

Es  ist  sodann  erforderlich,  daß  der  Gesetzgeber  auch  über 
die  ethischen  Eigenschaften  und  Gewohnheiten  Satzungen  auf- 
stelle, die  zur  Gerechtigkeit  auffordern.  Diese  ist  für  alle 
Handlungen  die  richtige  Mitte.  Die  richtige  Mitte  aber  wird 
aus  zwei  Gründen  für  die  Charaktereigenschaften  und  die 
Gewohiiheiten  gefordert.  Sie  wird  gefordert  sowohl  inbezug 
auf  die  Unterdrückung  der  übermütigen  Leidenschaften  und 
um  die  Seele  zu  reinigen,  besonders  aber,  damit  durch  diese 
Bestimmungen  die  Seele  die  Oberherrschaft  über  die  niedrigen 
Kräfte  erlange  und  in  ganzer  Weise  frei  wird  von  dem  Körper. 
Wenn  aber  in  den  Tugenden  die  niederen,  sinnlichen  Kräfte 
zur  Anwendung  kommen,  so  dient  dieses  nur  zum  irdischen 
Glücke.  Die  sinnlichen  Genüsse  haben  den  Zweck,  den  eigenen 
Körper  und  die  Nachkommenschaft  zu  erhalten  (conservatio 
individui  et  speciei).  Der  Mut  hat  den  Zweck,  den  Bestand 
der  Stadt  zu  sichern.  Die  Laster,  die  in  einem  Zuviel  des 
Guten  bestehen,  werden  vermieden  auf  Grund  der  bösen  Folgen, 
die  sie  haben  bezüglich  der  glücklichen  Ordnung  der  mensch- 
lichen Verhältnisse.  Diejenigen  Laster  hingegen,  die  in  einem 
Zuwenig  des  Guten  bestehen,  werden  vermieden  auf  Grund  der 
bösen  Folgen,  die  sie  für  die  Stadt  haben.  Die  Klugheit,  die 
eine  Tugend  ist  und  die  die  dritte  ist  im  Bunde  mit  der  Selbst- 
beherrschung und  dem  Mute,  bezeichnet  nach  unserem  Sprach- 
gebrauch nicht  die  theoretische  Weisheit;  i)  denn  in  dieser  wird 
keine  goldene  Mitte  zwischen  zwei  Extremen  vorgeschrieben. 
Sie  bezeichnet  vielmehr  die  praktische  Weisheit,  die  sich  auf 
die  Handlungen  und  die  sozialen  Verhältnisse  des  diesseitigen 
Lebens  erstreckt  Die  eifrige  Beschäftigung,  die  darin  liegt, 
daß  man  bestrebt  ist,  die  Verhältnisse  des  Lebens  kennen  zu 

1}  Der  arabische  Ausdruck  ist  für  beide  der  gleiclie. 


Digitized  by 


Google 


684 

lernen  und  das  Verlangen  nach  dem  Wahren,  indem  man  die 
Vorteile  und  Resultate  in  jeder  Weise  erwägt  und  die  Ursachen 
der  Verluste  in  jeder  Beziehung  vermeidet,  so  daß  das  Gr^enteil 
von  dem,  was  der  Mensch  für  sich  selbst  erstrebt,  seinen  Mit- 
menschen zustoßt,  und  daß  er  selbst  daran  gehindert  wird,  die 
anderen  Tugenden  zu  erwerben,  —  diese  Charaktereigenschaft  ist 
die  Verschlagenheit  Zur  Strafe  fesselt  man  ihn  in  einen  Karkan 
und  dadurch  entfernt  man  ihn  aus  der  Gesellschaft,  seinen 
Lebensverhältnissen,  seiner  Familie  und  seinem  Glück,  bis  er 
sich  bessert  Weil  nun  die  Motive,  die  zum  Handeln  antreiben, 
entweder  aus  einer  Begierde  oder  aus  dem  Zorn  oder  aus  der 
Fälligkeit,  in  vernünftiger  Weise  die  Handlungen  zu  leiten, 
hervorgehen,  so  sind  also  der  Tugenden  drei:  erstens  der  Habi- 
tus, der  die  richtige  Mitte  einhält  inbezug  auf  die  Begierde, 
wie  z.  B.  die  Begierde  desjenigen,  der  nach  Weib,  Speise, 
Kleidung,  Euhe  und  nach  anderen  Genüssen  der  äußeren  oder 
inneren  Sinne  verlangt  (die  temperantia);  zweitens  der  Habitus, 
der  die  richtige  Mitte  aller  Betätigungen  der  zornmütigen  Kraft 
bezeichnet,  wie  z.  B.  inbezug  auf  Zorn,  Furcht,  Kummer,  Scham, 
Haß,  Neid  und  anderes  (die  fortitudo),  drittens  der  Habitus, 
der  die  richtige  Mitte  in  der  Leitung  der  menschlichen  Ver- 
hältnisse angibt  (die  prudentia). 

Die  ersten  dieser  Tugenden  sind  die  Weisheit,  die  Enthalt- 
samkeit und  der  Mut:  die  Summe»)  aller  aber  ist  die  Grerechtig- 
keit   Alle  diese  Tugenden  sind  verschieden  von  den  theoretischen 


»)  Vgl  Thomas,  der  dieselbe  Lehre  betreffs  der  prudentia  anfsteUt, 
Siim.  th.  m  85, 3  ad.  4:  ...  pmdenüa  est  directiva  omninm  moraliiim  Tirtatnm. 
I— n  prudentia  est  simpliciter  principalior  omnibos  (virtntibos  cardinalibns), 
ib.  66,  Ic:  Ideo  prudentia,  quae  perficit  rationem,  praefertur  in  bonitate  alüs 
virtntibns  moralibns,  perfidentibns  vim  appetitiTam,  inquantom  partidpat 
rationem,  et  in  his  etiam  tanto  est  nna  altera  melior,  qnanto  magis  ad 
rationem  accedit.  Unde  et  institia,  quae  est  in  volnntate,  praefertur  alüs 
virtutibus  moralibns;  et  fortitudo,  quae  est  in  irasdbili,  praefertur  tem- 
perantiae,  quae  est  in  concupisdbili ,  quae  minus  partidpat  rationem.  Ib. 
art.2c;  n—n 23,2c;  47,6  ad3;  56,1  adl;  123,12c;  141,8c  Es  ist  fftr 
Avicenna  charakteristisch,  dafi  er  die  Ethik  in  dieser  summarischen 
Weise  behandelt.  Sein  Blick  war  hauptsächlich  auf  die  Erklftrong  der 
physischen  Wdt  gerichtet.  Zudem  war  die  Ethik  zu  seiner  Zeit  in 
theologischen  und  juristischen  Werken  abschüefiend  behandelt,  so  dafi  eine 
wissenschaftliche  Darstellung  derselben  kein  Problem  war,  das  seinen  Geist 
reizen  konnte. 


Digitized  by 


Googk 


685 

Tugenden.  Wer  jedoch  zu  diesen  praktischen  Tugenden  noch 
die  theoretische  Weisheit  hinzuerwirbt,  der  ist  glücklich  geworden. 
Wer  dazu  sich  noch  durch  Eigenschaften  der  Prophetie  aus- 
gezeichnet, der  ist  ein  ehrwürdiger  Meister  der  Menschen,  und 
dessen  Verehrung  ist  nach  der  Verehrung  Gottes  erlaubt  Er 
ist  Herrscher  des  Weltalls  der  niederen  Welt  und  Stellvertreter 
Gottes  in  ihr. 

Damit  endet  das  vierte  Buch,  das  über  die  Metaphysik 
handelt. 


Digitized  by 


Google 


Anmerkungen 0  zur  Metaphysik  Avicennas. 


L  Glossen  der  Handschrift  c  (Isfahan  1672). 

Beiträge  zur  Geschichte  der  muslimischen  Philosophie  in  Persien  im 

XVII.  Jahrhundert 

6,11:  „andere  Begriffe"  (wörtlich:  eine  andere  ratio),  wie 
das  Abstrakte  (Geistige)  im  allgemeinen  oder  das  Seiende  im 
allgemeinen.  (Ersteres  bildet  einen  Teil  des  materiellen  Objektes, 
wenn  unter  demselben  die  Geisterwelt  zu  verstehen  ist; 
letzteres  das  formelle  Objekt  der  Metaphysik.  Versteht  man 
aber  unter  dem  „Abstrakten"  das  Unkörperliche  im  allgemeinen 
(to  ;iro>()för6r  xal  dxivrjror),  SO  bezeichnet  es  ebenfalls  das 
formelle  Objekt.) 

6, 12—13:  Mit  „Philosophie  im  wahren  Sinne  des  Wortes" 
will  Avicenna  die  Philosophie  bezeichnen,  die  selbständig  ist 
(in  ihren  Deduktionen)  und  die  keiner  anderen  Wissenschaft 
bedarf,  die  über  ihr  stände  (so  daß  sie  aus  dieser  die  Prinzipien 
ihrer  Beweise  entnehmen  müßte).  Ihre  Probleme  werden  be- 
wiesen durch  den  Beweis  des  „weshalb",*)  der  die  Kenntnis  des 
absolut  Sicheren  und  ewig  Wahren  verleiht 


^)  Die  hier  folgenden  Anmerkungen  beziehen  sich  auf  die  Seiten  und 
Zeilen  des  Torausgehenden  Textes.  Sie  sind  entnommen  den  Hss.  c  (=  Isfahftn 
1672),  (die  Verfasser  dieser  Glossen  nennen  sich  Ahmed  und  Sadr)  und  d 
(1838  Persien),  dem  Lexikon  F&rftqis  1745t  und  Gorgfinis  1413t  und  gewähren 
Einblicke  in  die  philosophisch  sehr  regen  Jahrhunderte,  die  auf  Avicenna  und 
Gazäll  folgen  bis  an  die  Schwelle  der  Neuzeit.  Die  Anordnung  bezweckt  das 
chronologisch  Zusammengehörige  zu  vereinigen,  so  daß  dem  Historiker  die 
Aufgabe  erleichtert  wird,  aus  diesen  direkten  QueUen  (die  wenigen  sachlichen 
Erläuterungen  von  selten  des  tJbersetzers  wurden  als  solche  gekennzeichnet), 
soweit  dieselben  ausreichen,  einige  Linien  zur  Skizzierung  der  Gedchichte 
der  muslimischen  Philosophie  zu  gewinnen. 

')  Der  Beweis  des  Si  Sri,  der  die  Ursachen  des  (Gegenstandes  ersdüiefit, 
ist  derjenige,  der  die  tiefste  Erkenntnis  verleiht. 


Digitized  by 


Googk 


687 

9,17:  Die  Bewegung  bewegt  sich  von  der  Potenz  zur 
Aktualität. 

13,18:  Der  Unterschied  zwischen  dem  Zusammengefaßten 
(den  „Summen")  und  dem,  was  die  Natur  des  geistig  Zusammen- 
gefaßten hat,  ist  wie  der  Unterschied  zwischen  dem  Ganzen 
(kullun)  und  dem  Universellen  (kullijun).') 

16,  IV.  ErL:  Die  Untersuchung,  die  die  Ursachen  als  „Ganzes" 
betrachtet,  ist  eine  solche,  die  einen  einzelnen  Gegenstand  er- 
forscht, insofern  in  ihm  alle  vier  Ursachen  zusammenwirken,  so 
daß  erst  durch  das  Zusammenwirken  aller  vier  der  ganze  onto- 
logische  Inhalt  des  Dinges  entsteht  Die  Ursachen  ergänzen 
und  bedingen  sich  gegenseitig.  Keine  macht  die  andere  über- 
flüssig. In  diesem  Sinne  bilden  sie  also  ein  abgeschlossenes  und 
in  sich  vollständiges  „Ganze",  in  dem  kein  Teil  fehlt. 

17,13:  Die  Ausdehnung  ist  ein  Prinzip  für  die  Existenz 
der  Körper;  denn  sie  ist  die  Ursache,  die  sich  verhält  wie  eine 
Wesensform,  und  eine  solche  Ursache  ist  eine  der  vier  Ursachen 
für  die  Existenz  der  Körper. 

21, 12  ErL:  Der  Einwand  besagt:  keine  Wissenschaft  darf 
die  Prinzipien  ihres  Objektes  nachweisen.  Sie  würde  sonst  den 
Beweis  für  die  Existenz  ihres  eigenen  Objektes  liefern.  Letzteres 
ist  aber  unmöglich,  da  jede  Wissenschaft  die  Existenz  ihres 
Objektes  voraussetzt. 

23, 12  ErL:  Die  Prinzipien  der  partikulären  Wissenschaften 
bilden  ein  „akzidentelles"  Objekt  der  Metaphysik,  weil  das 
wesentliche  und  „formelle"  Objekt  bereits  bestimmt  ist  als  das 
„Seiende  als  solches",  und  weil  femer  eine  Wissenschaft  nicht 
zwei  formelle  Objekte  besitzen  kann.  Auf  diese  Weise  sucht 
also  Avicenna  die  formelle  Einheit  des  Objektes  der  Metaphysik 
zu  wahren  und  ihr  zu  gleicher  Zeit  die  Untersuchung  der  Prin- 
zipien der  partikulären  Wissenschaften  zuzusprechen. 

23 — 24  ErL:  Die  rein  metaphysische  Determinierung  des 
Seienden,  aus  der  das  Objekt  der  Naturwissenschaft  entsteht, 
ist  in  der  arbor  porphyriana  klargelegt.  Die  Untersuchung  der 
Substanz  führt  zu  den  „Arten"  der  Substanz.  Als  solche 
ergeben  sich  notwendig  die  substantia  incorporea  et  corporea. 


^)  „Zusammenfassen''  (agmala)  zu  einem  Ganzen  (kullun),  einem  ein- 
heitlichen psychischen  Inhalte  und  „abstrahieren^  (igm&lun,  Abstraktion)  sind 
eng  assoziierte  Begriffe. 


Digitized  by 


Googk 


688 

Mit  letzterer  ist  das  Objekt  der  Naturwissenschaft  erreicht,  das 
die  Metaphysik  als  Königin  den  unter  ihr  stehenden  Natur- 
wissenschaften darreicht.  Das  Objekt  der  Mathematik  entsteht 
teils  aus  dem  Begriffe  des  Akzidens  der  Qualität  —  es  ergibt 
sich  also  in  der  Untersuchung  der  Akzidenzien  —  teils  aus  dem 
Begriffe  des  Einen,  der  den  gleichen  Umfang  hat,  wie  der  des 
Seienden.  Aus  der  Untersuchung  dieses  Begriffes  ergibt  sich 
das  Objekt  der  Arithmetik,  die  ZahL  G^eometrie  und  Arithmetik 
empfangen  also  als  Dienerinnen  von  der  Königin,  der  Meta- 
physik, ihre  Objekte. 

27, 18:  Der  erste  Philosoph  (der  sich  mit  der  ersten  Philo- 
sophie beschäftigt)  betrachtet  und  untersucht  die  göttliche 
Wissenschaft,  die  die  „erste  Philosophie"  ist. 

29,6  von  unten;  „zu  einem  gleichgeordneten":  Ffir  diese 
Wissenschaft,  die  Metaphysik,  gibt  es  keine  Wissenschaft,  die 
über  ihr,  noch  eine,  die  ihr  gleich  stände. 

30,22:  Das  Objekt  der  Metaphysik,  d.  h.  das  Wesen  Gottes, 
das  der  reinen  Geister  und  das  der  getrennten  (unkörperlichen) 
Substanzen  (der  Seelen). 

36,16:  Die  Objekte  der  metaphysischen  Untersuchungen 
gehen  denen  der  Physik  voraus;  denn  die  Metaphysik  ist  eine 
Wissenschaft,  die  universell  und  allgemein  ist;  die  übrigen 
Wissenschaften  befinden  sich  aber  unter  ihr  und  sind  dem  Be- 
weise der  Metaphysik  untergeordnet  (indem  sie  ihre  höchsten 
Prinzipien  der  Metaphysik  entnehmen). 

43, 18:  Gott  ist  über  alle  Dinge  mächtig;  denn  alle  Arten 
der  menschlichen  Handlung  endigen  bei  einer  ersten  Ursache 
(die  sie  hervorbringt;  Determinismus). 

44,  Titel:  „Der  Hinweis"  ist  die  Definition  des  Begriffes 
durch  die  Beziehung  des  Dinges  und  des  Seienden,  Darin 
liegt  zugleich  die  Bestimmung  des  Objektes  und  der  eigentüm- 
lichen Natur  dieser  Wissenschaft  Nur  durch  ihre  Beziehung 
auf  etwas  unserem  Fassungsvermögen  Zugänglicheres,  nicht 
durch  Darlegung  ihres  Inhaltes  (werden  die  Begriffe  von  res 
und  ens  klar  gemacht). 

Der  Begriff  der  res  gehört  zu  den  Kategorien  zweiter 
Ordnung,^)  die  sich  stützen  und  gründen  auf  die  Kategorien 


■)  res  und  ens  rechnet  Behmenj&r,  der  Schüler  ÄTicennas,  also  xa  den 
logischen  Kategorien.     Er  läfit  sich  dahei  durch  ein  empiristisch -nomina- 


Digitized  by 


Googk 


689 

erster  Ordnung.  Der  Begriff  res  verhält  sich  wie  das  Allgemeine, 
das  Individuelle,  das  Genus  und  die  Art.  Unter  den  realen 
Dingen  der  Außenwelt  existiert  kein  besonderes  Sein,  das  als 
res  zu  bezeichnen  wäre;  sondern  das  Wirkliche,  sei  es  nun  ein 
Mensch  oder  dieses  bestimmte  Objekt,  erfordert  nicht  in  dieser 
seiner  Bedeutung  als  Kategorie,  daß  es  eine  res  sei.  Ebenso 
verhält  sich  das  „Wesen"  und  in  gleicher  Weise  auch  die 
„Existenz"  im  Verhältnis  zu  ihren  Arten  —  Behmenjär. 

Daher  ist  diejenige  Wissenschaft,  die  die  übrigen  Wissen- 
schaften umfaßt,  die  Metaphysik,  und  das  primäre  Objekt  der- 
selben ist  das  Seiende  im  allgemeinen  und  dasjenige,  was  dem 
Seienden  an  Universalität  gleichkommt,  und  dieses  ist  das  Eine 
(ens  et  unum  convertuntur).  —  Färäbi. 

46,20:  Avicenna  will  sagen:  wenn  man  auch  zugäbe,  daß 
die  beiden  genannten  Begriffe  zwei  wesentliche  Teile  des  Seins 
bildeten,  die  ihm  notwendig  anhaften,  indem  das  Sein  nicht  ohne 
dieselbe  existieren  kann,  so  gehörten  sie  beide  zu  den  Arten 
und  Teilen  des  Seins.  Nun  aber  ist  das  Seiende  bekannter  als 
beide  und  häufig  stellen  wir  uns  das  Sein  vor,  indem  wir  den 
Begriff  dieser  beiden  Dinge  zu  gleicher  Zeit  übersehen.  —  9adr. 

49,3  ErL:  Auf  den  Beweis  für  die  Existenz  (der  demon- 
stratio „quod  exsistit"),  „folgt"  im  Erkennen  ein  anderer  Inhalt, 
als  auf  den  Beweis  des  quid  est  Wesenheit  und  Dasein  sind 
also  verschieden. 

52,3  von  unten:  Der  Begriff  wird  in  der  Seele  dadurch 
wirklich,  daß  der  Verstand  ihn  in  besonderer  Weise  erfaßt. 

56,3:  In  eigentlicher  Definition  d.  h.  durch  die  Unter- 
suchung über  eine  Einzelwissenschaft  oder  Begriffsbestimmung. 

59, 15:  Das  Nichtseiende  wird  in  gewisser  Weise  durch  das 
Seiende  erkannt.  Es  wird  nämlich  erkannt,  indem  das  Seiende 
in  gewisser  Weise  von  ihm  ausgesagt  und  indem  es  auf  das 
Seiende  bezogen  wird. 

59,17:  Das  Nichtseiende  wird  wiederum  zur  Existenz  ge- 
bracht: wäre  es  möglich,  daß  das  Nichtseiende  wiederum  zur 
Existenz  gelangte,  trotzdem  der  Ersatz  des  Nichtseienden  in 
sich  möglich  ist.     Dann  ist  der  Unterschied  zwischen  ihm  und 

listisches  Prinzip  leiten :  nur  Inhalte,  die  greifbare  Dinge  bezeichnen,  seien  es 
Arten  oder  Individuen,  können  als  reale  Kategorien  gelten.  Alle  übrigen 
Begriffe  sind  demnach  nur  logische  Kategorien.  Reale  Begriffe,  die  zugleich 
universeller  sind,  als  die  Kategorien,  scheint  er  nicht  zuzulassen. 

Horten,  D«s  Baoh  der  Gencfung  der  Seele.  44 


Digitized  by 


Googl( 


690 

dem  ins  Dasein  Zurückkommenden  aufgehoben.  Denn  es  ist  un- 
möglich, daß  das  eine  von  beiden  determiniert  werde  durch  das 
„wieder  in  die  Erscheinung  Treten"  und  das  andere  durch  das 
„Anfangen  im  Sein".  (Durch  „Wiederkehr"  und  „erstes  Auf- 
treten" können  beide  nicht  genügend  unterschieden  werden. 
Sie  müssen  zur  Unterscheidung  substantielle  und  individua- 
lisierende Bestimmungen  erhalten). 

Zur  Metaphysik  gehört  die  Lehre,  daß  das  Nichtseiende 
nicht  wiederum  in  die  Erscheinung  treten  kann  und  zwar  des- 
halb, weil  es  (das  Wiederkehrende)  das  erste  Ding  ist,  das  als 
Seiendes  bezeichnet  wird.  Denn  wenn  man  sagt,  es  tritt  wiederum 
in  die  Erscheinung,  dann  sagt  man  von  ihm  etwas  Wirkliches 
aus.  Wenn  diese  Aussage  nicht  ein  Wirkliches  bezeichnet,  dann 
existierte  kein  Unterschied  zwischen  dem  Wiederkehrenden  und 
dem  zum  ersten  Male  Auftretenden;  denn  das  Wiederkehrende 
ist  dasjenige,  was  im  Zustande  des  Nichtseins  betrachtet  wird 
als  ein  Ding,  das  früher  existierte,  dann  in  das  Nichtsein  ver- 
sank. Es  wird  also  bezeichnet  als  ein  „Wiederkehrendes"  und 
muß  notwendigerweise  ein  Objekt  des  Hinweises  (d.  h.  ein  reales 
Individuum)  sein.  Das  zum  ersten  Male  Auftretende  bildet  das 
Gegenteil  davon.  Es  ist  ein  solches,  das  in  dem  Zustünde  des 
Nichtseins  nicht  mit  dieser  Eigenschaft  bezeichnet  werden  kann. 
Wie  du  einsiehst,  erfordern  alle  diese  Auseinandersetzungen  (als 
Voraussetzung),  daß  das  Nichtseiende  existierend  sei')  Behmenjär 
vergl.  Brockelmann  G.  d.  arab.  L.  L  456  Nr.  68. 

60,11 — 12:  Einige  Dinge  verhalten  sich  so,  daß  ihr  Dasein 
notwendig  ist.  Dieses  sind  die  ewigen  Dinge  (die  Sphären  und 
Geister).  Andere  verhalten  sich  so,  daß  ihr  Dasein  von  einem 
Notwendigen  stammt.  Dieses  ist  das  Entstehende  und  Ver- 
gehende. Beides  bedarf  (zu  seiner  Existenz)  eines  anderen  Dinges 
(als  Wirkursache),  und  dieses  ist  der  notwendig  Seiende. 

61,7:  Jeder  induktive  Beweis,  der  aufgestellt  wird  auf 
Grund  dessen,  daß  die  Wiederkehr  des  Vergangenen  (Nicht- 
seienden)  möglich  sei,  bedeutet  ein  Abweichen  von  dem  Wege 


^)  Die  hier  vorausgesetzte  Deduktion  lautet:  Nur  das  Seiende  kann 
mit  einer  Eigenschaft  bezeichnet  werden.  Im  vorliegenden  FaUe  wird  aber 
das  Vergangene  mit  einer  Eigenschaft  bezeichnet.  Also  ist  das  Vergangene 
(d.  h.  das  Nichtseiende)  ein  Seiendes.  Die  Lehre  von  der  Wiederkehr  aUes 
Vergangenen,  also  dem  Kreislauf  aUes  Werdens,  ist  ein  wesentlicher  TeU  der 
altorientalischen  Weltanschauung. 


Digitized  by 


Googk 


691 

der  rechten  Wissenschaft,  da  es  durchaus  evident  ist,  daß  das 
Nichtseiende  nicht  wiederum  in  das  Sein  zurückkehren  kann. 

61  Titel:  Das  notwendig  Seiende  steht  nicht  in  dem  Ver- 
hältnis der  Abhängigkeit  von  einem  anderen,  abgesehen  von  der 
Abhängigkeit  der  Wirkung  (Welt)  von  der  Ursache  (Gott). 

Avicenna  will  in  diesem  Kapitel  nicht  die  Existenz  des 
notwendig  Seienden  beweisen,  sondern  er  beabsichtigt  in  dem- 
selben nur  die  Eigenschaften  des  Notwendigen  und  des  Möglichen 
darzulegen. 

63,5:  Kein  Ding,  das  nicht  ohne  einen  anderen  existieren 
kann,  ist  in  seiner  Existenz  notwendig  seiend. 

63,23:  Dieser  Beweis  ist  ein  Teil  der  obigen  Bedingung: 
„Tritt  aber  der  zweite  Fall  ein"  u.  s.  w.  Die  Ordnung  des 
Beweises  lautet  also:  Ist  das  Ding  nicht  durch  einen  anderen 
notwendig,  dann  muß  dennoch  eine  Determination  (des  Mög- 
lichen zum  Dasein)  und  eine  Ursache  eintreten. 

63,30:  Mit  diesem  „Begriffe  (ratio),  der  sein  Wesen  aus- 
macht", will  der  Philosoph  dasjenige  bezeichnen,  was  inbezug 
auf  sein  Wesen  vollkommen  ist  in  seiner  Art,  innerhalb  deren 
keine  Verschiedenheit  zwischen  ihren  einzelnen  Individuen  exi- 
stiert, es  sei  denn  durch  Akzidenzien,  die  (dem  Wesen)  von 
außen  anhaften.  —  3adr. 

64,16:  „Wenn  die  Ursache  existiert":  Dieser  Ausspruch 
kann  möglicherweise  das  wesenhafte  Frühersein  leugnen.*)  Wenn 
man  aber  aufstellen  wollte,  daß  die  alten  Philosophen  nicht 
dazu  gekommen  sind,  zu  leugnen,  die  Ursache  sei  (nur)  dem 
Wesen  nach  früher,  als  die  Wirkung,  so  ist  diese  Behauptung 
nicht  zuzugeben. 

64,17:  Dieses  trifft  zu,  wenn  die  Wirkung  zurückbleibt 
hinter  der  Ursache  (sodaß  also  zwischen  beiden  keine  Überein- 
stimmung im  Wesen  besteht).  2) 

67, 12:  Die  Bedeutung  dieser  Ausführungen  ist,  wie  es  die 
Darlegung  deutlich  zeigt,  die,  daß  das  Verhältnis  der  Korrelation 
zweier  Dinge,  wenn  es  in  der  realen  Wirklichkeit  existieren 

*)  Die  Ursache  kann  existieren,  ohne  dafi  die  Wirkung  eintritt.  Dann 
ist  sie  also  nicht  notwendigerweise  nnr  dem  Wesen,  sondern  möglicherweise 
anch  der  Zeit  nach  früher,  als  die  Wirkung.  Dann  ist  eine  zeitlich  entstehende 
Welt  möglich. 

*)  Das  koranische  Dogma  von  der  zeitlich  entstehenden  Welt  soll  dadurch 
salviert  werden. 


Digitized  by 


Googk 


69ä 

soll,  notwendig  eine  Ursache  voraussetzt,  die  es  hervorbringt 
Diese  Ursache  bildet  die  Vermittlung  entweder  zwischen  der 
Ursache  und  ihrer  Wirkung  oder  zwischen  zwei  Wirkungen 
und  zwar  nicht  so,  wie  es  der  Zufall  will,  sondern  in  der  Art 
und  Weise,  daß  die  notwendig  wirkende  Ursache  eine  Verbindung 
und  eine  Hinordnung  hervorbringt  in  jedem  einzelnen  von 
beiden  in  Beziehung  zum  anderen;  denn  verhalten  zwei  Dinge 
sich  so,  daß  das  eine  nicht  das  andere  hervorbringt,  noch  auch 
von  ihm  hervorgebracht  wird,  noch  auch  so,  daß  beide  in  gleicher 
Weise  sich  auf  ein  drittes  beziehen  und  dadurch  unter  sich  ver- 
bunden sind,  so  steht  das  eine  nicht  in  notwendiger  Verbindung 
mit  dem  anderen,  noch  hat  es  den  Charakter  der  Notwendigkeit 
im  Vergleich  mit  ihm.  Der  Verstand  kann  also  das  eine  an- 
nehmen, ohne  zu  gleicher  Zeit  genötigt  zu  sein,  auch  das  andere 
vorauszusetzen.  —  Sadr. 

67,18:  Die  bestimmte,  notwendig  wirkende  Ursache,  die 
zwischen  zwei  in  Relation  stehenden  Dingen  wirkt,  ist  diejenige 
Ursache,  die  beide  miteinander  vereinigt  und  ebenso  jedes  einzelne 
der  zwei  Subjekte,  von  denen  die  korrelativen  Bestimmungen 
prädiziert  werden  (mit  dem  anderen  verknüpft).  Der  Philosoph 
spricht  hier,  indem  er  die  zwei  Materien  oder  zwei  Substrate 
(fundamenta  relationis)  bezeichnet;  denn  unter  „Terminus 
der  Relation"  versteht  man  manchmal  den  wahrhaften  und 
einfachen  Terminus,  (die  formelle  „ratio"  der  Relation  z.  B. 
die  Vaterschaft),  manchmal  auch  die  zusammengesetzte,  die 
Gegenstand  der  Wahrnehmung  ist  (wörtlich:  die  „allbekannte" 
z.  B.  den  Vater,  der  Substrat  der  ratio  formalis  relationis  ist). 
Jedes  einzelne  der  beiden  Subjekte  der  Relation  ist  Substrat  im 
Verhältnis  und  in  Beziehung  zum  ersten  Begriffe  (dem  Inhalte 
der  Relation)  und  zugleich  Materie  im  Verhältnis  zum  Zu- 
sammengesetzten, (d.  h.  dem  Subjekte  der  Relation,  in  dem 
die  ratio  formalis  vorhanden  ist);  denn  es  ist  Teil  dieses 
letzteren,  und  zwar  materieller  Teil.  Ebenso  verhält  es  sich 
in  Beziehung  auf  den  abgeleiteten  Begriff  (z.  B.  die  von  einem 
Substantiv  abgeleitete  Eigenschaft)  als  solchen;  denn  das 
Substrat,  dem  man  Eigenschaften  beilegt,  ist  etwas  Unbe- 
stimmtes und  Potenzielles  (und  verhält  sich  daher  wie  eine 
Materie)  —  9adr. 

67,22:  „Existenz  eines  Dritten"  ist  ein  Hinweis  auf  das, 
was  vorausging:   „Daher  können  beide  in  der  Existenz  nicht 


Digitized  by 


Googk 


693 

gleichgeordnet  sein"  (S.  67,  6) ;  d.  h.  wenn  keines  der  beiden 
relativen  Dinge  Ursache  ist  für  das  andere,  ohne  daß  beide 
zugleich  eine  äußere  Ursache  besitzen,  „dann  können  zwei  Fälle 
eintreten"  (67,23  und  68,3). 

67,26:  „Die  Existenz  ist  nicht  notwendig";  vielmehr  ist 
seine  Existenz  eine  nur  mögliche,  die  in  notwendiger  Abhängig- 
keit steht  von  einem  anderen  Dinge  (der  Ursache).  So  verhält 
sich  die  Existenz  der  Relationen,  der  Akzidenzien  und  der 
Wesensformen,  die  in  ein  aufnehmendes  Substrat  eingeprägt 
(und  deshalb  materieller  Natur)  sind.  Wie  kann  dieses  Ding 
daher  ein  notwendig  Seiendes  sein?  Es  sind  vielmehr  die  mög- 
lichen Dinge,  die  in  ihrer  Existenz  unvollkommen  sind,  nicht 
die  Dinge,  die  in  ihrem  Dasein  selbständig  sind  wie  die  un- 
körperlichen Substanzen.  Wie  kann  da  also  „Ursache"  dieses 
Dinges  dasjenige  sein,  das  ihm  in  der  Existenz  korrelativ 
gegenüber  steht? 

68, 23:  „So  verhält  sich  der  Vater  zum  Sohne"  d.  h.  beide 
Dinge  sind  dann  Termini  der  Relation  und  bekannt.  Sie  ver- 
halten sich  wie  Vater  und  Sohn;  denn  der  Umstand,  daß  zwei 
Dinge  von  einer  und  derselben  Ursache  hervorgebracht  werden, 
in  Verbindung  mit  dem  anderen  Umstände,  daß  jedes  einzelne 
von  ihnen  verursachend  wirkt  in  Vereinigung  mit  jener  äußeren 
Ursache,  ist  selbst  Ursache»)  für  die  begrifflich  erkennbare 
Verbindung,  die  zwischen  beiden  Termini  der  Relation  besteht. 
Dieses  ist  das  Verhältnis,  in  dem  die  bekannten  Relationen 
existieren. 

69,  Kapitel  7:  Der  Zweck  Avicennas  in  diesem  Kapitel  ist, 
nachzuweisen,  daß  die  Existenzweise  des  notwendig  Seienden 
nicht  eine  solche  ist,  die  sich  verhält  wie  ein  Genus,  unter  dem 
verschiedene  Arten  sich  zusammenfinden,  noch  wie  die  Natur 
der  Art,  unter  der  verschiedene  Individuen  enthalten  sind.  Was 
aber  die  andere  Thesis  angeht,  daß  die  Seinsweise  des  notwendig 
Seienden  nicht  in  eine  numerische  Vielheit  zerfallen  kann, 
in  der  jede  Einheit  sich  von  der  anderen  dem  Wesen  nach 
unterscheidet,  zugleich  aber  mit  ihr  in  einem  zufälligen  Dinge 
abereinstimmt,  so  befaßt  sich  mit  dieser  die  vorliegende  Be- 
trachtung nicht. 

*)  Damit  Ut  das  fnndamentom  formale  relationis  bezeichnet.  Für  die 
Belation  zwischen  Vater  und  Sohn  ist  dies  die  generatio. 


Digitized  by 


Google 


694 

Er  ist  Einer,  d.  1l  es  entsteht  keine  Vielheit  durch  das 
Substrat  und  für  das  Substrat  in  der  Einheit 

71,18:  „Sie  bildeten  eine  Einheit",  d.  h.  die  Wesenheiten 
existierten  nicht,  weil  keine  äußeren  Ursachen  bestanden,  die 
die  adaequate  Ursache  für  das  Ding  darstellen  würden.  Diese 
Einheit  könnte  nur  dann  eintreten,  wenn  die  Akzidenzien  sich 
in  nur  einem  einzigen  Individuum  befänden  (mit  Ausschluß 
jedes  anderen),  oder  wenn  sie  sich  in  nur  einem  von  den  zwei 
notwendig  Seienden  per  se»)  vorfänden. 

72, 15:  Dies  ergibt  sich  aus  der  Notwendigkeit,  daß  die 
dem  Wesen  nach  notwendigen  Substanzen  universeller  Natur 
sein  müssen ;  denn  das  esse  aliud  -)  hat  diese  individuellen  Wesen- 
heiten der  irdischen  Welt  zur  Folge. 

72, 23:  Avicenna  sagt  „was  die  Stelle  des  Genus  vertritt",  weil 
das  Notwendige  sich  betreffs  alles  dessen,  was  von  ihm  ausgesagt 
wird,  nicht  verhält  wie  ein  eigentliches  Genus.  Femer')  existiert 
im  eigentlichen  Sinne  kein  Genus  für  das  notwendig  Seiende. 
Femer:  da  das  Objekt  des  Erkennens,  von  dem  der  Begriff  des 
Genus  ausgesagt  wird,  wie  z.  B.  der  Körper,  herstammt  von 
einem  Prinzipe,  das  sich  durch  freien  Willen*)  bewegt,  so  ist 
dieses  Objekt  nicht  im  eigentlichen  Sinne  ein  „Genus".  Genus 
ist  vielmehr  im  eigentlichen  Sinne  nur  dasjenige,  was  den  Inhalt 
dieses  Objektes  der  Außenwelt  begrifflich  wiedergibt  Dieses 
kann  an  Stelle  des  Genus  treten.  Wenn  man  aber  sagt:  das- 
jenige, was  an  Stelle  des  Genus  tritt,  kommt  jenem  Gegen- 
stande dem  Wesen  nach  oder  in  akzidenteller  Weise  zu,  so  gilt 
dies  nur  mit  Rücksicht  auf  den  begrifflichen  Inhalt,  der  das 
Ding  erklärt  Dasjenige  aber,  womit  man  den  Gegenstand 
begrifflich  erfaßt  (die  Abstraktionen)  verhält  sich  naturgemäß 
wie  ein  Akzidens  (zu  dem  Gegenstande).  Dasselbe  gilt  von  den 
spezifischen  Differenzen. 


*)  Dann  könnten  sie  dem  anderen  nicht  zukommen. 

')  Tritt  innerhalb  der  letzten  Art  ein  Prinzip  auf,  das  eine  Ver- 
schiedenheit begründet,  so  bewirkt  dieses  nicht  etwa  eine  neue  Unterart, 
sondern  die  numerisch  verschiedenen  IndiTiduen. 

*)  Wörtlich:  ,.Denn";  jedoch  folget  dieser  zweite  Satz  nicht  aus  dem 
ersten. 

*)  Die  Körper  der  sublunarischen  Welt  entstehen  aus  der  Einwirkung 
der  Substanzen  der  himmlischen  Welt.  £in  Yoluntaristisches  Prinzip  erstreckt 
sich  auf  Individuen,  kann  also  kein  universale,  kein  Genus  hervorbringen. 
Nur  ein  intellektualistisches  Prinzip  erstreckt  sich  auf  Universalia. 


Digitized  by 


Googk 


695 

74,6:  Es  ist  klar,  daß  Avicenna  diese  Lehre  widerlegt 
und  auch  die  Auffassungsweisen  (d.  h.  Schwierigkeiten),  die 
früher  aufgestellt  wurden.  Sie  besagen:  weshalb  könnte  das 
esse  necessarium  nicht  ein  logisches  Ding  sein?  Jedes  einzelne 
der  notwendigen  Dinge  würde  dann  mit  diesen  Begriffen 
auf  Grund  seines  Wesens  ausgestattet  sein,  ohne  daß  man  für 
dieses  Verhältnis  eine  andere  Ursache  irgendwie  postulieren 
müßte.  0 

Diese  Darlegung  erstreckt  sich  auf  die  Natur  des  not- 
wendigen Seins  und  auf  das,  was  sich  aus  ihm  ergibt  mit 
Kücksicht  auf  diesQs  selbst,  nicht  mit  Rücksicht  auf  irgend 
ein  anderes  Ding.  Die  Darlegungen,  die  darauf  folgen  und  von 
einem  anderen  Gesichtspunkte  ausgehen,  bewegen  sich  in  den 
Betrachtungen  über  jedes  einzelne  der  beiden  Individuen.  So 
z.  B.  ist  dieses  einzelne  nicht  notwendig  auf  Grund  der  allgemeinen 
Natur  und  auf  Grund  der  notwendigen  Konsequenzen  seines 
Wesens. 

74,5:  „Wenn  es  Eigenschaft  , dieses^  Subjektes  ist",  sonst 
bedürfte  dieses  Wesen,  damit  es  sich  als  Individuum  und  als 
Einzelding  darstellte,  eines  anderen.  Dann  aber  könnte  es  nicht 
notwendig  sein. 

74, 23:  Der  Gedankengang  dieser  Schwierigkeit  ist  folgender: 
Ihr  behauptet:  wenn  die  Eigenschaft  des  esse  necessarium  es 
erforderte,  nur  von  diesem  individuellen  Subjekte  zu  gelten, 
dann  wird  nur  diese  eine  Substanz  mit  der  Eigenschaft  des 
notwendigen  Seins  bezeichnet.  Diese  Behauptung  ist  jedoch  zu 
verneinen;  denn  die  genannte  Eigenschaft  kann  diesem  einen 
und  zugleich  auch  einem  anderen  zukommen.  Der  Umstand, 
daß  die  Eigenschaft  diesem  einen  zukommt,  hindert  nicht,  daß 
sie  auch  zugleich  jenen  anderen  zukomme.  —  §adr. 

Die  Konsequenz  der  dargelegten  Lehre  ist  die,  daß  das 
notwendige  Sein  auf  Grund  seines  Wesens,  wenn  es  in  einem 
Individuum  notwendig  2)  ist,  sich  so  verhält,  daß  es  in  diesem 
Individuum  alles  dasjenige  darstellt,  was  in  dem  notwendig 
Seienden  ist,  d.  h.  das  Individuum  wird  ihm  inhaltlich  vollständig 
gleich;  keines  von  beiden  enthält  mehr  oder  weniger,  als  das 


*)  Es  ergibt  sich   keine   reale  Vielheit  des  Notwendigen,   wenn  man 
letzteres  rein  logisch  auffaßt. 

•)  d.  h.  wenn  es  sich  in  einem  Individuum  darstellt. 


Digitized  by 


Google 


696 

andere.  Daher  ist  es  unmöglich,  daß  dasselbe  in  einer  anderen 
Materie  existiere.  Denn  wenn  die  Individualität  zusammenfällt 
mit  der  Natur  des  Dinges,  dann  kann  die  eine  nicht  ohne  die 
andere  existieren. 

75,9:  „etwas  ähnliches  wie  diese":  es  ist  also  eine  andere 
Natur  (Wesenheit),  die  dieser  ähnlich  sieht  in  ihrer  Verbindung 
(mit  dem  anderen  Subjekte)  infolge  einer  anderen  Eigentümlich- 
keit.   Dies  jedoch  wurde  als  unrichtig  nachgewiesen. 

76,24:  Diese  Bestimmungen  kommen  dem  notwendig  Seienden 
besonders  zu,  d.  h.  sie  bilden  seine  Bestimmungen  in  Rücksicht 
auf  die  Natur  des  notwendigen  Seins,  nicht  in  Rücksicht  auf 
das  Ding ')  selbst,  das  notwendig  seiend  ist  (das  also  die  Eigen- 
schaft des  notwendigen  Seins  in  seine  Substanz  aufnimmt)  und 
das  individualisiert  und  determiniert  ist  durch  sich  selbst  Das 
Ende  der  Darlegungen  findet  sich  in  der  achten  Abhandlung 
(Kap.  4—7). 

77,13;  58,9:  Die  Individualität,  d.  h.  das  Singulare,  das 
wahrhaft  Existierende  5)  entsteht  aus  den  Teilen,  und  der  in- 
dividuellen Existenz,  die  mit  ihnen  verbunden  wird.^)  Oder  es 
entsteht  dadurch,  daß  sein  Wesen  hervorgeht  aus  der  adaequaten 
Ursache.  Die  Existenz  und  die  eigentümliche  Natur  werden 
dann  von  dieser  oder  auch  von  einem  anderen  Prinzipe  (als  der 
Ursache)*)  abgeleitet.  Zwischen  beiden  (dem  Dasein  und  der 
Wesenheit)  ist  aber  ein  Unterschied. 

78,  Titel:  „Das  erste  der  ersten  Prinzipien",  d.  h.  der  Satz, 
die  kontradiktorischen  Gegensätze  können  nicht  zu  gleicher  Zeit 
affirmiert,  noch  auch  zu  gleicher  Zeit  verneint  werden. 

78, 4:  „in  den  Individuen",  d.  h.  in  dem  Ding  selbst 

78,15:  (Alles  Außergöttliche  ist  nichtig);  denn  das  Ding, 
dem  im  höchsten  Sinne  das  Prädikat  des  Wahren  zukommt*,  ist 
dasjenige,  dessen  Existenz  ewig  dauert.  Die  Substanz  aber, 
der  unter  den  ewigen  Substanzen  im  höchsten  Sinne  die  Wahr- 
heit zukommt,  ist  diejenige,  deren  ewiges  Bestehen  notwendig 

^)  Die  Bestimmungen  haften  dem  Notwendigen  an  „formaliter^,  auf 
Gmnd  seines  Wesens,  nicht  auf  Grund  seiner  Individualität,  wenn  diese  auch 
mit  dem  Wesen  identisch  ist. 

«)  Übersetzung  von  ro  a^.iy^cD^  ov, 

^)  Das  Ding  besteht  also  aus  essentia  und  exsistentia. 

*)  Neben  der  Ursache  ist  auch  das  aufnehmende  Prinzip,  die  Materi^T 
zu  berücksichtigen. 


Digitized  by 


Googl( 


697 

ist.  Diese  ist  der  notwendig  aus  seinem  Wesen  heraus  Seiende. 
Das  Kontingente,^  sei  es,  daß  es  ein  ewiges  oder  ein  nicht 
ewiges  ist,  ist  nur  wahr  auf  Grund  eines  anderen  und  weil  es 
existiert  durch  einen  anderen.  Daher  sind  alle  Dinge  außerhalb 
des  in  sich  notwendig  Seienden  in  sich  selbst  vergänglich,  jedoch 
wahr  durch  den  notwendig  Seienden.  —  §adr. 

79, 5:  „im  allgemeinen",  d.  h.  man  versteht  unter  dem  Be- 
griffe des  Wahren  etwas  universelleres,  als  das  reale  Sein  im 
absoluten  Sinne,  d.  h.  das  Sein  des  realen  Dinges  der  Außenwelt 
und  das  andere,  das  psychische  Ding*)  (das  ens  logicum), 

79,5 — 6:  „Das  gesprochene  Wort",  d.  h.  das  Urteil,^)  das 
ausgesprochen  wird,  „Der  Gedanke",  d.  h.  das  Urteil,  das  be- 
grifflich gefaßt  ist. 

79, 7,  60, 2:  Das  Prinzip  des  Widerspruches  besagt:  es  gibt 
kein  Mittelding  zwischen  der  Aussage  eines  Prädikates  und  der 
Negation  desselben  von  irgend  einem  realen  Gegenstände. 

79,12:  „Sophist"  ist  ein  solcher,  dessen  philosophische 
Richtung  darin  besteht,  andere  in  Irrtum  zu  führen. 

80,21:  Ein  Syllogismus,  der  sich  ebenso  verhält,  d.  h.  der 
seine  Konklusion  notwendig  zur  Folge  hat. 

80,24:  Die  Prämissen  verhalten  sich  ebenso,  d.  h.  sie  sind 
in  sich  selbst  wahr  und  bekannter  (als  die  Konklusionen). 

82, 15 — 16:  Zum  Ausspruche  des  Kratylos  bemerkt  c:  das 
Bestehen  der  Substanzen  wird  vernichtet  wie  das  der  Akzidenzien 
in  und  durch  die  Zeitdauer,  in  der  der  Mensch  den  Gegenstand 
erkennt 

82,17:  Das  Ding  besteht  nur  durch  eine  Eelation  d.  h. 
nicht  in  der  definitio  (Umgrenzung)  seiner  selbst,  sondern  nur 
inbezug  auf  die  Vorstellungen  der  Phantasie. 

83, 19:  Die  Darlegung  (betreffs  der  Unfehlbarkeit  der  Pro- 
pheten) entspricht  der  Tatsache,  daß  Avicenna  in  diesem  Punkte 
der  Lehre  der  Schiiten  folgt,  die  die  Lehre  von  den  (12)  Imamen 
aufstellen.  Denn  diese  besagt,  daß  Vergeßlichkeit  und  Fehler 
dem  Propheten  nicht  zustoßen  können. 

>)  Wörtlich:  „das  im  Sein  Mögliche". 

*)  Wörtlich :  „und  die  andere  Seele"  d.  h.  das  Psychische  im  Gegensatz 
zur  Außenwelt. 

*)  Erst  in  dem  Urteile,  nicht  in  dem  einzelnen  Worte  oder  Begriffe, 
ist  das  Wahre  oder  Falsche  enthalten.    Vgl.  Arist.  de  Interpret.  17  a  2. 


Digitized  by 


Google 


698 

84,25:  Jeder  Begriff  bedeutete  in  diesem  Falle  alle  die- 
jenigen Gegenstände,  die  außerhalb  seines  Umfanges  liegen. 

85,26:  Mit  diesen  beiden  Darlegungen,  nämlich  dem  Hin- 
weis auf  die  erwähnte  Demonstration  und  ähnliche,  löst  er  die 
Schwierigkeit,  die  hergenommen  wurde  aus  den  Syllogismen,  die 
widersprechende  Konklusionen  ergeben.  Der  Philosoph  löste  sie 
für  die  Perplexen  und  gibt  in  diesen  Schwierigkeiten  die  richtige 
Leitung  und  Lösung.  Der  böswillige  Sophist  aber  will  nur  die 
Diskussion  erregen.  Gegen  ihn  kann  man  also  keine  Sanftmut 
und  Nachsicht  anwenden  (wenn  er  den  Satz  des  Widerspruches 
leugnet).  Man  darf  nur  in  der  Weise  gegen  ihn  vorgehen,  wie 
es  der  Meister  selbst  angab,  d.  h.  gegen  ihn  das  Feuer  in  An- 
wendung bringen,  ihn  durchprügeln  und  peinigen;  denn  diese 
Dinge  und  ihre  Nichtexistenz  hielt  er  für  ein  und  dasselbe. 
Widerstrebt  er  daher  einem  dieser  Dinge,  so  gesteht  er  dessen 
Existenz  zu  und  sagt  damit  zugleich,  daß  seine  Existenz  sich 
nicht  verhält  wie  seine  Nichtexistenz,  noch  seine  Behauptung 
wie  seine  Verneinung. 

Gorgäni  (S.  124)  definiert:  „das  Sophisma  ist  ein  Syllogis- 
mus, der  aus  rein  vermuteten  Prämissen  zusanmiengesetzt  ist 
Er  verfolgt  den  Zweck,  den  Gegner  in  Irrtum  zu  führen  und  ihn 
zum  Schweigen  zu  bringen.  So  behaupten  wir  z.  B.:  die  Sub- 
stanz existiert  real  im  Geiste.  Alles  aber,  das  im  Greiste  exi- 
stiert und  durch  den  Geist  wie  durch  ein  Substrat  seinen 
Bestand  hat,  ist  ein  Akzidens  (vgl.  Arist.  Kategor.  1.  a  24);  daraus 
deduziert  man  sodann:  folglich  ist  die  Substanz  ein  Akzidens.'' 
Ferner  S.  238:  „die  sophistische  Deduktion  ist  ein  Syllogismus, 
der  entweder  auf  Grund  seiner  Form  oder  auf  Grund  seiner 
Materie  falsch  ist.  Die  Falschheit  auf  Grund  der  Form  besteht 
darin,  daß  der  Syllogismus  keine  solche  Figur  besitzt,  die  die 
Konklusion  zur  Folge  hat.  Dies  tritt  ein,  weil  eine  Bedingung 
nicht  erfüllt  (wörtlich:  in  Unordnung  geraten)  ist,  sei  es  in  der 
Qualität,  Quantität  (Umfang)  oder  Hinsicht  (in  der  ein  Terminus 
formell  prädiziert  wird).  Dies  tritt  ein,  wenn  z.  B.  die  propositio 
maior  der  ersten  Figur  partikulär  oder  ihre  propositio  minor 
negativ  oder  (dem  Modus  nach)  de  materia  contingenti  ist  Die 
Falschheit  auf  Grund  der  Materie  (d.  h.  der  propositiones)  besteht 
darin,  daß  eine  der  Prämissen  des  Syllogismus  identisch  ist  mit 
dem,  was  bewiesen  werden  soll.  Dies  ist  die  petitio  principü 
So  argumentieren  wir:  jeder  Mensch  ist  ein  animal  rationale. 


Digitized  by 


Googk 


699 

Atqui  omne  animal  rationale  est  risibile.  Ergo  omnis  homo  est 
risibilis.  Oder  eine  der  Prämissen  ist  falsch,  jedoch  scheinbar 
richtig.  Dies  trifft  zu  entweder  von  selten  der  Form,  oder  von 
selten  des  Inhaltes  —  von  selten  der  Form,  wenn  wir  z.  B.  von 
dem  Bilde  des  Pferdes,  das  auf  die  Mauer  gezeichnet  wurde, 
sagen:  dies  ist  ein  Pferd.  Jedes  Pferd  besitzt  nun  aber  die 
Fähigkeit  zu  wiehern.  Folglich  habe  dieses  Bild  die  Fähigkeit, 
zu  wiehern.  Ein  Irrtum  von  selten  des  Inhaltes  tritt  ein,  weil 
man  (z.  B.)  nicht  achtet  auf  die  reale  Existenz  des  Subjektes  in 
der  affirmativen  Aussage.  So  sagen  wir:  jeder  Gegenstand,  der 
Mensch  und  Pferd  ist  (Kentaur),  ist  ein  Mensch.  Nun  aber  ist 
jeder  Gegenstand,  der  Mensch  und  Pferd  ist,  auch  ein  Pferd. 
Folglich  sind  einige  Menschen  Pferde.  Der  Inlum  dieses  Syllo- 
gismus besteht  darin,  daß  das  Subjekt  der  beiden  Prämissen 
nicht  real  existiert.  Denn  von  keinem  realen  Gegenstande  ist 
es  richtig,  zu  behaupten,  er  sei  Mensch  und  Pferd.  Derselbe 
Irrtum  kann  femer  eintreten,  wenn  wir  z.  B.  eine  Aussage  aus 
der  ontologischen  Ordnung  (wörtlich:  eine  natürliche)  an  Stelle 
der  logisch  allgemeinen  (d,  h.  einer  Prämisse  mit  rein  logischem 
Inhalte)  setzen.  So  sagen  wir:  der  Mensch  ist  ein  Tier.  Nun 
aber  ist  „Tier"  Genus.  Folglich  ist  der  Mensch  Genus.  Man 
hat  die  Behauptung  aufgestellt,  die  sophistische  Deduktion  ist 
entweder  zusammengesetzt  aus  Prämissen,  die  der  Wahrheit 
ähnlich  sähen,  ohne  wahr  zu  sein.  Diese  Deduktion  wird 
Sophisma  genannt;  oder  sie  ist  zusammengesetzt  aus  solchen, 
die  allgemein  angenommenen  Grundsätzen  gleichen.  Diese  wird 
„zänkische  Spielerei  genannt".  „Der  Trugschluß  ist  eine  Rede, 
die  aus  Aussagen  zusanmiengesetzt  ist,  welch  letztere  entweder 
kategorischen  oder  dubitativen  oder  allgemein  angenommenen 
Urteilen  gleichen".  Vgl.  ib.  S.  231:  „die  petitio  principii  ist  eine 
Deduktion,  die  die  conclusio  zum  Bestandteile  des  Syllogismus 
macht  oder  die  die  conclusio  deduziert  aus  (nur)  einem  Teile 
des  Syllogismus.  So  sagen  wir  z.  B.,  der  Mensch  ist  ein  animal 
rationale  (wörtlich:  ist  „Fleisch"  in  dem  biblischen  Sinne  „alles 
Fleisch"  =  alle  Menschen;  propositio  minor).  Alle  animalia 
rationalia  besitzen  aber  die  Fähigkeit  zu  lachen  (propositio  maior). 
Daraus  ergibt  sich,  daß  der  Mensch  die  Fähigkeit  besitzt  zu 
lachen.  Die  propositio  maior  und  die  conclusio  sind  daher  in 
diesem  Syllogismus  ein  und  dasselbe,  da  animal  rationale  (wört- 
lich: Fleisch)  und  Mensch  konvertibel  sind  (wörtlich:  „beständig 


Digitized  by 


Googk 


700 

miteinander  verbunden  sind"  wie  der  Begriff  des  Einen  und  des 
Seienden)  d,  h.  sie  haben  denselben  Inhalt  Daher  ist  auch  die 
propositio  maior  und  die  conclusio  ein  und  dasselbe". 

86,1:  Die  erste  „Prämisse"  (zwischen  Affirmation  und 
Negation  gibt  es  kein  Mittelding),  die  wir  verteidigt  haben, 
gegen  die  Behauptung  dessen,  der  dieselbe  leugnete  und  sie  für 
unrichtig  erklärte,  ist  das  erste  Prinzip  des  urteilenden  (nicht 
des  rein  begrifflich  auffassenden)  Denkens  und  das  erste  Prinzip 
der  Wissenschaften,  sodaß  also  die  Beziehung  dieses  Prinzipes 
zu  den  ersten  und  zweiten  (logischen)  Prinzipien  sich  ebenso 
verhält,  wie  das  erste  (ontologische)  Prinzip  der  existierenden 
Dinge  (Grott)  und  die  erste  Ursache  der  übrigen  Ursachen  und 
der  Wirkungen  zu  diesen.  Die  Art  und  Weise,  wie  dieses  (das 
Gesetz  des  Widerspruches)  das  erste  Prinzip  ist,  hast  du  bereits 
kennen  gelernt  und  du  hast  eingesehen,  daß  es  dem  Metaphysiker 
(wörtlich:  philosopho  primo)  d.  h.  demjenigen,  der  die  erste 
Philosophie  kennen  gelernt  hat,  obliegt,  diese  Denkprinzipien 
zu  verteidigen.  Daher  sagt  Avicenna  (S.  86,2 — 3):  „die  ersten 
Prinzipien  der  Beweise  führen  hin  zur  Kenntnis  der  Demon- 
strationen", so  daß  sie  sogar  Bestandteile  derselben  sind.  Die 
Demonstrationen  setzen  die  genannten  Prinzipien  notwendig 
voraus,  wenn  man  die  Erkenntnis  selbst  betrachtet,  die  sie  ver- 
mitteln, vor  dem  sie  den  Beweis  (Syllogismus)  zusammensetzen. 
So  verhalten  sich  viele  Beweise,  die  zur  Kenntnis  der  Akziden- 
zien führen,  die  den  Substraten  jener  Akzidenzien  wesentlich 
(als  propria)  zukonmien.  Soweit  die  Glosse  Sadrs.  Das  Prinzip, 
das  bevsagt,  die  wahren  und  falschen  Aussagen  können  nicht 
zusammentreffen  (d.  h.  zugleich  bestehen  in  demselben  Subjekte 
und  secundum  idem),  das  das  erste  der  Denkprinzipien  ist,  führt 
also  hin  zu  der  Erkenntnis  der  Akzidenzien,  die  ihren  Substraten 
per  se  zukommen".  Die  Glosse  betont  die  Notwendigkeit  des 
Inhärenz Verhältnisses,  weil  akzidentelle,  d.  h.  zufällige  Bestim- 
mungen, keine  Objekte  von  Demonstrationen  sein  können. 

87,9:  Avicenna  will  zeigen,  daß  diese  Wissenschaft  (die 
Metaphysik)  die  ersten  Prinzipien  des  begrifflichen  Denkens  und 
der  Definition  der  Objekte  der  übrigen  Wissenschaften  erforscht^ 
indem  sie  dieselben  definiert.  Aus  dieser  Eigentümlichkeit  der 
Metaphysik  ergibt  sich  noch  nicht,  daß  sie  die  Definitionen  jener 
Objekte  und  ihre  Begriffe  (in  einzelnen,  in  partikulär  —  wissen- 
schaftlichen Problemen)   erforscht.    In  diesem  Sinne  erforscht 


Digitized  by 


Googl( 


701 

sie  die  ersten  Prinzipien  des  ^urteilenden"  Denkens  (d.  h.  der  das 
Walire  aussagenden  Erkenntnis)  über  die  Probleme  der  übrigen 
Wissenschaften,  indem  sie  demonstrative  Beweise  aufstellt. 
Daraus  ergibt  sich  noch  nicht,  daß  diese  Untersuchung  ein 
demonstrativer  Beweis  sei,  der  sich  auf  diese  Probleme  der 
einzelnen  Wissenschaften  selbst  erstrecke.  Daraus  wurde  folgen, 
daß  die  beiden  (wesentlich)  verschiedenen  Untersuchungen  (die 
der  Metaphysik  und  die  der  Einzelwissenschaft)  nur  eine  einzige 
seien,  und  daß  die  beiden  verschiedenen  Wissenschaftsgebiete,  von 
denen  das  eine  übergeordnet,  das  andere  untergeordnet  ist,  nur 
eine  Wissenschaft  ausmachten.  Diese  Auseinandersetzung  kann 
eine  Andeutung  sein  für  eine  andere  Antwort  auf  die  erwähnte 
Schwierigkeit  und  die  Widerlegung  einer  anderen  Schwierigkeit 
enthalten,  die  aus  dem  Wesen  der  Untersuchung  betreffs  der 
Prinzipien  der  Definitionen  und  Demonstrationen  sich  ergibt. 
Diese  Schwierigkeit  besagt,  daß  die  beiden  Wissenschaften 
zusammenfallen  und  die  beiden  Arten  der  Untersuchungen  zu 
einer  Untersuchung  werden  müßten. 

95.  Gorgäni  f  1413  (S.  83):  die  Substanz  ist  eine  gewisse 
Wesenheit.  Findet  sie  sich  in  den  Individuen  (der  Außenwelt) 
vor,  dann  existiert  sie  nicht  in  einem  Substrate.  In  fünf  Arten 
ist  sie  restlos  enthalten:  in  der  ersten  Materie,  der  Wesensforra, 
dem  Körper,  der  Seele  und  dem  Geiste;  denn  sie  ist  entweder 
unkörperlich  oder  nicht.  Im  ersten  Falle  befindet  sie  sich 
entweder  nicht  in  Abhängigkeit  von  dem  Körper,  so  daß  sie  ihn 
leitete  und  sich  in  ihm  betätigte,  oder  doch.  Die  erste  ist  der 
Geist,  die  zweite  die  Seele.  Der  zweite  Fall  obiger  Einteilung 
besagte,  daß  die  Substanz  körperlich  sei.  Sie  kann  dann  ent- 
weder zusammengesetzt  sein  oder  nicht.  Im  ersten  Falle  ist  sie 
der  Körper,  im  zweiten  das  aufgenommene  Prinzip  (wörtlich: 
„sich  niederlassend")  oder  das  aufnehmende  (das  Substrat).  Das 
erste  ist  die  Wesensform,  das  zweite  die  erste  Materie.  Diese 
reale  und  substanzielle  Wesenheit  wird  in  der  Ausdrucksweise 
des  Volkes  Gottes  (der  Mystiker)  „geistige  Seele  (Wesen,  das  die 
Natur  des  Lebensgeistes  hat)  und  „universelle  Materie"  genannt. 
Was  von  ihr  determiniert  wird,  stellt  sich  dar  als  eines  der 
real  existierenden  Dinge  durch  die  Macht  des  göttlichen  Wortes. 
Gott  offenbarte  (Koran  18,  109):  „Sprich  (zu  den  Menschen): 
wäre  das  Meer  Tinte  zu  Diensten  der  (schöpferischen)  Worte 
Gottes,  so  würde  es  eher  erschöpft  sein,  als  die  Worte  Gottes, 


Digitized  by 


Googl( 


702 

selbst  wenn  wir  noch  ein  zweites  Meer  zu  Hilfe  nähmen". 
Wisse,  die  Substanz  zerfällt  in  eine  einfache  geistige  z.  B.  die 
Geister  und  die  unkörperlichen  Seelen,  eine  einfache  körperliche 
z.  B.  die  Elemente,  eine  im  (logischen)  Denken,  nicht  in  der 
Außenwelt  zusammengesetzte  z.  B.  die  Wesenheiten,  die  eine 
Substanz  besagen  und  aus  Genus  und  Differenz  zusammengesetzt 
sind,  und  (viertens)  in  eine  aus  beiden  (den  Elementen  und  den 
Wesenheiten,  also  aus  Materie  und  Form)  zusammengesetzte 
z.  B.  die  drei  Arten  der  „erzeugten"  (und  erzeugenden)  Wesen 
(Pflanze,  Tier  und  Mensch). 

95:  Die  Substanz  ist  entweder  ein  Substrat,  oder  nicht 
Das  erste  Substrat  ist  die  erste  Materie;  das  zweite  ist  entweder 
in  einem  anderen  Substrate  aufgenommen  oder  nicht.  Das  erste 
ist  die  Wesensform  und  das  zweite  das  Substrat,  das  in  seiner 
Tätigkeit  an  die  Materie  gebunden  ist  oder  nicht.  Ersteres  ist 
die  Seele,  letzteres  der  Verstand. 

97,17:  Die  körperliche  Natur  bezeichnet  die  erste  Materie 
und  die  Wesensform.  Die  körperliche  Natur  ist  die  Wesensform 
und  die  Materie. 

98,16:  Das  verhält  sich  wie  zwei  halbe  Würfel.  Diese 
bilden  einen  Würfel.  Derselbe  hat  keine  Dimensionen,  die  an 
Grösse  verschieden  sind,  sodaß  die  drei  Dimensionen  bei  ihm 
sich  in  ein  und  derselben  Weise  verhalten. 

99,  30:  Die  Deskription  (der  Köi^per  sei  das  Lange,  Breite 
und  Tiefe)  d.  h.  die  Definition,  die  den  Gegenstand  beschreibt^ 
ist  die  ungenaue  Beschreibung  eines  Gegenstandes,  die  der  tech- 
nischen Definition  gegenübersteht.  Sie  ist  dadurch  an  ihren  Ort 
verwiesen  worden.  Die  zusammengesetzten  Wesenheiten  können 
technisch  sowohl  im  eigentlichen  Sinne  definiert  werden,  als 
auch  eine  deskriptive  Definition  erhalten.  Diese  ist  (in  ihrer 
Zusammensetzung)  parallel  der  Rangstufe  des  (zusammengesetzten) 
Wesens.  Die  einfachen  Wesenheiten  können  hingegen  nur  eine 
deskriptive  Definition  erhalten. 

101,9:  Die  Philosophen  lehren:  die  Zusammensetzung  des 
Körpers  aus  der  ersten  Materie  und  dieser  (seiner)  bestimmten 
Wesensform,  ist  eine  „kontinuierliche"  Verbindung.  Dieses  ist 
nach  ihrer  Lehre  die  kontinuierliche  Quantität  Sie  sei  die 
Substanz  des  Körpers.  Diese  Zusammensetzung  enthält  zugleich 
die  Ausdehnung,  die  sich  verändert.    Sie  ist  sein  Akzidens. 


Digitized  by 


Googk 


703 

104,20:  Der  Magnet  und  andere  Gegenstände  werden  defi- 
niert als  kleine  harte  Teile,  die  sich  kreuzweise  zu  einander 
stellen. 

109, 6:  Avicenna  will,  indem  er  die  Wesensform  des  Körpers 
nennt,  diejenige  Wesensform  bezeichnen,  durch  die  der  Körper  ein 
Körper  wird.  In  den  Naturwissenschaften  (I.  Teil  I.  2)  wurde 
in  dem  Kapitel  über  die  Aufzählung  der  ersten  Prinzipien  der 
Naturdinge  auseinandergesetzt,  daß  der  Naturkörper  die  Sub- 
stanz sei,  in  der  eine  bestimmte  Ausdehnung  angenommen  werden 
kann,  sodann  eine  andere,  die  zur  ersten  senkrecht  steht,  und 
schließlich  eine  dritte,  die  die  beiden  ersten  zusammen  in  einem 
rechten  Winkel  schneidet.  Die  Substanz,  die  mit  dieser  Eigen- 
schaft ausgestattet  ist,  ist  die  Wesensform,  durch  die  der  Körper 
ein  Körper  wird.    (Vergl.  Metaphysik  11,  Kap.  2). 

110, 14:  Diese  Darlegungen  sind  Teile  des  Beweises  für  die 
Existenz  der  ersten  Materie  nach  Art  der  Potenz  und  des 
Aktes. 

Die  Antwort  will  besagen,  daß  hier  (bei  der  materia  prima) 
betreffs  ihrer  realen  Existenz  nur  diejenige  Substanzialität 
gegeben  sein  kann,  die  aufnahmefähig  ist  für  andere  Dinge. 
Das  Kontrarium  ist  nichts  anderes,  als  die  Aktualität  (Entelechie) 
der  Potenz.  Im  Bereiche  der  realen  Existenz  gibt  es  nun  aber 
keine  besondere  Wesenheit,  durch  die  die  Materie  aktuell 
vorhanden  wäre,  und  dazu  eine  andere  Wesenheit,  durch  die  sie 
in  der  Potenz  existierte.  Vielmehr  ist  die  Beziehung  der  ersten 
Materie  zu  diesen  beiden  Begriffen  gleich  der  Beziehung  des 
einfachen  Körpers  zum  Genus  und  zur  Differenz,  (d.  h.  in  der 
ersten  Materie  hat  eine  Unterscheidung  in  Akt  und  Potenz  nur 
logische  Bedeutung).  Ein  und  dasselbe  Ding,  wenn  es  in  nur 
einer  Weise  betrachtet  wird,  ist  kein  erstes  Prinzip  für  die 
Potenz  und  den  Akt  zusammen,  wie  es  der  Gegner  be- 
hauptet hat. 

114,13:  Wenn  ihr  von  außen  her  ein  Ding  zukommt 
(wörtlich:  zufliegt),  so  wird  sie  durch  dieses  zu  einem  realen 
Körper.  Sie  wird  nicht  etwa  prima  materia  actu  (was  eine 
contradictio  in  adiecto  bedeuten  würde). 

124, 4 — 5:  Die  Einheit  (der  ersten  Materie)  ist  ein  Ausdruck, 
der  etwas  einheitlich  Verbundenes  bezeichnet  oder  etwas,  das 
bestimmt  wird,  indem  man  es  als  eine  eigentümliche,  für  sich 
bestehende  Existenzweise   bestimmt,    d.  h.   diese  Einheit  läßt 


Digitized  by 


Googk 


704 

sich  nicht  „zurückführen"  J)  auf  ihre  eigentümliche  Existenz. 
Dann  könnte  dieselbe  nicht  mehr  bestehen  bleiben,  sobald  eine 
Vielheit  in  ihr  auftritt,  indem  dann  die  Einheit  aus  ihr  ver- 
schwindet 

Eine  andere  Auffassung  wäre:  Diese  Einheit,  die  die  eigen- 
tümliche Existenzart  der  ersten  Materie  bildet,  hat  nicht  den 
Zweck,  ihr  den  Bestand  zu  verleihen.  Sie  gibt  ihr  vielmehr 
nur  Akzidenzien  d.  h.  das  Bestehen  der  ersten  Materie  beruht 
nicht  auf  dieser  Einheit  Sie  ist  vielmehr  nur  ein  Akzidens. 
Daraus  ergibt  sich  dann  das  Gegenteil  der  Annahme. 

129,11:  Dann  müßte  es  per  se  eine  Ausdehnung  besitzen, 
d.  h.  dasjenige  Ding,  das  per  se  weder  räumlich  noch  auch  quan- 
titativ ist 

131,3:  Die  Körper  besäßen  in  dem  genannten  Falle  alle 
dieselbe  Beziehung  auf  Quantität  und  Volumen;  denn  die  un- 
körperliche Substanz  bezieht  sich  auf  die  Wesenheit  der  Materie 
(wörtlich:  ad  rationem  materiae)  in  sich  gleichbleibender  Weise 
durch  Vermittlung  des  Prinzipes,  das  der  Aufnahmefähigkeit 
der  Materie  die  bestimmte  Dimension  verleiht  (wörtlich:  ihr  das 
Übergewicht  gibt  über  eine  andere,  ebenfalls  mögliche). 

132,19:  Die  Materie  ist  aufnahmefähig  für  etwas  mit 
Leichtigkeit  oder  unter  Schwierigkeiten  (und  daher  kann  die 
Disposition  der  Materie  verschiedene  Grade  der  Intensität 
annehmen). 

139,16:  Ein  Wesen,  das  aktuell  existiert,  ist  die  erste 
Materie  dadurch,  daß  sie  mit  der  Wesensform  behaftet  ist;  denn 
sie  wird  Substanz  genannt,  die  aufnahmefähig  ist  Daher  ist 
sie  also  keine  (eigentliche)  Ursache. 

142,17:  Es  ist  von  ihm  verschieden,  d.  h.  insofern  das 
zweite  Ding  sich  von  dem  ersten  in  seiner  Individualität  (also 
nur  numerisch)  unterscheidet 

144,17:  Das  Allgemeine:  Es  ist  möglich,  daß  Avicenna 
damit  das  tätige  und  leidende  Prinzip  bezeichnet 

Das  Ding  ist  ein  einziges  „der  Zahl  nach".  Die  Wesens- 
form,  im  allgemeinen  Sinne  genommen,  ist  ein  einziges  „der  Art 
nach".  Dasjenige,  was  numerisch  eins  ist,  kann  nicht  die  Ursache 
werden  für  etwas,  das  der  Art  nach  eins  ist 


^)  Die  homogene  und  indistinkte  Natur  ist  nicht  das  eigentliche  Wesen 
der  ersten  Materie.  Dies  ist  vielmehr  ihr  proprium.  Dir  Wesen  ist  die  Auf- 
nahmefähigkeit für  die  Wesensform. 


Digitized  by 


Googl( 


705 

154:  Es  besteht  ein  Zweifel  darüber,  ob  die  Natur  des 
Akzidens  der  Quantität  und  Qualität  zukomme.  Avicenna 
beginnt  in  diesem  Kapitel  mit  der  Darlegung  über  die  Quantität, 
die  diskontinuierlich  ist,  als  deren  Prinzip  aber  (für  alle  Teile) 
ein  und  dasselbe  gilt.  Daher  betitelt  er  dieses  Kapitel  als 
„Diskussion  über  das  Eine". 

156,1,  116,5:  Das  auf  seine  Art  Eine  ist  eine  Art,  die  in 
nur  einem  einzigen  Individuum  existiert.*) 

156, 9:  Das  genus  proximum  stimmt  mit  der  species  remota 
überein:  indem  sie  (die  einzelnen  Individuen)  aktuell  überein- 
stimmen im  genus  (proximum),  nicht  aber  in  der  species  (proxima). 
In  dieser  Übereinstinunung  im  Genus  liegt  es  zugleich  aus- 
gedrückt, daß  beide  zu  der  Gruppe  des  Universellen  gehören, 
indem  zugleich  die  aktuelle  Übereinstimmung  dabei  nicht  beachtet 
wird.  Man  betrachtet  viehnehr  nur  die  Möglichkeit  einer  solchen 
(d.  h.  aktuellen)  Übereinstimmung.^) 

Ein  sachlicher  Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Arten 
der  Übereinstimmung  (in  der  species  remota  und  dem  genus 
proximum)  existiert  nicht 

156, 14:  Es  ist  durchaus  klar,  daß  dasjenige,  was  der  Art 
nach  eines  ist,  der  Zahl  nach  eine  Vielheit  enthalten  kann. 
Ebenso  kann  auch  dasjenige,  was  dem  G^nus  nach  ein  einziges 
ist,  der  Art  nach  eine  Vielheit  darstellen;  dasjenige  aber,  was 
der  Art  nach  ein  einziges  ist,  muß  (sogar)  der  Zahl  nach  zu 
einer  Vielheit  werden.  Freilich  kann  das  Eine  des  „spezifischen 
Seins"  5)  der  Zahl  nach  nicht  zu  einer  Vielheit  werden.  Wie 
groß  ist  der  Unterschied  zwischen  diesen  beiden! 


^)  Es  handelt  sich  um  ein  einzelnes  Individnom,  das  durch  seine  Art 
eine  Einheit  darstellt,  also  aUe  anderen  Individuen  derselben  Art  ausschließt. 
Dies  gilt  nicht  nur  von  der  (Gottheit,  in  der  Individnationsprinzip  und  Wesen- 
heit zusammenfaUen,  sondern  auch  von  den  himmlischen  KOrpem,  von  denen 
jeder  die  ganze  seiner  Form  zur  Verfügung  stehende  Materie  aktualisiert. 

*)  Die  Übereinstimmung  im  Genus  ist  eine  solche,  die  durch  die  art- 
bestimmenden Elemente  eine  gewisse  Aktualisierung  erhält.  Dadurch  tritt 
aber  zugleich  eine  Differenzierung  in  verschiedene  Arten  ein.  Sieht  man 
von  dieser  Differenzierung  ab,  so  erhält  man  die  reine  Natur  des  Genus. 

")  Darunter  ist  dasjenige  verstanden,  was  durch  seine  Spezies,  d.  h.  seine 
Form  eine  numerische  Einheit  bildet.  Spezies  und  numerus  (Individuum) 
faUen  also  hier  zusammen.  Dies  gilt  von  den  himmlischen  Körpern,  den 
Engeln  und  der  Gk>ttheit. 

Horten»  Dm  Baob  d«r  Qenaning  d«r  SmU.  45 


Digitized  by 


Googk 


loa 

159,25:  Dieses  muß  der  räumlichen  Lage  des  ersten  Falles 
darin  verwandt  sein,  daß  der  Gregenstand  in  sich  kein  Volumen 
annimmt,  und  in  anderen  Bestimmungen. 

166, 9:  Wir  stellen  uns  das  Ding  nicht  bewußt  vor,  d.  h. 
wir  betrachten  in  ihm  nicht  den  Umstand,  daß  es  innerlich 
präsent  ist 

166,16:  In  dieser  Betrachtung  ergeben  sich  viele  Möglich- 
keiten, indem  man  jede  einzelne  Einheit  distributiv  betrachtet, 
oder  die  Einheiten  zusammen  kollektiv  oder  drittens  die  Summe 
der  Einheiten,  d.  h.  das  Substrat  der  individuellen  Gestalt,  die 
die  „Summe"  darstellt  (das  esse  summam),  die  zugleich  die 
Vielheit  ausmacht  Man  betrachtet  im  anderen  Falle  jede 
einzelne  Rangstufe  der  Zahlen,  nicht  etwa  ihre  Summe,  also  mit 
Ausschluß  (wörtlich:  „bis  zu")  der  Betrachtung  der  Form  des 
esse  summam.  Diese  ist  eine  besondere  logische  Betrachtungs- 
weise. Ebenso  gibt  es  Betrachtungsweisen,  die  sich  auf  jeden 
einzelnen  Gregenstand  richten  und  auf  die  Summe  der  Einheiten, 
die  als  das  Zusammengesetzte  und  Viele  bezeichnet  wird,  das 
Gegenstand  und  Substrat  der  Betrachtung  des  esse  summam 
istO  Diese  Arten  und  Weisen  der  Betrachtung  erstrecken  sich 
auf  das  reale  Wesen  sind  also  (nicht  rein  subjektiv  und)  von 
verschiedenem  Werte.  Konzentriere  deinen  Schar&inn  auf  diese 
Probleme  in  den  beiden  Büchern  (dem  Buche  der  Natur  und 
dem  Koran,  oder:  der  weltlichen  Weisheit  und  der  Offenbarung)! 
Nach  dem  Willen  Gottes  finden  sie  sich  sowohl  in  der  himm- 
lischen Welt,  als  auch  in  den  (wissenschaftlichen)  Voraussetzungen 
und  Untersuchungen. 

168,6:  Die  Einheit  wird  nicht  wie  eine  Differenz  von  den 
Substanzen  prädiziert;  denn  das  Genus  und  die  Differenz  bilden 
Bestandteile  des  Wesens.  Die  Einheit  aber  verhält  sich  nicht 
so;  denn  die  Einheit  ist  kein  wesentlicher  Bestandteil  (der 
Substanzen). 

168,13:  Die  Einheit  wird  vielmehr  von  den  Substanzen 
wie  ein  Akzidens  ausgesagt  und  dieses  steht  im  Gegensatze  zur 
Substanz,  wie  auch  die  weiße  Farbe  in  diesem  Sinne  ein  Ak- 
zidens ist 


')  Als  Substrat   der  Snmme   haben   die  einsehieii  zusammengesetzten 
Teile  zu  gelten. 


Digitized  by 


Googk 


707 

168, 19:  Gesagtes  gilt  z.  B.  von  der  weißen  Farbe.  Sie 
ist  das  aus  dem  Akzidens,  d.  h.  der  weißen  Farbe,  und  dem 
Subjekte  Zusammengesetzte. 

169,1:  Die  Einheit  besteht  nicht  durch  sich  allein  (ist 
keine  Substanz,  die  in  sich  subsistiert);  denn  sie  ist  eine  Ein- 
heit des  (individuellen)  Dinges. 

169, 15:  Dies  ist  ein  anderer  Beweis,  der  besagt,  daß  die 
Einheit  nicht  von  einem  Dinge  auf  ein  anderes  übertragen 
werden  kann. 

169,32:  Es  existieren  dann  zwei  Substanzen,  weil  in  dieser 
Substanz  zwei  Einheiten  vorhanden  sind.  Die  eine  ist  das  not- 
wendig anhaftende  Akzidens,  die  andere  ist  die  sich  verändernde 
(d.  h.  von  der  ersten  Substanz  auf  die  zweite  übertragene) 
Einheit. 

174,3:  Die  Dimension  ist  ein  Akzidens.  Daher  existiert 
sie  in  jener  Substanz  und  zwar  nicht  wie  ein  Teil  von  ihr. 
(Vgl.  Aristoteles  Kategor.  1  a  24.)  Dann  ist  sie  also  ein  Akzidens. 
„Substanz"  bezeichnet  die  körperliche  Wesensform,  der  dieses 
Akzidens  zukommt. 

175,28:  Damit  will  Avicenna  das  bekannte  Relative  be- 
zeichnen, und  dieses  steht  nicht  im  Gegensatze  zu  den  Kategorien. 
Andere  Glosse:  er  bezeichnet  damit  das  im  wahren  Sinne 
Relative,  indem  er  sich  stützt  auf  die  Verschiedenheit  der 
Kategorien. 

185,  Titel:  Das  Kapitel  handelt  darüber,  daß  die  Zahl  in 
den  realen  Dingen  der  Außenwelt  existiert  nach  Ansicht  der 
wahrhaft  Gelehrten  unter  den  Forschem,  d.  h.  die  Zahl  ist  ein 
Akzidens,  nicht  etwa  eine  Substanz,  und  sie  bedeutet  ein 
Akzidens.  Die  erste  Behauptung  Avicennas  besagt,  daß  die 
Zahl  ihren  Bestand  hat  durch  die  Einheiten.  Nun  aber  haben 
wir  bereits  dargelegt,  daß  die  Einheit  ein  Akzidens  ist.  Daher 
kommt  also  der  Zahl  (als  Zusammensetzung  von  Einheiten)  in 
noch  vorzüglicherem  Sinne  zu,  die  Natur  des  Akzidens  zu 
besitzen.  Die  zweite  Behauptung  Avicennas  besagt,  daß  den 
Akzidenzien  die  Einheit  ebenso  inhäriere,  wie  den  Substanzen. 
Die  Substanz  kann  sich  aber  nicht  zu  einem  Akzidens  verhalten 
wie  ein  Akzidens.  Das  Akzidens  jedoch  kann  sich  zu  einem 
anderen  Akzidens  verhalten  wie  ein  Inhärierendes.  Daher  ist 
die  Zahl  ein  Akzidens. 

45* 


Digitized  by 


Googl( 


708 

186, 6:  Die  Zahl  kann  nicht  die  Wesenheit  ihres  Substrates 
selbst  sein;  denn  sie  inhäriert  der  Substanz  und  dem  Akzidens 
Daraus  folgt:  wäre  die  Zahl  identisch  mit  ihrem  Substrate^ 
dann  müßte  sie  eine  Substanz  und  zugleich  ein  Akzidens  sein. 
Dieses  ist  unzweifelhaft  einleuchtend. 

188,14:  Der  Weise  (Aristoteles)  lehrt:  die  Zahl  ist  nichts 
anderes,  als  die  Summe  der  Einheiten. 

190,17:  Mit  dem  Ausdrucke  der  Zweiheit  verbindet 
Avicenna  die  infinitivische  Bedeutung  (das  esse  duo). 

193,  Titel:  Dieses  Kapitel  handelt  über  den  Beweis,  dafür 
daß  die  Opposition  zwischen  dem  Einen  und  Vielen  nicht  eine 
Opposition  „des  Wesens"  ist,  (d.  h.  keine  oppositio  directa,  primo 
et  per  se.  Das  esse  opposita  haftet  dem  Einen  und  Vielen  vielmehr 
nur  als  Akzidens  an.    Vgl.  S.  199, 17). 

194, 1  IL:  Das  Substrat  der  Vielheit  sind  die  Trennungen; 
das  Substrat  der  Einheit  ist  die  kontinuierliche  Verbindung  eines 
einzelnen  Gegenstandes. 

198, 12:  Das  Relative  verhält  sich  wie  die  Vaterschaft  und 
Sohnschalt 

Vgl.  dazu  Gtorgäni  S.  29:  Die  Relation  ist  diejenige  Be- 
ziehung, die  dem  Dinge  als  Akzidens  anhaftet  in  !ffinsicht  auf 
eine  andere  Beziehung  (die  sich  zu  der  ersten  reziprok  verhält), 
wie  die  Vaterschaft  und  die^  Sohnschaft 

198, 26—27:  Die  Vielheit  ist  in  ihrem  Wesen,  d.  L  in  der 
Substanz  ihrer  Wesenheit  zusammengesetzt  und  verursacht 
Ebenso  entsteht  das  esse  causatum,  das  aus  einer  Wirknrsadie^) 
hervorgeht  Das  Wesen  der  Wirkung  entsteht  durch  das  einfa<4e 
Auftreten  der  adäquaten  Wirkursache.  Das  Wesen  der  Wirininf 
steht  in  sich  selbst  betrachtet  (primo  et  per  se)  nicht  in  Relation 
zur  Ursache.  Das  Akzidens,  in  Relation  zu  stehen,  haftet  der 
Wirkung  vielmehr  nur  insofern  an,  als  sie  wie  eine  „Wirkung* 
betrachtet  wird,  (nicht  insofern  sie  eine  beliebige  Wesenheit 
darstellt).  Die  vollkommene  Ursache  läßt  femer  aus  sich  selbst 
heraus  das  Wesen  der  Wirkung  entstehen.  Die  Substanz  der 
Ursache  selbst  aber  steht  in  keinem  Falle  (per  se)  in  einer  Relation 
zu  dem,  was  aus  ihr  hervorgeht')    Das  esse  relativum  haftet 

0  Das  erste  Beispiel  erwähnte  die  Wirkung  einer  Materialorsadie,  ans 
der  die  Wirkung  durch  Zusammensetzung  der  Teile  entsteht. 

*)  Das  Wesen  der  Ursache  w&re  in  diesem  FaUe  eine  BelatioBj  abo 
ein  Akzidens,  und  kOnnte  keine  Suhstanz  darstellen. 


Digitized  by 


Googl( 


709 

vielmehr  (der  Substanz  der  Ursache)  als  ein  „Akzidens"  an, 
wenn  man  in  der  Ursache  das  esse  causam  betrachtet. 

200,1:  Das  Maß  ist  (in  diesem  Falle)  eine  „Länge";  denn 
die  Vielheit  wird  durch  die  (entsprechende)  Einheit  gemessen. 

203, 15:  Gleich  oder  ungleich  zu  sein  haftet  als  notwendige 
Bestimmung  an  den  Arten  des  Geschmackes  und  der  Gerüche, 
den  Farben  wie  auch  den  Graden  der  Helligkeit,  die  sich  in 
dem  Körper  vorfinden.  Sie  sind  nicht  seine  Materie,  noch  auch 
seine  Wesensform.  Daher  müssen  das  Gleiche  und  das  Ungleiche 
Akzidenzien  sein. 

203, 33:  Die  sinnlich  wahrnehmbaren  Qualitäten  können  nicht 
Substanzen  sein.  Wenn  sie  Substanzen  wären,  dann  könnnte 
man  nur  eine  der  fünf  Substanzen  *)  „unterscheiden",  nicht  sie  alle. 
Daraus  folgt  also,  daß  die  Qualitäten  Akzidenzien  sein  müssen. 

204,22:  Das  Wasser  geht  auf  einen  anderen  Körper  über 
und  verhält  sich  nicht  wie  die  Farbe  in  dem  Körper.^)  Das 
Wasser  ist  vielmehr  in  sich  selbst  ein  Körper. 

208, 10:  Ein  Teil  der  größten  Gegenstände  halten  in  dieser 
Weise  einen  Teil  (der  Qualität)  fest,  dessen  Spur  lang  erhalten 
bleibt. 

208,17:  Das  Akzidens  wirkt  ursächlich  auf  Grund  der 
Natur  des  Substrates,  in  dem  es  ist.  (Die  Akzidenzien  können 
nur  wirken  als  media  der  Substanz.) 

214,6:  Die  Bewegung  ist  die  natürliche  Vollendung  eines 
Dinges,  das  sich  in  der  Potenz  befindet^) 

214,15:  Die  Bewegung  ist  eine  Aktualität  (wörtlich: 
Vollkommenheit),  d.  h.  ein  (aktueller)  Zustand,  der  einem  Dinge 
zukommt,  das  sich  in  der  Potenz  befindet. 


*)  Im  angenommenen  FaUe  müßten  die  Qualitäten  eine  der  fünf  be- 
kannten Substanzen  (s.  Abb.  n,  1)  Geist,  Seele,  Materie,  Form  oder  Körper 
konstituieren.  Die  MÖglicbkeit  einer  sechsten  Substanz  wurde  von  Avicenna 
selbst  (loc.  cit.)  als  undenkbar  erwiesen. 

')  Vgl.  Thomas  Sum.  theol.  ETI  77,  Ic:  accidentia  non  transeunt  de 
subiecto  in  subiectum,  ut  scilicet  idem  accidens  numero,  quod  primo  fuit  in 
uno  subiecto,  postmodum  (=postea)  fiat  in  alio;  accidens  enim  numerum 
accipit  a  subiecto.  Unde  non  potest  esse,  quod  idem  numero  manens  sit 
quandoque  in  hoc,  quandoque  in  illo  subiecto.  Daher,  so  schließt  der  Glossator, 
kann  dasjenige,  was  von  einem  Subjekte  zu  einem  anderen  übergeht,  kein 
eigentliches  Akzidens  sein. 

•)  Vgl.  Arist.  Physik  201  a  11:  7)  zoC  öwofiei  ovzog  ivxeXix^to^f  y 
xoio€tov,  xiytiali  ioxiv. 


Digitized  by 


Googl( 


710 

215,20:  Dieses  enthält  die  Wiederholung  der  Schwierig- 
keiten von  einer  anderen  Seite  betrachtet.  Dieselbe  besagt:  eine 
Wesenheit  und  eine  Einheit  müßte  konsequenterweise  manchmal 
eine  Substanz  und  manchmal  ein  Akzidens  sein.  Dies  wurde  je- 
doch als  unmöglich  ausgeschlossen. 

215,4  unten:  Die  unkörperlichen  Substanzen  gehen  den 
Weltdingen  voraus. 

216, 15:  In  der  Seele  existieren  diese  Begriffe  von  den  Dingen, 
insofern  sie  nach  ihren  eigenen  Individualitäten  selbst  Erkenntnis- 
formen  nach  Art  wissenschaftlicher  Erkenntnisinhalte  werden,  die 
der  Seele  anhaften.^)  Die  Beziehung  ist  die  (des  aufnehmenden  Sub- 
strates) zur  Wirkursache,  (die  die  himmlischen  Einwirkungen  auf 
den  menschlichen  Geist  ausübt),  also  letzthin  zu  Gott,  dem  erhabenen. 

216, 21 :  Dasjenige,  was  unsere  Seelen  von  jenen  (geistigen) 
Substanzen  erkennen,  ist  entweder  das  Wesen  derselben  selbst 
oder  ein  Vorstellungsbild  (Abbild)  ilires  '^fesens  oder  eine  Menge 
von  solchen  Abbildern  und  Formen  ^kenntnisformen)  der 
Inhalte  jener  Substanzen.  Der  erste  und  zweite  Fall  sind  aus- 
zuschließen. Der  erste  Fall  ist  unannehmbar,  weil  es  nicht  mög- 
lich ist,  daß  eine  individuelle  Substanz  zwei  Arten  des  Seins 
besitzt.  Die  Unrichtigkeit  der  zweiten  Behauptung  ist  dadurch 
erwiesen,  daß  es  unmöglich  ist,  daß  viele  numerisch  verschiedene 
Einheiten,  die  begrifflicher  (d.  h.  rein  geistiger)  Natur  sind, 
einer  einzigen  Art  zukommen.^)  Daher  ergibt  sich  als  einzige 
Möglichkeit  der  dritte  Fall,  nämlich  daß  dasjenige,  was  von  den 
Wesenheiten  der  geistigen  Substanzen  in  die  erkennende  Seele 
hineingelangt,  Akzidenzien  sind,  die  durch  unseren  Geist  bestehen. 
Daher  gehören  diese  Ek-kenntnisse  zu  den  Qualitäten  der 
menschlichen  Seele.  Dies  ist  die  Thesis,  die  bewiesen  werden  sollte. 

217,1:  Der  tätige  Verstand  ist  nicht  materiell  Diese  Dar- 
legung kann  auf  die  platonischen  Ideen  hinweisen. 

217, 12:  Die  menschliche  Erkenntnis  steht  in  Abhängigkät 
von  den  unkörperlichen  und  den  körperlichen  Substanzen  zugleicL') 


0  Das  Objekt  der  Außenwelt  wäre  nach  dieser  Erkenntnistheorie 
numerisch  dasselbe,  wie  die  Erkenntnisform. 

*)  Nor  die  Materie  kann  die  numerische  Vielheit  innerhalb  einer  nnd 
derselben  Art  begründen. 

*)  Die  materieUen  Gegenstände  sind  die  Objekte,  die  Geister  die  tätigen 
Prinzipien,  die  die  Potenzialität  des  menschlichen  Geistes  zur  Aktualität 
bringen. 


Digitized  by 


Googl( 


711 

217, 25:  Was  Avicenna  sagen  will,  ist  folgendes:  die  Wissen- 
schaft besteht  nicht  darin,  daß  die  Wesenheit  (des  Objektes) 
selbst  in  den  Verstand  gelangt,  sondern  nur  darin,  daß  die 
Erkenntnisformen  in  uns  bewußt  werden. 

217,27:  Avicenna  zählt  die  Begriffe  auf.  Die  realen  Welt- 
dinge zerfallen  in  solche,  die  nach  ihrer  Wesensform  entweder 
Naturdinge  oder  mathematische  Gegenstände  sind. 

218,5  unten:  Das,  was  kein  Substrat  besitzt,  sind  die  Be- 
griffe (oder  die  begrifflich  faßbaren  Wesenheiten);  denn  das 
Substratlose  ist  die  begrifflich  faßbare  Wesenheit  (im  vorzüglichen 
Sinne,  weil  sie  einen  von  der  Materie  abstrahierten  Inhalt  dar- 
stellt). 

222,32:  Den  beiden  Endpunkten,  d.  h.  den  beiden  Extremen 
des  Gegenüberstehenden.  Würde  man  zugeben,  daß  die  Teile 
der  Peripherie  und  des  Zentrums  sich  gegenüberstehen  (ohne 
daß  zwischen  beiden  Punkten  Atome  vorhanden  wären),  dann 
könnte  keine  gerade  Linie  gezogen  werden,  deren  beide  End- 
punkte sich  deckten  (wörtlich:  gegenüberständen)  mit  dem  ersten 
der  beiden  Extreme,  nämlich  dem  Zentrum  und  der  Peripheria 
Der  Ausdruck  Avicennas:  „dieses  ist  ebenfalls  zu  jenem  zu 
rechnen",  besagt:  die  Lehre,  die  man  aufstellt,  sei  irrig.  Exi- 
stieren also  diese  Teile,  dann  würde  sich  die  Natur  der  Gegen- 
überstellung verändern  *)  und  ihre  ursprüngliche  Natur  verlieren, 
d.  h.  die  Natur  (wörtlich:  das  Gesetz)  des  erwähnten  Gegenstandes, 
also  der  „Gegenüberstellung",  wenn  die  (vermittelnden)  Teile 
(die  Atome)  nicht  existierten.  Das  Resultat  der  Darlegung  ist: 
eine  gerade  Linie  kann  man  infolge  der  erwähnten  „Gegenüber- 
stellung" zwischen  dem  Zentrum  und  der  Peripherie  ziehen, 
wenn  auch  die  übrigen  Teile  (die  Atome)  nicht  real  in  dem 
Zwischenräume  zwischen  beiden  Punkten  existieren.  Dies  wäre 
jedoch  nicht  möglich,  wenn  dieselben  existierten.  Das  Gesagte 
ist  aber  eine  rein  willkürliche  Annahme. 

226,11:  Die  Kreise  vervielfältigen  sich  dadurch,  daß  man 
viele  Punkte  (als  Zentra)  in  jenem  Körper  annimmt,  der  Sub- 
strat des  Beweises  ist. 


*)  Wird  der  leere  Baum  der  ersten  „QegenttbersteUung"  von  Punkten 
2U  einem  voUen,  dann  verändern  sich  die  Funktionen  der  Opposition  beider 
Punkte,  indem  nun  reale  Linien  gezogen  werden  können. 


Digitized  by 


Google 


712 

226, 20:  Die  ungerade  Linie  entsteht  dadurcli,  daß  es  nicht 
möglich  ist,  daß  der  andere  Punkt  (des  Körpers)  dieselbe  Bewegung 
vollziehe,  wie  der  erste. 

226, 23:  Ergibt  es  sich  aus  den  Annahmen,  daß  das  leichtere 
Ende  sich  dadurch  entfernt,  daß  es  seinen  Platz  verläßt,  indem 
das  schwerere  Ende  sich  nach  unten  bewegt,»)  so  bewegt  jenes 
sich  nach  oben,  d.  h.  der  leichtere  Teil  bewegt  sich  nicht  (in 
einer  geraden  Linie)  nach  oben  (wörtlich:  „indem  er  fortgerissen 
wird")  und  daher  beschreibt  jeder  einzelne  der  beiden  Punkte 
einen  Kreis.  Entfernt  sich  aber  das  leichtere  Ende  nicht  von 
seinem  (unteren)  Orte,  dann  beschreibt  das  schwerere  Ende  (des 
umstürzenden  Körpers)  einen  Kreis.  Diese  Konstruktion  (des 
Kreises)  ist  die  richtigste,  weil  sie  uns  leichter  vorstellbar  ist, 
als  die  andere  Bewegung,  in  der  jeder  einzelne  der  beiden  End- 
punkte des  Körpers  sich  bewegt 

228,  Titel:  Dieses  Kapitel  handelt  über  die  Darlegung  der 
„Wesenheit"  der  Relation. 

228, 19;  Weil  die  beiden  termini  fest  umgrenzt  und  bestimmt 
sind,  so  ist  die  Verschiedenheit  zwischen  beiden  ebenfalls  fest 
bestimmt  und  determiniert  Dies  ist  der  Fall  bei  der  Relation 
der  Hälfte;  denn  die  Verschiedenheit  zwischen  dem  Doppelten, 
z.  B.  der  Vier,  und  der  Hälfte,  z.  B.  der  Zwei,  ist  nichts  anderes, 
als  die  erwähnte  Relation  der  Hälfte.  Manchmal  ist  jedoch  die 
Verschiedenheit  nicht  real  bestimmt;  jedoch  stützt  sie  sich  dann 
auf  ein  reales  und  bestimmtes  Ding,  sei  es  nun,  daß  dieses 
Ding  auch  seinerseits  ein  terminus  der  Relation  ist,  wie  z.  B. 
das  Ganze  und  der  TeU;  denn  der  Umstand,  daß  das  Ding  ein 
Ganzes  ist,  haftet  der  Quantität  als  Akzidens  an,  wenn  dieselbe 
eine  kontinuierliche  und  bestimmte  ist,  —  oder  sei  es,  daß  die 
Quantität  eine  diskontinuierliche  aber  zugleich  determiniert  ist, 
wie  z.  B.  die  Zehn  und  der  Umstand,  ein  Teil  der  Elle  zu  sein, 
oder  die  Zehn,  die  einem  bestimmten  Dinge  (als  Maßbestimmung) 
zukommt,  damit  die  TeUe,  die  unendlich  an  Zahl  sind,  real  und 
im  eigentlichen  Sinne  bestimmt  werden  können,  sowohl  für  die 
Elle^)  als  auch  für  die  Zehn.  Denn  von  der  Neun  sagt  man  aus, 
sie  sei  ein  Teil  der  Zehn,  ebenso  von  der  Acht,  bis  man  zu 


*)  Wörtlich:  „fortgerissen  wird"  dnrch  eine  Natorkraft. 
*)  Jedes  Kontinuum  kann  .unendlich  viele  Teile  haben.    Dasselbe  gut 
von  der  Teilbarkeit  jeder  diskontinuierlichen  Gröfie. 


Digitized  by 


Googk 


713 

der  Eins  kommt  Ebenso  sagt  man  von  der  Hälfte  der  Eins 
und  von  ihrem  Drittel  und  Viertel  aus,  daß  sie  Teil  der  Zehn 
seien.  So  geht  die  Teilung  weiter  ohne  Ende  fort;  daher  sind 
also  die  Teile  der  Zehn  unendlich  an  Zahl.  Ebenso  verhält  es 
sich  mit  den  Teilen  der  Elle.  Daher  ist  der  eine  der  beiden 
termini  der  Belation  d.  h.  das  Ganze,  determiniert,  der  andere 
Teil  der  Relation  aber,  d.  h.  der  Teil,  nicht  determiniert.  Die 
Verschiedenheit,  die  zwischen  beiden  besteht,  ist  dann  also  eben- 
falls nicht  determiniert,  da  die  Umgrenzung  und  Determination 
einer  Relation  in  Wegfall  kommt  mit  der  Determination  der 
Summe  der  beiden  Extreme »)  (d.  h.  der  beiden  termini  zugleich), 
es  müßte  denn  sein,  daß  der  eine  nicht  im  eigentlichen  Sinne 
ein  terminus  der  Relation  sei  So  verhält  sich  z.  B.  das  in  un- 
bestimmt großer  oder  geringer  Zahl  Vervielfachte.  So  sagt 
man  z.  B.  von  der  Fünfzig  aus,  sie  sei  ein  Vielfaches  von  der 
Zehn.  Denn  das  Viele  und  Wenige  können,  auch  wenn  sie  nicht 
fest  bestimmt  sind,  doch  definiert  werden,  es  sei  denn,  daß  der 
Gegenstand,  der  ein  Vielfaches  ist,  schon  (in  sich)  determiniert 
und  bestimmt  ist  (Um  so  mehr  sind  dann  die  Vielfachen  dieses 
Maßstabes  definierbar.) 

229,6:  Die  doppelte  Relation  ist  ein  Hinweis  darauf  (d.  h. 
bedeutet),  daß  die  Relation  ein  Akzidens  einer  (anderen)  Relation 
ist  (oder  sein  kann). 

229,23:  Die  Relationen  sind  enthalten  in  dem  Begriffe  der 
Qualität  wie  z.  B.  das  Schnellere  und  Langsamere.  Die  Relation 
findet  sich  manchmal  auch  in  der  räumlichen  Lage  und  Be- 
wegung (g>oQa),  indem  dann  die  eine  Lage  entsprechender  und 
besser  ist,  als  eine  andere  und  eine  räumliche  Bewegung  schöner, 
als  eine  andere.  Der  Altmeister  bespricht  diese  beiden  aber 
nicht,  weil  sie  keine  Verschiedenheit  mit  dem  Erwähnten  auf- 
weisen. 

230,1:  Wisse,  daß  die  reine  Relation  kein  erstes  Prinzip 
hat,')  daß  aber  eine  Relation,  die  nicht  eine  reine  ist,  notwendiger- 
weise ein  erstes  Prinzip  haben  muß. 


^)  Wenn  nicht  beide  termini  relationis  zugleich  bestimmt  sind,  gilt 
die  Belation  als  unbestimmt. 

*)  Die  Relation  in  Gott  hat  kein  anderes  fundamentum  relationis,  als 
das  Wesen  Gottes  selbst,  also  kein  „besonderes"  erstes  Prinzip  außerhalb 
dieses  Wesens. 


Digitized  by 


Google 


714 

230,30:  „numerisch^  4  h.  das  Ding  ist  ein  einziges  dem 
Substrate  nach,  indem  es  ein  Substrat  für  einen  einzigen, 
begrifflichen  Inhalt  bildet. 

231,30:  Es  ist  nur  Einheitliches.  Daraus,  daß  ein  und  der- 
selbe Inhalt  gemeinsam  in  zwei  Dingen  enthalten  ist,  ergibt  sich 
nicht,  daß  dasjenige,  was  von  diesem  Inhalte  in  dem  einen  von 
beiden  enthalten  ist,  auch  als  numerisch  ein  und  dasselbe  in  dem 
anderen  vorhanden  sei,  wie  es  die  große  Anzahl  der  Philosophen 
inbetreff  des  Universellen,  das  von  Natur  universell  ist,  lehrte. 
Sie  behaupteten:  die  menschliche  Natur  ist  als  numerisch  ein 
und  dieselbe  sowohl  ein  Bestandteil  des  Zaid,  als  auch  des 
'Amr,  des  Bekr  und  anderer,  indem  sie  in  diesen  allen  zugleich 
real  existiert.  Wenn  nun  einer  von  diesen  stirbt,  so  ist  dessen 
menschliche  Natur  nicht  vernichtet,  sondern  sie  wird  häufig  auf 
einen  anderen  übertragen  (der  in  diesem  Augenblicke  geboren 
wird.  Die  Verwandschaft  dieser  Lehre  mit  der  der  Seelen- 
wanderung scheint  offen  zu  Tage  zu  treten). 

232,4:  Die  meisten  „Figuren"  (d.h.  wohl  Gleichungen  der 
Mathematik)  gehören  zu  dieser  Kategorie  (wörtlich:  zu  diesem 
Orte)  auf  Grund  der  Ähnlichkeit  der  Termini  der  Relation. 

232,15:  Die  weiße  Farbe  des  Zweiten  ist  nicht  numerisch 
(wörtlich:  als  Individuum)  dieselbe,  als  die  weiße  Farbe  des  Ersten. 
Sie  ist  nur  spezifisch  mit  ihr  identisch.  Ebenso  ist  das  Verhältnis 
betreffs  der  Relation  des  esse  fratrem  in  dem  Ersten  und  dem 
Zweiten. 

233,10:  Damit  will  Avicenna  darauf  hinweisen,  daß  über 
die  Relation  drei  Lehrmeinungen  aufgestellt  werden.  Die  erstere 
sagt,  die  Relationen  sind  reale  Dinge  der  Außenwelt;  die  zweite 
besagt,  die  Relation  sei  ein  ursprünglicher,  begrifflicher  Inhalt;  die 
dritte  behauptet,  sie  sei  ein  Begriff  zweiter  (rein  logischer)  Ordnung. 

233,20:  Die  wahre  Definition  der  Relation  besagt,  sie  sei 
dasjenige,  dessen  Existenz  und  Wesenheit  darin  besteht,  daß  es 
in  sich  selbst  und  in  Beziehung  auf  sein  eigentlichstes  Wesen 
begrifflich  faßbar  ist  in  Beziehung  auf  ein  anderes  Ding,  das 
von  ihm  verschieden  ist  und  ebenso  von  seinem  Substrata 
Dieses  andere  (der  zweite  Terminus  der  Relation)  verhält  sich, 
in  sich  selbst  betrachtet,  in  der  gleichen  Weise  zu  dem  ersten 
Terminus.!)   Dem  Terminus  der  Relation  kann  keine  andere  Art 

0  Die  Eelation  ist  in  ihrer  reinen  Form  bilateral 


Digitized  by 


Googk 


715 

der  Existenz  zukommen,  noch  auch  überhaupt  von  ihm  gedacht 
werden,  außer  derjenigen  Existenz,  durch  die  es  ein  Relativum  ist 
(d.  h.  auf  einen  anderen  bezogen  wird).  Dies  ist  das  Eelativum, 
das  durch  sich  selbst  (per  se)  in  Kelation  steht,  und  dieses 
bedeutet  die  Beziehung  die  sich  rein  darstellt »)  in  dem  Bereiche 
der  Existenz  des  Relativum  und  in  der  Rangstufe  seiner  Wesen- 
heit, ohne  daß  man  sich  eine  andere  Seinsweise  desselben  außer 
dieser  (des  Relativums)  vorstellen  könnte.  Diese  Art  des  Seins 
(die  Relation)  haftet  den  übrigen  (neun)  Kategorien,  ja  sogar 
den  existierenden  Dingen  im  allgemeinen  an.  Daher  kommt 
dem  Substrate  der  Relation  als  solchem  die  bekannte  Relation 
zxL  Gott  aber  haftet  die  Eigenschaft  des  Ewigen  und  des 
wesenhaft  Notwendigen  in  einer  anderen  Weise  an,  die  ver- 
schieden ist  von  der  Art  der  Relation  in  den  zeitlich  ent- 
stehenden und  geistigen  Substanzen.  Dies  entspricht  der 
Verschiedenheit  der  Gestalten  (d.  h.  der  Formen,  der  Wesenheiten 
Grottes  und  der  Geschöpfe). 

233,28:  Diejenigen,  die  die  reale  Existenz  der  Relationen 
in  der  Außenwelt  leugneten,  suchten  ihre  Thesis  in  verschiedener 
Weise  zu  beweisen.  Sie  behaupteten  erstens:  Die  Relation 
ergäbe  notwendig,  wenn  sie  innerhalb  der  realen  Individuen 
bestände,  eine  unendliche  Kette;  denn  jede  dieser  Relationen 
müßte  wiederum  in  Relation  treten.*) 

234,1:  „Eine  Relation"  d.  h.  die  Vaterschaft  des  Vaters 
und  die  Sohnschaft  des  Sohnes  „ist  real  vorhanden"  d.  h.  nach 
der  Lehre,  daß  die  Relation  ein  einheitlicher  (und  für  beide 
Teile  gleicher)  Begriff  sei. 

234,3:  Vaterschaft  ist  ein  Akzidens  des  Vaters;  denn  die 
Vaterschaft,  die  im  Vater  vorhanden  ist,  ist  eine  Relation,  die 
besteht  zwischen  der  Vaterschaft  (als  Akzidens)  und  dem  Vater 
(als  Substrat). 

234,6:  Die  Verbindung,  die  zwischen  der  Vaterschaft  und 
dem  Vater  besteht,  ist  die  des  Inhärenzverhältnisses  zum  Vater 
(als  Subjekt  der  Inhäsion). 

234,16:  Diese  Behauptung  stützt  sich  darauf,  daß  der 
Wissende  und  das  Gewußte  zwei  in  Relation  stehende  Dinge 


0  oder:  die  zwischen  den  beiden  Termini  hinüber  mid  herüber  geht. 
^)  Die  letzten  fünf  Worte  mofiten  ergänzt  werden,  da  der  Text  frag- 
mentarisch ist 


Digitized  by 


Google 


716 

sind  Jedoch  sind  die  Auferstehung  und  die  Reihe  der  (zu- 
künftigen) Jahrhunderte,  die  beiden  termini  der  Belation,  nicht 
real  existierend. 

235,7:  Ein  Ding  inhäriert  einem  anderen,  ohne  daß  es 
dadurch  in  eine  andere  Relation  träte  (als  die  des  Inhärenz- 
Verhältnisses). 

235, 10:  Der  Vater  und  der  Sohn  sind  Terminus  der  Relation 
durch  Vermittelung  der  Relation  (des  einen  zum  anderen).  Der 
Umstand,  daß  das  Ding  (die  Relation)  in  diesem  Substrate 
(dem  Vater  und  dem  Sohne)  existiert,  ist  selbst  Terminus  der 
Relation. 

235,12:  Das  Resultat  dieser  Ausführungen  besagt,  daß 
z.  B.  Zaid,  damit  er  Terminus  der  Relation  sei,  erfordert,  daß 
ihm  die  Vaterschaft  als  Akzidens  zukomme.  Die  Vaterschaft 
selbst  jedoch  erfordert  nicht,  um  Terminus  der  Relation  zu  sein, 
eine  weitere  Relation,  die  ihr  als  Akzidens  zukommen  müßte. 
Sie  ist  vielmehr  selbst  per  se  Terminus  der  Relation.  Daher 
ergeben  die  entia  relativa  keine  unendliche  Kette,  (indem  es 
unrichtig  ist,  daß  jede  Relation  eine  andere  voraussetze). 

238, 5:  Andere  solche  Relationen,  die  der  des  Früheren  und 
Späteren  in  der  Ordnung  des  Verstandes  gleichen,  sind  so  be- 
schaffen, daß  der  eine  der  beiden  Termini  nicht  existiert  Denn 
beide,  das  (reale)  Frühere  und  Spätere  in  der  Zeit,  und  das 
(logische)  Frühere  und  Spätere  im  Geiste,  sind  in  Relation 
stehende  Dinge  durch  eine  Relation,  die  eintritt  zwischen  dem 
begrifflich  faßbaren  Objekte  und  dem  Begriffe,  der  nicht  aus 
einem  realen,  besonderen  Objekte  entnommen  ist  Daher  sind 
also  die  beiden  Termini  der  Relation  nicht  zugleich  real  exi- 
stierend. Der  Philosoph  beschäftigt  sich  sodann  mit  der  Ijösung 
der  Schwierigkeit,  indem  er  sagt,  wisse  u.s.w.  (wohl  S.  237,7), 
indem  er  sich  stützt  auf  die  Lehre,  daß  das  Frühere  und  Spätere 
in  der  Zeit  oder  im  Geiste  im  absoluten  Sinne  nur  ein  begriff- 
liches Sein  bedeutet  Dieses  findet  zwischen  zwei  Ideen  statt, 
die  zu  gleicher  Zeit  im  Geiste  existieren.  Die  genannte 
Schwierigkeit  kann  jedoch  auch  in  einer  anderen  Weise  gelöst 
werden.  Wir  haben  auf  diese  Weise  bereits  hingewiesen  in  den 
Kategorien»)   und  in  unserer  Schrift   „die  Erleuchtungen  und 


0  Vielleicht  eine  Glosse  zu  den  Kategorien  Avicennas. 


Digitized  by 


Googl( 


717 

Ehrungen"  0  haben  wir  dasselbe  ausgeführt,  indem  wir  lehrten: 
das  früher  Existierende  kann  nur  als  ein  Früheres  bezeichnet 
werden,  wenn  das  Spätere  bereits  existiert,  und  daher  hat  das- 
jenige, was  als  später  gekennzeichnet  ist,  bereits  in  dem  Späteren 
reale  Existenz,  d.  h.  in  demjenigen,  was  zeitlich  auf  das  erste 
folgt.  Dasjenige,  wodurch  die  Gleichzeitigkeit  (zweier  Gegen- 
stände) begründet  wird,  ist  in  seiner  realen  Existenz  (nur)  das 
Jetzt  (eventuell:  die  Zeit). 

239,5:  Der  Begriff  „Arten"  bezeichnet  etwas  wie  die  reinen 
Begriffe. 

240,23:  Dasjenige,  was  dem  ersten  Beweger  am  nächsten 
steht,  verhält  sich  zu  ihm  wie  Wirkung  und  Wirkursache. 

244, 2:  Die  Theologen  definierten  das  Frühersein  auf  Grund 
der  Ursache  und  stellten  fest,  daß  dieses  ein  Früher  dem  Wesen 
nach  sei  in  Beziehung  auf  das  „notwendige  Sein".^)  Es  trifft 
zugleich  mit  einem  durch  das  esse  actu  determinierten  Gegen- 
stande 3)  ein,  entweder  in  der  Zeit  oder  in  dem  aevum.  Es  ist 
also  das  durch  seine  Ursächlichkeit  Frühere  einer  der  beiden 
Begriffe,  die  man  bezeichnet  als  das  in  der  Zeit  Existierende, 
„mit"  dem  „gleichzeitig"  oder  „durch"  das  oder  „von"  dem  her 
die  Seinsart  (d.  h.  das  esse  relativos)  eintritt,  die  beiden  zugleich*) 
aktuell  zukommt.  Das  auf  Grund  seiner  Eigenschaft  als  Wirkung 
später  Seiende  ist  das  eine  von  beiden  Termini,  mit  dem  zugleich 
das  andere  existiert.  Dieses  (die  Ursache)  erhält  sein  Dasein 
jedoch  nicht  „durch"  das  andere  (die  Wirkung),  noch  leitet  sich 
„von  ihm  her"  das  esse  actu  des  anderen  (das  die  Ursache 
charakterisiert)  ab.  Das  Spätersein  kommt  demselben  vielmehr 
zu,  entweder  auf  Grund  seines  Wesens  oder  auf  Grund  eines 
dritten  Dinges.  Das  Ding  kann  jedoch  nur  dann  im  eigent- 
lichen Sinne  ein  früheres  sein  auf  Grund  der  Ursächlichkeit, 


*)  Ein  Buch  unter  diesem  Titel  ist  aus  der  arabischen  Literatur  in 
Europa  nicht  bekannt  geworden.  Sein  Verfasser  war  wohl  Besitzer  der 
Handschrift  c  und  hat  eigenhändig  die  zahlreichen  Glossen,  die  mit  ver- 
schwindend geringen  Ausnahmen  dieselbe  Schreibweise  zeigen,  eingetragen. 

•)  Die  Ursache  bringt  ihre  Wirkung  „notwendig"  hervor.  Dieses  „not- 
wendige Sein"  ist  fundamentum  relationis  zwischen  Ursache  und  Wirkung. 

»)  Die  Ursache  ist  durch  das  Aktuellsein,  die  Wirkung  durch  das 
Potenziellsein  charakterisiert. 

*)  Die  Wirkung  ist  der  Ursache  gleichzeitig.  Die  Relation  beider  ist 
also  eine  simultane. 


Digitized  by 


Googl( 


718 

wenn  zugleich  mit  ihm  aktuell  das  Ding  existiert,  das  auf 
Grund  seiner  Eigenschaft  als  Wirkung  später  ist«)  Das  Früher- 
sein der  Ursache  ist  das  Frühersein  des  Wirkenden,  der  voll- 
kommen ist  (d.  h.  der  adäquaten  Ursache).  Es  ist  femer  klar^ 
daß  der  Ewige  und  notwendig  Seiende  der  vollkommen  Wirkende 
ist  für  das  Sein,  das  zuerst  aus  ihm  hervorgeht,  und  für  die 
Ordnung  der  Ideenwelt  (wörtlich:  „für  die  abstrakte  Ordnung"). 
250:  Das  Bewirkte  als  solches  besteht  in  seinem  Wesen 
und  seiner  Existenz  nur  die  Fähigkeit  eines  Wirkenden,  da 
es  aus  dem  Bestehen  des  Wirkenden  und  durch  seine  Kraft 
existiert.  So  verhält  sich  nicht  der  Wirkende  selbst  in  Be- 
ziehung zur  Wirkung.  Das  Seiende,  das  in  seinem  Wesen 
materiell  ist,  besitzt  seine  Existenz  nicht  auf  Grund  seines 
Wesens,  sondern  auf  Grund  seiner  Materie.  Es  ist  daher  ein 
solches,  das  die  Wesenheit  besitzt  2)  und  seine  Existenz  haftet 
einer  Wesenheit  an.  So  gelangt  man  hin  3)  zu  dem  Wahren, 
der  das  ewige  und  das  in  sich  bestehende  Sein  ist  Sein  Wesen 
und  seine  Existenz  gründet  sich  nicht  auf  ein  anderes  Ding. 
Sein  Wesen  besteht  vielmehr  durch  sein  Wesen  selbst  und  seine 
Existenz  durch  sich  selbst.  Alles  aber,  was  außerhalb  dieses 
ersten  Seienden  existiert,  besitzt  sein  Wesen  auf  Grund  des 
Wesens  (Jottes  und  seine  Existenz  besitzt  es  nicht  durch  sich 
selbst.  Die  Existenz  jedes  Dinges  vielmehr,  das  eine  Wesenheit 
besitzt  und  in  sich  aufnimmt,  wird  hergeleitet  (und  verursacht) 
von  einer  anderen  Wesenheit.  Die  Existenz  jedes  materiellen 
Dinges  besteht  daher  auf  Grund  seiner  Materie  (und  haftet 
dieser  an).  Das  Wesen  jeder  Wirkung  und  die  Existenz  jeder 
Wirkung  gründet  sich  auf  den  Wirkenden.  Folglich  ist  das 
Wesen  und  die  Existenz  Gottes  nicht  auf  ein  anderes  Ding^ 
zurückzuführen.  Ihm  gehört  das  Wesen  jedes  Dinges  und  seine 
Existenz.  Er  besitzt  alles,  was  in  den  Himmeln  und  auf  der 
Erde  ist,*)  d.  h.  alles,  was  in  den  beiden  Bereichen  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung  und  der  begrifflichen  Erfassung  liegt  Die 
Finsternisse  und  das  Licht,  die  Herrschaft  und  die  Ehre  kommen 


^)  Das  Früher  und  Später  zwischen  beiden  ist  also  rein  logfischer 
Ordnung. 

')  Es  ist  nicht  eine  subsistierende  Wesenheit  wie  die  reinen  Geister 
und  Gott,  sondern  eine  in  ein  Substrat  aufgenommene  Wesenheit 

*)  Übersetzung  unsicher. 

«)  Koran  2,  256.  3,  27  et  passim. 


Digitized  by 


Googk 


719 

Ihm  zu.  Die  existierenden  Dinge  sind  daher  nur  Wesen  zweiter 
Ordnung")  und  Dinge,  die  in  Verbindung  stehen  mit  anderen,^) 
abgesehen  von  dem  Seienden,  der  der  Wahre  ist 

251,31:  Die  Veränderung,  die  von  einem  Dinge  auf  ein 
anderes  übergeht,  ist  die  Wesensform  des  zweiten. 

252, 27:  Mit  dem  Ausdrucke  Aktualität  wird  der  Gegenstand 
bezeichnet,  weil  dasjenige,  was  in  der  Möglichkeit  existiert,  not- 
wendigerweise durch  die  „Aktualität"  aktuell  •  wird,  selbst  wenn 
darin  eine  Passivität  enthalten  ist.  —  Sajid  Ahmed. 

Da  das  Ding  sich  so  verhält,  so  nannte  man  dieses  (die 
Aktualität  einer  potentia  passiva)  ein  Leiden,  indem  man  die 
Aufmerksamkeit  hinlenkte  auf  die  Möglichkeit  des  Aktuellseins. 
Ebenso  verhält  sich  das  Aktuellsein  zu  dem,  was  man  früher 
als  potenziell  bezeichnete;  d.  h.  es  verhält  sich  wie  das 
Aktuellsein  in  dem  Sinne  der  Kategorie  des  agere  zu  dem,  was 
eben  als  eine  Potenz  bezeichnet  wurde.  Diese  Potenz  bedeutet 
eine  Fähigkeit,  die  3)  in  dem  Lebewesen  real  existiert. 

Cod.  bc:  Damit  ist  ein  Hinweis  gegeben  auf  die  ursprüng- 
liche Benennung,*)  d.  h.  die  Fähigkeit  (wörtlich  ratio),  die  in  dem 
animal  existiert  (nämlich  die  Fähigkeit  zu  wirken).  Wenn  nun 
dasjenige,  was  sich  auf  diese  Fähigkeit  stützt  und  in  der  Seins- 
ordnung auf  sie  folgt,  die  Tätigkeit  ist  in  dem  Sinne  der  Kate- 
gorien (das  agere),  so  lehrte  der  Philosoph:  „mit  diesem  Worte 
(Potenz)  wird  nur  das  bezeichnet,  was  im  eigentlichen  Sinne 
(Fähigkeit)  ist." 

253,3:  Das  Quadrat  ist  die  Potenz  seiner  Seite.  Dies 
verhält  sich  wie  die  Bewegung  der  geraden  Linie  in  die  Breite 
(durch  die  das  Quadrat  entsteht). 

253, 18:  Dasjenige,  was  so  beschaffen  ist,  daß  es  nur  aktiv 
wirkt,  findet  sich  unter  der  Bedingung,  daß  es  ein  Wirken 
besitzt,  ohne  zugleich  zu  wollen  oder  sich  frei  zu  entschließen. 
Ein  solches  Ding  besitzt  keine  Macht  noch  eine  Fähigkeit  in 


*)  Der  arabische  Text  ist  an  dieser  Stelle  nndeiitlich. 

*)  Wörtlich:  „die  eine  Verbindung  hersteUen".  Es  ist  die  Verbindung 
der  Wirkung  mit  der  Ursache  gemeint,  die  allem  Qeschöpflichen  gemein- 
sam ist. 

•)  WörtUch:  „das,  was«. 

*)  Wörtlich:  „Auf  den  Ursprung  der  Thesis".  Jede  Benennung  geschieht 
^iastj  nicht  tpvost. 


Digitized  by 


Google 


720 

dem  genannten  Sinne,  selbst  wenn  es  nur  wirkt  durch  irgend 
einen  Willen.  Jedoch  steht  es  ewig  in  Verbindung  mit  einem 
Willen.  Diese  Ewigkeit  ergibt  sich  denknotwendig J)  Es  be- 
sitzt notwendig  einen  Willen,  der  sich  ergibt  entweder  in 
zufälliger  2)  oder  wesenhafter  und  notwendigerweise.  Die  Ver- 
änderung desselben  ist  unmöglich,  und  zwar  in  „zufälliger"  (per 
accidens)  oder  in  wesenhaft  notwendiger  Weise  (per  se).  Es 
wirkt  konsequenterweise  nur  durch  eine  Macht  und  einen  freien 
Willensentschluß.  Der  Wahre  verhält  sich  vielmehr,  wie  wir 
in  unserem  Buche  über  die  „Erleuchtungen  und  Ehrungen"  und 
in  anderen  Schriften  gezeigt  haben  so,  daß  die  Macht  und  der 
freie  Willensentschluß  durch  die  Notwendigkeit  des  Willens 
bestimmt  und  gefestigt  wird  in  einer  wesenhaften  Notwendigkeit 
Es  verhält  sich  so,  wenn  der  Wirkende  und  Mächtige  in  seinem 
Wesen  selbst  der  Willensentschluß  ist,  und  trotzdem  wird  der 
göttliche  Wille  genannt  das  recht  geleitete  Hervorgehen  oderXicht- 
hervorgehen  (der  Schöpfung  aus  (Jott).  Die  richtigeLeitung  (des 
Schaffens)  wird  in  Rücksicht  gezogen  in  der  Definition  der  gött- 
lichen Macht  und  bestimmt  in  Beziehung  auf  das  Wesen  des 
Wirkenden  und  des  Mächtigen,  jedoch  zugleich  auch  in  Beziehung 
auf  die  Wirkung  und  das  Objekt  der  Macht;  denn  das  Wesen  des 
Wirkenden  und  Mächtigen  ist,  wie  folgt,  beschaffen.  Steht  sein 
Objekt  in  Beziehung  zu  der  Ordnung  des  Guten  im  Bereiche 
des  Wirklichen,  dann  richtet  sich  sein  Wille  auf  dieses  Objekt 
in  der  genannten  Hinsicht  Wenn  jedoch  die  Wirkung  in  sich 
selbst  nicht  etwas  ist,  dessen  Wesen  die  Ordnung  des  Guten  im 
abstrakten  und  ideellen  Sein  bedeutet,  dann  richtet  sich  sein 
Wille  nicht  auf  dieses  Objekt 5)  Der  Inhalt  der  Darlegung 
(Avicennas)  ist  identisch  mit  dem,  was  wir  erwähnt  haben  in 
der   Darlegung    über    „das   Himmelreich"*)    daß   nämlich   das 


*)  Die  Naturkräfte  stehen  immer  in  Abhängigkeit  von  den  himmlischea 
Geistem,  die  den  sublnnarischen  Dingen  Wesen  und  Wirken  yerleihen. 

*)  Aus  einem  zufälligen  Zusammenwirken  von  Agenzien  ergeben  sich 
die  Ereignisse,  die  sicut  in  paucioribus  eintreffen.  Die  per  se  wirkenden 
Ursachen  ergeben  die  gesetzmäßigen  Erscheinungen. 

>)  Das  Böse  entsteht  in  der  göttlichen  Weltleitung  nur  per  acddens. 
Der  göttliche  WiUe  richtet  sich  nicht  per  se  auf  dasselbe. 

*)  Wörtlich:  „in  dem  Blatte  über  das  Himmelreich".  Der  TitÄl  dieses 
unbekannten  Werkes  erinnert  an  die  „Blätter  über  Theologie"  von  Samar- 
kandi  1291t. 


Digitized  by 


Googk 


721 

Wort»)  der  wahren  und  richtigen  Weisheit  ein  reales  Wesen 
darstellt  nach  dem  Sprachgebrauche  des  richtigen  Denkens.  Die 
große  Menge  (der  Gelehrten)  nehmen  es  in  dieser  Gebrauchs- 
weise an. 

254, 1  unten:  Avicenna  bezeichnet  mit  diesen  Worten  die 
Beziehung  der  Fähigkeiten  2)  zu  der  Vernunft  und  der  kombi- 
nierenden Phantasie.  Er  lehrt,  daß  diese  Fälligkeiten  die  ver- 
schiedenen, die  ähnlichen,  wie  auch  die  konträren  Objekte  er- 
kennen können.  In  dieser  Weise  sind  Verstand  und  kombinierende 
Phantasie  befähigt,  beide  Teile  (beide  Kontraria  eines  Genus) 
zu  erkennen.  Jene  niederen,  bewegenden  Fähigkeiten  und  diese 
beiden  (Phantasie  und  Verstand)  verhalten  sich  also  wie  ein 
und  dasselbe  Ding  5)  und  dies  ist  die  Fähigkeit,  die  auf  beide 
Dinge  gerichtet  ist  und  fiber  sie  Macht  hat 

255, 11:  Ebenso  (wie  die  Prinzipien  des  Handelns)  verhalten 
sich  die  Prinzipien  des  Erkennens  (wörtlich:  der  Aussage). 

256,10:  Es  verhält  sich  wie  das  Feuer;  denn  dieses 
verbrennt  den  Körper,  sobald  derselbe  ihm  nahe  gebracht  wii'd. 

260, 17:  Dasselbe  behauptete  eine  Gruppe  von  Philosophen, 
nämlich  die  Asch'ariten,  die  sich  herleiten  von  den  Mutakallimün. 

Der  Name  Gärbakü  erinnert  in  etwa  an  Aratos  315 — 245 
V.  Chr.  Die  genannte  Lehre  ist  eine  Thesis  der  orthodox -theo- 
logischen und  zugleich  der  mutazilitischen  Richtung.  Vgl.  de 
Boer,  Gesch.  d.  Philosophie  im  Islam  S.  46,  Z.  15  ff. 


>)  Als  Wort  bezeichnet  man  im  prägnanten  Sinne  das  Schöpferwort 
„es  werde". 

*)  Damit  sind  die  Fähigkeiten  gemeint,  die  die  Bewegungen  aus- 
führen. 

*)  Die  psychischen  Fähigkeiten  sind  auf  konträre  Gegensätze  gerichtet. 
So  kann  z.  B.  das  Auge  das  Weiße  und  das  Schwarze  wahrnehmen  und  die 
bewegende  Fähigkeit  schneU  und  langsam  gehen.  Die  Naturkräfte  sind 
jedoch  nur  für  eine  bestimmte  Wirkung  determiniert.  Die  psychischen  Kräfte 
haben  den  genannten  weiteren  Spielraum  durch  ihre  Verbindung  mit  der 
erkennenden  Fähigkeit  (Phantasie  und  Verstand),  die  die  Kontraria  erfassen 
kann.  Kam  nun  eine  Tätigkeit  zustande  durch  das  Zusammenwirken  und  In- 
einandergreifen aller  dieser  Fähigkeiten,  dann  verhalten  sie  sich  wie  ein 
einziges  Prinzip  (im  Texte  „Ding"),  aus  dem  die  Tätigkeit  hervorgeht.  Von 
einer  Vielheit  von  Potenzen  kann  nur  eine  Vielheit  von  Tätigkeiten  ausgehen, 
wenn  nicht  diese  Vielheit  der  Agenzien  durch  eine  organisatorische  Kraft 
(dies  ist  in  erster  Linie  der  Verstand,  in  zweiter  die  cogitativa  und  die 
kombinierende  Phantasie)  einheitlich  zusammengefaßt  wird. 

Horten,  Das  Bnoh  der  Geueauug  der  äeelc.  46 


Digitized  by 


Googl( 


722 

267,30:  Ein  Prinzip,  das  die  Handlung  erieichtert,  ist  ein 
solches,  das  für  dieselbe  disponiert.  Jedes  zeitlich  entstehende 
Ding  ist  so  beschaffen,  daß  seiner  Existenz  die  Materie  voraus- 
geht. Das  können  sie  nicht  gegen  die  genannte  Thesis  Tor- 
bringen,  daß  ihre  Lehre  sich  ausschließlich  bezieht  auf  das  zeit- 
lich Entstehende  als  solches,  das  auftritt  nach  dem  (ewig 
bestehenden)  Nichtsein,  nicht  auf  das  zeitlich  Entstehende, 
insofern  es  ein  Seiendes  ist  nach  dem  eigentlichen  Nichtsein. 
Es  beginnt  daher  zu  sein,  nachdem  es  im  absoluten  Sinne 
nicht  war. 

272,21:  Das  Ding  ist  ein  non  ens  im  absoluten  Sinne, 
d.  h.  es  ist  weder  aktuell  noch  auch  potenziell. 

275,5:  Damit  bezeichnet  Avicenna  die  ewige  Tätigkeit 
die  nicht  vergeht,  und  die  individuelle  Tätigkeit,  die  vergeht,  — 
beide  in  gleicher  Weise.  Die  Philosophen  Behmenjär,*)  und 
Kaukari  und  der  Meister  der  mystischen  Illumination,  Suhra- 
wardi  1191  f  jedoch  fügen  die  ewige  Tätigkeit,  die  nicht  ver- 
geht, nicht  hier  ein. 

275,11:  Das  Frühersein  ist  ein  solches  eines  ewigen 
Dinges,  das  ewig  ist  in  dem  aevum,  femer  ein  Frühersein  auf 
Grund  der  Ursache  oder  ein  Frühersein  auf  Grund  der  Natur 
oder  Frühersein  dem  Wesen  oder  der  Zeit  nach.  Dieses  letztere 
bedeutet  das  Leiden  eines  individuellen  und  vergänglichen 
Dinges. 

278,11:  Es  sind  zwei  Prinzipien  (d.h.  ein  erstes  und  ein 
letztes  Glied).  So  verhält  sich  die  Dreizahl  in  Beziehung  auf 
die  Vier.  Sie  besitzt  zwei  Prinzipien,  (d.  h.  ihr  erstes  und  letztes 
Glied  sind  einfach  und  eindeutig). 

279,20:  Erhaben  über  die  Vollendung  befindet  sich  der 
Schöpfer  (vergL  dazu  Färäbi,  Ringsteine  Nr.  23). 

284,  Titel:  Das  zweite  Kapitel  handelt  von  der  Art  und 
Weise,  wie  die  Quantität  den  universellen  Naturen  anhaftet  und 
es  vervollständigt  die  Abhandlung  über  diese  Thesen.  Ebenso 
handelt  es  über  die  Verschiedenheit,  die  besteht  zwischen  dem 
Ganzen  und  dem  Teile,  dem  Universellen  und  Singulären.  Das 
dritte  handelt  über  den  Unterschied,  der  besteht  zwischen  dem 
Genus  und  der  Materie.  Das  Vierte  handelt  darüber,  in  welchem 
Sinne  diejenigen  Begriffe,  die  nicht  zum  Genus  gehören,  in  die 

>)  Brockehn  1 458,  Nr.  3. 


Digitized  by 


Googk 


723 

Natur  des  Genus  eintreten.  Das  fünfte  handelt  über  die  Dar- 
legung der  Definition  und  des  definierten  Gegenstandes.  Das 
sechste  handelt  über  die  Differenz  und  ihre  Klarstellung;  das 
siebente  über  die  Beziehung  der  Definition  und  ihrer  Teile. 

286,13:  Diese  andere  ratio  ist  die  Wesenheit  des  Pferdes. 
Ebenso  verhält  sich  die  Wesenheit  des  Menschen. 

288,15 — 16:  Die  Wesenheit  des  Menschen  ist  verschieden 
von  der  Einheit  (des  individuellen  Menschen);  denn  das  Eine 
und  das  Viele  und  andere  Begriffe  treten  nicht  in  die  Defi- 
nition des  esse  hominem  ein  (bilden  keinen  Bestandteil  der- 
selben), sondern  sind  nur  eine  Eigenschaft,  die  dem  Wesen 
anhaftet. 

290, 9:  Der  Ausdruck  „eine  menschliche  Natur"  bezeichnet 
(wörtlich:  affirmiert)  sowohl  eine  menschliche  Natur  (als  abstrakte) 
als  auch  die  Bestimmung,  daß  sie  in  Zaid  (als  individualisierte) 
vorhanden  ist 

302,9:  Wir  bezeichnen  diese  Natur  als  einen  universellen 
Begriff,  der  aktuell  prädiziert  wird  von  vielen  Einzeldingen,  oder 
der  sich  so  verhält,  daß  er  von  vielen  Einzeldingen  ausgesagt 
werden  kann,  oder  so,  daß  kein  Hindernis  dagegen  besteht,  daß 
er  von  vielen  ausgesagt  wird. 

802,11:  Das  Universale  ist  kein  Einzelding  d.  h.  es  ist  im 
Bereich  der  wirklichen  Dinge  kein  reales  Wesen,  das  universeller 
Natur  wäre.  Das  Universelle  ist  vielmehr  nur  eines  der  Akzi- 
denzien der  Dinge. 

303, 21:  Ein  und  dieselbe  Natur  kann  nicht  zugleich  körper- 
lich und  unkörperlich  sein,  weil  es  nicht  möglich  ist,  daß  ein 
und  dieselbe  Natur  materiell  und  auch  unmateriell  sei  in  den 
göttlichen  (d.  h.  metaphysischen)  Dingen  und  daß  sie,  um  real  zu 
werden,  die  körperliche  Substanz  annehme  (d.  h.  Körper  werde) 
und  in  diesem  Sinne  sagte  Avicenna:  „es  ist  daher  nicht  möglich, 
daß  die  Natur  die  Art  des  Genus  besitze  und  der  Materie 
bedürftig  wäre  (um  zur  Existenz  gelangen  zu  können)". 

312,8:  Avicenna  erwähnt  diese  Substanzialität  d.  h.  die 
lange,  breite  und  tiefe  Substanz,  ohne  in  Rücksicht  zu  ziehen, 
daß  dieser  tausenderlei  andere  Bestimmungen  inhärieren  oder 
nicht  Diese  Bestimmungen  weisen  hin  auf  die  besondere  Natur 
dieser  Substanzialität,  wie  z.  B.  auf  die  besondere  Beschaffenheit, 
daß  sie  ein  Tier  oder  ein  fester  Körper  oder  eine  Pflanze,  ein 
Mensch  oder  etwas  anderes  sei 

46* 


Digitized  by 


Google 


724 

312, 16:  Die  erwähnten  Begriffe,  i  h.  die  tausenderlei  Be- 
stimmungen haften  der  Substanz  akzidentell  an. 

312, 25:  Wesensformen  sind  die  Dinge  (d.  h.  die  Realien), 
die  der  Körperlichkeit  anhaften. 

312,27:  Die  Summe  ist  das,  was  aus  dem  Genus  und  der 
Wesensform  zusammengesetzt  ist 

312,29:  Auf  diese  Weise  ist  es  möglich,  daß  von  diesem 
Dinge,  d.  h.  von  den  Zusammensetzungen  ausgesagt  wird,  daß 
diese  Körper  seien  in  dem  Sinne,  der  den  Körper  nur  bezeichnet 
als  das  Lange,  Tiefe  und  Breite. 

313,14:  Die  Summe  dieser  Bestimmungen  ist  das  animal 
brutum. 

313,21:  Der  Körper,  derein  Teil  der  Definition  des  animal 
ist,  wird  betrachtet,  insofern  er  Genus  desselben  ist,  nicht  in 
dem  Sinne,  daß  er  eine  Materie  bezeichnet,  d.  h.  der  Körper,  der 
Teil  des  animal  ist,  wird  nicht  in  dem  Sinne  genommen,  in  dem 
er  nur  eine  lange,  breite  und  tiefe  Substanz  bezeichnet.  Man 
versteht  den  Körper  vielmehr  ak  ausgestattet  mit  der  Möglich- 
keit, die  sinnliche  Wahrnehmung,  die  Bewegung,  Ernährung  und 
Funktionen,  die  zu  den  Wesensformen  gehören,  zu  besitzen. 
Selbst  Bestimmungen,  wie  die  des  rationale  oder  irgend  eine 
andere,  wie  die  des  Wiehems  oder  des  Schreiens  des  Esels  und 
ähnliche  kommen  in  Frage,  sonst  ist  der  Begriff  des  animal  kein 
Genus  (d.  h.  wenn  er  nicht  determiniert  werden  kann  durch 
Differenzen).  Nimmst  du  z.  B.  den  Körper,  der  in  dem  Begriffe 
des  animal  einbegriffen  ist,  in  dem  Sinne  einer  langen,  breiten 
und  tiefen  Substanz  allein,  indem  du  zugleich  die  Bedingung 
stellst,  daß  ihm  keine  andere  Bestimmung  zukomme,  dann  hast 
du  seinen  Charakter  als  Genus  des  animal  vernichtet  Dieses 
ist  offenbar.  Daher  ist  es  notwendig,  daß  wir  die  übrigen  Dinge, 
die  in  dem  Begriffe  des  animal  enthalten  sind,  mit  in  Rücksicht 
ziehen.  So  müssen  wir  z.  B.  in  Rücksicht  ziehen  die  Fähigkeiten 
der  Ernährung,  der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  der  Bewegung, 
die  in  dem  Begriffe  des  animal  enthalten  sind.  Wir  dürfen 
dasselbe  jedoch  nicht  betrachten,  insofern  es  nur  ein  animal 
ist,  sondern  müssen  dasselbe  nehmen  in  dem  Sinne,  daß  ihm 
zugleich  auch  das  rationale  oder  irgend  etwas,  was  zu  diesem 
in  Gegensatz  steht,  oder  irgend  eine  andere  Bestimmung,  die 
im  Vergleiche  zu  dem  Begriffe  „animal''  etwas  Äußeres  ist, 
zukommen  kann.    Diese  Bestimmungen  müßten  „andere**  (außen- 


Digitized  by 


Googk 


725 

stehende)  sein,  indem  in  Folge  derselben  das  Ding  weder  affirmiert 
noch  negiert  wird.  (Sie  müssen  sich  also  indifferent  verhalten.) 
Daraus  ergibt  sich,  daß  das  animal,  wenn  du  diesen  Begriff 
in  dieser  Weise  betrachtet  hast,  ein  Genus  darstellt,  sonst 
aber  nicht. 

315,5:  Nachdem  die  Differenzen  hinzugefügt  worden  sind, 
findet  man,  daß  das  Ding  eben  dieses  Wesen  ist  (Die  Diffe- 
renzen bestimmen  also  das  Wesen.) 

315, 7:  Die  Darlegung  beschäftigt  sich  mit  dem  Verhältnisse 
der  Materie,  des  Genus  und  der  Art  in  dem  zusammengesetzten 
nicht  in  dem  einfachen  Körper,  indem  sie  das  Problem  behandelt, 
welcher  Begriff  früher  und  welcher  später  sei  u.  s.  w. 

215,17:  Der  Körper  ist  Genus,  wenn  du  diesen  Begriff 
(die  Differenz)  allein  betrachtest,  ohne  einen  anderen  hinzuziehen; 
(denn  im  Vergleiche  zu  anderen  Begriffen  ist  „Körper"  nicht 
mehr  „Genus"). 

315, 16:  „Die  Materie  ist  ein  vollkommenes  Wesen",  bedeutet, 
daß  in  dem  individuellen  Hinweise  auf*)  dieses  Wesen  (ratio) 
der  Gedanke  eingeschlossen  ist,  daß  alle  Bestimmungen,  die  Teile 
des  Wesens  bilden  können,  um  dasselbe  zu  einem  Individuum 
zu  machen  (wörtlich:  in  diesem  speziellen  Hinweise),  nämlich 
die  Differenzen  und  propria,  die  sich  außerhalb  des  Wesens 
befinden,  in  dem  Gegenstande  vorhanden  seien.  Dasjenige  aber, 
was  Teil  des  Genus  sein  kann,  ist  nicht  etwa  die  Summe  aller 
sich  entgegenstehenden  Differenzen  und  propria;  denn  diese 
Wesenheit  (ratio)  kann  nicht  vollendet  werden  dui'ch  das  Vor- 
handensein aller  Differenzen  in  einer  einzigen  Art  der  Betrach- 
tungsweise, weil  sie  sich  gegenüberstehen.  (In  Opposition 
stehende  Differenzen  können  nicht  als  dem  Subjekte  zugleich 
zukommend  aufgefaßt  werden.) 

316,5:  Die  Natur  der  Körperlichkeit  haftet  dem  homo 
früher,  als  die  animalitas  an  und  zwar  in  der  begrifiOichen 
Fassung  des  Objektes  nur  in  gewisser  Weise.  Diese  besteht 
darin,  daß  man  den  Begriff  der  Körperlichkeit  in  dem  Sinne 
der  Materie,  nicht  insofern  er  Genus  des  animal  ist,  auffaßt.  Das 
Frühersein  der  körperlichen  Natur  trifft  auch  zu  in  dem  realen 
Dinge  der  Außenwelt,  wenn  der  Körper  der  Außenwelt  genommen 


0  Der  Ansdrnck  „der  Hinweis  auf"  (toSe  ti)  bezeichnet  das  Individuum 
dieses  Wesens,  also  einen  individuellen  Körper. 


Digitized  by 


Googk 


726 

wird  in  einem  Sinne,  in  dem  er  von  dem  Menschen  nicht  prädiziert, 
werden  kann,  d.  h.  in  dem  Sinne  der  (physischen)  Materie 
nicht  etwa  in  dem  Sinne,  in  dem  er  von  dem  Menschen  prädiziert 
wird,  d.  h.  nicht  in  dem  Sinne  des  Genus.  Die  scharfsinnige 
Auffassungsweise  des  Philosophen  möge  nicht  verborgen  bleiben; 
denn  er  weist  in  der  Darlegung  des  logischen  Früher  hin  auf 
das  Früher  in  der  realen  Außenwelt  und  umgekehrt,  und  in 
diesem  Sinne  veränderte  er  seine  Erklärungsweise. 

316, 2  unten:  Die  Materie,  d.  h.  nicht  die  physische,  sondern 
die  Materie  in  dem  Sinne  des  Genus,  erhält  ihre  Existenz,  d.  h. 
sie  verhält  sich  wie  der  Körper  in  dem  Sinne  der  (physischen) 
Materie;  denn  dieser  ist  ein  Teil  der  Existenzweise  des  animal 
im  genannten  Sinne. 

316,6:  Dieses  „Früher"  entspricht  dem,  was  sich  aus  dem 
Erwähnten  ergibt,  d.  h.  der  Körper  in  dem  Sinne  der  Materie 
ist,  sowohl  in  der  begrifflichen  Fassung  als  auch  in  der  realen 
Existenz  fi'üher,  als  das  animal. 

316,18:  Der  Begriff  der  Körperlichkeit  kommt  dem  Dinge 
nicht  zu  auf  Grund  seiner  Wesenheit,  weil  die  animalitas  früher 
ist,  als  die  Körperlichkeit  in  dem  Sinne  des  Genus.  Umgekehrt 
verhält  sich  die  physische  Materie. 

316, 25:  Der  zweite  Fall  (d.  h.  der  physische  Körper)  ist 
nur  denkbar  auf  Grund  der  „Erwähnung"  dieses  ersten  (des 
logischen  Körpers  als  Genus);  denn  er  ergibt  sich  (aus  demselben). 
Der  zweite  ist  also  das  aus  dem  ersten  Abgeleitete  (wörtlich: 
Hergenommene)  und  der  erste  ist  nichts  anderes  als  dasjenige, 
was  in  dem  zweiten  (als  logischer  Teil)  existiert  Denn  der 
Körper  in  dem  Sinne  der  physischen  Materie  geht  der  Spezies 
voraus  (da  er  ein  Teil  des  Individuums  ist,  und  der  Teil  früher 
ist,  als  das  Ganze). 

317,7:  Der  Körper  ist  die  Ursache  für  die  Spezies  des 
Dinges;  denn  er  ist  ein  Teil  derselben. 

317, 8  Text  c:  Der  Körper  in  dem  Sinne  der  Materie  ist 
früher,  als  diese,  d.  h.  früher  als  die  Art.  Nimmt  man  den  Körper 
in  dem  Sinne  des  Genus,  und  wäre  derselbe  dann  Ursache  für 
die  Existenz  der  Art,  dann  würde  es  auch  zutreffen,  daß  der- 
selbe eine  reale  und  wirkliche  Existenz  besäße  vor  der  Existenz 
der  Art,  wie  sich  ja  der  Körper  in  gewissem  Sinne  (d.  h.  als 
physischer  Körper)  so  verhält.  Jedoch  besitzt  er  keine  reale 
Existenz  (ohne  die  differentia  specifica). 


Digitized  by 


Googl( 


727 

Die  animalitas  kann  in  diesem  Sinne  Teil  der  Körperlichkeit 
sein,  d.  h.  insofern  man  den  Körper  als  ein  Genus  betrachtet 
Dabei  (wörtlich:  nachdem)  ist  es  zugleich  möglich,  daß  in  einer 
anderen  Hinsicht  die  körperliche  Natur  ein  Teil  (des  animal) 
sei,  und  es  ist  in  dieser  und  jener  Hinsicht  femer  möglich,  daß 
die  animalitas  die  körperliche  Natur  in  sich  einbegreife.  Diese 
Auffassung  betrachtet  den  Körper  als  Materie.  Daraus  ergibt 
sich :  betrachtest  du  den  Körper  als  Genus,  so  ist  die  animalitas 
sein  Teil.  Betrachtest  du  aber  den  Körper  als  (physische) 
Materie,  so  ist  er  ein  Teil  der  animalitas. 

318,3:  Das  Universelle  sind  die  genera,  die  zu  Arten 
werden.  Dasselbe  findet  sich  entweder  in  den  Körpern  vor,  die 
zusammengesetzt  sind  —  ihre  Vielheit  entsteht  durch  ein  auf- 
nehmendes Prinzip  —  oder  in  abstrakten  und  unkörperlichen 
Substanzen,  deren  Bestimmung  als  Art  und  als  Individuum  auf 
Grund  einer  Wirkursache  erfolgt  (da  sie  kein  aufnehmendes, 
materielles  Prinzip  besitzen). 

318,13:  „Die  Seele  muß  sich  nicht  mit  dieser  Erkenntnis 
begnügen."  Diese  Negation  ist  schon  bei  einer  oberflächlichen 
Betrachtung  verständlich.  Die  Konsequenz  (wörtlich:  das,  wohin 
man  gelangen  will)  ist  aber  ersichtlich  bei  einer  tiefer  gehenden 
Überlegung.  Die  Negation  ist  im  Texte  zu  lesen,  selbst  wenn 
der  Geist,  indem  er  das  Wirklichwerden  des  Individuums  zu 
erkennen  sucht,  wie  wii'  behauptet  haben,  mit  der  Erkenntnis 
des  Individuums  sich  zufrieden  geben  muß;  jedoch  erforscht 
derselbe  trotz  dieser  Determinierung  des  Dinges  noch  eine 
andere  Determinierung,  die  der  Substanz  des  eigentlichen  Wesens 
und  dem  abstrakten  Begriffe  selbst  zukommt.  Dies  sucht  der 
Verstand  zu  erkennen  vor  jenem  Suchen  (nach  dem  individuellen 
Dinge),  so  daß  (nach  der  Erkenntnis  des  abstrakten  Begriffes) 
der  Seele  nur  noch  das  Suchen  dieser  individuellen  Determinierung 
übrig  bleibt  Die  Seele  ist  dann  für  dieses  letzte  Suchen  um 
so  intensiver  und  vollkommener  disponiert 

318,30:  Nachdem  der  Begriff,  nämlich  das  reale  Wesen  der 
Art,  in  vollkommener  Weise  im  Geiste  wirklich  geworden  ist, 
(verhält  sich  der  Geist  wie  folgt).  Welche  Aktualisierung 
einer  individuellen  Bestimmung  die  genaue  Definition  auch  er- 
fordern mag,  die  Seele  setzt  diesen  Begriff  (der  Art),  der  voll- 
kommen fertig  bestimmt  ist,  zur  Erkenntnis  des  individuellen 
Einzeldinges  voraus;  (wörtlich:  „setzt  es  ihn  als  dieses  voraus"} 


Digitized  by 


Googl( 


728 

denn  aus  diesem  universellen  Begriff  muß  sich  das  Individuum 
ergeben). 

320,25:  Zu  den  Unterscheidungspunkten  des  Genus  und 
der  Materie  gehört  es,  daß  die  Art  dadurch  zu  einer  Vielheit 
wird,  daß  die  Materie  die  Vielheit  herbeiführt;  jedoch  entsteht 
dadurch  keine  Vielheit,  daß  sich  das  Genus  vervollständigt 

321,9:  Das  Genus  umschließt  diese  Dinge  (Bestimmungen). 

321,11:  Es  ist  dies  eine  Beispiel,  das  besagt,  das  G^nus 
sei  bestimmt  für  verschiedenartige  Dinge  (nicht  nur  für  eine 
bestimmte  Differenz). 

321, 18:  Darin  liegt  ein  Hinweis  darauf,  daß  das  Individuum 
durch  die  Akzidenzien  existiert  und  besteht  (also  seine  Indivi- 
duation  erhält). 

321,25:  In  unserer  Macht  ist  es  nicht  gelegen,  daß  wir 
den  Inhalt  der  ganzen  Welt  begrifflich  erkennen. 

321,33:  Wir  erkennen  das  Gesetz  eines  Vorganges  nur, 
insoweit  es  notwendig  ist;  denn  diese  Darlegung  steht  im  G^en- 
satze  zu  dem,  was  Avicenna  in  seinen  „Anmerkungen"  ausein- 
andergesetzt hat,  wo  er  sagt,  es  liege  nicht  in  unserer  Macht, 
daß  wir  erkennen,  irgend  ein  Teil  dieses  Begriffes  verhalte 
sich  nach  Art  des  genannten  Gesetzes. 

321, 2  unten:  Jene  Natur  ist  das  reale  Wesen.  Das  ein- 
geteilte Objekt  ist  identisch  mit  der  Summe  der  Teile  und  um- 
gekehrt Es  verhält  sich  nicht  wie  das  animal  und  das  Weiße; 
denn  die  Teile  des  animal,  die  diesen  Begriff  einteilen  in  das 
Weiße  und  Nichtweiße,  teilen  nicht  in  vorzüglicherem  Sinne  das 
animal,  als  das  non  animal  ein.  Es  ist  also  keine  Teilung  im 
eigentlichen  Sinne  gegeben.  Daher  ist  ein  Gelehrter  folgender 
Ansicht:  „das  Weiße  ist  nicht  etwa  ein  „Teil",  sondern  eine 
„Bestimmung"  der  Einteilung,  d.  h.  das  animal  wird  geteilt  in 
das  animal  album  und  das  animal  non  album  u.  s.  w."  Von  der 
„wesentlichen"  Einteilung  gilt  folgendes:  fügt  man  die  Be- 
stimmung des  Wiehems  zu  dem  animal  hinzu,  dann  wird  diese 
Hinzufügung  ausgeführt  nach  Art  der  wirklichen  Teilung  in 
Gruppen,  und  es  ist  unmöglich,  diese  Teilung  umzukehren.  0  Die 
Bestimmung  des  posse  hinnire  ist  also  das,  was  Avicenna  erwähnte 
mit  den  Worten:  „das  animal' kann  einem  Individuum  in  Wirk- 


^)  Der  Umfang  der  Begriffe  animal  und  animal  qnod  hinnire  potest 
ist  nicht  identisch.    Deshalb  können  die  Begriffe  nicht  konvertiert  werden. 


Digitized  by 


Google 


729 

lichkeit  zukommen,  in  dem  verschiedene  Akzidenzien  vorhanden 
sind".  Dann  wird  dieses  Ganze  (d.  h.  die  Summe  der  Bestim- 
mungen und  Akzidenzien)  ein  animal,  das  Gegenstand  eines 
individuellen  Hinweises  ist.  Ein  Teil  dieser  Summe  ist  also  ein 
animal,  ein  anderer  ein  non-animaL  Das  Wesen  dieses  Indivi- 
duums bleibt  also  bestehen;  denn  es  ist  nur  ein  Individuum 
dieser  Art,  z.  B.  des  Pferdes.  Andere  lehren:  sein  Wesen  bleibt 
bestehen,  auch  wenn  ihm  nicht  dieses  individuelle  Akzidens  des 
posse  hinnire  anhaftet 

322,7:  Das  sich  Bewegende  bewegt  sich  in  einer  be- 
stimmten Zeit 

326,28:  Denn  das  Lebewesen  wird  (wenn  man  es  weder 
als  rationale  noch  als  non- rationale  betrachtet)  nicht  zu  einem 
animal,  im  Gegensatze  zu  den  Bestimmungen  des  Männlichen 
oder  Weiblichen.  (Selbst  wenn  man  von  diesen  propria  absieht, 
bleibt  der  Begriff  des  animal  bestehen.) 

So  verhält  sich  die  Substanz,  wenn  sie  in  Bewegung  gesetzt 
wird,  um  zu  einem  Körper  oder  einem  animal  oder  einem  anderen 
G^enstande  zu  werden.  Die  Materie  des  Samens  verhält  sich 
ebenso,  wenn  sie  in  Bewegung  gesetzt  wird  zur  Wesensform 
oder  zu  etwas  anderem  wie  z.  B.  den  allgemeinen  Akzidenzien 
(des  Lebewesens)  und  diesen  individuellen  Akzidenzien.  Tritt 
die  Bestimmung  in  die  Art  (als  Bestandteil)  ein,  dann  verhält 
sie  sich  yfie  die  Differenz,  sonst  nicht 

335,24:  Die  Differenz  in  dem  universellen  und  singulären 
Sinne  verhält  sich  wie  das  esse  hominem,  d.  h.  faßt  man  den 
Menschen  im  universellen  Sinne  auf,  dann  ist  er  etwas  All- 
gemeines. Faßt  man  ihn  im  singulären  Sinne  auf,  dann  ist  er 
ein  determiniertes  Ding.  Die  Differenz  ist  daher  nichts,  was 
außerhalb  des  Wesens  des  Menschen  läge. 

336,26:  Einige  Prädikate  werden  verwandt  zur  Definition 
des  Substrates,  andere  verhalten  sich  im  Gegensatze  dazu  so, 
daß  das  Substrat  zur  Definition  dieser  Prädikate  verwandt  wird. 

336, 30:  „Jeder  Begriff",  d.  h.  die  universelle  Natur.  Vielfach 
findet  sich  ein  Begriff  geringeren  Umfanges  vor  (ohne  eine  neu 
hinzutretende  Differenz). 

337,8:  So  verhält  sich  das  animal,  das  begrifflich  gefaßt 
wird,  wenn  es  von  dem  Menschen  und  dem  Pferde  ausgesagt 
wird,  und  femer  das  Vegetativum,  das  ausgesagt  wird  von  dem 
Tiere  und  dem  Baume. 


Digitized  by 


Googk 


730 

337, 25:  Ein  notwendiges  Akzidens  ist  z.  B.  die  Bestimmung 
des  Gehens  für  den  Menschen  und  das  Pferd. 

338,2:  Die  Farbe  und  die  Zahl  fallen  unter  einen  univer- 
selleren Begriff,  nämlich  den  des  Seienden.  Sie  bedürfen  daher 
keiner  weiteren  Differenz  außerhalb  ihres  Wesens  selbst  (denn 
das  Seiende  ist  kein  Genus  im  eigentlichen  Sinne  und  wird  nur 
analogice  von  den  Kategorien  prädiziert). 

346,3 — 4:  Man  faßt  das  Genus  innerhalb  der  Differenz 
auf  insofern  sie  ein  Teil  desselben  istJ)  Avicenna  lehrt  aber, 
die  Differenz  hafte  dem  Genus  nicht  nach  Art  eines  Teiles  an, 
um  durch  diese  Bestimmung  das  notwendige  Akzidens  aus  der 
Betrachtung  auszuschalten.  Abgesehen  davon  ist  das  Genus 
nicht  etwa  Teil  der  Diffenenz  noch  des  Proprium, 

346,10:  Aus  Materie  und  Wesensform  entsteht  ein  einheit- 
liches Ding.  (Keines  von  beiden  bildet  in  dem  aus  ihnen  ent- 
standenen Dinge  einen  aktuellen  Teil). 

349, 15:  Das  Realwerden  des  Genus,  d.  h.  seine  Individua- 
lisierung. Diese  erfolgt  durch  das  aufnehmende  Prinzip  oder 
durch  das  Wirkende  ;2)  denn  erfolgt  sie  durch  die  verschieden- 
artigen aufnehmenden  Prinzipien,  dann  wird  die  Wesenheit 
durch  die  aufnehmende  Materie  determiniert,  sonst  dui-ch  die 
Wirkursache. 

349, 29:  Avicenna  handelt  von  dem  Genus  und  der  Differenz, 
insofern  ein  und  dasselbe  bestimmte  Ding  manchmal  nicht 
determiniert  und  potenziell,  manchmal  aber  auch  determiniert 
und  aktuell  existiert.  Die  Potenzialität  und  die  Unbestimmtheit 
sind  aber  in  ihm  nicht  auf  Grund  der  realen  Existenz  enthalten, 
sondern  nur  auf  Grund  der  logischen  Betrachtungsweise.  Es 
ist  feiner  unmöglich,  daß  das  Undeterminierte  real  existiere  in 
seiner  Undeterminiertheit,  und  ebenso,  daß  die  generische  Natm*, 
ohne  daß  sie  sich  in  Arten  darstellt  und  während  sie  noch  in 
der  Potenz  besteht,  reale  Existenz  besitze  als  irgend  eine  der 
bestimmten  Arten.  Diese  wäre  dann  zugleich  nicht  aktuell 
wirklich  in  irgend  einer  bestimmten  Art 

350, 3:  „In  jeder  einzelnen  Art",  d.  h.  in  den  beiden  Arten, 
nämlich  der  zusammengesetzten  und  der  einfachen  Substanz. 


»)  Wörtlich:  „die  Natur  eines  Teiles  hat".  Derselbe  Terminus  be- 
zeichnet auch  das  Individuelle. 

^)  Die  rein  geistigen  Substanzen  werden  nur  durch  die  causa  efficiens 
individualisiert,  da  sie  subsistierende  „Formen"  (süij)  sind. 


Digitized  by 


Googl( 


731 

350,14:  So  verhalten  sich  die  drei  Dimensionen,  die  Akzi- 
denzien und  einfachen  Substanzen,  nämlich  die  Wesensformen 
und  die  Geister;  Genus  und  Differenz  sind  „Teile"  der  Definition, 
nicht  aber  Teile  des  definierten  Gegenstandes. 

352,  Titel:  Die  Definition  des  Dinges  ist  manchmal  eine 
Definition  im  eigentlichen  Sinne  und  eine  vollkommene.  Diese 
ist  diejenige,  die  mit  dem  definierten  Gegenstande  gleichen  Inhalt 
hat,  ohne  daß  etwas  Überflüssiges  oder  ein  Mangel  in  ihr  ent- 
halten wäre.  Manchmal  aber  verhält  sie  sich  nicht  so  (ist  also 
eine  uneigentliche  Definition).  Die  erste  Definition  findet  statt 
in  den  einfachen  Substanzen;  denn  die  Definition  einer  jeden 
von  diesen  gibt  in  ursprünglicher  und  eigentlicher  Weise  den 
Inhalt  des  Objektes  wieder,  d.  h.  sie  bezeichnet  dem  Wesen 
(per  se)  nach  das  Objekt  ohne  irgendwelche  Vermittelung  (eines 
anderen  Begriffes).  Die  anderen  Dinge,  die  nicht  einfache 
Substanzen  sind,  sei  es  nun,  daß  sie  Akzidenzien  darstellen, 
oder  daß  sie  zusammengesetzt  sind  aus  einer  Substanz  und  einem 
Akzidens  oder  aus  der  Materie  und  der  Wesensform,  verhalten 
sich  so,  daß  in  der  Definition  eines  jeden  von  ihnen  ein  Mehr 
(und  Zuviel)  enthalten  ist  im  Verhältnis  zum  definierten  Gegen- 
stande. Ihre  Definitionen  geben  also  nicht  die  definierten  Gegen- 
stände ihrem  Wesen  nach  und  im  eigentlichen  Sinne  wieder. 

Der  Unterschied  zwischen  dem  Objekte  (wörtlich:  den 
Zielen)  dieses  Kapitels,  des  vorhergehenden  und  des  folgenden 
besteht  darin,  daß  die  Absicht^  die  der  Philosoph  in  dem  vorher- 
gehenden Kapitel  verfolgt,  die  ist,  die  Proportion  der  Definition 
zu  dem  definierten  Gegenstande  darzulegen.  Die  Teile  der 
wahren  Definition  seien,  so  führt  er  aus,  das  zusammengesetzte 
Objekt  selbst,  das  aus  dem  Genus  und  der  Differenz  besteht. 
Jedes  von  ihnen  (Genus  und  Differenz)  und  ihre  Summe  sind 
das  Wesen  des  definierten  Gegenstandes  selbst.  Ferner  bespricht 
er  den  Fall,  daß  die  Definition  eine  Vielheit  in  sich  schließt, 
das  definitum  jedoch  ein  einfaches  Ding  ist.  Was  der  Philosoph 
in  diesem  Kapitel  beabsichtigt,  ist  die  Darlegung  der  Definition 
in  sich  selbst,  insofern  sie  den  definierten  Gegenstand  „über- 
triftt"  (d.  h.  mehr  enthält  wie  dieser)  und  nicht  in  eindeutiger 
Weise  von  den  Einzeldingen  des  Gegenstandes  ausgesagt 
wird.  Dies  beruht  darauf,  daß  einige  der  Definitionen  über- 
flüssige Bestimmungen  enthalten  im  Verhältnisse  zum  definierten 
Gegenstande  oder  eine  Wiederholung  in  ihren  Teilen  darstellen, 


Digitized  by 


Google 


732 

und  daß  andere  sich  nicht  so  verhalten.  Ein  weiterer  Zweck 
dieses  Kapitels  ist  die  Darlegung  des  Unterschiedes  zwischen 
den  Definitionen  der  einfachen  Substanzen  und  dessen,  was  mit 
diesen  in  Verbindung  steht  Das  folgende  Kapitel  bezweckt,  zu 
beweisen,  daß  einige  Gegenstände  der  Definition  sich  so  ver- 
halten, daß  sie  mit  einigen  ihrer  Teile  selbst  einen  Teil  der 
Definition  darstellen. 

353, 3:  Unter  den  zusammengesetzten  Gegenständen  versteht 
Avicenna  das  aus  den  Akzidenzien  und  ihren  Substraten  zu- 
sammengesetzte Ding,  wie  simitas  nasi. 

353,  letzte  Zeile:  Die  simitas  nasi  gehört  nicht  zu  den 
eigentlichen  Definitionen. 

355,4:  Die  Ausführungen  des  Philosophen  zielen  in  diesem 
Beweise  darauf  hin,  zu  zeigen,  in  welcher  Weise  die  Dinge 
definiert  werden,  und  wie  die  Definition  sich  zu  ihnen  selbst 
verhält  Dazu  gehört  ebenfalls  die  Darlegung  des  Unterschiedes, 
der  besteht  zwischen  der  Wesenheit  und  der  Wesensform. 

355,17:  In  gewisser  Weise  enthält  die  Definition  auch  die 
Materie,  d.  h.  so  wie  wir  erwähnt  haben,  daß  nämlich  die  Defi- 
nition nicht  im  Gegensatze  steht  zu  der  zusammengesetzten 
Substanz,  noch  zu  der  Wesensform;  daß  femer  das  Zusammen- 
gesetzte nicht  in  seiner  Wesensform  sein  ganzes  Wesen  besitzt 
Dadurch  ist  der  Unterschied  zwischen  der  Wesenheit  in  den 
zusammengesetzten  Substanzen  und  der  in  den  einfachen  klar 
gelegt.  Ebenso  verhält  sich  der  Unterschied  zwischen  der 
Wesensform  in  den  zusammengesetzten  Substanzen  und  der  in 
den  einfachen. 

355, 23:  Mit  einfacher  Substanz  will  der  Philosoph  dasjenige 
bezeichnen,  was  keine  Teile  hat,  noch  auch  in  irgendwelcher 
Weise  (in  seinem  Bestände)  abhängig  ist  von  einem  Dinge.  0 
Das  Wesen  des  Dinges  ist  seine  Definition;  denn  mit  Wesenheit 
will  man  dasjenige  bezeichnen,  was  antwortet  auf  die  Frage, 
was  ist  das  Ding  (t/  lan),  und  dieses  ist  nichts  anderes  ak 
seine  Definition.  Mit  dem  Wesen  und  dem  Selbst  des  Dinges 
will  der  Philosoph  die  Individualität  der  Dinge  der  Außenwelt 
bezeichnen.   In  diesem  Sinne  ist  es  richtig  zu  sagen,  die  Wesen- 


1)  Damit  ist  nicht  gesagt,  daß  dieses  Ding  nicht  abhängig  sein  könn^ 
Ton  einer  Ursache,  die  ihm  das  Dasein  verleiht. 


Digitized  by 


Googl( 


733 

heit  der  einfachen  Substanz  ist  ihr  Wesen  selbst,  d.h.  ihre 
Definition  deckt  sich  mit  ihrem  Wesen  und  ihrem  Selbst  und 
diese  wird  ausgesagt  von  der  einfachen  Substanz,  ohne  daß  sie 
ein  Zuviel  oder  ein  Zuwenig  enthielte.  Denn  die  einfache  Sub- 
stanz hat  kein  aufnehmendes  (materielles)  Prinzip.  Hätte  sie 
ein  solches,  dann  würde  ihre  Wesenheit  und  ihre  Definition 
nicht  parallel  (noch  inhaltsgleich)  sein  mit  ihrem  Wesen,  ja 
sie  wttrde  zu  ihm  noch  hinzufügen  und  reicher  sein  an  Inhalt; 
denn  das  Wesen  des  Dinges  ist  entweder  das  in  dem  auf- 
nehmenden Prinzipe  Aufgenommene  (die  Wesensform)  oder  das- 
jenige, was  zusammengesetzt  ist  aus  dem  aufnehmenden  Prinzipe 
und  dem  Angenommenen.^)  Wenn  nun  das  Aufgenommene  eine 
Wesensform  darsteUt,  und  wenn  zugleich  die  Wesensform  nicht 
parallel  (d.  h.  gleichbedeutend)  ist  mit  der  Definition;  —  denn 
ihre  Existenz  hängt  ab  von  einem  anderen  (der  Materie)  — 
und  wenn  sie  femer  also  zusammengesetzt  ist  aus  Materie  und 
Wesensform,  dann  ist  sie  nicht  durch  die  Wesensform  (allein) 
das,  was  sie  ist*)  Ihre  Definition  wird  dann  nicht  durch  die 
Wesensform  allein  zustande  kommen,  weil  die  Wesenheit  des 
Dinges  allein  alles  dasjenige  bedeutet,  wodurch  das  Wesen  des 
Dinges  Bestand  hat  Dann  ist  also  die  Materie  mit  hinzu- 
zunehmen zur  Definition  des  Dinges  und  zwar  zwei  Mal  wegen 
der  zwei  verschiedenen  Hinsichten,  indem  sie  erstens  einen  der 
beiden  Teile  der  zusammengesetzten  Substanz  bezeichnet,  und 
indem  sie  zweitens  dasjenige  ist,  von  dem  der  andere  Teil,  d.  h. 
die  Wesensform  ihren  Bestand  erhält  Dieses  ist  der  Inhalt  des 
Ausdruckes:  „Daher  enthält  also  die  Definition  auch  in  gewisser 
Weise  den  Begriff  der  Materie. 

357,9:  Die  Eigenschaft  verhält  sich  wie  ein  universelles 
Ding  und  wird  von  einer  „Vielheit"  beeigenschafteter  Dinge 
ausgesagt 

357, 17:  Das  Hinzufügen  des  Universellen  zum  Universellen 
kann  kein  Partikuläres  ergeben. 

357,31:  Der  Unterschied  zwischen  den  beiden  Arten  ist 
der,  daß  die  erste  Art  so  beschaffen  ist,  daß  der  Verstand  sie 
nicht  in  ihrer  eigentümlichen  Art  beschreiben  kann,  noch 
erkennt,  wann  sie  zustande  kommt  und  wann  sie  vernichtet 


*)  Dies  letztere  bezeichnet  Avicenna  als  Wesenheit,  ersteres  als  Wesensform. 
*)  Die  Materie  bildet  ebenfalls  einen  Bestandteil  des  Wesens. 


Digitized  by 


Google 


734 

wird.  Die  zweite  Art  verhält  sich  so,  daß  sie  vom  Verstände 
in  ihrer  eigentümlichen  Art  erkannt  werden  kann  dnreh 
universelle  Eigenschaften;  denn  diese  Art  stellt  sich  als  Indivi- 
duum dar  infolge  der  notwendigen  Akzidenzien  ihrer  Spezies. 
Daraus  ergibt  sich  ihre  Beschreibung.  Sie  wird  nicht  vernichtet 
(weil  sie  universeller  Natur  ist),  jedoch  kann  der  beschriebene 
Gegenstand,  insofern  er  sich  individuell  darstellt,  nicht  von  seiner 
Existenz  und  seiner  beständigen  Dauer  getrennt  werden  (die 
geistigen  Substanzen  und  die  himmlischen  Körper  bestehen  ewig). 
Daher  findet  die  Beschreibung  dieses  Gegenstandes  nur  in  einem 
begrifflichen  (abstrakten)  Inhalte,  der  das  Objekt  bedeutet,  statt^ 
und  dieser  bezeichnet  die  ewige  Dauer  der  Substanz  in  uni- 
verseller Weise.  Dieses  ist  also  nicht  eine  Definition  im 
eigentlichen  Sinne;  denn  die  wahrhafte  Definition  des  Dinges 
legt  das  Wesen  des  Gegenstandes  klar  durch  das,  was  Teil 
seines  Wesens  ist.  Zu  allen  denjenigen  Bestimmungen  aber,  die 
einen  Teil  des  Individuums  als  solchen  bilden,  ist  die  Individua- 
lität des  Dinges  selbst  zu  rechnen,  durch  die  das  Ding  so  be- 
schaffen ist,  daß  es  nicht  nach  Art  der  geistigen  Wesen  universell 
(wörtlich:  „Gemeinsam")  sein  kann.  Dasjenige,  was  der  Ver- 
stand durch  die  Eigenschaften  und  die  Indizien  erkennt,  ist 
universeller  Natur.  Dieses  ist  daher  keine  eigentliche  Definition. 
Dadurch  ist  der  Beweis  dafür  klar,  daß  es  für  das  Singulare 
und  Individuelle  keine  eigentliche  Definition  gibt 

358,9:  Es  gehört  zu  denjenigen  Dingen,  von  denen  jedes 
restlos  seine  ganze  Art  in  sich  schließt,  so  daß  es  also  kein 
Ähnliches  und  kein  Gleiches  hat  (wie  z.  B.  die  himmlischen 
Körper  und  die  Geister). 

359,  Titel:  Die  Teile  der  Definition  sind  manchmal  Teile 
des  definierten  Gegenstandes'  selbst  Der  Unterschied  zwischen 
beiden  findet  statt  von  Seiten  der  realen  Existenz  (indem  der 
definierte  Gegenstand  individueller,  die  Definition  universeller 
Natur  ist)  und  von  selten  des  Begriffes  (des  Inhaltes  der  Termini). 
Manchmal  sind  aber  die  Teile  der  Definition  verschieden  von 
den  Teilen  des  definierten  Gegenstandes,  und  vielfach  ist  der 
definierte  Gegenstand  umgekehrt  zu  den  Teilen  der  Definition 
gehörig. 

360,8:  Es  ist  nicht  möglich,  daß  der  Winkel  sich  aktuell 
verändere,  so  daß  er  diese  Relation  (zu  den  anderen  Winkeln) 
verliere. 


Digitized  by 


Googk 


735 

360,13:  Der  Philosoph  will  darlegen,  daß  die  Teile  der 
Definition  manchmal  später  sind,  als  der  definierte  Gegenstand 
im  Gegensatze  zu  den  Teilen  des  definierten  Gegenstandes;  denn 
diese  können  sich  nicht  so  verhalten  (sie  müssen  früher  sein,  als 
der  Gegenstand,  der  aus  ihnen  zusammengesetzt  ist  und  auch 
früher,  als  die  Definition). 

363,30:  Dies  ist  die  Linie,  die  sich  schräg  stellt  zu  einer 
der  beiden  kontinuierlich  zusammenhängenden  Linien,  indem 
letztere  eine  gerade  Linie  bilden,  und  die  sich  auch  schräg 
stellt  zu  der  zwischen  beiden  angenommenen  Linie,  d.  h.  zu 
einem  der  beiden  Schenkel  des  stumpfen  Winkels. 

363,  letzte  Zeile:  Wir  können  uns  keine  Linie  vorstellen, 
„als  die  kontinuierliche,  gerade  Linie";  jedoch  verhält  sie  sich 
zu  ihr  auch  in  anderer  Weise,  als  nach  Art  der  geraden  Linie. 
Sie  bilden  vielmehr  einen  stumpfen  oder  einen  rechten  oder 
einen  spitzen  Winkel  (mit  dem  anderen  Schenkel). 

370,20:  Die  Potenz  als  solche  kann  kein  erstes  Prinzip 
bilden,  weil  sie  ein  Prinzip  ist,  das  in  gewisser  Hinsicht  nicht 
existiert  Das  Nichtexistierende  kann  jedoch  kein  erstes  Pi*inzip 
für  ein  Wirkliches  sein. 

370,28:  Das  Reale,  das  Seiende  bezeichnet  dasjenige,  was 
Realität  „besitzt"  (im  Gegensatze  zu  dem  Wirklichen,  das  seinem 
Wesen  nach  Realität  ist).  Es  bedarf  einer  Ursache  und 
zwar,  damit  es  zur  realen  Existenz  gelange,  bedarf  es  einer 
Wirkursache;  damit  es  aber  werde,  bedarf  es  der  Materie; 
damit  es  Bestand  habe,  bedarf  es  des  Genus  und  der  Differenz. 

870,4  unten:  Das  Substrat  ist  Ursache;  denn  dieses  Substrat 
ist  mit  Rücksicht  auf  seine  Materie  ein  Teil  und  eine  Ursache 
des  zusammengesetzten  Dinges.  So  ist  z.  B.  das  Kleid,  das  (in 
gewissem  Sinne)  Ursache  für  die  weiße  Farbe  ist  —  man  be- 
trachtet hier  das  Kleid,  nachdem  es  bereits  Existenz  erhalten 
hat  (d.  h.  als  reales  Substrat,  während  die  materia  prima  ein 
unreales  Substrat  ist),  von  selten  der  Materie  und  der  Wesens- 
form  -^  aufnehmendes  Prinzip  für  die  weiße  Farbe,  und  dies  ist 
das  Substrat,  d.  h.  das  Kleid  ist  Ursache  für  das  zusammen- 
gesetzte Ding,  nämlich  das  weiße  Kleid  in  Hinsicht  darauf, 
daß  seine  Materie  durch  das  bestimmte  Gewebe  entstanden  ist 
so  daß  es  ein  eigentliches  Kleid  wurde.  Die  Wolle  ist  im 
eigentlichen  Sinne  seine  Materie,  das  Gewebe  seine  Wesensform, 
die   weiße  Farbe   sein  Akzidens.     Das  Akzidens,  welches  die 


Digitized  by 


Googk 


736 

weiße  Farbe  ist,  beruht  seinerseits  in  seiner  realen  Existenz 
auf  dem  Kleide  und  setzt  es  voraus;  ebenso  setzt  das  Kleid, 
welches  das  Substrat  der  weißen  Farbe  ist,  in  seiner  realen 
Existenz  die  Wesensform  voraus,  die  das  bestimmte  Gewebe  ist 

370,1  unten:  Diese  Substanz  ist  eine  Ursache  für  das 
zusammengesetzte  Ding  in  dem  Sinne,  daß  sie  ein  Teil  des- 
selben ist,  den  das  Zusammengesetzte  voraussetzt  und  aus  dem 
es  besteht,  so  wie  das  Ganze  den  Teil  voraussetzt  Die  Materie 
aber  verhält  sich  so,  daß  die  Wesensform  ihr  die  Aktualit&t 
verleiht,  -um  Materie  für  das  Zusammengesetzte  und  Teil  des- 
selben zu  sein. 

372,27:  Die  Materie  ist  nicht  eine  Materie  für  das  Bett, 
sondern  eine  Materie  für  dessen  Materie  (also  eine  Materie 
zweiter  Ordnung,  materia  remota). 

373, 1:  So  verhält  sich  der  Tischler,  bevor  er  das  Kunstwerk 
verfertigt    Ebenso  verhält  sich  die  Materie  und  die  Wirkung. 

374,20:  Die  Frage  besagt,  daß  die  Existenz  des  Dinges 
stattfinden  kann  nach  dem  Nichtsein;  denn  es  ist  möglich,  dal 
das  Ding  wirklich  werde  und  daß  es  nicht  wirklich  werde.  Die 
Antwort  will  besagen,  daß  die  Existenz  des  Dinges  stattfindet 
nach  dem  Nichtsein.  Diese  Existenz  und  dieses  Eintreten  der 
Existenz  ist  möglich,  insofern  es  das  reale  Sein  des  Dinges  ist, 
nicht  auf  Grund  dessen,  daß  das  Ding  nach  dem  Nichtsein 
eintritt  Der  Umstand,  daß  das  Ding  nach  dem  Nichtsein  ein- 
tritt, verleiht  ihm  nicht  eine  be^ndere  Möglichkeit,  die  ver- 
schieden wäre  von  der  Möglichkeit  der  Existenz  schlechthin. 
Wenn  aber  in  dem  Dinge  keine  andere  Möglichkeit  (als  die  der 
Existenz)  vorhanden  ist,  dann  erfordert  das  Ding  keine  andere 
Ursache  (als  diejenige,  die  ihm  die  Existenz  verleiht);  es  müßte 
denn  sein,  daß  der  Umstand,  daß  das  Ding  nach  dem  Nichtsein 
stattfindet,  eine  besondere  Existenz  darstellt,  die  hinzukommt 
zu  der  Existenz  des  Dinges  und  die  dann  einer  anderen  Ursache 
bedürfte.  In  diesem  Falle  richtet  sich  die  Betrachtung  ^uf  die 
reale  Existenz  (und  für  diese  wird  eine  Ursache  gefordert). 
Jedoch  befindet  sich  in  dem  Dinge  keine  andere,  reale  Existenz.*) 

0  Das  formelle  Objekt  der  Wirkursache  ist  die  Existenz,  and  es  ist 
für  die  Tätigkeit  der  Ursache  durchaus  gleichgültig,  ob  der  Wirkung  das 
Nichtsein  vorausging  oder  nicht.  Es  bleibt  also  die  Möglichkeit  einer  Wirkung 
bestehen,  die  nie  nicht  vorhanden  war,  die  also  immer  und  ewig  besteht. 


Digitized  by 


Googk 


737 

374,32:  Das  Ding  verlangt  eine  Ursache  und  diese  Be- 
stimmung bleibt  beständig  erhalten  in  der  Existenz  des  Dinges.^) 

375, 2:  Der  Ausdruck  „Jemand  stellte  die  Thesis  auf"  u.  s.  w. 
soll  beweisen,  daß  die  Wirkung  und  das  Objekt  des  Handelns, 
ebenso  wie  es  einen  Handelnden  und  eine  Ursache  erfordert,  um 
zu  entstehen,  so  auch  eine  solche  erfordert,  um  seinen  Bestand 
zu  erhalten.  Dieses  Problem  wurde  bereits  früher  erwähnt 
Es  will  die  Frage  aufwerfen,  ob  dasjenige,  was  einer  Ursache 
bedarf,  das  Eintreten  in  die  Existenz  oder  das  Möglichsein 
ist,  d.  h.  ob  dasjenige,  was  einer  Ursache  bedarf,  die  Existenz 
ist,  insofern  sie  nach  dem  Nichtsein  stattfindet,  oder  die 
Existenz  insofern  sie  in  sich  selbst  möglich  ist.  Die  Darlegung 
an  dieser  Stelle  will  zeigen,  daß  die  Wirkung  des  Wirkenden 
und  das  Bedürfnis  der  Wirkung  nach  einer  Ursache  eintritt 
für  das  Wirklichwerden  des  Möglichen  oder  auch  für  das 
Wirklichwerden  und  zugleich  das  Bestehen  (conservatio) 
des  Möglichen,  d.  h.  dasjenige  Ding,  das  eine  Ursache  voraus- 
setzt und  das  von  einer  solchen  ausgeht,  ist  das  mögliche 
Sein  selbst,  sei  es  nun,  daß  es  zeitlich  eintrat  oder  in  seinem 
Bestände  erhalten  bleiben  soll. 2)  Alle  Mutakallimun  lehrten, 
das  Mögliche  bedürfe  einer  Wirkursache,  nur  um  zeitlich  an- 
fangend zur  Existenz  zu  gelangen  und  damit  es  die  Existenz 
nach  dem  Nichtsein  erhalte.^)  Wenn  das  Ding  daher  wirklich 
geworden  ist  und  Existenz  erlangt  hat,  ist  es  zugleich  so  be- 
schaffen, daß  es  auf  Grund  seines  inneren  Reichtums  der  Ursache 
entbehren  kann;  denn  das  Bedürfnis  eines  Dinges  nach  einem 
anderen  ist  nur  in  dem  vorhanden,  was  noch  nicht  aktuell  ist, 
nicht  in  dem,  was  bereits  Aktualität  besitzt  und  Existenz  er- 
langt hat;  sonst  müßte  das  bereits  Wirkliche  (nochmals)  wirklich 
werden  und  das  schon  Existierende  zur  Existenz  gelangen.  Dies 
aber  ist  ein  Widerspruch.    Wegen  dieser  verwerflichen  Ansicht 


Ein  „Anfang"  bezeichnet  nun  aber  das  Eintreten  eines  Wirklichen,  nachdem 
es  vordem  nicht  bestand.  Nach  den  Aasführongen  des  Glossators  und  Avicennas 
ist  also  eine  anfangslose  Wirkung  keine  contradictio  in  adiecto. 

1)  Solange  die  Existenz  der  Wirkung  vorhanden  ist,  bedarf  sie  einer 
Ursache,  nm  erhalten  zu  werden. 

*)  Das  formelle  Objekt  der  Wirkursache  ist  also  das  Sein  nicht  das 
Neuwerden  nach  dem  Nichtsein. 

s)  Eine  ewige  Schöpfung  ist  nach  der  orthodoxen  Ansicht  ausgeschlossen, 
weil  nach  ihr  das  Nichtsein  der  Wirkung  zeitlich  voraus  gehen  mufi. 

Horten,  Dm  Baeh  der  Qeneranf  der  Seele.  47 


Digitized  by 


Googk 


j 


738 

prädizierten  die  falschen  Philosophen,  das  Nichtsein  von  dem 
Schöpfer,  weil  die  Existenz  des  Weltalls  später  sei  als  die 
Nichtexistenz »)  Grottes.  Daher  sind  nach  der  Lehre  jener  falschen 
Philosophen  die  Ursachen  der  Dinge  vollständig  enthalten  in  den 
Ursachen  für  das  zeitliche  Entstehen  des  Dinges,  und  diese 
gehen  notwendigerweise  dem  Dinge  zeitlich  voraus*)  und  sie 
sind  nach  ihrer  Ansicht  nicht  (mit  ihrer  Wirkung  notwendig 
und  ewig)  verbunden.  Daher  besitzt  das  Mögliche,  das  im 
Bestände  ewig  erhalten  wird,  und  das  beständig  dauernde,  wie 
z.  ß.  die  menschlichen  Seelen  keine  eigentliche  Ursache. 

376,2:  Es  ist  daher  unmöglich,  daß  die  Dinge  zeitlich 
entstehen,  und  daraus  ergibt  sich  die  Richtigkeit  des  ersten 
Teiles. 

376,27:  Diese  Ausführungen  erstrecken  sich  auf  den  not- 
wendig Seienden  und  das  Möglichseiende,  und  sie  zeigen,  daB 
der  notwendig  Seiende  keine  Ursache  besitzt,  daß  aber  das 
Mögliche  Wirkung  einer  Ursache  ist 

Die  Worte  Avicennas:  „du  hast  bereits  erkannt  u.  a  w.** 
sollen  einen  anderen  Teil  dieser  Untersuchung  bilden.  Wisse, 
daß  die  beiden  Untersuchungen  notwendig  zusammengehören 
und  bedeuten,  daß  die  Wirkung  eine  Ursache  erfordert  Wenn 
dieses  der  Charakter  des  Möglichen  ist,  dann  ist  [dasselbe  so 
beschaffen,  daß  es  eine  Ursache  in  irgendwelcher  Zeit  erfordert 
Dasjenige,  was  aus  dieser  Ursache  hervorgeht,  ist  die  Existenz 
des  Möglichen,  sei  es  nun,  daß  diese  zeitlich  entsteht  oder  in 
ihrem  Bestände  ewig  ist  Ist  nun  dasjenige,  was  einer  Ursache 
bedarf,  das  zeitliche  Entstehen,  nicht  das  Möglichsein, 
dann  bedarf  das  Bestehende,  damit  es  im  Bestände  erhalten 
bleibe,  keiner  Ursache.  Dasjenige,  was  aus  der  Ursache  her- 
vorgeht, ist  dann  das  Entstehen  des  Wirklichen  und  das  Sein 
des  Entstehenden,   nicht   etwa   das  Bestehenbleiben  des 


*)  In  dieser  etwas  donkelen  Aosdracksweise  liegen  mehrere  Thesen  der 
orthodox -theologischen  Richtung.  1.  Die  Welt  ist  zeitlich  entstanden  nach 
dem  Nichtsein.  Sie  hat  also  einen  zeitlichen  Anfang  genommen.  2.  Vor  dem 
Beginne  der  Welt  bestand  in  Qott  noch  nicht  der  schöpferische  Akt,  der  die 
Welt  hervorbringen  sollte.  3.  Vor  der  Schöpfung  bestand  also  in  Qott  ein 
Nichtsein  d.  h.  das  Nichtsein  einer  bestimmten  Tätigkeit,  und  dieses  geht 
der  Welt  zeitlich  vorans. 

*)  Sine  ewig  wirkende  Ursache  und  eine  ewige  Wirkung  sind  daher 
unmöglich. 


Digitized  by 


Googk 


739 

Wirklichen  noch  auch  die  Existenz  des  Bestehenden.  Ebenso 
läßt  sich  der  Gedanke  auch  umkehren,  d.  h,  ist  die  Wirkung 
der  Wirkursache  die  neu  eintretende  Existenz,  nicht  etwas 
anderes,  dann  ist  dasjenige,  was  einer  Ursache  bedarf,  das 
Neueintreten  der  Existenz,  nicht  etwa  das  Möglichsein. 
Ist  aber  die  Wirkung,  die  aus  der  Ursache  hervorgeht,  das 
Sein  im  allgemeinen,  dann  ist  dasjenige,  was  einer  Ursache 
bedarf,  das  Möglichsein.  Der  Meister  bezeichnete  die  erste 
Frage  als  einen  Beweis  für  die  zweite,  da  durch  den  Beweis 
der  ersten  Frage  und  die  Prämissen  derselben  die  zweite  erklärt 
wird.    Dieses  bedarf  keiner  weiteren  Darlegung. 

378,19:  Der  Ausdruck  „alles  was  die  Philosophen  eine 
Wirkursache  nennen"  bezeichnet  folgendes:  da  der  Charakter 
der  Wirkursache  nach  der  Lehre  jener  Philosophen  bezeichnet, 
daß  das  Ding  (die  Ursache)  einwirkt  auf  ein  anderes,  indem  es 
eine  Vermittlung  in  einem  gewissen  Zustande  erhält,  der  jenem 
Dinge  (der  Ursache)  fremd  ist,  ihm  aber  zukommt  auf  Grund 
eines  Willensentschlusses  oder  eines  äußeren  Zwanges  u.  s.  w.i) 
Jede  Wirkursache  ist  nach  ihrer  Lehre  auch  zugleich  passiv; 
denn  jene  Philosophen  abstrahieren  die  Wirkursache  in  ihrer 
Eigenschaft  als  solcher  von  einem  anderen  Zustande  der  ihr 
von  außen  zukommt,  und  von  einer  anderen  Eigenschaft,  die 
sich  zur  Ursache  wie  etwas  Äußerliches  verhält.  Mit  Passivität 
bezeichnet  man  aber  nur  den  Umstand,  daß  das  Ding  beeigen- 
schaftet  wird  mit  irgend  einer  realen  Eigenschaft,  nachdem  es 
dieselbe  früher  nicht  besaß.  Jede  Wirkursache  muß  sich 
daher  auch  passiv  verhalten.  Diese  Lehre  ist  unrichtig.  Wir 
stellen  demgegenüber  vielmehr  auf:  bezeichnet  der  Charakter 
der  Wirkursache  den  Umstand,  daß  das  Ding  die  Eigenschaft 
erhält,  etwas  zu  bewirken  und  die  reale  Existenz  zu  verleihen, 
nachdem  es  diese  Eigenschaft  früher  nicht  besessen  hatte  — 
dieses  ist  zugleich  die  Definition  der  Passivität  —  dann  muß 
jede  Wirkursache  nach  ihrer  Lehre,  insofern  sie  Wirkursache 
ist,  sich  auch  zugleich  passiv  verhalten.  Dies  jedoch  ist  ein 
Widerspruch.  Das  erste  ist  ebensowohl  unmöglich,  wenn  man 
es  im  universellen  und  allgemeinen  Sinne,  nicht  absolut  (also 

*)  Eine  Ursache,  die  manchmal  nicht  wirkt,  mufi  durch  irgend  ein 
Moment  zum  Wirken  determiniert  werden.  Ihr  Wirken  ist  also  ein  zeitlich 
entstehendes,  wie  auch  ihre  Wirkung. 

47» 


Digitized  by 


Google 


740 

auch  im  partikulären  Sinne)  auffaßt;  denn  es  ist  klar,  daß 
einige  wirkende  Prinzipien  sich  auch  passiv  verhalten,  weil 
jedes  Prinzip,  das  eine  Wirkung  ausübt,  dieselbe  vollführt,  indem 
ein  freier  Willensentschluß  oder  ein  gewisser  Zustand  zu  ihm 
hinzukommt  (und  es  determiniert).  Es  ist  daher  in  gewisser 
Hinsicht  Wirkursache,  in  einer  anderen  Hinsicht  passives 
Prinzip.    Darin  ist  kein  Widerspruch  enthalten. 

Nachdem  der  Philosoph  die  Unrichtigkeit  der  Lehre  er- 
wiesen hat,  daß  jedes  Ding,  das  eine  in  sich  mögliche  Wesen- 
heit besitze,  einer  Wirkursache  zu  gewissen  Zeiten  entbehren 
kann,9  widerlegt  er  ebenfalls  die  Lehre,  daß  das  Nichtsein, 
dem  Dinge  vorausgehen  müsse  und  daß  diese  Bestimmung  eine 
innere  (notwendige)  Bestimmung  des  Wirkens  der  Ursache  dar- 
stelle (wörtlich:  einen  Teil  derselben  bilde.)  Er  stellt  diese 
Absicht  klar  auf,  d.  h.  die  Lehre,  daß  jede  Wesenheit  (eines 
ens  possibile)  abhängig  ist  von  der  Ursache,  insofern  das  (for- 
melle) Objekt  der  Ursache  die  Wesenheit  ist  Dadurch  wird 
zwischen  Dasein  und  Wesenheit  unterschieden.  Die  Wesenheit, 
die  in  sich  zugleich  Dasein  ist,  bedarf  keiner  Ursache.  Denn 
jedes  Ding,  das  eine  Wesenheit  besitzt  (in  dem  also  essentia 
und  existentia  verschieden  sind)  ist  ein  nur  mögliches.  Die 
Möglichkeit  hat  aber  zur  Folge,  daß  das  Ding  einer  Ursache 
bedarf.  Das  Nichtsein,  das  dem  Dinge  vorausgeht,  hat  diese 
Konsequenz  nicht.  Es  verhält  sich  indifferent  (zum  Verursacht- 
werden). Diese  Möglichkeit  gehört  zu  den  notwendigen  Akzi- 
denzien der  Wesenheit,  die  sich  nicht  von  ihr  trennen  lassen. 
Daher  ist  es  richtig,  daß  die  Wesenheit,  so  lange  sie  existiert^ 
in  ihrem  Wirklichsein  abhängig  ist  von  einem  anderen.  Ent- 
sprechend dieser  Lehre  möge  die  mögliche  Existenz  bestimmt 
werden  als  eine  solche,  die  ihren  Bestand  erhält  durch  eine 
andere,  und  zwar  zufolge  ihres  Wesens,  sei  es  nun,  daß  das 
Ding  ein  anfangsloses  oder  ein  zeitlich  entstehendes  ist, 
in  seinem  Bestände  ewig  erhalten  werden  soll  und  erhalten 
bleibt  oder  vergänglich  ist.  Der  Umstand,  daß  das  Ding  aber 
nach  dem  Nichtsein  stattfindet,  und  andere  Eigenschaften  sind 
akzidentelle  Verhältnisse,  von  denen  keines  dazu  mitwirkt,  daß 
das  Ding  einer  Ursache  bedarf,  die  ihm  die  Existenz  verleiht 

*)  Es  ist  dies  die  Lehre,  daß  ein  Geschöpf  keiner  besonderen  Ursache 
bedarf,  um  im  Dasein  erhalten  zu  bleiben. 


Digitized  by 


Googk 


741 

Die  anfangslose  Wirkung  bedarf  ebenfalls  eines  Prinzipes, 
das  ihr  die  ewige  Existenz  verleiht,  so  lange  ihr  Dasein  ein 
mögliches  ist  (d.  h.  für  die  ganze  Dauer  ihrer  Existenz). 

380,  Titel:  In  diesem  Kapitel  will  Avicenna  dasjenige 
nachweisen,  was  die  wahren  Forscher  gelehrt  haben,  daß  nämlich 
jede  Ursache,  die  ihre  Wirkung  notwendig  zur  Folge  hat, 
gleichzeitig  mit  ihrer  Wirkung  existiert  Ebenso  will  er  die 
Art  der  Wirkursache  im  Wirkenden  darlegen.  Wisse,  daß  das 
im  vorhergehenden  Kapitel  dargelegte,  d.  h.  die  Lehre,  daß  der 
Umstand,  der  notwendigerweise  einer  Ursache  zu  bedürfen,  die 
Möglichkeit  des  zeitlichen  Entstehens  des  Dinges  ist.  Die 
Wirkung,  die  sich  gründet  (und  zurückgeht)  auf  das  wirkende 
Prinzip,  ist  das  Sein  selbst,  nicht  etwa  der  Umstand,  daß  das 
Ding  zeitlich  entstehend  ist  Die  Darlegung  des  vorher- 
gehenden Kapitels  genügt  zum  Beweise  dieser  Thesis.  Der 
Zweck  ist  jedoch,  die  Schwierigkeiten  der  großen  Menge  der 
Philosophen  betreffe  dieser  Lehre  zu  beseitigen.  In  ihrer 
Lehre  verwechseln  sie  das  nichtwirkende  Prinzip  mit  dem 
wirkenden. 

380,81:  Jedes  einzelne  dieser  Dinge  besitzt  eine  bestimmte 
Art  der  Bewegung,  nicht  eine  andere.  Die  Bewegung  aber  läßt 
sich  nicht  von  dem  sich  bewegenden  Gegenstande  trennen.  Das- 
jenige, was  Wirkung  des  Wirkenden  auf  Grund  seines  Wesens 
ist,  läßt  sich  nicht  von  ihm  trennen.  Dasjenige  aber,  was  sich 
von  der  Wirkursache  trennt,  wie  z.  B.  das  Junge,  der  Same  und 
das  Kunstprodukt  ist  nicht  eine  Wirkung  der  Ursache  auf  Grund 
ihres  Wesens.^  Diese  Wirkung  hat  vielmehr  ein  anderes  Wirk- 
prinzip, und  dieses  verhält  sich  so,  daß  sein  Wirken  nicht  von 
ihm  getrennt  werden  kann.  So  verhalten  sich  die  Beispiele,  die 
der  Meister  anführt,  der  Architekt,  der  Vater  und  das  Feuer. 
Sie  sind  keine  Ursachen  im  eigentlichen  Sinne,  d.  h.  nicht  für 
das  Bestehen  desjenigen  Dinges,  das  auf  diese  Prinzipien  wie 
auf  Ursachen  zurückgeführt  wird,  noch  sind  sie  Ursachen  für 
die  Existenz  der  Wirkung.  Was  nun  das  Beispiel  des  Architekten 
angeht,  so  sind  seine  Bewegungen  die  Ursache  für  die  Be- 
wegungen der  Steine  und  der  Teile  des  Hauses.  Gelangen  nun 
seine  Bewegungen  zu  ihrem  Ziele,  so  ist  damit  zugleich  die 


^)  Eine  solche  Wirkung  geht  notwendig  nnd  immer  ans  der  Ursache 
hervor,  solange  das  Wesen  existiert. 


Digitized  by 


Googk 


742 

Ursache  gegeben  für  das  Zustandekommen*)  dieser  anderen 
Bewegungen.  Das  Zustandekommen  dieser  anderen  Bewegungen 
ist  aber  die  Ursache  für  das  Sichzusammenfügen  der  sich  be- 
wegenden Dinge,  d.  h.  der  Steine  und  der  übrigen  Materialien, 
die  zu  einer  bestimmten  Gestalt  zusammentreten.  Das  Erhalten 
dieser  eigentümlichen  Gestalt  und  das  Bewahren  derselben 
gegen  trennende  (d.  h.  zerstörende)  Einflüsse  findet  statt  durch 
die  Adhäsionskraft  der  Teile,  die  Gott  dem  Dinge  verleiht  Er 
ist  derjenige,  der  Himmel  und  Erde  zusammenhält,  so  daß  sie 
nicht  in  das  Nichts  versinken.  Er  wirkt  dies  durch  seine  Kraft 
und  Macht.  Ebenso  ist  das  Beispiel  des  Vaters  in  dem  Erzeugen 
aufzufassen,  wie  es  der  Meister  darlegte,  und  auch  die  Wirkung 
des  Feuers. 

381, 16:  Der  Philosoph  lehrte:  das  Hervorbringen  des  Feuers 
ist  die  Natur  des  Feuers,  die  die  Hitze  in  dem  Wasser  bewirkt 
Die  Einwirkung  des  Feuers  ist  eine  Bedingung  für  die  Indivi- 
dualität (des  Feuers  in  der  Wirkung).  Existiert  aber  das  in- 
dividuelle Feuer  nicht,  so  ergibt  sich  dadurch  noch  nicht  die 
Nichtexistenz  der  Natur  des  Feuers.  Wollte  man  die  Lehre 
aufstellen,  das  Wirken  erfolge  auf  Grund  der  Natur  des 
Feuers  (nicht  auf  Grund  seiner  Individualität),  dann  müßte 
es  die  Natur  des  Wasser  hervorbringen.^)  Wir  stellten  diese 
Lehre  nur  auf  mit  Rücksicht  auf  das  aufnehmende  Prinzip,  das 
Wasser. 

382, 16:  Erstreckt  sich  die  gestellte  Frage  auf  das  Problem, 
weshalb  (diä  ri)  ein  jedes  Ding  entsteht  mit  Rücksicht  auf 
die  Ursachen,  die  zu  seiner  Existenz  „mitwirken",  dann  muß  diese 
Frage  zu  keinem  Endpunkte  hinführen.^)     Anders  verhält  es 


*)  Wörtlich:  „das  zum  Ziele  Gelangen". 

^)  In  diesen  Worten  scheinen  folgende  Gedanken  enthalten  zu  sein. 
Die  Wirkung  muß  der  Ursache  gleichstehen.  Ist  die  causa  formalis  eine 
Naturkraft,  so  muß  auch  ihre  Wirkung  eine  Naturkraft  sein.  Ist  die  Wirkung 
hingegen  nur  ein  Akzidens  (die  Hitze  im  Wasser),  so  kann  ihre  Ursadie  nur 
ein  Akzidens  sein.  Die  Individualität  der  Wirkung  geht  nach  demselben 
Gesetze  auf  die  Individualität  der  Ursache  zurück.  Diese  verhält  sidi 
zur  Natur,  z.  B.  des  Feuers,  wie  jeden  Dinges  akzidenteU.  Die  Ursache  in 
dem  Vorgange  des  Erhitzens  ist  demnach  eine  akzidentelle,  nicht  eine  sub- 
stanzielle  und  kann  daher  als  Wirkung  nur  ein  Akzidens  hervorbringen. 

*)  In  der  Kette  der  per  accidens  wirkenden  Ursachen  ist  ein  ire  in 
infinitum  zulässig. 


Digitized  by 


Googl( 


743 

sich,  wenn  die  Frage  sich  erstreckt  auf  die  wesentlichen  (per 
se  wirkenden)  Ursachen.  Diese  führt  hin  zu  einem  Endpunkte, 
betreffs  dessen  man  die  Frage  des  „Weshalb"  nicht  weiter 
aufstellen  kann,  und  dies  ist  der  notwendig  Seiende  (Gott). 

383,11:  Die  Beziehung  bezeichnet  den  Umstand,  daß  die 
Ursache  eintritt  in  einen  bestimmten,  für  sie  neuen  Zustand 
(der  sie  zum  aktuellen  Tätigsein  determiniert),  und  dann  wird 
sie  notwendig  wirkend. 

383, 19 :  Die  Bewegung  ist  entweder  die  Ursache  für  das 
Neueintreten  des  Dinges  oder  ein  Teil  derselben  oder  einer 
Bedingung  derselben.  Die  Ursache  der  zeitlich  entstehenden 
Dinge,  insofern  sie  Ursache  dieser  (sich  verändernden)  Dinge 
ist,  ist  also  ein  sich  veränderndes  Ding,  nicht  etwas,  was  in 
in  seinem  Wesen  ewig  und  unveränderlich  bestehen  bliebe  in 
einem  und  demselben  Zustande,  noch  ist  es  auch  vergänglich  in 
jeder  Weise,  noch  kann  es  die  Existenz  verlieren.  Ebenso  wenig 
besitzt  es  die  Existenz,  indem  es  einem  anderen  gegenübersteht, 
mit  ihm  im  Sein  „wetteifert"  und  sich  mit  ihm  abwechselt»)  Der 
letzte  Grund  (wörtlich  „der  Ausgangspunkt"),  weshalb  sich  die 
Ursache  so  verhält,  ist  die  Bewegung. 

383,2  unten:  Wenn  es  feststeht,  daß  die  Wirkung  nicht 
hinter  der  Ursache  zurückbleiben  kann,  dann  gilt:  Wenn  das 
Ding  (per  se)  „wesenhafte"  Ursache  für  ein  anderes  ist,  kann 
es  nicht  hinter  diesem  zweiten  zurückbleiben  (d.  h.  weniger 
Eealität  und  Inhalt  besitzen  als  die  Wirkung). 

384,9:  Dies  bezeichnet  das  Nichtsein  nicht  im  absoluten 
Sinne.  Es  wird  bestimmt  durch  eine  gewisse  Zeit  mit  Aus- 
schluß einer  anderen.  Das  Nichtsein  im  absoluten  Sinne  steht 
im  Gegensatze  dazu,  d.  h.  diese  Art  der  Ursache  schließt  das 
zeitliche  Nichtsein  aus  2)  im  Gegensatze  zu  einer  anderen  Art 
der  Ursache  (die  eine  zeitlich  entstehende  Wirkung  hervorbringt) ; 
denn  diese  verhält  sich  anders. 


0  Damit  soll  wohl  gesagt  sein,  daß  für  jede  als  besondere  Art  und 
Wesenheit  gekennzeichnete  Wirkung  nur  eine  Ursache  in  der  himmlischen 
Welt  existiert;  denn  jede  Spezies  der  snblunarischen  Dinge  wird  in  der 
Oeisterwelt  durch  eine  Substanz  repräsentiert,  die  in  ihrer  Einzel exi st enz 
eine  Art  darstellt.    Sie  ist  eine  ohne  Materie  subsistierende  Wesensform. 

*)  Der  Wirkung  geht  also  kein  zeitliches  Nichtsein  voraus ;  sie  bestand 
also  immer.    Ihr  Werden  ist  anfangs  los. 


Digitized  by 


Googl( 


744 

384,25:  In  diesem  Probleme  wird  manchmal  der  Ausdruck 
der  „voraussetzungslosen"  und  anfangslosen  Schöpfung  an- 
gewandt für  eine  andere  Substanz  als  das  erste,  anfangslos 
Hervorgebrachte  (den  ersten  Verstand).  Jedoch  Avicenna  ge- 
braucht diesen  Ausdruck  (al-ibdä')  in  Beziehung  auf  jedes 
Wirkliche,  das  die  Natur  einer  Wesensform  hat,  wie  es  auch 
immer  beschaffen  sein  möge,  sei  es  nun  das  erste  der  ge- 
schaffenen Dinge  (der  Nüs)  oder  die  zweiten  Wesenheiten  (die 
Geister)^)  Unter  dem  Sein,  das  die  Natur  einer  Wesensform 
hat,  versteht  Avicenna  das  Sein,  das  in  sich  selbst  begrifflich 
faßbar  ist  (und  die  Natur  eines  begrifflich  faßbaren  Dinges  hatV) 
Es  ist  nicht  begrifflich  faßbar  durch  eine  andere  Wesensform,  die 
aus  ihm  (d  h.  aus  dem  materiellen  Teile  seines  Wesens)  abstrahiert 
würde.    So  verhalten  sich  die  unkörperlichen  Substanzen. 

386,12:  Das  Ding,  das  die  Natur  der  Wesensform  hat,  be- 
zeichnet, daß  es  keine  Materie  besitzt,  und  dieses  sind  die  reinen 
Geister. 

386,14:  Diese  Substanz  kann  nicht  ein  zeitliches  Nichtsein 
besitzen.  Dieses  „genügt"  noch  nicht  (d.  h.  ist  nicht  geeignet), 
damit  das  Ding  die  Eigenschaft  des  anfangslos  Geschaffenen 
habe.  Dasjenige,  was  im  vorzüglichen  Sinne  anfangslos  hervor- 
gebracht ist,  muß  so  sein,  daß  sein  Hervorgehen  aus  dem  Not- 
wendigseienden ohne  Vermittelung  irgend  eines  anderen  Dinges 
stattfinde.  Dies  ist  aber  nicht  begrifflich  faßbar  und  denkbar 
in  einer  anderen  Substanz  als  dem  ersten  Verursachten  (dem  Nus). 

386,28:  Avicenna  teilte  das  Hervorbringen  in  zwei  Arten 
ein,  das  anfangslose  und  voraussetzungslose  und  das  allmähliche 
Werden  und  Geformtwerden.  Er  rechnet  die  Himmel  und  das, 
was  in  ihnen  ist  als  eine  Art,  die  enthalten  ist  nnter  dem  Be- 
griffe des  anfangslos  Geschaffenen.  Das  allmähliche  Werden 
bezeichnet  er  als  eine  Eigenschaft  der  Elemente.  Andere  Philo- 
sophen bestätigen  diese  Einteilung.  Daher  gilt  das  anfangslose 
Schaffen  von  den  unkörperlichen  Substanzen,  das  Hervorbringen 
eines  neuen  Dinges  (das  keine  zeitlich  früherliegende  Materie 

0  Beide  charakterisieren  sich  dadorch,  daß  in  ihnen  das  Indiyidnations- 
prinzip  identisch  ist  mit  der  Wesensform.  Ihr  Entstehen  ist  demnach  kein 
Werden,  das  in  einer  Reihe  von  Phasen  in  einer  Materie  statt^Uide.  Sie 
werden  vielmehr  in  instanti  geschaffen.  Die  Zeit  bildet  keinen  Maßstab  ihres 
Werdens.   Sie  sind  deshalb  zeitlos  und  ewig.  Vgl.  ZDMG  Bd.LXI  S.238  Anm.3. 

^)  Diese  Substanzen  sind  also  reine  Greister. 


Digitized  by 


Googl( 


745 

voraussetzt)  von  den  Substanzen  der  Himmelssphäre,  das  all- 
mähliche Entstehen  und  Geformtwerden  von  den  Elementen. 
Das  vorzüglichste  Geschöpf,  das  als  ein  zeitlos  und  anfangslos 
Entstehendes  bezeichnet  wird,  ist  zweifellos  das  erste  Geschaffene 
(der  Nfis). 

386,34:  Die  Ursache  bringt  die  Wirkung  in  einem  Male 
(«^a-totum  simul)  hervor,  d.  h.  wie  die  kontinuierlichen  und 
sich  gegenseitig  berührenden  Substanzen,  oder  auch  „durch  eine 
Bewegung"  (allmählich),  wie  z.  B.  die  Veränderungen  der  Wesens- 
formen der  Elemente. 

388, 1 :  So  verhält  sich  das  Feuer,  das  die  Hitze  im  Wasser 
hervorbringt;  denn  die  Natur  der  Hitze  ist  in  dem  Prinzipe, 
das  die  Hitze  mitteilt  (und  ausstrahlt),  in  vorzüglicherer  und 
mächtigerer  Weise  enthalten  als  in  dem  Prinzipe,  das  die  Hitze 
in  sich  aufnimmt. 

388,4:  So  verhält  sich  die  Wirkursache,  die  die  im  Wasser 
vorhandene  Hitze  hervorbringt.  Die  Existenz  dieser  Wirkursache 
ist  vorzüglicher  und  mächtiger  als  die  Existenz  der  Hitze.  Das 
Feuer  aber,  das  ein  vermittelndes  Prinzip  ist  für  die  Einwirkung 
dieser  Wirkursache  und  das  nicht  selbst  erstes  Prinzip  für  die 
Hitze  ist,  verhält  sich  nicht  so,  daß  in  ihm  die  Natur  des 
Heißen  in  vorzüglicherem  und  mächtigerem  Sinne  enthalten  ist 
als  im  Feuer  selbst. 

390, 25 :  Wir  wollen  von  diesen  Vorstellungen  das  Richtige 
von  dem  Falschen  trennen. 

394, 10 :  Daraus  ergibt  sich  nicht  etwa,  daß  das  Feuer  Ur- 
sache seiner  selbst  ist. 

396, 16:  ,Die  Wirkursache  für  die  Hitze  im  Wasser,  die  un- 
körperlicher Natur  ist,0  und  das  Feuer,  das  individueller  Natur 
ist,  wirken  in  akzidenteller  Weise  in  bezug  auf  die  Disposition 
des  Wassers  für  die  Aufnahme  dieser  Form. 

410,17:  Diese  Definition  des  Stoicheion  ist  zu  verstehen 
rücksichtlich  der  Zusammensetzung  der  Dinge  aus  ihm.  Das 
erste,  das  Substrat,  ist  zu  verstehen  rücksichtlich  der  Trennung 
der  Zusammensetzung,  d.  h.  Stoicheion  bezeichnet  dasjenige, 
aus  dem  der  Körper  zusammengesetzt  wird,  indem  er  aus  ihm 
und  aus  einem  anderen  Stoicheion  entsteht,  ohne  daß  die  Wesens- 
form dieses  Elementes  von  ihm  entfernt  werde;  denn  analysiert 


')  Das  „Idealfeuer"  der  himmlischen  Welt, 


Digitized  by 


Google 


746 

man  den  Körper,  so  gelangt  man  letzthin  nur  zu  diesem  Ele- 
mente. Dieses  Element  selbst  wird  aber  seinerseits  iiicht 
wiederum  in  eine  Wesensform  zerlegt,  die  eine  weitere,  univer- 
sellere Bestimmung  besäße,  als  die,  daß  sie  nach  Maßgabe  der 
sinnlichen  Wahrnehmung  nicht  wiederum  in  eine  andere  Wesens- 
form zerlegt  werden  kanu-O  So  analysiert  man  den  menschlichen 
Körper,  indem  man  Kopf,  Leber,  Fuß  und  andere  Teile  unter- 
scheidet. Diese  ihrerseits  zerlegt  man  in  Sehnen  und  Knochen. 
Die  letztgenannten  Teile  werden  nun  nach  Maßgabe  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung  nicht  weiter  geteilt,  als  in  die  Wesens- 
formen, z.  B.  der  Knochen  und  der  Sehnen,  oder  nach  Maß- 
gabe des  realen  Bestandes  (den  die  äußere  Sinneswahmehmung 
noch  bestätigen  kann)  nicht  weiter  als  in  die  vier  Elemente. 
In  diesem  Sinne  versteht  man  das  Stoicheion  in  zwei  ver- 
schiedenen Weisen,  wie  es  aus  unseren  Darlegungen  klar  ist 
—  §adr. 

410,21:  „Ein  körperliches  Element  (das  Atom)  kann  frei 
sein  von  der  Größe"  und  wird  dann  als  unausgedehnt  betrachtet^ 
obwohl  es  körperlicher  Natur  ist. 

410, 30:  Unter  „Dinge"  versteht  der  Philosoph  die  auf  Grund 
der  Wesensform  (also  spezifisch)  und  die  innerhalb  ihrer 
Wesensform  (d.  h.  innerhdlb  ihrer  Art,  also  numerisch)  ver- 
schiedenen Dinge. 

410,33:  Das  Eine  und  die  Individualität  werden  hier  ge- 
nannt, weil  beide  alle  Dinge  (alle  Kategorieen)  in  ihrem  Um- 
fange umfassen.^) 

411,15:  Wir  lehren  nicht,  daß  die  Kunstfertigkeit  des 
Schreibens,  die  in  der  Seele  vorhanden  ist,  aus^)  derselben 
hervorgehe.  Die  Philosophen  lehren  vielmehr,  sie  entstehe 
(wörtlich  „entstand")  aus  einem  Prinzipe,  das  die  Kunstfertig- 
keit des  Schreibens  noch  nicht  besaß,  d.  h.  sie  entstand  aus 
dem  Vegetativum.*)     Anders   verhält  sich   dasjenige,  das  sich 


^)  Dies  ist  Definition .  des  Elementes. 

')  Solche  Inhalte  bezeichnete  die  Scholastik  als  transcendentaUa. 

')  Als  Ausgangspunkt  des  Werdeprozesses  muß  die  Piivation  {ot^^riaig) 
dessen,  was  werden  soU,  bezeichnet  werden. 

*)  Der  Sinn  dieser  dunkeln  Worte  ist  wohl  folgender:  „Seele"  ist  ein 
aUgemeiner  Ausdruck  und  bezeichnet  sowohl  die  in  der  Schreibkunst  unter- 
richtete als  auch  die  nicht  unterrichtete.  Sie  kann  also  nicht  als  eigentlicher 
Ausgangspunkt  des  Prozesses  bezeichnet  werden,  der  in  dem  Erlernen  der 


Digitized  by 


Googl( 


747 

verändert,  insofern  es  etwas  anderes  in  sich  aufnimmt.  Dann 
sagen  die  Philosophen:  Der  Gegenstand  wurde  von  diesem  zu 
jenem  anderen. 

412, 8:  Die  Wesensform  wird  nicht  in  Beziehung  gesetzt  zur 
(d.  h.  nicht  benannt  nach  der)  Wesensform.  Man  müßte  sonst 
sagen:  diese  Türe  ist  „türern".  Ebenso  wenig  sagt  man:  diese 
Türe  entstand  aus  der  Türe.  (Nur  nach  dem  Substrate  wird 
der  Gegenstand  in  dieser  Weise  benannt)  Die  Benennung  nach 
der  Form  geschieht  vielmehr  in  folgender  Weise.  Erkennt  man 
die  Form,  die  dem  Holze  oder  ähnlichen  Materien  verliehen 
wurde,  so  benennt  man  dieselbe  mit  dem  substantivischen 
Namen  „Tür". 

412, 9:  Dieser  Begriff  ist  universell,  so  wie  die  erste  Materie 
in  Beziehung  zu  den  Elementen. 

413,26:  „Alle  diese  Begriffe"  bezeichnen  das  aus  Genus  und 
Differenz  (und  den  übrigen  logischen  Kategorien)  Zusammen- 
gesetzte (also  den  Körper,  der  Gegenstand  des  Erkennens  ist). 

413,27:  Das  Mangelhafte  schließt  offenbar  eine  Negation 
ein;  denn  das  Mangelhafte  ist  dasjenige,  das  durch  die  Bewegung 
(in  den  veränderlichen  Dingen)  eintritt.  Es  ist  nicht  etwa  die 
Bewegung  selbst  (deren  Wesenheit  wie  das  jedes  Wirklichen 
„vollendet"  [412,29]  ist).    So  bestimmt  es  die  richtige  Lehre. 

444,27:  Die  contraria  gehören  unter  den  Begriff  der  Pri- 
vation und  des  Habitus,  indem  man  es  (bei  letzterer)  vermeidet, 
die  Beziehungen  (der  Mittelglieder,  die  die  distantia  maxima 
contrariorum  begründen)  von  ihr  auszusagen.  (Der  Unterschied 
beider  soll  also  nur  als  ein  äußerlicher  gelten.) 

444,31:  Dies  bedeutet  den  Umstand,  daß  das  maximum 
contrarium  der  beiden  konträren  Dinge  begleitet  ist  von  dem 
Nichtsein,  der  Privation  des  anderen. 

454,30:  Es  verhält  sich  aber  nicht  so;  denn  die  Materie 
ist  ein  rein  aufnehmendes  Prinzip,  sie  ist  daher  kein  wirkendes. 

Schreibkunst  besteht.  Als  em  solcher  kann  nnr  die  Seele  gelten,  die  die 
Kunstfertigkeit  des  Schreibens  noch  nicht  erlernt  hat.  Die  Entwicklungs- 
phasen des  Menschen  sind  nun  die,  daß  er  zuerst  eine  anima  vegetativa, 
dann  eine  anima  sensitiva,  zuletzt  eine  anima  rationalis  erhält.  Zuerst  ist 
diese  eine  tabula  rasa,  in  qua  nihil  est  scriptum.  Dieser  letzte  Zustand 
hätte  ebenso  gut  als  „Ausgangspunkt^  bezeichnet  werden  können,  doch  wollte 
der  Glossator  die  allererste  Phase  des  Werdens  als  Ausgangspunkt  angeben. 


Digitized  by 


Googk 


748 

455,  17:  Es  ist  ein  vermittelndes  Prinzip  zwischen  den 
natürlichen  Wesensfonnen  nnd  den  Materien. 

458,  7 :  Die  Existenz  der  vermittelnden  Prinzipien  ruck- 
sichtlich ihres  Vorhandenseins  in  den  Einzeldingen  hängt  ab 
von  der  Materie.  Ihr  Freisein  von  der  Materie  ist  zu  ver- 
stehen in  der  logischen  Ordnung. 

459,25:  Die  Unkörperlichkeit  (das  esse  abstractum  a  ma- 
teria)  findet  nur  im  (denkenden)  Geiste  statt  (Kritizismus). 

464, 23:  Ihre  Ansicht  will  besagen,  daß  jedem  sinnlich  wahr- 
nehmbaren, mathematischen  Inhalte  ein  begrifflicher  (idealer) 
gegenübersteht  Dann  verhält  sich  der  eine  zum  anderen  wie 
der  Schatten  zu  dem  Körper,  der  den  Schatten  wirft 

466,3  unten:  Dasjenige,  wodurch  das  Zuviel  in  das  Ding 
eintritt,  ist  ein  realer,  nicht  ein  rein  supponierter  Teil  Dadurch 
entsteht  also  eine  andere  Einheit  Dann  ergibt  sich  also  das- 
selbe, was  sich  auch  aus  der  Annahme  ergibt,  daß  die  Einheit 
zu  einer  Vielheit  werde.  Dies  aber  ist  ein  Widerspruch  — 
Ahmed. 

468,17:  Der  Philosoph  will  mit  dem  Ausdruck  „Einheit" 
die  real  existierende  bezeichnen,  die  dem  Dinge  seinen  Bestand 
verleiht,  nicht  die  Einheit,  die  ihm  von  außen  zukommt 

470,9:  Daraus  ergäbe  sich,  daß  zwei  Einheiten  zu  gleicher 
Zeit  beständen.  Dies  ist  ebenfalls  ein  Widerspruch  gegen  ihre 
Lehre  —  Ahmed. 

470,17:  Das  Ding  würde  in  dieser  Auffassung  nur  logisch 
später  sein  als  sein  (ideales)  Wesen. 

470,22:  Durch  seine  Ausführungen  will  Avicenna  hinweisen 
auf  die  Wesensform,  die  durch  die  erste  Materie  existiert  An- 
dere behaupten,  er  wolle  mit  Wesensform  die  Wesenheit  be- 
zeichnen. Dabei  ist  jedoch  daran  zu  erinnern,  daß  die  Wesens- 
form nicht  ausgesagt  wird  von  der  Summe  (die  besteht  aus  der 
Wesensform  und  der  Materie).  Wie  stimmt  dies  dann  aber 
überein  mit  dem  Umstände,  daß  die  hier  genannte  Wesensform 
von  der  Summe  ausgesagt  wird? 

474,7  unten:  Alle  Ursachen  sind  endlich,  sei  es  nun,  daß 
sie  Wirkursachen,  Zweckursachen,  formelle  oder  materielle  Ur- 
sachen sind. 

476,24:  Das  Mittelglied  ist  ein  solches  nur  durch  die  Be- 
ziehung zum  Endgliede. 

478,33:  Das  tragende  Prinzip  ist  die  erste  Materie. 


Digitized  by 


Googl( 


749 

480,25:  Ursachen,  die  die  Natur  des  Substrates  besitzen, 
sind  Ursachen,  die  die  Natur  des  aufnehmenden  Prinzipes  haben. 
Der  Ausdruck,  „sie  sind  durch  ihr  Wesen  Ursache  nach  Art 
des  Substrates"  (Materialursachen)  bedeutet  etwas  anderes  als 
der  Inhalt  des  zweiten  Teiles;  denn  in  ihm  ist  eines  der  beiden 
Elemente  in  Beziehung  zum  anderen  gesetzt,  und  zwar  nur  auf 
Grund  des  aufnehmenden  Prinzipes,  nämlich  der  Materie,  nicht 
auf  Grund  seines  Wesens.  Der  Umstand  aber,  daß  das  eine  von 
beiden  später  ist  wie  das  andere  und  auf  das  andere  folgt,  tritt 
nur  ein  auf  Grund  der  Verschiedenheit  und  der  Opposition  beider, 
nicht  auf  Grund  davon,  daß  das*  eine  Ursache  und  das  andere 
Wirkung  ist.  Daher  ist  folgendes  klar:  Der  Umstand,  daß  das 
eine  Element  Ursache  für  das  andere  ist,  tritt  nur  in  akziden- 
teller Weise  ein,  und  nur  insofern,  als  in  dem  Elemente  zugleich 
die  Materie  eingeschlossen  ist  (und  diese  wird  im  eigentlichen 
Sinne  als  Ursache  bezeichnet).  Oder  der  Philosoph  will  mit 
seinen  Worten  sagen,  daß  das  eine  das  andere  begleitet.  Infolge 
davon  lehren  die  Gelehrten:  die  Ursache,  die  auf  Grund  ihres 
Wesens  Ursache  ist,  sei  die  Wirkursache.  Andere  Ursachen 
werden  nur  zu  Ursachen  in  akzidenteller  Weise  —  AJjimed. 

481,17:  Mit  dem  sich  Hinbewegenden  will  Avicenna  die 
Bewegung  selbst  bezeichnen.  Der  Ausdruck  „das  Ding  befindet 
sich  auf  dem  Wege  des  Werdens"  bezeichnet  dasjenige,  in  dem 
die  Bewegung  stattfindet,  und  dies  ist  hier  die  Dimension. 

483,6:  Da  die  Mischung  in  diese  Elemente  eintritt  durch 
die  Nichtexistenz  des  Kontrariums,  so  ist  dieses  später,  als  die 
Mischung  in  der  gleichen  Weise  wie  z.  B.  die  Luft  später  ist, 
als  das  Wasser  (aus  dem  sie  entstand).  Die  neue  Mischung 
tritt  in  den  Elementen  auf,  nachdem  eine  (andere)  Mischung 
aufgelöst  wurde,  entsprechend  der  Art  der  Zusammensetzung, 
die  man  für  sie  annahm  und  die  aus  den  aktuell  vereinigten 
Elementen  entstand  (die  Möglichkeit  der  Trennung  bleibt  dabei 
also  immer  bestehen)  —  A^med. 

483, 10 :  Ihre  Arten,  d.  h.  ihre  Wesensformen,  die  die  Natur 
der  Spezies  haben.  Sie  verändern  sich  durch  die  Veränderung 
des  Zustandes  (wörtL  des  Dinges),  der  in  dem  Elemente  eintritt. 
Die  Veränderung  findet  nur  in  der  Qualität  statt. 

483,15:  Die  Elemente,  die  das  entstehende  Ding  in  seiner 
Mischung  herstellen,  lassen  sich  wieder  verwandeln  (wörtl.  kon- 
versieren)  in  die  einfachen  Teile  des  Dinges.    Anders  verhält 


Digitized  by 


Googk 


750 

sich  der  Mann  zu  dem  Jünglinge.  Eine  Rückbildung  ist  hier 
nicht  möglich. 

484, 16:  Das  „Später"  bedeutet  hier  nicht  etwa,  daß  das 
Ding  aus  dem  anderen  entstehe  (indem  das  erste  vernichtet 
wird);  denn  der  Knabe  geht  (nur)  zugrunde,  insofern  er  Knabe 
ist  (nicht  in  seinem  Wesen  als  Mensch),  indem  er  zum  Manne 
wird.  Diese  Art  des  Werdens  geht»)  vor  sich,  indem  ein  und 
dasselbe  Ding  als  Individuum  bestehen  bleibt  —  Ahmed. 

485, 19:  Dies  verhält  sich  wie  der  weiße  Körper;  denn  der 
Körper  ist  eine  Substanz,  die  ein  Substrat  für  Akzidenzien  dar- 
stellt, und  dieser  haftet  die  Weiße  Farbe  an.  Dieselbe  verleiht 
der  Substanz  nicht  ihr  Bestehen  als  Substanz,  noch  auch 
vollendet  sie  dieselbe. 

503,83:  „Die  übrigen  Eigenschaften"  bezeichnet  die  Eigen- 
schaften im  wahren  Sinne  des  Wortes,  nicht  die  Eigenschaften, 
die  die  Natur  der  Relation  haben;  sonst  würde  sich  eine  Zu- 
sammensetzung ergeben. 

507,  Titel:  Dieses  Kapitel  steht  zu  dem  vorhergehenden  in 
der  Beziehung  der  Konklusion  zu  den  Voraussetzungen. 

507,6:  Das  Wesen  des  ersten  Seienden,  d.h.  das  eigent- 
liche Wesen  Gottes  und  dies  ist  das  Notwendigsein  d.  L  der 
feste  Bestand  der  reinen  Existenz,  ist  real  existierend  in  diesem 
Einzeldinge  (Gott)  selbst,  ohne  einem  anderen  Dinge  zuzukommen. 
Dieses  will  der  Philosoph  induktiv  beweisen. 

508,4:  Der  Begriff  (Übers.  Wesensbegriff)  bedeutet  die 
Wesenheit,  die  verschieden  ist  vom  Dasein. 

510, 12:  Der  zweite  Teil  bezeichnet  das  Ding,  das  die  Not- 
wendigkeit der  Existenz  besitzt,  und  noch  ein  anderes,  das  die 
Voraussetzung  bildet. 

510, 23:  Diese  Darlegung  weist  hin  auf  das  zweite  Problem, 
das  besagt,  es  sei  unmöglich,  daß  ein  zweiter  Gott  existiere  in 
dem  notwendigen  Sein,  wenn  dieses  auch  die  Natur  des  G^nus 
hätte. 

510,30:  Wenn  der  andere,  der  sich  innerhalb  dieses  ge- 
nerischen  Begriffes  des  Seins  von  dem  ersten  als  bestimmtes 
Wesen  unterscheidet,  in  seinem  Wesen  notwendig  seiend  ist, 
auch  ohne  die  Verbindung  mit  dem  ersten,  dann  ist  die  „Hinzu- 
fügung" in  ihm  zum  Wesen  hinzukommend  und  daher  ist  er 


*)  Wörtlich  der  Vorgang  „bedeutet". 


Digitized  by 


Googk 


751 

dann  ein  zusammengesetztes  Ding.  Nichts,  das  ein  zusammen- 
gesetztes Ding  darstellt,  ist  nun  aber  in  sich  notwendig. i)  Wenn 
aber  das  Verhältnis  nicht  so  liegt,  und  wenn  vielmehr  sein 
Wesen,  das  notwendig  ist,  nur  auf  Grund  dieser  Hinzufügung 
besteht,  dann  besitzt  es  ohne  diese  Hinzufügung  nicht  den 
Charakter  des  wesenhaft  Notwendigen.  Dann  ist  es  also  eben- 
falls eine  Bedingung  für  das  andere."^)  Die  Voraussetzung  besagt 
aber  das  Gegenteil. 

511, 30:  Dann  also  ist  keines  von  diesen  beiden  notwendigen 
Dingen  trennbar  von  irgend  einem  der  beiden  „Hinzufügungen". 
Keines  von  beiden  ist  also  in  dem  einen  oder  anderen  vollständig.^) 
Die  Annahme  besagte  aber  das  Gegenteil. 

513,9:  Das  Sein  besitzt  selbst  nicht  das  Dasein,  wie  ein 
zweites  Ding  (also  wie  ein  Akzidens),  so  daß  es  desselben  zu 
irgend  etwas  bedürftig  wäre.  Er,  Gott,  ist  aber  das  not- 
wendige Sein. 

513,24:  Der  Meister  zeigte  auf  zwei  Weisen,  es  sei  un- 
möglich, daß  Gott  eine  Differenz  besitzt,  die  die  Aktualität 
herbeiführt  Erstens  ist  die  Differenz  so  beschaffen,  daß  sie  der 
Wesenheit  des  Genus  die  Aktualität  verleiht,  nicht  der  Existenz 
des  Genus.  Er  zeigte  weiter,  daß  dieses  in  Gott  unmöglich  sei; 
denn  seine  Existenz  ist  sein  eigentlichstes  Wesen  selbst.  Wenn 
irgend  ein  Prinzip  daher  seine  Wesenheit  hervorbrächte,  so 
bringt  es  auch  seine  Existenz  selbst  hervor.  Dies  aber  ist  un- 
möglich. Der  zweite  Grund  ist  der,  daß  das  eigentliche  Wesen 
des  Notwendigen,  das  das  Sein  selbst  ist,  welches  in  sich  (per  se) 
existiert,  eines  äußeren  Prinzipes  bedürftig  wäre  (um  zur  Existenz 
zu  gelangen).  Als  ein  solches  stellte  man  die  Differenz  auf. 
Dann  ergebe  sich  der  Charakter  der  Möglichkeit  für  das  Not- 
wendige entsprechend  dem,  was  der  Philosoph  ausgeführt  hat. 

514,9:  Der  Philosoph  führt  diese  Darlegungen  weiter  aus, 
weil  die  Prämissen  seines  Beweises  eine  größere  Mühe  erfordern 
und  in  dem  Beweise  der  Thesis  klarer  sind,  als  die  Prämissen 
für  den  Beweis,  daß  kein  zweiter  Gott  (als  Mitart)  existieren 
könne,  innerhalb  des  Umfanges  des  Seienden,  als  Genus  aufgefaßt 

^)  AUes  zusammeng^esetzte  ist  kontingent. 

')  Dieses  maß  ebenfaUs  wesenhaft  notwendig  sein,  jedoch  nach  der 
Yoranssetznng  ohne  jene  ,,Hinzufü^ng^. 

')  Jeder  der  beiden  Götter  besäße  das  esse  necessarium  nur  nach  Mafs- 
gäbe  des  unterscheidenden  Momentes,  also  nicht  in  uneingeschränktem  Sinne. 


Digitized  by 


Googl( 


752 

Er  führt  dieses  weitschweifig  aus,  weil  eine  große  Anzahl  von 
Prämissen  für  den  Beweis  existieren,  seien  es  nun  z.  B.  die 
Ursachen  für  den  Bestand  oder  die  für  das  Wirklichwerden 
des  Dinges.  Alle  widerlegt  er  in  scharfsinnigen  Distinktionen. 
(Er  zeigt:  in  Gott  könne  es  keine  Differenz  geben),  trotzdem 
(nach  seiner  Lehre)  die  Differenz  sich  sowohl  im  Wesen  als  auch 
in  der  Existenz  mit  dem  Genus  und  der  Art  zu  einem  einzigen 
Dinge  vereinigt.  Die  Differenz  ist  nämlich  gleichsam  ein  Teil 
des  Dinges.  Dies  verhält  sich  also  anders  als  dasjenige,  wo- 
durch die  Dinge  sich  in  ihrer  Individualität  unterscheiden  (die 
principia  individuantia);  denn  dieses  ist  etwas,  das  sich  wie  ein 
äußeres  Prinzip  zur  Art  verhält  und  zu  ihr  hinzugefügt  wird 
—  Ahmed. 

514, 19:  Das  Ähnliche  ist  dasjenige,  was  dem  Dinge  in  der 
Fähigkeit  gleichsteht.  Es  ist  ihm  daher  ähnlich  in  dem  realen 
Wesen,  indem  es  jedoch  zugleich  von  ihm  verschieden  ist  und 
zu  ihm  in  einen  Gegensatz  tritt,  trotzdem  es  in  der  Fähigkeit 
ihm  gleichsteht. 

515,1:  Das  Spätersein  als  Gott  ist  eine  Eigenschaft 
der  Dinge,  und  alle  Dinge  zugleich  existieren  später  als 
das  Wesen  des  ersten.  Man  sagt  auch:  Er  umkleidet  sich  mit 
einem  Dinge  (indem  er  es  erschafft).  Die  Dinge  nehmen  später 
als  Er  die  Natur  realer  Dinge  an,  d.  h.  sie  sind  ein  anderes 
als  Gott.  Der  erste  Seiende  ist  durchaus  keines  der  „Dinge"; 
Er  ist  nur  Er  selbst  und  verhält  sich  darin  anders  wie  die 
Dinge;  denn  diese  sind  verschieden  von  vielen  anderen  Dingen, 
und  die  begrifflichen  Inhalte  derselben  sind  verschieden  von 
ihrem  Wesen.  So  ist  z.  B.  das  animal  der  Mensch  selbst  und 
zugleich  das  Pferd  selbst.  Der  Mensch  ist  weiterhin  wiederum 
verschieden  von  dem  Schreibenden  und  dem  Lachenden.*)  Das 
Spätersein  könnte  sich  auch  auf  Sein  Wesen  beziehen,  d.  h, 
der  erste  Seiende  wird  keines  der  Dinge  in  einer  letzten  Eang- 
stuf e,  die  später  ist  als  die  Rangstufe  seines  Wesens.  Im  Gegen- 
satze dazu  verhalten  sich  die  übrigen  Dinge.-) 


>)  Die  Dinge  unterscheiden  sich  durch  Differenzen  (Mensch  und  Pferd), 
propria  und  Akzidenzien,  die  in  Gott  geleugnet  werden  müssen. 

*)  Die  Weltdinge  existieren  zuerst  in  einer  unkörperlichen  Seinsweise 
in  Gott  und  den  Geistern,  sodann  in  der  „niedrigsten"  Seinsweise  als  körper- 
liche Dinge  der  Außenwelt. 


Digitized  by 


Googk 


753 

515,  Titel:  Das  Kapitel  handelt  darüber,  daß  Gott  im  Sein 
vollkommen  und  erhaben  über  jede  Vollkommenheit  ist  und 
reines  Gute  bedeutet 

516,2  unten:  Der  richtige  Glaube  an  die  Existenz  Gottes 
stützt  sich  auf  die  Vielheit  seiner  Wirkungen.  Die  Darlegung 
handelt  darüber,  daß  er  (Gott)  reiner  Geist  sei. 

517,18:  Das  begriffliche  Sein  bedeutet  die  begriffliche 
Wesensform,  die  frei  ist  von  der  Materie,  nicht  die  Wesensform 
im  absoluten  Sinne,  die  in  ihrem  Umfange  zugleich  die  Inhalte 
der  aestimativa  und  der  kombinierenden  Phantasie  einbegreift. 
Mit  dem  Seienden,  das  die  Natur  der  Wesensform  hat,  will  der 
Philosoph  das  bezeichnen,  was  im  Verstände  wirklich  wird,  i  h. 
die  Existenz  des  Begriffes,  nicht  die  Existenz  des  begrifflich 
Denkenden.  Im  letzten  Falle  würde  man  gegen  diese  Aus- 
führungen das  einwenden,  was  Viele  vorbrachten,  daß  er  nämlich 
an  dieser  Stelle  davon  rede,  daß  die  Seele  (im  anderen  Leben) 
unkörperlicher  Natur  sei,  nachdem  sie  (im  Diesseits)  mit  der  Ma- 
terie verbunden  war. 

518,5:  Die  Dinge  stellen  sich  in  einer  Vielheit  dar  nicht 
auf  Grund  ihres  Wesens,  noch  in  einer  gewissen  Hinsicht, 
sondern  durch  die  Benennung  (die  das  Individuum  bezeichnet), 
und  daher  ist  dasjenige  klar,  was  dargelegt  wurde  betreffs  der 
Vielheit  der  Beziehungen  und  der  Bestimmungen  —  A^med. 

528,2:  Es  ist  dies  ein  Wissen,  das  sich  nicht  verändert 
durch  die  Ursachen  (auf  die  es  sich  erstreckt).  Es  verändert 
sich  aber  durch  eine  sinnliche  Wahrnehmung. 

528, 6:  Der  Ausdruck  „Du  bist  zeitlich  und  bestimmt  durch 
den  Augenblick"  ist  abhängig  von  dem,  was  vorausgeht,  wo  der 
Philosoph  sagte,  „erkennst  Du  die  Verfinsterungen  der  Sonne 
usw."  i  h.  dadurch,  daß  Du  alle  Ursachen  des  Dinges  umfassest 
und  begreifst,  erkennst  Du  dieses  Ding,  obwohl  Du  zeitlich  und 
vergänglich  bist.  Du  umfassest  mit  Deiner  Erkenntnis  dasjenige, 
was  nicht  von  der  Zeit  abhängt,  indem  dieses  Erkennen  die 
Dinge  umspannt  —  A^med. 

531,3:  Die  Wesensformen  der  Dinge  sind  in  der  Wirk- 
ursache in  intensiverem  Maße  vorhanden,  als  in  dem  auf- 
nehmenden Prinzipe. 

532,3:  Dadurch  weist  der  Philosoph  auf  die  Lehre  hin, 
daß  diese  Dinge  dadurch  entstehen,  daß  das  Wesen  Gottes  zu 
ihnen   in  gewisse  Relation  tritt,  insofern  sie  aktuell  gedacht 

Horten,  Dm  Buch  der  Genetimg  der  Seele.  43 


Digitized  by 


Googk 


754 

sind,  nicht  insofern  sie  in  den  Individuen  existieren.  Dieses 
gehört  ebenfalls  zu  denjenigen  Umständen,  die  beweisen,  daß 
die  begrifflichen  Wesensformen  in  Gott  aktuell  existieren  — 
Ahmed. 

533,1:  Damit  beginnt  der  Philosoph  zu  widerlegen,  daß 
die  Wesensformen  außerhalb  des  Verstandes  und  der  Seele  als 
unkörperliche  Substanzen  existieren. 

533,11:  Diese  Wesensform,  die  in  den  Geist  eingezeichnet 
wird,  ist  identisch  mit  dem  Wissen  des  ersten  Prinzipes,  Gottes, 
von  dem  die  Wesensform  ausgeht.  Ist  diese  Wesensform  nicht  das 
Wissen  Gottes  von  den  Dingen  selbst,  und  geht  vielmehr  der 
Wesensform  ein  anderes  Wissen  voraus,  so  ergäbe  sich  eine 
endlose  Kette. 

535,17:  Der  Ausdruck  „dieses  ist  das,  was  er  von  dem 
Weltall  erkennt",  will  besagen,  daß  dasjenige,  was  er  erkennt, 
das  Weltall  widerspiegelt.  Dieses  ist  die  Bedeutung  des  Aus- 
druckes „die  begriffliche  Erkenntnis  erstreckt  sich  auf  das 
Objekt"  —  Ahmed. 

537,17:  Die  Prädikation  bezeichnet  die  Zusammensetzung 
des  Genus,  Differenz  und  anderer  Elemente  (die  von  Gegen- 
ständen ausgesagt  werden). 

537,28:  Die  Relation  dieses  realen  Seienden,  d.h.  das  e^e 
primum  principium  im  Verhältnis  zu  allen  möglichen  Dingen, 
die  auf  das  erste  Prinzip  folgen. 

537, 3  unten:  Das  begriffliche,  „geistige**  Dasein,  d.  h.  das- 
jenige, das  von  der  Materie  frei  is.t. 

543, 1:  Daher  gehört  die  Einheit  in  Gott  zu  den  notwendig 
anhaftenden  Bestimmungen,  die  der  Leugnung  der  Vielheit  zu- 
kommen. (Also  zu  den  Eigenschaften  Gottes,  die  eine  Negation 
enthalten.)  Darin  verhält  Er  sich  anders,  wie  alle  möglichen 
Dinge,  die  auf  ihn  im  Sein  folgen,  weil  die  Leugnung  der  Viel- 
heit notwendiges  Akzidens  ihrer  Einheit  ist^)  —  A^uned. 

543,5:  Dadurch  weist  vielleicht  der  Philosoph  auf  den 
Beweis  hin,  der  die  Existenz  Gottes  erweist,  insofern  Gtott  erstes 
Prinzip    der   Bewegung   ist,   nicht   im    absoluten   Sinna    So 


^)  In  Gott  soU  nach  dem  Glossator  die  Einheit  Akzidens  der  Negation 
der  Vielheit,  in  den  Geschöpfen  die  Negation  der  Vielheit  Akzidens  der  Ein- 
heit sein. 


Digitized  by 


Googk 


755 

führen  die  Naturwissenschaftler  den  Beweis  durch,  wie  es  frtilier 
erwähnt  wurde  —  Ahmed. 

543,25:  Dies  ist  die  Induktion,  die  Avicenna  ausführte 
zum  Beweise  einer  ewigen  Bewegung.  Die  Thesis  der  Ewigkeit 
der  Bewegung  kann  man  aufstellen  auf  Grund  dessen,  weil  das 
zeitlich  Entstehende  eine  Materie  und  sogar  auch  eine  frühere 
Zeit  voraussetzt  Der  Beweis  erstreckt  sich  auf  beide  zugleich 
(die  Materie  und  die  Zeit). 

545, 5:  Nachdem  Avicenna  darauf  hinwies,  daß  die  Ursachen 
und  Wirkungen  sich  entweder  zugleich  und  auf  einmal  oder  zu 
verschiedenen,  aufeinanderfolgenden  Malen  „verändern",  d.  h. 
wirkend  auftraten,  wählte  er  den  letzten  Fall,  aus  dem  sich 
ergibt,  daß  eine  oder  viele  Bewegungen,  die  unendlich  an  Zahl 
sind,  ein  und  dasselbe  Substrat  erfordern,  das  sich  in  der 
Möglichkeit  dazu  befindet,  durch  die  Existenz  Gottes  ins  Dasein 
gerufen  zu  werden.  Damit  ist  zugleich  die  Ewigkeit  der 
Schöpfung  gegeben. 

546,10:  Dies  bedeutet,  daß  eine  Zeit  zwischen  zwei  Be- 
wegungen sich  einschiebt 

548,23:  Das  Hervorgehen  dieses  Dinges,  das  per  se  von 
seinem  Wesen  getrennt  ist,  erfolgt  auf  Grund  eines  Willens- 
.  entschlusses  oder  einer  Zwecksetzung  oder  einer  Naturnotwendig- 
keit oder  irgend  einer  anderen  Veranlassung.  Es  hat  zur  Folge, 
daß  sein  Wesen  sich  verändert.  So  beweist  es  die  Unrichtigkeit 
des  zuerst  angenommenen  Falles. 

550,26:  Wir  suchen  diese  universelle  Beziehung,  sei  es 
nun,  daß  dieselbe  eine  eigentliche  Bewegung  ist  oder  etwas 
Anderes.  Kurz  alles,  was  von  dem  Wesen  ausgeht,  und  sich 
wie  ein  einziges  Ding  darstellt,  verhält  sich  so,  daß  das  Problem 
sich  wieder  von  Neuem  stellt,  betreffs  der  Beziehung, i)  die  ihm 
eignet  und  die  für  das  Wesen  eine  äußerliche  ist  Daraus 
ergibt  sich  keine  Unmöglichkeit,  weil  es  zulässig  ist,  zu  sagen, 
daß  die  Beziehung,  die  außerhalb  des  Wesens  eintritt,  seine 
Ursache  ausmacht;  sonst  ergäbe  sich  notwendigerweise  das 
Gegenteil  des  Angenommenen,  daß  nämlich  die  Diskussion 
handele    über   die   Entstehung   dieses   vollständigen   Ganzen,^) 


^)  Diese  Beziehung  soU  die  der  Möglichkeit  nach  wirkende  Ursache  zu 
einer  aktueU  wirkenden  machen. 

')  Das  „Ganze"  bezeichnet  die  Ursache  mit  ihrer  Determination. 

48* 


Digitized  by 


Googl( 


756 

nachdem  dasselbe  vorher  nicht  war,  und  über  die  Entstehung 
des  Ganzen  in  einem  solchen  Zustande,  indem  früher  kein  Ding 
existierte. 

550, 32:  Dieser  Ausdruck  hängt  ab  von  dem  Satze  (oben  Z.25) 
„denn  wir  suchen  die  Beziehung  usw.",  sonst  würde  die  dem 
Dinge  zukommende  Beziehung  sich  (bereits)  außerhalb  dieser 
Summe,  (des  Nichtseienden  aber  Möglichen)  befinden,  indem  sie 
aus  dem  Wesen  der  ersten  Wirkursache  hervorginge. 

553,83:  Man  würde  dann  sagen,  das  erste  Seiende  bestand 
und  „darauf"  erschuf  es  (in  einem  zeitlichen  Später)  die  Welt 

558,26:  Nach  dem  Eintreten  dieses  nichtnatürlichen  Zu- 
standes  bewegt  sich  das  erhitzte  Wasser  wiederum  hin  zur 
Kälte.  Seine  Bewegung  auf  dieses  Ziel  hin  geschieht  auf  Grund 
irgend  eines  nicht  natürlichen  Zustandes,  nämlich  der  Hitze  (des 
Wassers).  Ebenso  sind  die  übrigen  Beispiele  zu  verstehen.  Die 
Dinge  bewegen  sich  (in  ihnen)  auf  Grund  eines  nicht  natürlichen 
Zustandes  zum  natürlichen  Zustande  hin. 

563, 1:  Dieser  Ausdruck  besagt:  wenn  diese  Substanz  nicht 
zu  den  unkörperlichen,  rein  geistigen  Substanzen  gehört,  deren 
Vollkommenheiten  aktuell  vorhanden  sind. 

565,23:  Sein  Ausdruck,  „eine  seelische  Kraft"  weist  hin 
auf  die  „Formen",  die  in  der  Materie  eingeprägt*)  sind,  nämlich 
die  Wesensform  der  Sphären.  Sie  beziehen  sich  auf  die  Seele 
der  Sphären,  ebenso  wie  die  Fähigkeit  der  Phantasie  auf  die 
rein  geistige  Seele  in  uns. 

566, 3  unten:  Eine  Kraft  ist  in  sich  „frei  von  der  Materie", 
im  Gegensatze  zu  der  sich  in  einer  Materie  befindenden 
Seele.  Diese  bewegt  sich  per  accidens,  indem  ihre  Bewegung 
auf  die  Bewegung  ihres  Substrates  folgt  (wie  die  Bewegung 
des  Steuermannes,  der  des  Schiffes,  die  per  se  erfolgt). 

571,22:  Diese  Seele  der  Sphäre  hat  eine  weitere  Bedeutung 
als  die,  wenn  sie  nur  in  dem  Sinne  eine  „Seele"  darstellte, 
daß  sie  in  einer  Materie  eingeprägt  wäre  oder  in  Abhängigkeit 
von  einer  Materie  stände. 

575,11:  Dies  ist  per  accidens  ein  Zweck;  denn  der  Zweck 
per  se  ist  der  erste. 


^)  Die  Wesensformen  der  Sphären  sind  also  notwendig  auf  eine  Materie 
hingeordnet  Darin  gleichen  sie  den  Formen  der  materiellen  Dinge  der  subln- 
narischen  Welt. 


Digitized  by 


Googk 


757 

576,1:  Unter  „unendlicher  Kraft**,  die  von  dem  ersten 
Lehrmeister  erwähnt  wurde,  soll  die  Ursache  verstanden  werden, 
d.  h.  die  Kraft  ist  nicht  endlich,  und  zwar  nicht  im  Sinne  der 
Vollendung  (wörtlich  des  „Ausgleiches",  d.h.  in  positiver  Weise); 
denn  diese  Kraft  kann  kein  Ende  finden, i)  so  daß  man  von  ihr 
sagen  kann,  sie  ist  negativ  unendlich,  indem  sie  nicht  quantitativ 
ist.  Wenn  jedoch  jemand  erwidert:  „sie  ist  unendlich",  bedeutet: 
sie  besteht  ewig,  d.  h.  immer  dauernd  und  (in  diesem  Sinne) 
unendlich,  so  ist  dieses  der  Gedanke  des  Aristoteles,  wie  es  aus 
den  Worten  des  Meisters  einleuchtet 

577,3:  „Die  Gefährten  (Schüler)  des  Aristoteles"  bezeichnet 
vielleicht  Alexander  von  Aphrodisias;  denn  dieser  wird  so  be- 
nannt, weil  er  am  besten  die  Darlegungen  des  Aristoteles 
versteht  und  weil  er  erfahrener  in  seinen  dunkelen  Aussprüchen 
ist  und  einen  weiteren  Blick  hat,  als  Themistius  im  Verständnisse 
seiner  Gedanken  und  seiner  Ziele,  wenn  auch  Themistius  knapper 
und  sicherer  ist  in  der  Lösung  der  Schwierigkeiten  und  der 
Darlegung  seiner  Ausdrücke. 

578, 13:  Mit  den  Worten:  „eine  große  Schule  von  Philo- 
sophen" bezeichnet  Avicenna  vielleicht  Hippocrates,  Kindi  und 
Razi  932,  (vgl.  Brockelm,  1  233  und  209).  Andere  übertrafen 
diese,  wie  abu-1-Barakät  el  Bagdad!*)  in  dem  tiefen  Verständnisse 
der  Ansichten  des  Hippocrates  und  seiner  Schüler,  nämlich  der 
Getreuen  von  Ba§ra  —  A^med. 

579, 17:  Das  Ding  findet  sich  in  seiner  letzten  Vollendung, 
d.  h.  ausgestattet  mit  der  vorzüglichsten  Beschaffenheit.  Diese 
Lehre  steht  demgegenüber,  was  Avicenna  in  seinen  Anmerkungen 
(vgl  Brockelm,  I  455,  Nr.  21)  über  die  höchste  Vollkommenheit 
auseinandersetzte. 

585,3:  Das  Sichverähnlichen  verhält  sich  wie  die  erste 
Ursache,  (d.  h.  die  causa  finalis)  denn  es  ist  so  beschaffen,  wie 
diese  Ursache,  d.  h.  sie  verfolgt  keinen  (anderen)  Zweck  (der 
außerhalb  des  zum  Ziele  Strebenden  läge). 

587,1:  Dieses  trifft  nur  zu  auf  Grund  seines  Wesens,  d.  h. 
der  im  Sein  Vollendete,  der  zugleich  Objekt  der  Liebe  ist,  besitzt 


^)  Sie  kann  also  immer  wieder  von  neuem  wirken,  ist  also  negativ  un- 
endlich, indem  sie  keine  feste  Grenze  ihres  Wirkens  hat. 

')  Im  muha^^al  E4z!s  1209  f  wird  er  des  öfteren  der  Meister  genannt. 


Digitized  by 


Googk 


758 

seine  Vollendung  nur  auf  Grund  seines  Wesens  und  infolge  seines 
Wesens. 

589,2:  Die  aufgezählten  Beispiele  sind  das  Wasser  und 
das  Feuer,  kurz  alle  Vorgänge,  die  die  Erkenntnisse  (der 
himmlischen  Substanzen)  bewahrheiten  (und  darstellen)  in  jenen 
(irdischen)  Naturen,  die  kein  Bewußtsein  und  keine  Erkenntnis 
besitzen. 

589, 20:  Avicenna  legt  dar,  wie  die  verschiedenen  Bichtungen 
der  Bewegung  der  Sphären  und  die  verschiedenen  Arten  der 
Schnelligkeit  und  Langsamkeit  eine  gewisse  Ordnung  bilden, 
die  ihr  Fundament  hat  in  den  obiecta  proxima  des  Verlangens 
der  Sphärenseelen,  und  weshalb  einige  im  Gegensatz  zu  anderen 
mit  gewissen  Eigenschaften  bezeichnet  werden  —  A^med. 

590, 21:  Darin  liegt  ausgedrückt,  daß  man  sagen  kann,  dieses 
(das  Streben  nach  einem  beliebigen  Orte)  kommt  der  Natur,  d.  h.  der 
Wesensform  der  Art,  ja  sogar  der  generischen  Wesensform  oder 
der  ersten  Materie  nicht  zu,  mit  Rücksicht  auf  die  ursprüngliche 
Wesensform  und  dieselbe  Materie,  die  den  Sphären  und  d^i 
Elementen  gemeinsam  ist.  Es  kommt  ihr  vielmehr  zu,  mit 
Rücksicht  auf  die  besondere  Bestimmung,  die  in  beiden  vor- 
handen ist;  denn  in  den  Sphären  der  Himmel  sind  bestimmte 
Arten,  die  sich  so  verhalten,  daß  jede  Art  in  einem  einzigen 
Individuum  besteht  Dies  ist  aber  nicht  in  dem  Sinne  zu  nehmen, 
daß  die  körperliche  Natur  eine  besondere  Bewegung  hervor- 
brächte, sondern  in  dem  Sinne,  daß  die  Bewegung  nach  einer 
bestimmten  Richtung  durch  die  betreffende  Natur  unmöglich 
gemacht  wird,  nach  einer  anderen  Richtung  aber  möglich  seL 

594, 13 :  Dadurch  will  der  Philosoph  sagen,  daß  keiner  diese 
Ansicht  (als  beweisbare)  aufstellt,  noch  auch  dafür  einen  Beweis 
erfordert.  Das  genannte  Verhältnis  befindet  sich  vielmehr  in 
dem  weiten  Felde  der  Möglichkeit,  so  lange  es  nicht  widerlegt 
wird  von  jemandem,  der  einen  Beweis  aufstellt  —  A^imed. 

595, 18 :  In  Grott  kann  auf  Grund  seines  Wesens  keine  Zid- 
strebigkeit  vorhanden  sein  nach  Art  unserer  Ziele.  Es  kann 
ein  solches  nur  vorhanden  sein  per  accidens.  Daher  ist  das 
Dasein  der  Welt  eine  Folge  aus  notwendigen  Bestimmungen 
seines  Wesens  und  seiner  Güte. 

595, 22:  Damit  weist  Avicenna  hin  auf  eine  andere  Richtung 
der  Philosophen  betreffs  des  Zweckes  Gottes  bei  der  Schöpfung. 
Es  würde  sich  eine  Vielheit  in  seinem  Wesen  ergeben,  weil  zwei 


Digitized  by 


Googk 


759 

Dinge  in  demselben  vorhanden  sind,  nämlich  der  Zweck  und  die 
Erkenntnis  (des  zu  schaffenden  Objektes,  dieselbe  wird  nur  be- 
seitigt, wenn  Wille  und  Erkennen  dasselbe  sind). 

599,32:  Wenn  dieser  erste  Fall  eintritt,  so  bezeichnen  wir 
damit  das  erste  aus  Gott  hervorgehende  Geschöpf,  d.  h.  die 
Wesensform  der  Körperlichkeit.  In  einigen  Handschriften  ist 
das  zweite  an  Stelle  des  ersten  getreten;  jedoch  ist  wohl  der 
Gedanke  beider  ein  und  derselbe,  insofern  er  sich  auf  den  ersten 
wahren  bezieht  —  Ahmed. 

600,23:  Wenn  du  einwendest:  ist  der  Verstand  zusammen- 
gesetzt aus  Genus  und  Differenz,  wie  kann  er  dann  ein  erstes, 
hervorgehendes  Geschöpf  sein,  das  aus  dem  absolut  ersten  Prinzip 
hervorgeht  in  nur  einer  Art  und  Weise,  so  erwidere  ich:  sein 
Wesen  ist  einfach  und  ein  reales  Ding  der  Außenwelt.  Seine 
Teile  sind  (nur)  begriffliche  Beziehungen. 

601, 14:  Aus  diesem  Grunde  sagt  man:  die  Möglichkeit  geht 
dem  durch  einen  anderen  notwendigen  Sein  voraus,  und  dieses 
letztere  (das  esse  necessarium  ab  alio)  ist  im  eigentlichen  Sinne 
die  Wirkung  der  Wirkursache. 

601,3  unten:  Es  ist  nach  dieser  Erklärung  einleuchtend, 
daß  die  wesenhaften  Eigenschaften  eines  Dinges  notwendiger- 
weise (und  direkt)  auf  dasselbe  zurückgehen,  ohne  daß  sie 
eine  (vermittelnde)  Ursache  besitzen,  die  Teil  ihrer  selbst  wäre, 
so  ist  es  einleuchtend  aus  den  Darlegungen  des  fünften  Teiles 
des  Buches  der  „Thesen  und  Erklärungen"  Avicennas,^)  wo  der 
Philosoph  lehrt:  daß  das  Dasein  des  durch  eine  Wirkursache 
zeitlich  Entstandenen  und  der  Umstand,  daß  sein  Entstehen  auf 
das  Nichtsein  folgt,  nicht  per  se  von  der  Wirkursache  hervor- 
gebracht werden  (sondern  per  accidens).  Der  Philosoph  erklärte 
diese  bestimmte  Vielheit  als  eine  durch  drei  Begriffe  und  Be- 
trachtungsweisen determinierte.  Erstens  betrachtet  man  dieselbe 
in  ihrem  Wesen  als  etwas  Mögliches,  insofern  ihr  Wesen,  be- 
haftet mit  dem  Charakter*  der  Wirkung,  zurückgeht  auf  den 
Ursprung,  auf  den  sie  sich  bezieht.  Dieses  ist  ihre  begriffliche 
Fassung,  wie  auch  die  Notwendigkeit  ihrer  Existenz  (das  esse 

^)  Forget,  Ibn  Sin&,  Le  livre  des  Th^or^mes  et  des  Avertissements, 
Leyde  1892,  S.  148  f.  Die  formeUe  Wirkung  der  Ursache  ist  nicht  die  Zeit- 
lichkeit der  Wirkung.  Daher  schließt  der  Begriff  einer  ewigen  Wirkung 
keinen  Widerspruch  in  sich. 


Digitized  by 


Google 


760 

necessarium  ab  alio)  in  ähnlicher  Weise  zu  verstehen  ist  (durch 
die  Relation  zur  Wirkursache).  Dies  ist  zugleich  das  Zweite. 
Das  Dritte  ist  die  begriffliche  Erkenntnis  des  Verstandes,  die 
sich  auf  den  ersten  Seienden  erstreckt  Auf  Grund  des  ersten 
Seienden  (also  aus  dem  Wesen  Gottes)  gehen  die  spezifischen 
Wesensformen  der  Sphären,  die  in  eine  Materie  angenommen 
werden,  hervor.  Durch  ihre  Vermittelung  entstehen  dann  die 
singulären  und  individuellen  Wesensformen  der  Sphären.  Durch 
die  Vermittelung  dieser  beiden  entsteht  die  Materie  der  Sphären. 
Durch  das  zweite  entsteht  die  Seele  der  Sphären,  die  unkörper- 
lich ist.  Durch  das  dritte  der  heilige  Geist,  wie  der  Philosoph 
zusammenfassend  es  bereits  erklärt  hat,  indem  er  sagte 
(S.  601, 25  ff.) :  jeder  Geist  enthält  drei  Dinge  in  seiner  Existenz 
—  Al^med. 

603,4:  Die  Dreiheit,  d.  h.  diese  Substanz  erkennt  1.  das 
erste  Seinsprinzip,  2.  sich  selbst,  und  3.  ihre  Möglichkeit  (ihr 
esse  ens  possibile). 

603, 7 :  Das  vorzüglichste  Geschöpf  ist  der  Gteist,  der  sich 
als  Wirkung  ergibt  aus  der  Tätigkeit^  durch  die  der  höhere  Greist 
das  erste  Prinzip  des  Seins  denkt  Dies  ist  das  vorzuglichste 
Geschöpf.  In  gleicher  Weise  folgt  auf  den  Denkprozeß,  der  sich 
auf  das  Wesen  des  Denkenden  (reflexiv)  selbst  erstreckt,  die 
Wesensform,  die  ihm  ähnlich  ist  Das  Denken,  das  die  Möglich- 
keit begrifflich  faßt,  bringt  sodann  die  Materie  (der  Sphäre) 
hervor,  die  ihr  (der  Möglichkeit)  ähnlich  ist 

603,20:  Das  Hervorgehen  der  körperhaften  Natur  der  Um- 
gebungssphäre aus  den  geistigen  Substanzen  erfolgt  durch  Her- 
vorgehen der  spezifischen  Wesensform,  die  ohne  Vermittelung 
und  in  erster  Linie  geschaffen  wird.  Durch  deren  Vermittelung 
entsteht  sodann  die  Wesensform  der  körperlichen  Natur  und 
dadurch  die  erste  Materie. 

603,22:  Dadurch  weist  der  Philosoph  hin  auf  das  Ver- 
hältnis des  himmlischen  Körpers  auf  Grund  der  Fähigkeit,  die 
er  besitzt,  verschiedene  Lagen  und  volumina  einzunehmen,  zu 
der  Fähigkeit,  d.  h.  der  Möglichkeit  (seines  Wesens). 

603,26:  Dadurch  will  der  Philosoph  hinweisen  auf  die 
Möglichkeit  dieser  Substanz.  Sodann  behauptet  er  das  Hervor- 
gehen der  Materie  erst  durch  Vermittelung  der  Wesensform, 
indem  die  körperliche  und  spezifische  Wesensform  der  Himmels- 
sphären hervorgeht  aus  ihrer  Möglichkeit    Dasselbe  lehrt  Avi- 


Digitized  by 


Googl( 


761 

cenna  in  folgenden  Worten:  „Ebenso  wie  die  Möglichkeit  der 
Existenz  zur  Aktualität  gelangt  durch  die  Tätigkeit,  die 
inhaltsgleich  (wörtl.  parallel)  ist  der  Wesensform  des  Himmels, 
so  entsteht  auch  dieses  nur  im  Verstände  durch  etwas,  das  der 
Wesensform  entspricht. 

605, 1 :  Wenn  diese  Substanz  ein  Geist  ist,  so  ist  derselbe 
nicht  bewegt,  es  sei  denn  nach  Art  des  Verlangens.  Die  (mit 
einem  Körper  verbundene)  Seele  ist  aber  eine  solche  Substanz, 
die  sich  bewegt  nach  Art  des  freien  Willens. 

605,7:  Die  Tätigkeit  der  kombinierenden  Phantasie  be- 
zeichnet eine  Tätigkeit  der  Seele,  die  in  eine  Materie  auf- 
genommen ist. 

605,19:  Dies  bedeutet  Wesensformen,  die  durch  die  Materie 
der  Körper  ihren  Bestand  erhalten.  So  verhalten  sich  die  spe- 
zifischen Wesensformen  und  die  der  körperlichen  Natur.  Ebenso 
wie  diese  durch  ihre  Materie  existieren,  so  geht  auch  von  ihnen, 
nachdem  sie  ihren  Bestand  erhalten  haben,  ihre  Wirkung  nur 
hervor  durch  Vermittelung  dieser  Materie. 

605,30:  So  verhält  sich  die  unkörperliche  Seele  mit  Aus- 
schlufs  ihrer  Tätigkeiten.  Auch  diese  letzteren  werden  bewirkt 
durch  Vermittelung  der  Materie.  Sonst  würde  die  Tätigkeit 
dieser  Substanzen  sich  nicht  auf  die  Materie  gründen,  die  An- 
nahme besagte  aber  das  Gegenteil  —  Ahmed. 

606,7:  Dasjenige,  was  die  Substanz  der  Seele  duixh  die 
Verbindung  mit  dem  Körper  bewirkt,  kann  sie  nicht  in  einem 
Objekte  verursachen,  das  keine  Lage  hat  —  Ahmed. 

609, 1 :  Dadurch ,  daß  jenes  geistige  Prinzip  sein  Wesen 
denkt,  insofern  dasselbe  die  Bestimmung  in  sich  einschließt, 
daß  es  durch  einen  anderen  notwendig  existiert.  Ebenso 
ergibt  sich  daraus,  daß  es  in  dieser  Weise  seine  wesenhafte 
Möglichkeit  begreift,  gesetzmäßig,  daß  von  ihm  eine  Himmels- 
sphäre sowohl  mit  ihrer  Seele  wie  auch  mit  ihrem  Körper 
hervorgeht. 

610,20:  Dieses  Prinzip  wird  aktiver  Intellekt  genannt 
wegen  der  Vielfältigkeit  seiner  Wirkungen  und  Betätigungen 
in  der  Welt  der  Elemente. 

611,8:  Damit  will  der  Philosoph  die  Disposition  bezeichnen, 
die  der  Materie,  auf  Grund  ihrer  Natur  anhaftet.  Sie  ist  dann 
eine  gewisse  Einheit,  die  eine  gewisse  Form  besitzt,  insofern 
man   die   Eigentümlichkeiten    dieser.  Dispositionen    betrachtet. 


Digitized  by 


Googk 


762 

Daß  aber  diese  Disposition  ihrer  Natur  notwendig  anhaftet,  be- 
zeichnet er  auch  mit  den  Worten  „nämlich  in  seiner  Substanz". 

613,22:  „Zugleich  mit  der  gemeinsamen  Naturkraft",  d.  h- 
der  Wesensform  der  Körperlichkeit.  Die  (generische)  Form  der 
Körperlichkeit  und  die  (spezifische)  der  Arten  sind  zwei  Zu- 
ständlichkeiten  (Phasen  des  Werdeganges),  die  die  Natur  A&r 
Substanz  haben.  Die  gemeinsame  (materielle,  passive)  Natur 
beider  und  ihre  aus  der  himmlischen  Welt  entsandte  Form  (das 
aktive  Prinzip)  ergeben  notwendig  zwei  Ursachen  für  die  Materie. 
Der  Ausdruck  „auf  Grund  einer  Naturkraft,  die  in  der  Potenz 
existiert",  besagt  die  Tätigkeiten  der  kombinierenden  Phantasie 
und  der  Begriffsbildung  in  der  Welt  der  himmlischen  Sphären. 
Diese  Tätigkeiten  bestehen  in  den  (himmlischen)  Seelen,  werden 
in  diese  durch  äußere  Einwirkung  eingeprägt  und  gehen,  wie 
erwähnt,  aus  auf  die  Körper  der  Himmel  und  die  Sphären  des 
Äthers.  Ebenso  verhalten  sich  die  Fähigkeiten  der  Phantasie 
in  uns  (indem  sie  auf  unseren  Körper  einwirken). 

620, 10:  Die  primären  Vollkommenheiten  sind  solche,  durdi 
deren  Privation  das  Ding  vernichtet  wird  wie  z.  B.  die  spezifisch^i 
Wesensformen. 

621,13:  Denselben  Verlauf  nimmt  die  Darlegung  betreffs 
des  ewigen  Bestandes  von  Dingen»)  und  der  Anfangslosigkeit 
des  entstehenden  Wirklichen,^)  das  eine  Substanz  ist  und  hervor- 
geht aus  der  vollkommenen  Wirkursache,  die  selbst  ewig  ist 
und  das  Sein  emanieren  läßt  und  in  selbstloser  Weise  anderen 
verleiht,  und  die  auf  Grund  ihres  Wesens  wirkt 

622, 15:  Die  Erde  und  das,  was  auf  ihr  ist,  verhält  sich 
zur  Sphäre  der  Sonne  wie  der  Mittelpunkt  des  Kreises  zur 
Peripherie. 

622,25:  Ethisch  geboten  ist  z.B.  die  Tötung  des  Ehe- 
brechers und  das  Abschneiden  der  Hand  des  Diebes.   Diese  beiden 


0  Wörtlich  „betreffs  des  Nichtseins  des  Voraosgehens  einer  Zeitdauer, 
die  voransginge  der  Existenz  der  entstehenden  Dinge,  die  die  Natur  tob 
Substanzen  besitzen".  Die  Frage  nach  der  Ewigkeit  von  Akzidenzien  enthih 
besondere  Schwierigkeiten,  die  der  Kommentator  hier  vermeiden  wiU.  Daher 
spricht  er  nur  von  einer  anfangslosen  Schöpfong  von  Snbstanzen. 

>)  Mit  diesem  Ausdrucke  sind  Dinge  gemeint,  die  in  einem  „onTeriüider- 
Uchen  Bestände''  existieren,  d.  h.  nicht  innerhalb  der  Zeit,  die  die  Exbtenx 
der  sublunarischen  Dinge  mifit,  sondern  in  dem  aevurn.  Es  sind  die  u- 
körperUchen  Substanzen  gemeint. 


Digitized  by 


Googl( 


763 

Handlungen  sind,  auch  wenn  sie  ein  Böses,  für  jene  beiden 
Menschen  ein  Böses  bedeuten,  notwendig,  in  Beziehung  auf  die 
Ordnung  des  Ganzen  und  zwei  sittliche  Güter  in  dieser  Hinsicht 

623, 10;  Die  Ordnung  des  Weltganzen  bedarf  notwendig 
derjenigen  menschlichen  Tätigkeit,  die  sich  auf  die  Erkenntnis 
(fieri  actu  scL  in  anima)  der  himmlischen  Dinge  richtet  nämlich, 
auf  die  Vollkommenheiten  der  Seele  sowohl  der  theoretischen  wie 
der  praktischen.  Darum  enthalten  sich  auch  in  den  meisten 
Fällen  die  Menschen  der  Handlungen,  auf  denen  das  Bestehen 
der  Art  des  Menschengeschlechtes  beruht  (indem  sie  vom  Sinn- 
lichen abgelenkt  werden). 

625,1:  Die  Existenz  des  reinen  Guten  im  absoluten  Sein 
ist  möglich,  insofern  das  Gute  eine  Art  des  absoluten  Seins  ist 
in  reiner  Weise,  nicht  eine  solche  Art  des  Guten,  die  mit  einem 
Bösen  vermischt  ist. 

625, 16:  Dieses  Unterlassen  bedeutet  ein  größeres  Übel,  als 
daß  das  (erstgenannte)  Übel  existiert,  das  doch  nur  selten  ist. 

625,25:  Da  zwischen  diesem  und  den  (himmlischen)  Dingen, 
die  eine  Wirkung  ausüben  und  frei  sind  vom  Bösen,  die  Be- 
ziehung der  Ursache  und  der  Wirkung  besteht,  so  ist  eine 
Trennung  leider  unmöglich.^)  Nimmt  man  aber  an,  diese  Art 
(des  Bösen)  existiere  nicht,  so  würden  die  Ketten  der  Ursachen, 
die  zweiter  Ordnung  sind,  vernichtet. 

628, 18:  Daher  ergibt  sich  also,  daß  das  Böse  in  dem  Rat- 
schlüsse Gottes  per  accidens  einbegriffen  ist,  aber  in  der 
Schicksalsbestimmung  per  se.  Diese  Frage  gehört  zu  den  tiefsten 
Fragen  der  Wissenschaft.  Wir  haben  dieselben  dargelegt  in 
unserem  Buche  über  „die  Begründung  des  Glaubens."^) 

634, 3  unten:  Jedes  Sinnesorgan  besitzt  einen  eigentümlichen 
Genuß,  ein  eigentümliches  Leiden  (pati).  Das  Sichbewußtwerden 
des  adäquaten  Objektes  ist  identisch  mit  dem  Guten,  das  Sich- 
bewußtwerden des  inadäquaten  Objektes  mit  dem  Bösen.  Dieses 
Ganze  zusammengefaßt  ist  der  Inhalt  seiner  Ausführungen,  selbst 
wenn  der  Wortlaut  etwas  anderes  zu  bedeuten  scheint 

644,2:  Die  (ethische)  Vollendung  der  Seele  ist  gegeben  in 
der  Stufe  des  Mittelweges.  So  befindet  sich  z.  B.  der  Mut  zwischen 
der  Tollkühnheit  und  der  Feigheit  (aristotelische  Tugendlehre). 


*)  Die  Verbindung  von  Ursache  und  Wirkung  ist  eine  notwendige. 
*)  Diese  Schrift  Ahmeds,  des  Glossators,  ist  unbekannt. 


Digitized  by 


Google 


764 

644,19:  Dieses  Gehorchen  (gegenüber  höherer  Fähigkeit) 
ist  eine  Vollendung  der  animalischen  Fähigkeit,  wie  umgekehrt 
das  Herrschen  und  das  non-pati  i)  eine  Vollendung  der  vernünftigen 
Fähigkeit  ist.  Das  Herrschen  des  Geistes  erstreckt  sich  anf 
animalische  Kraft  und  das  non-pati  ist  zu  verstehen  von  Ein- 
wirkungen, die  von  der  animalischen  Kraft  ausgehen. 

653, 15:  „Analyse"  weist  hin  auf  eine  Lehre  der  Aschariten, 
die  leugnen,  daß  Gott  als  „der  Notwendige  (das  Notwendigsein)" 
definiert  werden  könne,  und  die  ein  eigentümliches  (nicht  definier- 
bares) Wesen  für  Gott  fordern. 

656:  Der  Ausdruck  „was  über  ihnen  ist",  bezeichnet  die 
höchsten  Prinzipien,  nämlich  die  unkörperlichen  Geister.  Sein 
Ausdruck  „was  ist",  bezeichnet  das,  was  existiert  insofern  diese 
in  vollkommener  Existenz  bestehen.  Sein  Ausdruck  „wir  haben 
bereits  dargelegt,  daß  die  Begriffe  jener  Ursachen  usw.",  be- 
zeichnet die  unkörperlichen  Seelen  der  Himmelssphären,  nämlich 
die  geistigen  Engel,  die  mit  den  Körpern  der  himmlischen  Welt 
in  Beziehung  stehen,  indem  sie  dieselben  leiten.  Der  Ausdmck 
„die  Prinzipien  für  die  Existenzarten  jener  Wesensform",  be- 
zeichnet die  wahren  Wesenheiten  und  die  Substanzen  der  niederen 
Schöpfung.  Jedoch  tritt  dieses  per  Akzidens  ein,  nicht  per  se, 
da  letztere  in  sich  kontingent  sind.  Denn  die  Kontingenz  ist 
Eigenschaft  der  Rangstufe  der  verursachten  2)  Dinge.  Sein 
Ausdruck  „in  jener  Welt  sind  keine  himmlischen  Ursachen  vor- 
handen, die  mächtiger  wären  als  diese  Begriffe",  bezeichnet  die 
Begriffe  der  unkörperlichen  Seelen  der  Himmelssphären.  Diese 
sind  Erkenntnisse  (wörtl.  Wissenschaften),  die  aktive  Kraft  be- 
sitzen. Sie  gehen  hervor  aus  Prinzipien,  die  (der  Rangordnung 
nach)  früher  sind  als  sie,  nämlich  die  unkörperlichen  Geister, 
die  jene  Begriffe  ausströmen  lassen  auf  die  unkörperlichen 
Seelen  der  Himmel.    Letztere  nehmen  diese  Emanation  aut 


*)  Passiv  verhält  sich  der  Verstand  gegenüher  dem  Einflösse  des  aktiven 
Intellekts,  aktiv  gegenüher  der  Materie. 

')  Das  nicht  verursachte  existiert  ans  sich  und  ist  notwendig.  Znr 
Identifizierung  der  Begriffe  „verursacht  sein"  und  „kontingent  sein**  vgL  man 
Ffträhi,  Kingsteine  Nr.  2. 


Digitized  by 


Google 


765 


IL  Glossen  der  Handschrift  d  (Persien  1838). 

Beiträge  zur  Geschichte  der  muslimischen  Philosophie  in  Persien  zu 
Beginn  des  XIX.  Jahrhunderts. 

17,5:  Die  Dimensionen,  d.  h.  die  Wesensform  der  Körper- 
lichkeit. 

22,25:  „In  notwendiger  Weise"  bezeichnet  eine  Art  des 
notwendigen  Seins. 

26,9:  „Diese  Begriffe",  d.  h.  den  drei  genannten  Akzi- 
denzien. 

31,22:  Die  Probleme,  d.  h.  die  Probleme  dieser  Wissen- 
schaft. 

69,10:  Das  Problem,  mit  dem  wir  uns  beschäftigen,  be- 
steht darin,  daß  die  Korrelation  eine  wesenhafte  ist,  die  nicht 
auf  Grund  eines  von  der  Substanz  getrennten  oder  ihm  not- 
wendig anhaftenden  Akzidens  eintritt,  so  lehrte  es  der  Alt- 
meister in  der  Darlegung  seiner  Thesis,  wo  er  sagt  „so  daß 
dieses  zugleich  existiert  mit  jenem  anderen  und  jenes  zugleich 
mit  diesem,  ohne  daß  das  eine  von  beiden  Ursache  des  anderen 
ist.  Seine  Vollendung  ist  vielmehr  so,  daß  beide  vollständig 
und  unabhängig  sind  bezüglich  der  Notwendigkeit  der  Existenz. 

71,  19:  Die  Dinge  sind  nicht,  d.  h.  sie  existieren  nicht 
wirklich. 

72,15:  D.  h.  es  ist  notwendig,  daß  der  notwendig  durch 
einen  anderen  Seiende  dann  durch  sich  selbst  notwendig  wäre. 
Dies  jedoch  ist,  wie  oben  erwähnt,  nicht  zulässig. 

89, 5 :  Wie  die  Existenz  des  Teiles,  d.  h.  nicht  wie  ein  Teil  des 
Dinges,  in  dem  jenes  andere  enthalten  ist,  also  nicht  wie  ein  Teil 
der  zusammengesetzten  Substanz,  noch  auch  wie  ein  Teil  ihres 
Substrates.  So  verhält  sich  die  weiße  Farbe  zum  weißen  Gegen- 
stande. In  diesem  Sinne  ist  der  Beweis  zu  fuhren,  indem  die 
Substanz,  die  in  einem  Anderen  aufgenommen  wird,  ebenso  be- 
schaffen ;.ist  in  Beziehung  zu  dem  Prinzip,  das  sie  aufnimmt. 
Die  andere  Ansicht  kann  man  dadurch  widerlegen,  daß  dasjenige, 
was  man  mit  der  partikulären  Beziehung  bezeichnet,  dasselbe 
bedeutet  wie  das  aufnehmende  Prinzip;  denn  durch  das  Auf- 
genommene erhält  es  seinen  Bestand. 

98, 21 :  In  dem  Himmel  bezeichnet  die  Körper  der  Elemente, 


Digitized  by 


Googl( 


766 

103,  Anm.  4:  Es  wurde  erwähnt  in  den  Naturwissenschaften 
in  dem  Kapitel,  das  handelt  über  den  Nachweis  der  richtigen 
und  der  Widerlegung  der  falschen  Ansichten,  die  vorgebracht 
wurden  betreffs  der  Körper  und  ihrer  Teile  (d.  h.  der  Atome) 
und  in  dem  Kapitel,  das  handelt  über  die  Philosophen,  die  die 
Lehre  aufstellen,  die  Welt  bestehe  aus  Liebe  und  Haß.  Dagegen 
konnte  man  einwenden,  das  Entstehen  und  Vergehen  geschieht 
durch  Trennung  der  Teile,  die  in  sich  nicht  teilbar  sind,  der 
Atome  (Naturwissenschaften  L  Teil  I,  2;  DX  Teil  Kap.  5  und  7). 
Der  Umstand,  daß  der  Körper  dieses  bestimmte  Ding  ist,  hat 
nicht  zur  Folge,  daß  er  nicht  in  einem  Substrate  sei 

135,19:  Leugnet  man  dieses  Dritte,  so  ergibt  sich  daraus 
auch  die  Leugnung  des  Zweiten,  Dann  aber  tritt  zwischen 
beiden  die  Beziehung  der  Ursache  und  Wirkung  ein;  so  ist  es 
klar  in  den  Worten  des  Philosophen,  die  sogleich  folgen. 

140,9:  Dann  also  ist  die  Materie  nicht  Ursache  für  die 
Existenz  dieser  Substanz. 

140,11:  Verschieden  von  diesem,  nämlich  dem  Dinge,  das 
in  der  Materie  vorhanden  ist. 

140, 15:  Das  Determinierte,  d.  h.  das,  wie  die  Voraussetzung 
annahm.  Verursachte. 

149,5:  Der  Ausdruck  „wir  haben  dieses  dargelegt"  be- 
deutet, daß  die  Wesenheit  der  Substanz  ausgesagt  wird  von  der 
getrennten,  d.  h.  der  von  der  Materie  freien,  wie  von  dem  Geiste 
und  der  Seele  und  femer  ausgesagt  wird  von  dem  Körper,  der 
zusammengesetzt  ist  aus  der  Materie  und  der  Wesensform  und 
femer  ausgesagt  wird  von  der  Materie,  d.  h.  der  prima  materia 
in  Verbindung  mit  der  Wesensform.  In  diesem  Sinne  ist  die 
Substanz  ein  genus  für  dasjenige,  was  in  ihrem  Umfange  ent- 
halten ist,  nämlich  die  fünf  Substanzen,  die  angezählt  wurden. 

169, 11 :  Es  ist  unmöglich^  daß  ein  Ding  existiere,  ohne  daß 
dasselbe  eine  Einheit  bildete. 

178, 13:  D.  L  unter  der  Voraussetzung,  daß  es  kein  Ding  sei 

182, 20:  Denn  die  Bewegung  dieser  Linie  ist  entweder  ihrer 
Länge  gleich  oder  größer  als  sie  oder  geringer.  In  dem  ersten 
Falle  ergibt  sich  ein  Quadrat,  in  dem  zweiten  und  dritten  eine 
lange  Linie. 

191,2  unten:  Damit  will  Avicenna  sagen,  daß  die  Zwei, 
wenn  sie  geringer  ist,  als  irgend  eine  andre  Zahl,  nicht  not- 
wendigerweise größer  ist,  als  eine  andere. 


Digitized  by 


Googk 


767 

221,25  unten:  Ohne  diese  Teile,  nämlich  diejenigen,  die 
ihren  individuellen  Bestand  erhalten,  selbst  wenn  sie  sich  er- 
neuem innerhalb  der  Art 

235,6:  Der  Philosoph  will  sagen,  wenn  auch  der  Vater  in 
Relation  tritt  auf  Grund  der  Vaterschaft,  so  ist  doch  die  Vater- 
schaft nicht  in  Relation  auf  Grund  einer  anderen  Beziehung, 
sondern  durch  sich  selbst. 

252, 27 :  Die  Macht  bedeutet,  wenn  die  Beziehung  vorhanden 
ist  zwischen  der  Wirkung  und  dem  Sinne  der  Kategorie  des 
agere.  Diese  Wirkung  ist  selbst  die  Beziehung  zwischen  der 
Möglichkeit  des  Dinges  und  der  Vollendung  dieser  Möglichkeit. 
Den  Ausdruck  des  Wirkens  haben  wir  im  allgemeinen  Sinne 
von  dieser  Vollendung  gebraucht,  indem  wir  zugleich  den  Aus- 
druck „Potenz"  aussagten  von  der  Möglichkeit 

292,1:  Dadurch  antwortet  er  auf  die  Schwierigkeit:  der 
Mensch  als  Mensch,  wie  er  z.  B.  im  Said  ist  oder  nicht 

297,4  unten:  Diese  Erwähnung  ging  bereits  voraus  dort, 
wo  Avicenna  sagte:  Das  animal,  welches  ein  TeU  eines  realen 
animal  ist,  verhält  sich  wie  die  weiße  Farbe. 

321,38:  Dieses  Gesetz,  das  wir  annehmen  zwischen  den 
beiden  Teilen. 

321,3  unten:  D.h.  dasjenige,  was  die  Bewegung  in  sich 
aufnehmen  kann  oder  nicht 

325, 6:  Dieses  heißt  Akzidens  mit  Rücksicht  auf  die  Materie. 

330,13:  In  ursprünglicher  Weise,  d.  h.  insofern  man  zu 
gleicher  Zeit  auch  ein  anderes  Ding  in  Rücksicht  zieht 

330,10  unten:  Damit  bezeichnet  er  das,  von  dem  jene 
Natur  ausgesagt  wird  wie  z.  B.  den  Körper. 

347, 17:  D.  h.  es  entsteht  infolge  des  genus  und  der  Differenz 
eine  Verschiedenheit,  indem  das  Eine  unbestimmt,  das  Andere 
bestimmt  ist  Diese  Verschiedenheit  besteht  aber  nicht  in  der 
realen  Existenz,  denn  in  dem  realen  Wesen  selbst  sind  beide 
vereinigt. 

348,22:  Damit  sind  die  Dinge  bezeichnet,  aus  denen  die 
Vereinigung  entsteht 

373, 17:  Die  Existenz  im  absoluten  Sinne,  d.  h.  nicht  die 
Existenz,  die  eintritt,  nachdem  sie  nicht  war. 

373,33:  Es  ist  richtig,  zu  sagen,  dasjenige,  was  notwendig 
ist,  hat  keine  Ursache.  Denn  die  Diskussion  über  die  Existenz 
der  zeitlich  entstehenden  Dinge,  die  eintreten,  nachdem  sie  früher 


Digitized  by 


Googk 


768 

nicht  waren.  Diese  Darlegung  ist  notwendig,  denn  diese  Existenz 
kann  nur  eintreten  nach  dem  Nichtsein.  (Zeitliche  Schöpfung.) 

380, 16:  Die  Mischung  tritt  ein  in  dem  Feuer  und  der  Luft 

380, 20:  Damit  will  der  Philosoph  das  bezeichnen,  was  jene 
fragten,  nämlich  die  Beispiele  des  Architekten,  des  Sohnes  und 
der  Hitze;  das  wirkende  Prinzip  ist  die  Wirkursache,  es  be- 
zeichnet eine  Eigenschaft  dessen,  was  der  Ordnung  nach  früher 
ist,  nämlich  sowohl  der  Architekt,  wie  auch  der  Vater,  als  auch 
das  Feuer  (die  früher  sind  als  ihre  Wirkungen). 

385,4:   Die  Zeit,  d.  h.  die  vergangene  Zeit 

386,6:  Das  Frühersein  wurde  im  absoluten  Sinne  aus- 
geschlossen. 

386, 14:  Die  Existenz  des  körperlichen  Dinges  verhält  sich 
so,  auch  wenn  ihr  nicht  eine  andere  Materie  vorausgeht 

388, 8 :  Damit  bezeichnet  er  das  determinierte  real  existierende 
Ding,  das  bestimmt  wird  durch  die  Relation  des  Seienden- 

391, 15:  Daraus  ergibt  sich,  daß  das  Wesen  der  Ursache 
und  der  Wirkung  nur  dann  begrifflich  gedacht  werden  kann, 
wenn  die  Definition  etwas  anderes  bedeutet,  als  das  Sein  und 
die  Hinordnung  zum  Sein. 

393,7:  Es  ist  ausgeschlossen,  daß  die  Naturkraft  Ursache 
sei  für  sich  selbst. 

396,3  unten:  Das  Kontrarium  bezeichnet  hier  die  Wesens- 
form des  Wassers. 

398,7:  Dieser  Teil,  an  dem  Ursache  und  Wirkung  nicht 
in  gleicher  Weise  teilnehmen  in  der  Disposition  der  Materie, 
ist  so  beschaffen,  daß  die  Wirkung  der  Ursache  gleichkommt 
Die  zweite  Art  der  Ursache  ist  nicht  so  beschaffen;  denn  die 
Disposition  der  Materie  und  die  Einwirkung  der  Ursache,  die 
von  der  Disposition  verschieden  ist,  kann  ihm  in  der  Bang- 
ordnung gleichstehen.  Daher  kann  also  auch  die  Einwirkung 
der  Ursache  selbst  der  Wirkung  gleichstehen. 

411, 19:  Wie  ein  Substrat  verhält  sich  z.  B.  das  Holz  in 
Beziehung  zur  Tür. 

440, 1  unten:  Dort,  d.  L  in  der  Wesensform  der  Bewegung 
(deren  Endziel  der  Ruhepunkt  ist). 

474, 10  unten:  Es  ist  keine  absolut  erste  Ursache  neben 
der  letzten  und  der  vermittelnden. 

498,1:  So  lehren  es  die  Theologen.  Dies  sind  nur  ver- 
schiedene Arten  dessen,  was  bereits  gesagt  wurde,  daß  jedes 


Digitized  by 


Googl( 


769 

zeitlich  entstehende  Ding  später  ist,  als  ein  anderes  und  zwar 
in  einer  zeitlichen  Aufeinanderfolge.  Die  Absicht  des  Philo- 
sophen ist  also,  zu  lehren,  jedes  zeitlich  Entstehende  hat  ein 
zeitlich  Später,  ja  es  hat  sogar  ein  wahrhaftes  Später,  da  das 
zeitlich  Entstehende  die  Eigenschaft  besitzt,  auf  Grund  seines 
Wesens  ein  zeitlich  Entstehendes  zu  sein. 

501,7  unten:  Das  reale  Ding  bezeichnet  dasjenige,  von  dem 
das  notwendige  Sein  abhängt. 

501,9:  Unter  dem  Notwendigen  Sein  versteht  man  nach 
einer  Erklärung  den  notwendig  Seienden,  und  dann  ist  die  Dis- 
kussion richtig. 

502,13:  D.h.  durch  sein  Wesen,  nicht  auf  Grund  eines 
Dinges,  von  dem  die  Notwendigkeit  der  Existenz  abhängt. 

504,28:  Dasjenige,  was  man  antwortet  auf  die  Frage,  was 
ist  das  Ding,  bezeichnet  seine  Wesenheit.^ 

514, 6:  Damit  will  der  Philosoph  auf  den  zweiten  TeU  der 
erwähnten  Zusammensetzung  hinweisen,  den  er  erwähnt  hat  in 
seinen  Worten:  „Es  ist  nicht  möglich,  daß  der  Begriff  des  Not- 
wendigseins ein  universeller  Begriff  sei,  an  dem  eine  Vielheit 
von  Individuen  teilnehme  in  irgend  einer  Weise."  Dieser  Begriff 
kann  femer  nicht  in  gewisse  Arten  und  Wesenheiten  zerfallen; 
er  bedarf  weder  solcher  Arten  noch  solcher  Wesenheiten.  Der 
erste  Teil  der  Einteilung  ist  damit  klar  geworden. 

516,3  unten:  Das  Gute,  d.h.  das  Sein  ist  dasjenige,  was 
jedes  Ding  erstrebt  und  dieses  ist  ein  Gutes  und  eine  Voll- 
kommenheit. Das  Existierende  bezeichnet  das  notwendig  Seiende. 
Er  ist  das  Gute  schlechthin. 

516,14:  Das  Nichtsein  verbindet  sich  nicht  mit  jenem 
Seienden,  sei  es  nun,  daß  es  ein  individuelles  Nichtsein  sei  oder 
die  Privation  eines  Dinges,  die  der  Substanz  zukommen  müßte, 
d.  h.  eines  Akzidens. 

521, 22:  Dies  bedeutet,  daß  sein  Verstand  ein  wirkender  ist, 
nicht  ein  leidender. 

531,10:  Das  erste  Prinzip  ist  dasjenige,  von  dem  diese 
Wesensform  sich  abzweigt  in  einer  Materie,  d.  h.  dann,  wenn 
diese  Wesensform  existiert  in  den  Individuen. 


*)  Vgl.  die  Isagoge  des  Porphyrius,  Kap.  1. 

Horten,  Das  Bach  der  Oenerang  der  Seele.  49 


Digitized  by 


Google 


770 

532,31:  In  zweiter  Linie,  d.  h.  in  dem  realen  Bestände  des 
Dinges  selbst  (in  der  sublnnarischen  Welt)  nicht  in  der  Wdt 
der  Geister  und  der  Seele. 

533,5:  Dies  ist  zu  verstehen  in  Hinsicht  darauf,  daß  die 
Substanzen  existieren  als  Wirkungen  von  der  ersten  Substanz 
in  diesem  unkörperlichen  und  determinierten  Seienden. 

533,11:  Daraus  ergibt  sich,  daß  das  begriffliche  Erkennen 
dieser  Wesensformen  jenem,  d.  L  Gott,  zukommt  Wenn 
nämlich  dieselben  in  einer  geistigen  Substanz  vorhanden  sind 
(dann  werden  sie  erkannt;  sie  sind  aber  in  Gott  vorhanden, 
deshalb  werden  sie  von  ihm  erkannt).  Deshalb  ist  es  richtig, 
daß  ihre  Existenz  in  ihm  vorhanden  ist  und  dies  ist  nicht  eine 
solche  Existenz,  der  das  Denken  vorausgeht;  denn  diese  Art 
der  Existenz  ist  das  begriffliche  Erfassen  des  Dinges  selbst 
Wenn  wir  nun  sagen,  dieser  Existenz  geht  das  begriffliche  Er- 
kennen, nämlich  ein  anderes  begriffliches  Erkennen  voraus,  so 
ergibt  sich,  daß  diese  Existenz  in  einer  Seele  stattfindet 

533,19:  So  verhält  sich  die  Sache  in  den  determinierten 
Wesensformen. 

533,32:   Es  ist  notwendig  in  jeder  Hinsicht 

560, 19:   Seine  Natur  d.  L  seine  Tendenz. 

561, 25:  Es  tritt  ein  Ersatz  ein,  d.  L  die  Bewegung  geht 
hervor,  weil  das  Dauernde  nicht  Ursache  sein  kann  für  ein 
anderes. 


Digitized  by 


Google 


*  Schlufswort  des  Glossators, 


Wir  wissen,  daß  die  Metaphysik  auf  Grund  der  feststehenden 
wissenschaftlichen  Tradition  die  Vollendung  der  Erkenntnis  und 
der  höchste  Gipfel  der  Wissenschaften  ist.  Daher  endet  auch 
dieses  Buch,  das  die  besten  Teile  der  Weisheit  enthält,  mit  der 
Metaphysik,  und  dies  ist  das  Buch,  das  die  Genesung  der  kranken 
Seelen  enthält  und  die  höchsten  Probleme  der  Weisheit  für  die 
Herzen  derer  bringt,  die  nach  ihr  verlangen.  Es  enthält  Wei- 
sungen über  den  richtigen  Weg,»)  eine  Befreiung  von  den  Ver- 
suchungen des  Teufels,  Erklärungen  für  die  Beobachter  der 
Natur,  Weckrufe  für  die  Schlafenden  in  der  Fahrlässigkeit  des 
menschlichen  Lebens,  Erklärungen,  die  hinführen  zu  den  Auf- 
gangsorten 2)  der  Weisheit,  der  Erleuchtung ,»)  und  die  Himmels- 
leiter zu  den  Stufen  der  Erkenntnis  des  höchsten  Seins  (wörtl. 
des  Thrones).  In  ihm  sind  die  Ansichten  der  Getreuen  von 
Basra  vollendet,  weit  abgesondert  von  den  ewig  Blinden.  Es 
läßt  fließen  die  Quellen  der  Weisheit  von  den  höchsten  Gipfeln 
seiner  erhabenen  Probleme,  läßt  hervortreten  die  Tiefe  der  Ge- 
danken aus  der  großen  Sammlung  seines  überflutenden  Wissens 
und  die  kostbaren  Perlen  seiner  Ziele.  In  ihm  ist  eine  Offen- 
barung von  Gedanken  enthalten  für  dasjenige,  was  die  Haupt- 
probleme*) zu  erkennen  übrig  gelassen  haben,  und  die  feinste 
Auswahl  der  Geheimnisse  der  Gotteserkenntnis  der  ersten  und 


0  Koran,  Sure  1, 6. 

')  Anspielung  auf  die  Schrift  Urmawis  1283  t  nl>ie  Aufgangsorte  der 
Lichter«. 

•)  Anspielung  auf  Suhrawardis  (1191  f)  „Die  Weisheit  der  Erleuchtung". 

*)  Anspielung  auf  die  Schrift  FarÄbis  (950  t)  nl^ie  Hauptprobleme" 
(ujün  el-mas&il,  auch  fontes  quaestionum,  übers,  ed.  Dieterici  Leiden  1890  in: 
„Alfarabis  philosophische  Abhandlungen"  S.  56;  deutsche  Übers.  S.  92). 

49* 


Digitized  by 


Google 


772 

letzten  Fragen.  Die  bedeutendsten  Geister  sind  nicht  zur  Dis- 
kussion dieser  Probleme  gelangt,  selbst  wenn  sie  dieses  ver- 
suchten, noch  erreichte  das  vollkommenste  Erkennen  die  Tiefen 
dieser  Probleme,  auch  wenn  es  noch  so  tief  eindrang.  Es  ist 
dargeboten  denen,  die  den  richtigen  Weg  suchen  und  in  die 
üppigen  Gärten  (des  Glückes)  eintreten  wollen,  und  des  Wohl- 
gefallens Gottes,  und  dieses  ist  die  richtige  Leitung.  Diejenigen, 
die  die  „Genesung  der  Seele"  verschmähen,  stehen  am  Rajide 
einer  Feuergrube,  weU  sie  dem  Untergang  geweiht  sind.  Wer 
sich  weigert,  diese  Wissenschaft  anzunehmen,  tut  dies  nur  ans 
mangelnder  Disposition  .  .  .  Wie  sollte  dies  auch  anders  sein 
können,  da  das  in  ihr  Bewiesene  die  Ansichten  der  tiefsten 
Forscher  sind  unter  den  Männern  des  Geistes.  Sie  sind  im 
eigentlichen  Sinne  „Menschen".  Dies  gilt,  selbst  wenn  die  An- 
sichten dieses  Werkes  manchmal  im  Gegensatz  stehen  zu  den 
Ansichten  der  großen  Menge,  der  Dialektiker*)  (Sophisten). 
Solche,  die  sich  mit  Sophisterei  beschäftigen,  sind  aber  nur 
scheinbar  „Menschen"  und  gehören  zu  der  niedrigsten  Klasse.') 


»)  Vgl.  J.  Goldziher,  Buch  vom  Wesen  der  Seele.  Berlm  1907.  (Abk 
d.  kgl.  Ges.  d.  Wiss.  z.  Göttiigen,  phil.-hi8t  Kl.,  N.  F.  Bd.  EX,  Nr.  1.)  S.  13 
d.  Anmerkungen. 

*)  Diese  Anmerkungen  mögen  einen  kleinen  Beitrag  bilden  zur  Ge- 
schichte der  Philosophie  nach  Gazdli  und  im  besonderen  zur  Geschichte  der 
Schule  Avicennas  im  17.  u.  19.  Jahrb.  in  Persien.  Weitere  Beiträge  waren 
in  der  Einleitung  S.  IX  in  Aussicht  gestellt.  Da  sie  den  Umfang  des  Werkes 
allzusehr  ausdehnen  würden,  werden  sie  als  besonderes  Buch  demnächst  er- 
scheinen (voraussichtlich  in:  Renaissance  und  Philosophie.  Beiträge  zur  Ge- 
schichte der  Philosophie.  Herausg.  v.  Dr.  Adolf  Dyroff,  Prof.  a.  d.  Univ. 
zu  Bonn). 


Digitized  by 


Google 


Systematisches  Inhaltsverzeiclmis. 


I.   Propädeutik  zur  Philosophie. 

Logik. 

18  Objekt.  40.  49.  52.  78  Prinzip  des  Widerspruches.  82 
Gesetz  des  Widerspruches.  86. 117. 156.  193.  197.  202.  203.  209. 
212.  217  Ideen  Piatos  widerlegt  238.  310.  315.  316  Materie 
logisch  früher  als  Spezies.  320.  321.  324.  327.  328.  356.  427.  451. 
513.  520.  546.  547.  577.  607. 

1.  BegrifE.  133  Definitio.  140  Definition.  213-216  Über- 
einstimmung der  Begriffe  mit  den  Dingen.  234  Definition  des 
Itelativum.  310.  311.  315.  320.  321.  323.  324.  327.  328—331 
Akzidenzien  und  Propria  außerhalb  der  Natur  des  Genus.  332 
333.  334.  336  Differenzen  nicht  unendlich.  337  Differenz. 
338  Genus  ist  Akzidens  der  Differenz.  339  Differenz  ver- 
schieden von  der  Art  339  Höhere  Genera.  341  Differentiae 
bilden  keine  unendliche  Reihe.  349  —  351  Definitio  sachlich 
identisch  mit  dem  Gegenstande,  nur  logisch  verschieden. 
350.  352.  353  Definition  der  Akzidenzien.  356.  358.  360  Teile 
des  definierten  Gegenstandes.  433.  513.  527  Erkenntnis  der 
Individua  in  Gott 

2.  Urteil,  Prädikation.  53.  337.  342  Prädicatio  univoca 
und  analoga.    427.  490.  636.  640. 

3.  Schluß.    80.  81.  409.  427.  428. 


II.   Die  Philosophie. 

A.   Die  theoretische  Philosophie. 

a)  Die  Naturwissenschaften. 

4,11.  14,28.  24,4.  31,4.  33,11  probatio  quod. 


Digitized  by 


Google 


774 

Kosmogonie. 
L   Allgemeines. 
525.  529  Entstehung  des  anßergöttlichen  Seins.    601  Ent- 
stehung der  Vielheit 

n.  Besonderes. 

1.  Entstehung  des  ersten  Seins  aus  Gott  588.  600  Das 
erste  Geschaffene. 

2.  Entstehung  des  zweiten  Seins  588. 

3.  Entstehung  der  Himmelskörper  589. 

4.  Entstehung  der  sublunarischen  Welt  132  Materie  der 
sublunarischen  Körper.  601  Erschaffung  der  Körper.  614  Ent- 
stehung der  Elemente. 

5.  Die  erste  Materie  40.  113.  141.  262.  369.  569.  599.  610. 
611.  612.  614.  629. 

6.  Rückkehr  der  Dinge  zu  Gott  633—649. 

Kosmologie. 

I.   Allgemeines. 
60—61    Kreislauf   des  Werdens.      558.  559  Kreisförmige 
Bewegung,  nicht  natürlich.  568.  570.  571.  574.  622.  631.  650.  651. 

n.  Besonderes. 

1.  Erstes  außergöttliches  Sein.  597.  598.  599.  600  Das 
erste  Geschaffene,  Nüs.    601.  602.  604.  607.  608. 

2.  Ideenwelt,  Geisterwelt  9.  216.  224.  264.  567.  590  Geister 
der  Sphären.  590.  602.  604  Verschiedenheit  der  Geister.  607. 
608.  610.  613.  615.  637.  639. 

3.  Sphären  und  ihre  Seelen.  43.  115.  561—577.  562.  564 
Determinierendes  Prinzip  für  die  Bewegung  der  Sphären.  567. 
572  Ewige  Dauer  der  Sphäre.  573  Zweck  der  Sphären.  576 
Reihenfolge  der  Sphären.  577.  578.  579—585  Bewegung  der 
Sphären.  580  Schnelligkeit  und  Langsamkeit  der  Bewegung.  585. 
587  Zweck  der  Bewegung  der  Sphären.  587  Seelisches  Prinzip, 
589.  590  Geister  der  Sphären.  591  Das  Sichverähnlichen  (mit 
einem  himmlischen  Körper).  592  Ziel.  593.  594  Zahl  der  Sphär^L 
595.  603.  604.  608.  609.  622. 

4.  Der  Mensch,  Leib  und  Seele  als  Mittelstufe  des  Kosmos 
43.  115.  159.  572.  606. 


Digitized  by 


Googk 


775 

5.  Sublunarische  Welt  578.  580.  585.  609.  613.  640.  (Das 
Böse  nur  in  der  sublunarischen  Welt.) 

Physik. 

I.  Allgemeines. 
17,14.  35,16.  103.  110.  121.  122.  123.  129  Materie  ohne 
bestimmte  Quantität  129  Verdichtung  und  Verdünnung.  142. 
160.  184.  201.  214  250.  266  Vorgang  ist  gesetzmäßig,  —  in 
den  meisten  Fällen  zufällig.  268.  310.  315.  338.  367.  383.  386. 
387.  400.  402.  426.  471.  472.  473.  484.  486.  519.  543—552 
Ewigkeit  der  Schöpfung.  559.  560  Attraktion.  561.  568.  590. 
591.  592.  604.  605.  609.  610  Entstehen  der  Materie.  611.  612. 
613.  614.  615.  616.  629. 

n.  Besonderes. 

1.  Substanz  und  Wesen  der  Körper.  17, 23  Gestalt.  37, 10 
Ausdehnung.  96. 104  Atome.  116.  117  Die  körperliche  Materie 
existiert  nicht  ohne  die  Form.  120.  210.  220.  221.  222.  224.  408. 
467.  609  Wesensform.  114.  116.  124  Akzidentelle.  131.  132 
Form  verleiht  das  Volumen.  133  Die  Wesensform  geht  der 
Materie  voraus  im  Bereiche  des  Wirklichen.  142  Wechsel  der 
Formen  in  einer  Materie.  145.  175.  197.  209.  355.  367.  408.  413. 
604.  609.  610  Wesensformen  emanieren  aus  dem  aktiven  Intel- 
lekte.   612.  614.  627. 

2.  Eigenschaften  der  Körper.  Akzidenzien.  120  Räumlich- 
keit. 121.  122.  183.  184  Maßbestimmung.  402  Dichtigkeit  ist 
Widerstand  gegen  den  eindringenden  Körper.    101  Kontinuität. 

3.  Wirken  der  Körper.  Kausalität  siehe  Lehre  über  die 
Ursache  367  ff. 

4.  Beziehungen  der  Körper.  122  Bewegung.  488.  545 
Ewigkeit  der  Bewegung.    546.  560.  568.  604. 

5.  Wunder  siehe  Theologie,  Beziehung  Gottes  zur  Welt 

Psychologie. 

I.   Allgemeines. 
202.   254.   255.   256.    257.    259.    284.    285.    293.   303    In- 
dividualisationsprinzip.     331.  356.  358.  418.  422  Das  psychisch 
unbewußte.     423.  426.  456.  529.  546.  561.  568.  575.  604.  639. 
640.  641. 


Digitized  by 


Google 


776 

n.  Besonderes. 

1.  Körper,  cfr.  Kosmos.    Der  Mensch.     95.  96.   114.   197. 

209.  281. 

2.  Lebensprinzip  im  allgemeinen  605. 

a)  Vegetative  Seele,   siehe   Psychologie.     (Naturwiss. 
VI.  Buch.) 

b)  Animalische  Seele  264.  418. 

«)   Strebevermögen  128.  418.  423.  538.  546.  547.  568. 

574.  575.  639. 
ß)  Erkenntnisvermögen  217.  575.  638.  639.  640. 
Die  äußeren  Sinne:  Gresicht,  Grehör  etc.  636. 
Die  inneren  Sinne  574.  605. 

3.  Geist  (cfr.  Kosmos,  Mensch)  159.  254.  539.  563.  564. 
591.  624.  640. 

a)  Theoretische  Fähigkeiten  s.  Erkennen  in  Erkenntnis- 
theorie und  Logik. 

b)  Praktische  Fähigkeiten,  Wille. 

b)  Die  Mathematik. 

4,15.  15,8.  17,4.  18,6.  24,7.  27,5.  31,10.  33,11  Probatio 
quod.  36,17.  37,4  Objekt.  96.  97.  99.  104.  110.  115.  116  Aus- 
dehnung. 118.  120.  122.  152  Dimensionen,  Zahlen  sind  Akzi- 
denzien. 153.  160.  161  Prinzip  der  Teilung.  164—173  Die  Zahl 
ein  Akzidens.  165.  166.  173.  185  —  193  Zahl.  188  Zahl  als 
Summe.  190—197  Zweiheit.  191  Größte  Zahl  192.  200.  201. 
202.  219  Mathematische  Figuren.  220  Der  Kreis  existiert  real 
277  Drei  eine  vollkommene  Zahl  338.  430.  453  Mathematische 
Ideen.  456.  457.  467  Zahlen  nicht  Wesen  der  Dinge.  467.  4*38. 
469.  470.  471.  473. 

a)  Geometrie. 

17.  36.  37.  96.  97.  115.  152.  157.  175.  177  Sphärische 
Fläche.  179.  180.  194.  197.  210.  219.  220  Existenz  des  Kreises 
223  Geometrische  Figuren.  224.  226  Konstruktion  des  Kreises. 
227.  470.  471.  623. 

b)  Astronomie  132. 

c)  Arithmetik.    17.  36—39.  37  Zahl.    115.  152.^WfeJÄ. 

d)  Musik  201. 


Digitized  by 


Google 


777 

e)  Die  Metaphysik. 

Allgemeines.  1—22  Objekt.  6—7  Weisheit.  18  Objekt. 
22  Einteilung.  23  Königin  der  Wissenschaften.  24  Weisheit. 
25  Vier  Teile  des  Objektes.  28.  30  Nutzen.  31—33  Rangstufe. 
33  Probatio  propter  quod.  34  Unvermittelte  Erkenntnis. 
35  geht  voraus  allen  Wissensch.  35  Name.  36  Vor  der  Physik 
37.  47.  86  Objekt  der  Metaphysik.  157.  202.  210.  261.  284. 
285.  289  Natur  des  Universellen.  295  Universale  ist  früher 
als  das  Individuum.  297  Universale  weder  Individuum  noch 
Vielheit.  299  Universelle,  früher  als  das  Singulare.  301  Uni- 
verselle hat  nur  logische  Existenz.  302  Universelle  Akzidens. 
305  Universelle.  307  Entstehung  der  Universalität.  309.  355. 
373.  379.  384.  385  Zeitliches  und  zeitloses,  ewiges  Entstehen. 
404.  405.  413.  428.  442.  465.  466  Widerlegung  des  Pythagoras. 
512  Existenz  ist  Akzidens.  515  Gott  denkt  alle  Dinge.  .  518. 
524.  525.  573  Ewige  Dauer  der  Art.    587. 

I.  Die  allgemeinsten  Prinzipien. 

Erkenntnistheorie.  0 

Allgemeines. 
Einteilung  der  Wissenschaften.  6, 1.  7, 18.  21.  21, 16.  23, 15. 
41, 1.  42, 11—19  Platonische  Ideen.  80.  81.  83.  213—216.  218. 
230.  236  Subjektive  Natur  des  Erkennens.  284.  340.  342.  343 
Das  deflnitum  ist  einheitlich,  die  definitio  zusammengesetzt.  349 
bis  351  Definitio  sachlich  identisch  mit  dem  Gegenstande,  nur 
logisch  verschieden.  373.  379.  404.  439  Gemäßigter  Kealismus. 
460  Entstehung  der  Begriffe.  460—473  Widerlegung  der  Ideen- 
lehre.   522.  525.  526.  638.  639. 

1.  Ding  der  Außenwelt  als  Objekt  des  Erkennens,  siehe 
die  Lehre  von  der  Materie  und  der  Wesensform  (Physik). 

2.  Empfindung  als  Vermittlung  des  Erkennens,  s.  Psycho- 
logie, die  Sinnesorgane. 

')  Die  Erkenntnistheorie  findet  sich  in  den  verschiedensten  Disziplinen : 
in  1.  der  Logik,  die  das  intrasuhjektive  Erkennen  behandelt,  2.  der  Psycho- 
logie, als  Lehre  von  den  Bewußtseinsphänomenen,  3.  Metaphysik  n  als  relatio 
entis:  a)  unter  den  Begriff  des  Wahren,  und  als  ens  logicnm  unter  b)  die 
Proprietäten  (4)  und  c)  Arten  des  Seins.  Ihr  eigentlicher  Ort  ist  der  erste 
Teil  der  Metaphysik,  denn  die  Frage  nach  der  Natur  und  Gütigkeit  des  Er- 
kennens liegt  allem  Denken  yoraus. 


Digitized  by 


Google 


778 

3.  Vorstellung  als  Vorstufe  des  Erkennens,  s.  Psychologie, 
die  inneren  Sinne. 

4.  Begriff  340.  460  (Entstehung  d.  Begr.). 

5.  Zusammentreten  der  Begriffe,  Urteil,  s.  die  Ldire  vom 
Urteile,  Logik.  —  Verteidigung  der  ersten  Prinzipien  gegen  die 
Skepsis  78—88. 

6.  Kausales  Schließen  640. 

IL   Die  allgemeinsten  Begriflfe. 

1.  Das  Sein,  esse.  —  Nichtsein. 

24.  40.  44.  50.  55  Sein  analogiae  prädiziert  429.  492.  516 
Bestehen.    492  Nichtsein.    39. 

Das  Seiende,  ens  44,  nur  durch  Hinweis  und  descriptione 
(nich*  definitione)  erkennbar.  163.  261.  442.  501  Gott  der  not- 
wendig Seiende,  s.  Theologie  (Existenz).  514.  613  aliquid.  54. 
res  44.  428  unum  (quod  convertitur  cum  ente).     154—173.  356. 

2.  Modi  entis. 

a)  Das  Notwendige. 

44, 22.  56.  57—66.  61—66.  62  Hat  keine  Ursache.  65  Ein- 
heit. 69.  73  Sichbestätigen  der  Existenz.  404  Notwendigkeit 
der  Ursache.    548. 

b)  Das  Zufällige,  s.  das  Mögliche. 

c)  Das  Mögliche. 

56.  61—66.  64.  65  Durch  Ursache  notwendig.  76.  269. 
496.  603. 

d)  Das  Unmögliche. 

56.    Nicht  definierbar  269.  405. 

3.  Belationes  entis. 

a)  Das  Wahre  —  das  Falsche. 
40,4.  78.  406.  407.  515.  516. 

b)  Das  Gute  —  das  Böse. 

28.  28—30  NützHchkeit  47.  194.  273.  274.  276.  416.  421. 
423  Scheingut  424.  425.  434.  435.  440.  446.  448.  472  Das 
Böse  als  Materie.  473.  494.  515.  516.  534.  536.  567.  570. 
577.  583.  584.  596.  617.  618.  619.  620.  621.  622  Optimismus 


Digitized  by 


Googk 


779 

622.  624—626  Notwendigkeit  des  Bösen.  625.  628.  630  Böses 
als  Wirkung  Gottes.  631.  632.  640  Das  Böse  nur  in  der  sublu- 
narischen  Welt  657. 

c)  Das  Schöne  —  das  Häßliche  538. 

4.  Proprietäten  des  Seins. 

a)  Potentialität. 

40.  46.  123.  124  Potentia  proxima.  132.  213.  249.  250. 
253.  257.  258.  260  Potenz  nur  gleichzeitig  mit  der  Handlung. 
260  —  262  Potentialität  geht  der  Aktualität  voran.  270.  272 
Potenz  früher  und  später  als  Akt.  370.  479.  482.  489.  490.  492. 
596.  603.  621.  625. 

Wesenheit   48. 49  Dasein  verschieden  von  Wesenheit.  63. 71. 

Dasein  71. 

AktuaUtät.  40,3.  41,17.  46,23.  72.  147.  249.  250.  259.  273 
AktuaUtät.früher  als  die  Potenz.    431.  492.  587.  596.  604. 

b)  Vollkommenheit  —  Unvollkommenheit. 

275.  277.  279.  280.  281.  425.  485.  489.  515.  569.  579.  603. 
606.  620. 

c)  Einfachheit  —  Zusammengesetztsein. 

514.  542.  551  Ganze  und  der  TeU.    129.  309.  486. 

d)  Einheit  —  Vielheit. 

19,11.  24,20.  42,5.  42,9  Zahl.  69.  70.  144  Numerisch 
einziges.  152.  154—160.  154  Unum  per  se,  unum  per  accidens 
159.  161.  162.  164—173.  166  Einheit  undefinierbar.  168  Ein- 
heit des  Akzidens.  Einheit  der  Substanz.  174  Maßeinheit.  184. 
186.  187  Einheit  der  Zahl.  188.  192.  193.  193—203  Opposition 
zwischen  dem  Einen  und  Vielen.  194.  197.  198.  200—202  Maß 
201.  208.  209.  242.  275  Das  Ganze  und  die  Summe.  277.  281. 
283.  302.  431.  432.  442.  443.  447.  457.  460.  467.  468.  470  Ein- 
heit als  Materie  u.  Wesensform.  471.  472.  473.  479.  495.  496.  497. 
498.  502.  507.  551.  602.  608.  611. 

Das  Größere  und  Kleinere  202. 

Gleichheit  167.  202. 

e)  Endlichkeit  —  Unendlichkeit. 

415  Ire  in  inflnitum.  453.  469  Zahl  nicht  aktuell  un- 
endlich.   471—485  Ursache  unendlich.    492, 


Digitized  by 


Google 


780 

f)  Veränderlichkeit  —  Unveränderlichkeit 

132.  418  Prinzip  der  Bewegung.  426  Ewige  Bewegung 
468.  478.  489.  531  UnveränderUchkeit  Gk)ttes.    548. 

g)  Universalitat  —  Individualität 
Abh.  V  284—359. 

5.   Arten  des  Seins, 
a)   Kategorien. 

1.  Substanz.  16, 4.  20, 19.  21, 1.  40, 5.  88—96.  96.  124.  126. 
151  Punkt  als  Substanz.  168.  204  Qualitäten  sind  Substanzen 
209  Mutatio  substantialis.    214  Substanz  als  erkanntes  Akzidens. 

261.  270.  327  Wirken  der  Substanzen.  367.  411.  413.  479.  485. 537. 

Substrat  92.  128.  163.  195.  196.  310.  370.  409.  471.  479.  490. 

2.  Akzidens.  21.  39  Kategorien.  40.  54.  55.  59.  60.  71.  8a 
90.  91  Substanz  und  Akzidens  zugleicL  94.  131  Stärke  und 
Schwäche.  149. 151. 168. 171. 172  Einheit,  notwendiges  Akzidens. 
172  Einheit,  universelles  Akzidens.  173—183  Die  Dimensionen 
sind  Akzidenzien.  199.  203—212  Qualitäten  sind  Akzidenzien 
205.  206.  211.  212  Wissenschaft  ist  Qualität  des  Geistes.  215. 
219.  220  Der  Kreis  ein  Akzidens.  228.  232.  261.  270.  293. 
Akzidenzien  individualisieren.  353  Definition  der  Akzidenzien. 
362.  370.  408.  413.  428.  442.  443.  443  Das  akzidenteU  Identische, 

444.  456. 

Kategorien.  39.  67.  337.  501.  502.  503  IndividualitÄt  und 
Dasein  sind  Akzidenzien.  512  Existenz  ist  Akzidens.  525.  532 
Gott  besitzt  keine  Akzidenzien.    588. 

Quantität  123.  131.  150.  151  kontinuierliche.  167  dis- 
kontinuierliche. 174.  184  Gleichheit  und  Verschiedenheit  185. 
199.  202.  219.  615. 

Qualität  150. 151. 196.  219  Qualitäten  existieren.  229. 250 
Vermögen  und  Unvermögen.    404  Modi  der  QuaKtät    443.  444. 

445.  447.  448.  452.  455.  473.  619.  623.  624.  626.  627.  633. 
Relation.   133. 163.  228—238  Relation  ist  real  und  Akzidens. 

228  Termini  der  Relation.  229  Relationen  der  Qualität  230 
Unilaterale  und  bilaterale.  231  Relation,  nicht  einheitlich.  232 
Relation  real  235  Relatio  per  se.  235  Keine  series  infinita 
relationum.    237  Relation,  teilweise  real  und  teilweise  unreal 

262.  193.  198.  340.  443.  447.  455.  471.  498.  499.  519. 


Digitized  by 


Googl( 


781 

Raum  123.  150.  183. 

Zeit  150.  183.  238.  239. 

Korrelation  134. 

Lage  150.  210. 

Handeln  150.  447.  456. 

Leiden  150.  447.  456. 

3.  Postprädicamenta.  41.  43.  155.  158.  193.  195.  196.  197 
Erste  Opposition.  202.  203.  404  Ursache,  früher  als  Wirkung. 
442  Proprietäten  des  Seins.  442.  443  Das  akzidentell 
Identische.  443  Die  Opposita.  444.  445.  447.  450.  450—452  Nur 
ein  Kontrarium.  Wesentliche  Verschiedenheit,  nicht  durch  Zahlen 
erklärbar  479.  482.  483.  484.  491.  495.  497.  510.  561.  562.  Froher 
und  Später:  239.  404.  469. 

b)  Ursachen,  Kausalität. 

10,7.  41,13.  137  Negative  Ursache.  139.  141  Aufnehmende 
Ursache.  146  Materie  als  Ursache.  147.  148  Ursache,  gleich- 
zeitig mit  Wirkung.  194. 199.  207  Ursache  verleiht  Dasein.  242. 
243  Causa  per  se.  244  Causa  indeterminata.  246  Ursache 
wirkt  notwendig.  246  Ursache  u.  Wirkung,  nicht  korrelativ.  249 
Simultaneität  ist  nicht  Wesen  der  Ursache.  267  Impedimentum 
267  Causa  per  se.  268  Causa  per  accidens.  367.  368  Wirk- 
ursache. 369.  370  Fünf  oder  vier  Ursachen.  373.  376  Ursache 
kann  anfangslos  wirken.  378  Zeitlich  auftretende  Wirkung.  380 
Ursache  ist  gleichzeitig  mit  ihrer  Wirkung.  382  Unendliche  Kette 
von  Ursachen  per  accidens.  383  Ursache  wirkt  durch  die  Be- 
wegung. 384  Ewige  Wirkung.  388  Inkongruenz  zwischen  Ur- 
sache und  Wirkung.  399  Wirkung  und  Ursache,  verschieden. 
404  Ursache  intensiver  als  Wirkung.  404  Ursache  früher  als 
Wirkung.  Notwendigkeit  der  Ursache.  409.  410.  411  Entstehen 
aus  der  Materie.  415  Zwecklosigkeit.  474  Ursachen  per  se 
endlich.  475  Ursachen,  eine  endliche  Kette.  477.  480.  484  Ur- 
sachen, unendlich.  492.  496  Einzigkeit  der  ersten  Ursache.  531. 
581  Wirkung  kann  nicht  Ziel  sein.    586.  618.  628.  632.  654.  655. 

1.  Causa  efficiens.  367.  369.  372.  376  Ursache  kann  an- 
fangslos wirken.  378.  384.  386.  387.  387—407.  388  Inkongruenz 
zwischen  Ursache  und  Wirkung.  392  Arten  der  Wirkursachen 
399  Wirkung  und  Ursache,  verschieden.  406.  416  Principium 
proximum,  principium  remotum.  475  Mittelursache.  476  Un- 
endlichkeit der  Mittelursachen.     477.   482.   483.   485.   486.   492 


Digitized  by 


Googl( 


782 

Werden.    491  Fieri  ex  aliquo  nicht  gleich  fieri  post  aliqoid.  547. 
550.  586.  627. 

2.  Causa  formalis.  369.  373  Formelle  Wirkung  ist  die 
Existenz.    413.  493.  495. 

3.  Causa  materialis.  92  siehe  Substrat.  369.  407.  410.  480 
Materialursachen  per  se  endlich,  per  accidens  unendlich.    547. 

4.  Causa  finalis.  367.  369.  413.  415. 423  Finis  per  accidens 
429.  430  Finis  est  prima  causa.     433.  440.  493.  579.  580.  601. 

c)  Ens  logicum  —  ens  reale  siehe  4.  g.  Universalität  — 
Individualität 

IIL   Das  unkörperliche  Sein. 

a)  Die  Gottheit. 
Theologie. 

588.  597.  618.  629.  Erkennbarkeit  Gottes,  siehe  Gottes- 
beweise. 

1.  Existenz  Gottes.  8.  34.  41.  43.  78.  215.  407.  471.  474. 
493  Gottesbeweis  aus  der  Endlichkeit  der  Ursachen.  496  Gott 
nur  einer.  498  Gott  ist  der  erste.  501  Gott  der  notwendig 
Seiende.  502  Gott  ist  Verstand.  505  Gott  hat  kein  Genus  und 
keine  Differenz.  517  Der  notwendig  Seiende  ist  reiner  Verstand. 
536  Wille  und  Wissen  in  Gott  identisch.  537.  538  Gott  ist 
Liebe.    586.  597  Gott  notwendig  Seiender.    597.  598.  618.  629. 

2.  Wesen  Gottes.  407.  499  Gott  besitzt  keine  besondere 
Wesenheit  500  Einheit  Wesenheit  501  Wesen  Gottes.  512 
Wesen  Gottes  ist  Dasein. 

3.  Eigenschaften  und  innere  Tätigkeit  Gottes.  12.  23.  41. 
43.  69  Einheit  407.  499  Gott  ist  der  Wahre.  507  Einzigkeit 
Gottes.  514.  515  Gott  denkt  alle  Dinge.  516  Wahrheit  Gottes 
520.  529.  530  Liebe  Gottes.  535.  537.  538.  542.  586  Emanation 
596  Erste  Tätigkeit  Gottes  ist  Denken.    638. 

4.  Beziehung  (Jottes  zur  Welt,  äußere  Tätigkeit  Gottes. 
145  Dator  formarum.  503.  520  Erkennen  Gottes,  schöpferisch. 
522.  523  Gott  erkennt  die  Individua.  531.  533  Erkennen 
Grottes  ist  schöpferisch.  596  Schaffen  ist  Erkennen.  596  Liebe 
Gtottes  zu  den  (Geschöpfen. 


Digitized  by 


Googl( 


[ 


783 

a)  Erschaffen. 

497.  503.  521.  571.  573  Emanation.  497.  543—52  Ewiges 
Erschaffen.  520  Erkennen  Gottes  schöpferisch.  543—552  Ewig- 
keit der  Schöpfung.  549  Ewiges  Schaffen.  551 — 557  Zeitloses 
Schaffen.    596  Schaffen  ist  Erkennen.    597. 

b)  Erhalten,  Befehl,  Ratschluß. 

659.    Schicksalsbestimmung,  Vorsehung  659. 

c)  Bünordnung  der  Welt  auf  Gott. 

633.  574—576  Gott,  Objekt  der  Liebe.  578.  586  f.  Das 
Sichverähnlichen  mit  Gott. 

b)  Geisterwelt  siehe  Kosmologie. 
558  (Geist  und  Seele  der  Sphären).     578  (ihre  Tätigkeit). 
595  (ihre  Rangordnung). 


B.  Die  praktische  Philosophie. 

Ethik. 

44.  416  Menschliche  Handlung.   435.  626  Frevel,  Ehebruch, 
Zorn.    627.  650.  651. 

1.  Individuelle  Ethik. 

a)  Ziel  des  Lebens. 

417  Zwei  Arten   des  Zieles.     419  Keine  Zwecklosigkeit. 
582.  583.  584.  586.  595.  633.  641. 

b)  Weg  zum  Ziele. 

633.  669.  670.  684  Tugenden. 

2.  Ökonomik,  Hausgemeinde  671 — 77. 

3.  PoUtik,  Stadt,  Reich  671—685. 


Digitized  by 


Google 


Verzeichnis  der  Zitate. 


1.  Zitate  aus  Aristoteles. 


1.  Kategrorien. 


Ia23 S. 

Ia24 „ 

lb3ff „ 

lbl7 „ 

lb20 , 

2al— 3a32  .   .  .   .    „ 

2a2 „ 

2al0 „ 

2all „ 

5b27 

6a36     

8al3— 8b24    .  .    . 

8b  27     

9al4,28 

lOall 

IIb  17 

Hb  17 

15a34 


150  Anm. 

211  „ 
286 

333  „ 

89  „ 

52  „ 

60  „ 

88  „ 

55  „ 

185  „ 

199  „ 

233  Anm. 

449  „ 

449  „ 

449  „ 

452  „ 

193  „ 

241  „ 


2.  De  iuterpretatione. 


17  al  S. 

17a2  „ 

17a3  „ 

17a33 „ 

17a39 „ 

19a  18 „ 

19a33 „ 


3 

697 
53 

288 

284 

266 

78 


3.  Analytica« 

32al8 S.   56  Anm.  2 

43b27 „187     „     2 

52a32 „78     „     2 


66b20 S.   54Anm.l 

71b33 

72bl7.25 

85a34 

89b23 


Anm.  2 

n  3 

.  2 

.  3 

n  2 

n  3 

n  4 


41 

„    13 

47 

«     1 

92 

n       3 

90 

„       1 

6 

.       1 

7 

r        2 

33 

.     4 

89b24 


4.  Topik. 

103a23 S.  158  Anm. 3 

103a29     „154     „     4 

103a29 „155  Anm. 

140a27     „333     „     1 

149bl2     „199     r     2 

5.  Physik« 

18obl0     S.  157  Anm.4 

191  b  13     „411     „     3 

192  b21     .... 

193b34 

194a8 

194b  14 

194b  14     

194b23— 195a3    . 
195  bl 


197a7 „494 

107a8 


198a  16 „368 

201  all     

201all 

206a7 

206a7 


„    35 

„     5 

„4n.5 

„     7 

n    33 

,     3 

„      1 

„     * 

n        6 

„     5 

„368 

„     3 

„    90 

„     5 

„49t 

„     3 

„416 

,     1 

„  368 

,     3 

„214 

„     2 

„709 

„     3 

„174 

„     4 

„165 

A^ 

Digitized  by 


Google 


785 


207a9 S.281  Anm.  2 

209b 

216a27 


218a7 

218a25     .  .   .  . 
219al5     .  .   .   . 

219bl 

220a27  .  .  .  . 
222a24— 222b7 
223a5 


223a25     

227al8 

231  a23 

232a24  o.  2d3bl6 

243al 

246bl0 

254b  ff. 

254bl7 

260a3.17 

260b  18 

263a6 

263b27 

265a23 


113  „ 

387  „ 

283  „ 

120  „ 

239  „ 
60  „ 

190  „ 

60  „ 

240  „ 
186  „ 

157  „ 

158  „ 
105  „ 

56  „ 
233  Anm. 

384  „ 
575 
594 
241 

64 
105 
275. 


6.  De  eoelo. 

268a7 S. 

268a8 „ 

270al5 „ 

270bl5 

274bl3 

274bl9 

278bl0 

283a20 

284b24 

285a29 

286al0 

288a34 

302a8 


102  Anm. 
175     „ 
369     „ 
109  Anm. 
56     „ 
102  Anm. 
575     „ 
270     „ 
102  Anm. 

575  „ 
109  Anm. 

576  „ 
272     , 


7.  De  generatlone. 


315b26— 317al7 

318bl5 

333b5 

337bll 

320bl4 


S. 


105  Anm. 
833     „ 
416     „ 
241     „ 
156     „ 


8.  De  anima. 

404b22 S.  152  Anm.2 

409a4 „179     „     4 


409a6 S. 

412a7 „ 

415al9 

426al5 

429b30 

431al7 

433a26 

435b36 


159  Anm. 
113     „ 
272     „ 
571  Anm. 

3  n 
165  „ 
434  „ 
571  Anm. 


9*  De  sensn  et  sensata« 

439al5 S.  571  Anm.  4 

465b7 „52     „     1 

467b26 „156     „     2 

10.  Zoologe. 

679b22 S.114  Anm.  3 

683a8 

644b24 

698a9 

698b  13 

731  b25 


140 

.     1 

281 

„     1 

594 

n      1 

594 

r,      1 

61 

n 

11.  Problemata. 

910b32 S.  277  Anm.  4 

910b35 „277     „     5 

916a23 „241     „     3 


12.  Metaphysik. 


980-982.  . 
981a29  .  . 
981b28  .  . 
982a23  . 
982b9.  .  . 
986a20  .  . 
987a26  .  . 
987  a  18  usw. 
989b32  .  . 
993b27  .  . 
994al  .  .  . 
997al3  .  . 
999a6.  .   . 


999b33    . 

lOOla  +  b 
1001  a21  . 
1003a 33  . 
1003a35  . 


Horten,  Dm  Baoh  der  Oeneeong  der  Seele. 


S.  2 
„    34 

.        •* 

»  2 
„151 
.190 
»151 
„    33 

n     78 

„492 

n     79 

„  55 
(„155 

n285 
|n.286 

„152 
,    47 

r,     55 

„    55 
50 


Anm. 


Digitized  by 


Googk 


786 


1005al9  — 10Ub23  .  S.    79 

1005b24 „    82 

1005  b  11 „    79 

1010a  12 „    82 

1010al3 „82 

1011b  16 „    79 

10llb27 „    78 

1012a24 „    82 

1012a26 „79 

1012b31 „594 

1014a4 „    90 

1015a34 „56 

10l5bl6 „154 

1015b36 „155 

1016a5 „157 

1016a9 „155 

1016al7 „155 

1016a24 „155 

1016a25 „349 

1016a28 „156 

1016  a32 „155 

1016b  1 „155 

1016b4 „253 

1016b  18 „164 

1016b27 „175 

1017al9 „90 

1018a25 „446 

1018a27 „450 

1018a35 „42 

1018b32 „    35 

1018b 32 „    41 

1019a2 „241 

1019b23 „56 

1020a8 „165 

1020a7 „160 

1021  al3 „164 

1021  al3 „190 

1021b21 „275 

1022b4 „197 

1023b26 „281 

1023b29 „157 

1023b30 „284 

1024al „281 

1024a20 „    54 

1024b3 „349 

1025b25 „      2 

1025b30 „853 

1026a9iLl5    .  .  .  .  „    25 


Anm.3 

rt 

1    ' 

n 

3 

n 

4 

r> 

3 

71 

3  , 

n 

4 

n 

1  ' 

Tt 

3    : 

n 

1  1 

T) 

5  ' 

n 

2 ; 

n 

2; 

T) 

2 

n 

6  1 

jy 

2  1 

n 

2  1 

n 

2 

n 

1 

n 

4 

n 

2 

n 

2 

n 

5  . 

n 

2 

7J 

1  i 

n 

5 

n 

1  " 

n 

1 

n 

3 

n 

2 

n 

13; 

ry 

3' 

n 

2 

n 

2  ! 

n 

4i 

n 

2i 

T) 

1 

» 

3! 

n 

1| 

n 

2! 

n 

3| 

n 

1  i 

n 

3  , 

V 

2 

n 

1 

n 

8l 

n 

1  , 

» 

1  . 

1026al6 S.     6 

1026al9 „      1 

1028a31 „55 

1028a31 „410 

1029a20 „113 

1030a  10 „163 

1030bll „42 

1030b30 „354 

1034b32 „282 

1035a5 „356 

1035a26 „354 

1035b30 „119 

1037b29 „313 

l(B7b30 „333 

1039b28 „356 

1040bl8 „152 

1042a5 „410 

1042a27 „113 

1044a3 „190 

1045b29 „    55 

1045b29 „410 

1046a6 „253 

1046al0 „251 

1046a32 „445 

1052b20 „153 

1053a30 „160 

1053b25 „    ^ 

1054al4f. „54 

1054al4 „42 

1056bl6 „165 

1056b35 „228 

1057a34 „288 

1057b7 „332 

1058b  1 „325 

1058b29 „325 

1059bl6 „      4 

1059bl3 „    ^ 

1060b37 „55 

1061b34bi8    .   .  .  .  „    79 

1063al4 „      9 

1063b36 „    79 

1064a28 „90 

1064a28 „    96 

1064a32 „  4il5. 

1064a33 „    20 

1064b2 „      2 

1064bl— 2 „      4 

1065a32 ,494 


1 
1 
2 
1 
1 
3 
1 
4 
1 
2 
2 
3 
4 
1 
3 
5 
3 
2 
1 
5 
1 
1 
5 
4 
1 
7 
3 
8 

5 

1 
7 
5 
1 
4 
3 


Digitized  by 


Googl( 


787 


1069 a5 S.  157  Anm.  5 


1069a8.  .  .  . 
1069bll  .  .  . 
1072a3.  .  .  . 
1072bll  .  .  . 
1072b3.  .  .  . 
1077a3.  .  .  . 
1081bl4  .  .  . 
1082 a20  .  .  . 
1083bl6  .  .  . 
1084b2.  .  .  . 
1084b24  .  .  . 
1088a23;30  . 
1069a20n.  16. 
1090b28   .   .   . 


155 
174 
272 

56 
575 
164 
190 
156 
186 
145 
9 
232 

51 
152 


13.  Ethik  an  ^Kikomaelins. 


1096  a23 S.  274  Anm.  1 


1094  a  2  (1,1  Anfang)     1 
nnd 

1094a3 

1094a  18 

1096a20 

1096a20 


.  29  Anm.  3 
46     „     2 

494  „  1 
30     „     3 

446     „     2 

233     „ 


1096bl3 „    30 

1097  al8 „433 

1097  b8 „622 

1126a9 „621 

1141al6 „      6 

1148a9 „484 

1169b  18 „622 

Gr.Eth.  1183a7.   .   .  „  274 

Ethic.Eudem.  1217  b  35  „  446 

Eth.Eud.l222b20(II,6)  „  653 


14.  Pollt. 

1316a8 S.  152  Anm.2 

15.  Rhetorik. 

1382b6 S.    12  Anm.6 

1392a20 „241     „     3 

1418a24 „120     „     2 

16.  Poetik. 

1450b  26 S.281  Anm.2 


2.  Zitate  aus  Thomas  v.  Aquin. 


1.  Snm.  theol. 

II,  adl     a   42  Anm. 

Il,lob.2 „51  „ 

I  q  1, 1  c  et  pass  .   .   .  „    75  „ 

11,7  adl „514  „ 

1 1, 1  u.  2     „397  „ 

I2,2ad.2 „514  „ 


I2,3c   .   , 
I3,3c   .   . 
I8,lc    .   . 
1 3, 1  ad  1 . 
I3,2ad3. 
13,3  .  . 
I3,3c    . 
13.4c    . 
13,5c    . 
13,5c    . 
I3,5adl 
13,5  .   . 
I4,lc    . 
14,1c    . 
14,2c    . 


275 

397 

275 

102 

397 

75 

608 

428 

75 

77 

88 

629 

,  113 

,  275 

,  405 


8 
2 


15,2  adl S 

I5,2ad2 

I6,3ob.l     .... 

I7,2ad3 

19 

I9,lart.2c     .   .   . 
Illart.3ad2     .   . 

1 11,1c 

Ill,2ad4    .... 
Ill,lad3    .... 

1 13,7c 

1 13,9c 

1 14,2c 1" 

In 

1 14,4c 

1 14,9c 

1 18,2c 

1 19,3c 

122 

1 25,1c 

125,3  ad4    .   .  .  . 
I25,4ad4 


L433  1 

inm 

.1 

,  433 

» 

1 

.  50 

« 

1 

,  113 

n 

3 

,   9 

n 

7 

.  581 

n 

2 

.  42 

n 

3 

.  42 

n 

3 

.  164 

n 

2 

«  170 

» 

.  199 

n 

.  397 

n 

.570 

n 

.  618 

» 

,  618 

« 

,  522 

n 

.  102 

n 

n  58 

n 

n  658 

n 

«256 

n 

3 

.  58 

n 

8 

n  76 

n 

7 

50* 

Digitized  by 


Googk 


788 


I28,lc S.228 

129,1  ad3 „356 

I29,3ad4 „286 

I30,lad4 „186 

I89art.3ad3     .  .   .  „    47 

I39,3ad3 „50 

I40,l.lm „75 

I41art.4ad2     ...  „    57 

I  42, 1  Obj.  1     ....  „  157 

144 „618 

I45art8c „581 

I46,2ad7 „383 

I46,2ad7 „480 

1 47,2c „897 

1 47,2c „    70 

I48,2ob.2 „    50 

I48,2ad2 „620 

148,2c „620 

148,1c „620 

I49,lc „629 

149, 2c „658 

149,3 „620 

I50,2ad2 „89 

1 50,4c „    70 

1 50,5c „    70 

1 50,4c „388 

155,1  ad2 „571 

1 56,1c „    70 

I56,2ad2 „302 

I56,2c „302 

162,  art.9ad2m     .   .  „    28 

162,6  ad3 „397 

I62,6ad3m    ....  „    70 

I62,8ad2 „255 

1 65,3c „545 

165,  4c „581 

1 70,3c „576 

1 75,7c „    70 

175, 7c „397 

176, 2.  Im „70 

I76,2adl „897 

1 77,3c „256 

I77,3adl „271 

I82,lc „    62 

I82,3ad2 „271 

184,1  ad3m    .  .   .  .  „    77 

I85,8ad2 „164 

I85,2ad2 ;,  293 


Anm.  1 

.  2 

.  2 

n  8 

n  2 

»  1 

n  1 

n  2 

.  3 

n  2 

«  2 

.  1 

n  5 

n  1 

n  1 


85,3adl  . 
85,5ad3  . 
85,3ad4  . 
85,5ad3  . 
86,3c  .  .  . 
90,2c  .  .  . 
104,2c  .  . 
105,5c  .  . 
110art.2c 
115,1  ad2  . 
-ni,lad3 
-ni,4c  . 
:-n8,ladl 
— n  8  art  2  ad  1 

:— n9,4c  .  . 

-ni8,7c  .  . 
— n22— 49  . 
— n29,6  .  . 
:— n46art.7c 

n49,4  .  . 
— n53,2ad3 
— n55,2c  .  . 
— 1163  art.  Ic 
—n  66,1c  .  . 
—II  q.  66  art  5, 

n66,6ad3 
-n66,6ad3 
:—n  66,1c 
— n67,5c 
— n67,5c 
-n  75,1c 
;~U79,2c 
— ^94,2c" 
-^112,lc 

n-ni,7c 
n— n6,im 
n— n23,2c 

n— n24,5adl 

n-n27,3c 
n-n32,5c 

n-n47,6ad3 
n— n56,ladl 

n— n58,6c   . 

n— 1158, 3.  2m 

n-n83,i3c  . 
n-n88,2c  . 
n— ni28,i2c 

n-ni41,6.2m 


m 


Im 


S.285 
„334 
»335 
„349 

.  n 

.  89 
„545 
„277 
„581 
«113 
«421 
„  384 
„255 
„  28 
n653 
„337 
„626 
„284 
.  28 
„6« 
„354 
„270 
„581 
„684 
„  18 
„897 
„569 
„545 
„835 
„834 
„629 
„639 

„  79 
„569 
„    79 

„  62 
„684 
„130 
„368 
„  62 
,684 
„684 
„398 


„  62 
„684 
»    62 


AulS 

r      1 
,       1 

r      1 

„    2 

.     1 

2 

1 

2 


2 
S 

2 
2 
2 
3 
4 
3 

4 

2 
1 
4 
3 
1 
1 
8 
2 
1 

3 
1 
3 
4 
1 

3 

4 
1 
1 

4 
4 

4 
l 

4 


Digitized  by 


Goo^Ie^ 


n-ni4i,8c  . 

n— ni48,3ad2 
n— ni65,2adl 
n— ni86,5.5m 
n— ni89,2.2m 

ini,2c  . 
in4f.  .  . 
inH2c .  . 

m46,lc  . 

me2,4c .  . 

in65,4     . 
m69,8ad3 
m77,lc  .  . 
m77,lad2 
in77,lad2 
in77,lad2 
in77,2    . 
m77,2c  . 
m84,5     . 


.  684  Anm.  1 
569  „  1 


569 
62 
62 
62 
9 
62 
62 


397 
709 
88 
89 
212 
397 
286 


2.  Com.  Metaphysik. 

Prooemiiun 8.     1  Anm. 


Prooeminm   . 
Prooemiom  . 
Prooeminm  .  . 
m,  lect.  4  fin. 
IV,  lect  6  med. 
y,  lect  6  med.  , 
Vn,  1^.  17  .  , 
XI,  lect.  7  •  .  . 
XI,  lect.8fin.   , 


19 
24 
26 
19 
79 

157 

90 

4 

416 


Xn,text34 „545 

3.  Contra  GentefU 
1 16 S.  275  Anm. 


142  .  . 
125  .  . 
n23  .  . 
n58  .  . 
m8ad6 
ni86  . 
ni69    . 


285 
88 

272 

241 
50 
57 

582 


4.  Nikomaeh.  Ethik. 

Lib.  I,  lectio  1  ....    S.     2  Anm.  3 
Lib.n,lectio5c  .   .   .    „  653     „     2 

5.  Analjrt. 


789 

6.  Periliermeneias. 

I,  lect.  14  med.     ...    S.   56  Anm.  2 

7.  De  anima. 

I,  lect.  1 S.   25  Anm.  1 

I,  lec.  11  Anf „180  „ 

155,1  ad2 „571  „ 

In,text36et37(43öb36)„  571  „ 

ni,text36et37(426al5)„  571  „ 

In,text36et37(439al5)„  571  „ 

8.  De  eoelo. 

m,  lect.  3  Ende  ...    S.  184  Anm.  1 
m,  lect.  2  Ende  .   .   .    „  185     „     1 

9.  Sentent.  Lombardi. 

I,  d.8q.lart.3c  .  . 
I,  dist.  25,  q.  lart.4c  . 
I,d.l9,lalad2  .  . 
n,d.lq.  1,4  art.4  . 
n,d.2q.2,2c  .  .  . 
II,d.l2,l,  Ic  .... 
n,d.l4,lart.lad4  . 
n,d.37q.  lart.  Icfin. 
n,  d.  149, 1,  2  solutio  . 
n,  d.  349, 1  solutio  .  . 
m  d.,  33,  q.  lart.  2c 

solutio  n 

m,  d.  37  q.  1  art.  m 

soiut.n 

rV,d.l7q.l,4q.lc  . 
VI,d.l6q.lart.lq.3 
solutio  I „    60 

10.  De  yeritate. 


S.   47  i 

Kum 

.3 

r     49 

n 

3 

„185 

n 

1 

n582 

n 

„  106 

n 

4 

n  108 

n 

4 

„105 

n 

5 

„    49 

n 

3 

nll9 

n 

1 

„119 

n 

1 

«582 

n 

»    79 

n 

3 

„146 

n 

1 

I,  art.lcinitio 
IX3ad6  .  .   . 
IX3ad6  .  .  . 
XIlc     .   .   .   . 
XXVm7c    .   . 


S.  44  Anm.  9 
n  145  „  3 
nl46  „  3 
„  570  „  1 
„  146     „     1 


11.  In  Matthaeiun. 

Kap.n S.    2    Anm.  3 

12.  Super  Isaiani. 

n  2,  lect  1    .....   S.   90  Anm.  1  i   Kap.  3  principio  .   .  .    S.    2   Anm.  1 


Digitized  by 


Googk 


790 


13.  De  Trinit. 


17,20 


S.   26  Anm.1 


14.  De  potentia. 

VI  2  ad  11 S.   57  Anm.  2 

VI93art.8c     ....    „582     „ 

IX,  art.7 „46     „     2 

IX,  art.8adl3     .  .   .    „    42     „     3 

15.  Totlas  logicae  Smnma. 

Tr.  m  1 S.  154  Anm.  1 

16.  Opnse.  philos. 

39  ( Viv^  Bd.  28,  S.  5, 


Nr.39(ed.Vivfe8Bd.28, 

S.  5),  cap.  1  .  .  .  .  S.  54  Anm.  5 
XXXIX  (ed.  Viv68), 

capl n    79     „     1 

XLIV(ed.Viv^)tr.mi  „  160     „     4 

11.  qnodlibet. 

m  6  Ende S.  277  Anm.  2 

18.  A4  Hebnieos. 

Vn,  leclmed.     .  .  .   S.  277  Anm.  4 

19.  De  spiiit.  ere«U 


art.  1) S.   50  Anm.  1      V,  ad.  10 S.  145 


3.  Zitate  ans  anderen  Werken. 


1.  Abharl:  Ffihrang  zur  Weislieit. 

S.  112  Anm.  Mitte. 

la.  Ahmed:  Die  Begrrttndung  des 
(jlaabens. 

S.763. 

2.  Alexander  von  Aphrodisias. 

(Ansg.  Hayduck  1891.) 
S.706,  33— 707    .  .   .    S.  577  Anm. 

3.  Ayerroes:  Das  Bueli  der  Philo- 
sophie. 

Kairo  1313 S.  666  Anm. 


4.  Ayicennas 

Einleitung  in  die  Log. 


Teil  Abh.  Kap. 
I       1 


Logik. 

S.     2  Anm.  2 
»    15     „     7 


o 

5—13 

8 

8—13 

9 

9-11 

bes.  10 

10-12 

10-12 

10-13 

13,  14  . 

13,  14  . 


.    14 

n  13 
n  33 
n  5 
r,  73 
n347 
nl57 

«300 
«  74 
«395 
„318 
„326 
„361 


Teil  Abh.  Kap. 

I       I       14 

I  u.  n 

I       IV     3-5 

n 


U 

n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 


I 

I 

I 

I 

I 

I 

I 

n 

m 

m 

m 

m 

m 

IV 

IV 

IV 

IV 

V 

V 

V 

v+ 

VI 

v+ 
vn 


2 

3-6 

3,6 

4 

4-6 

6 

9 

6 

1—3 
1—3 
1—3 
4 

3—5 

5 

3 

1—3 

3-n5 

VI 


VI  bis  Kap. 
bes.  1  +  3 


S.428 
„285 
„  69 
„444 
XL.  134 
S.  31 
„  86 
„  87 
„428 
„  92 
„  91 
„  116 
„  91 
„163 
„  91 
„  150 
„  87 
„  92 
„  92 
„460 
„198 
„175 
„395 
„212 
„  92 
„208 
„  92 
4  „151 
.    ,  1^ 


4 
4 
4 
1 
2 
2 
2 
2 
5 
4 
1 
3 
2 
3 
2 
3 
2 


Digitized  by 


Googl( 


791 


TeU  Abh 

Kap. 

TeU  Abh 

Kap. 

n     VU 

...   S.  451  Anm.  1 

I 

9-11     .   . 

S.  367  Anm.  2 

n     VU 

If. 

.    ,196 

„     2 

I 

9— 11  bes.  10 

U      VU 

1  +  3 

.    „203 

„     1 

Mitte  .   .  . 

„135 

>» 

8 

n    vn 

3 

.    „    19 

„     4 

I 

12U.13  .    . 

„416 

1» 

3 

m   I 

6n.lO 

.    „292 

„     1 

n 

.   .  . 

„174 

)) 

1 

m  I 

10 

.    „196 

„     2 

n 

... 

„553 

1) 

1 

m  n 

1 

.    „169 

„     2 

n 

... 

„561 

11 

3 

m  n 

ln.5 

.    „292 

„     1 

n 

4-8(d.Raum)„    31 

11 

2 

IV 

.  .    „642 

„     1 

n 

9-12(cLZeit)„    31 

11 

2 

IV 

.  .    „    81 

„     1 

n 

9-12  .   .   . 

„183 

i1 

2 

IV 

.    „    59 

„     1 

m 

,  ,   , 

„122 

11 

1 

IV     I 

5 

.    „196 

„     2 

m 

.   .   . 

„185 

11 

2 

IV     IX 

12 

.    „    57 

„     1 

m 

If.       ... 

„    17 

11 

4 

V 

-    „    59 

„     1 

m 

ln.2  .   .   . 

„HO 

11 

4 

V 

.    „    81 

„     1 

m 

4flf.      ... 

„    96 

11 

2 

V 

.    „642 

„     1 

m 

6         ... 

„    31 

11 

2 

V      I 

1II.2 

.  .    „      5 

„     6 

m 

7-12  .   .  . 

„477 

11 

2 

V      I 

Die  Lehre  vom  demonstra- 

m 

11       ... 

„    31 

11 

2 

tiven  Beweise  S.     7  Anm.  5 

m 

12       ... 

„    96 

11 

3 

V      I 

...»    13 

„     1 

m 

12       ... 

„105 

1t 

1 

V      I 

.   .    „218 

„     3 

m 

U       ... 

„    31 

11 

2 

V      I 

Anfang  Ea 

p.4  „    32 

„     1 

IV 

.   .   . 

„103- 

11 

4 

V      I 

4n.5  .  . 

.    „    79 

„     2 

IV 

2-15     .    . 

„    31 

11 

2 

V    n 

1-10  . 

.    „    79 

„     2 

n 

.   •   . 

„      9 

11 

5 

VI 

.   .    „    27 

„4-5 

n 

„566 

11 

2 

VI 

.  •    „    57 

„     1 

n 

I 

10       ... 

„    60 

11 

1 

VI     I 

1 

.    „    28 

„     1 

n 

I 

2         ... 

„109 

11 

VU 

.  .    „    27 

„4-5 

n 

I 

2,4n.6  .  . 

„426 

11 

3 

VU 

.  .    „444 

„     1 

n 

I 

10       ... 

„607 

11 

1 

VIU  I 

10   \ 

r„444 

„     1 

m  Pas 

Entstehen  n. 

vuin 

Iff.J  •   ■  '^.448 

„     2 

Vergehen)  .... 

„    31 

11 

2 

m 

(Der: 

Kreislauf  des 

i.  ATicenna:  Natarwisgenscluiften. 

Geschehens)  .  .   . 

„    60 

11 

1 

TeU  Abh 

.Kap. 

Teü  Abh.  Kap. 

I       I 

...    S.  1(»  Anm.  4 

IV 

„    31 

11 

2 

I       I 

„174 

,     1 

IV 

„132 

11 

4 

I       I 

1 

„    14 

,     7 

IV 

„151 

11 

8 

I       I 

If.       . 

„    31 

,     2 

IV 

„206 

11 

2 

I       I 

Iff. 

„176 

,     4 

IV 

„328 

11 

1 

I       I 

1—5 

„121 

,     4 

IV 

„395 

11 

5 

I       I 

2 

„132 

,     4 

IV 

2—3  .  .   . 

„395 

11 

5 

I       I 

211.6 

„120 

,     1 

IV 

4u.5  .   .  . 

„212 

11 

4 

I       I 

5 

„107 

,     5 

IV 

9         ... 

„399 

11 

1 

I       I 

5 

„412 

,     2 

VI 

1         ... 

„  147 

n 

7 

I       I 

6 

„    87 

,     2 

VI 

Iff.      ... 

„605 

11 

1 

I       I 

6 

„  109 

n 

VI 

4         .   .   . 

„495 

11 

2 

I       I 

6-12 

.    „873 

n      1 

VI 

4n.5  .  .  . 

„418 

11 

2 

Digitized  by 


Googk 


792 


Teil  Abh.  Kap. 


VI 
VI 
VI 
VI 
VI 
VI 
VI 
VI 
VI 
VI 
VI 


I 

n 

m 

IV 

IV 

IV 

V 

V 

V 

V 

V 


4u. 

1 
If. 


1 


s. 


1—6 
1—6 
2 

5—6 

Die  vier  Wissenschaften 
d.  Mathematik  S.VIII 
I.  Teil  Geometrie  .  . 
n.  Teil  Astronomie  . 
m.  Teil  Arithmetik  . 
IV.  TeU  Musik    .   .  . 

IV.  Teil 

Definitionen  v.  A  vicenna 

S.  57  u.  58 

S.  60n.61 

S.  66 , 

Avicenna,  9  Abh.,  S.40 


644  Anm. 

387 

648 

642 

495 

387 

642 

563 

644 

147 

517 

202 

31 

31 

31 

31 
594 

112 

92 

130 

614 


2 


6.  ATleeniia:  Bach  der  Charakter-  ; 

elgenschaften. 

S.  658  Zeile  16  n.  Anm.  2. 

7.  ATieenna:    Is&rat  wa  TanbiliÄt  ! 
(Thesen  und  Frkläiiingen)  ed.  Forget  ' 

S.  106  Anm.  u.  759  Anm.  1. 

8.  Bänmker,  €1. :  Das  Problem  der 
Materie  in  der  grieeh.  Pliilosopliie*  i 

S.  113  Anm.  3. 
S.  271-281 S.  147  Anm.  1  • 

9«  Broekelm:  Gesell,  d«  arab.  Liter. 

I  152 S.  354  Anm.  1 

1  456  Nr.  38  ....  „658  „  2 
I458„  3.  ...„722  „  1 
I  464    „    23    .   .   .   .    „  112     „ 

10.  Fahr  ed-Din  er-IUzi:  Miihassal.  . 

Die  Ansichten  der  alten  n.  modernen 

Philosophen. 
Anfang  .......    S.     3  Anm.  2 

S.  83 „112      „ 


11.  Farabi:  BiagsteUe^ 

Nr.l S.   49 

.1 n    71 

n     1 n      74 

.1 n      75 

n   1 «302 

.1 n337 

«1 n428 

n    1 „502 

„   1    Die  Wesenheit 

wäre  dann  früher 

als  sie  selbst  .   .  „  503 

n   1 n  517 

„    1  Ende ,22 

„   1  «weiter  Teil  .   .  „    65 

„1-5 „94 

n   2 „    65 

„2 „    76 

„2 „255 

„2 ,382 

n  2 „405 

„2 „765 

n   6 „601 

„6 „    72 

„6 „3(ö 

„6 „316 

„6 „332 

„6 „347 

„6 „511 

n    8 n      75 

„8 „496 

«8 „515 

„8 „533 

„9 „  382 

»13 10 

»17 r,      U 

„17 „589 

„17 „541 

„   19  Ende     ....  „636 

„  aOff. 636 

„   20IL21 540 

„22 ,665 

„23 43 

„23 „156 

„23 „515 

„23 „589 

„23 541 

„29 „70 


„  1 

,  5 

.  1 

-  4 

„  7 

„  " 

r  7 

,  6 

.  2 

„  1 

n 

„  ■» 

r  * 

„  1 

„  4 

,  1 

r  2 

„  2 

„  1 

-  1 
,  4 

„  l 

r  2 

„  1 

.  * 

„  2 

„  1 

„  3 

,  2 

,  l 

„  l 

'  2 

7 

.  1 

n  1 

r  " 

„  5 


Digitized  by 


Googl( 


Nr.  29 S.  384  Anm.  1 

„  31  Ende  .  .  .  .  „  688  „  3 

„  32  Ende  .  .  .  .  „  426  „  1 

„  32  .......  „568  „  1 

.49 „653  „  2 

«49 „  659  „  1 

.51 „  621  „  2 

«54 „239  „  1 

12.  F&rüqf :  Dietlonary  of  teehnieal 
terms. 

S.  186 S.  106  Anm. 

«256 „  101     „     2 

«352 „92     „     3 

«829 „  111     „     4 

«986 «    91     „ 

«1134 „109     „ 

n  1440 „446     „     2 

S.  1487 „92     „     3 

13.  OoldzUier. 

Bnch  vom  Wesen  d.  Seele.  Berlin  1907. 
S.772. 

14.  Oorgftn!  1413  f. 

(Definitiones  ed.  Flügel.) 

S.  68 S.  129  Anm.  6 

«78 „106  „ 

«79 „101  „     2 

«79 „117  „     2 

«141 «112  „ 

«149 «    91  „ 

«249 „56  „     2 

«269 „56  „     2 

«279 „113  „ 

15.  al  Hawäremii. 

(Liber  Mafjlt!|i  al-nlüm  ed.  van  Vloten.) 

8. 136 S.  112  Anm. 

«136 „  112     „     2 

«138 „  101     „     2 

„  142    .........    91     „ 

«252 „      2     „     1 

16.  Ism&Sl  el  Hoselnf  in  Horten. 

(Das  Bnch  der  Ringsteine  F&r&bis.) 

8.  30—34 S.  535  Anm.  2 

«64 „426     „     1 


793 

S.  162 S.  650  Anm.  3 

«275,18 „533  „  1 

«279,9 „515  „  1 

«284 „  532  „  2 

„  301-313 „77  „  1 

«313-364 „428  „  1 

«314 „28  „  6 

»  316 „      2  „  1 

«  316f. „44  „  6 

«317 «      3  „ 

«318 „    25  „  4 

„  319  u.  320     .   .   .   .  „    25  „  1 

«320 „36  „  5 

«320 „  133  „  4 

„  323-340 „49  „  1 

„  323-364  bes.  357  .„    63  „  1 

«346 „384  „  1 

«364 „  115  „  4 

«366 „  347  „  1 

«376 „  504  „  1 

«392 „650  „3 

«403 „539  „2 

„  403-412 „634  „  2 

17.  Koran. 

1,6 8.771  Anm. 

2,256 „718     „     4 

3,27  et  passim    .   .   .    „  718     „     4 

18.  U.  Korintlier  9. 

S.  665  Anm.  1. 

19.  Krehl:  ,,Über  die  koraniselie 
Lelire  von  der  Pi^destination^. 

Berichte  d.  König.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss. 

phil.-hist.  Klasse  1870. 
S.  40—114 S.  659  Anm.  3 

20.  Porphyrius:  Isagoge. 

Kap.  1 S.  769 

21.  Samarkandll291t. 

„Blätter  über  Theologie". 

S.  720  Anm.  4. 

22.  A.  de  yiieger:  KiUb  al-Qadr. 

La  Doctrine  de  la  Pr^estination  dans 
la  Theologie  mosolmane. 

S.  659  Anm.  3 


Digitized  by 


Googl( 


Verzeichnis  der  Eigennamen. 


Abaelard  1 
Abharl  112 
Ahmed  686.  719.  748.  749.  752.  753. 

754.  755.  757.  761.  763 
Alchimisten  151.  206 
Alexander  von  Aphrodisias  577  (Ansg. 

Hayduck)  757 
Almagest  577 
Anaxagoras  272 
Anaximander  271 
Anaximenes  271.  500 
Aratos  721 
Aristoteles  1.  4.  25.  37.  48.  57.  90. 

119.  147.  196.  282.  288.  348.  353. 

481.  482.  483.  484.  485.  488.  489* 

490.  491.  492.  575.  576.  577.  594 
Aschari  60 
Aschari  und  seine   Schale   260.  721. 

764 
Ayerroes,  Das  Buch  der  Philosophie. 

Kairo  1313  S.  666 
Avicenna  1.  3.  5.  6.  7.  8.  9.  11.  12. 

16.  18.  20.  23.  26.  36.  37.  41.  44. 

45.  49.  50.  53.  58.  60.  62.  71.  74. 

75.  87.  89.  90.  91.  92.  93.  95.  98. 

99.   100.   101.   102.   103.   107.   108. 

112.  119.   127.  132.  140.  147.  15a 

160.  164.  173.  182.  185,  196.  204. 

210.  216.  219.  224.  229.  247.  262. 

265.  266.  276.  277.  279.  281.  289. 

303.  313.  322.  330.  334.  337.  347. 

359.  377.  421.  452.  454.  457.  481. 

504.  523.  525.  526.  527.  542.  543. 

547.  550.  564.  570.  575.  580.  581. 

582.  610.  611.  614.  615.  616.  623. 

627.  628.  633.  659.  686.  687.  689. 


691.  695.  697.  708.  704.  705.  707. 
711.  721.  723.  733.  738.  757 

Bagdadi,  abnl-Barakat  757 

B&umker  lia  147 

Behmeig&r  688.  689.  690.  722 

Boetins  57 

de  Boer  60.  721  Qesch.  d.  Philo«,  im 

im  Islam  S.  46 
Brockelmann  2.  112.  65a  690.  722 
Brt&der,  die  lauteren,  s.  Getreuen  Ton 

Basra. 

Demokrit  271 

Dieterid,  (Alfarabis  philosophische  Ab- 
handlungen, Leiden  1892,  AbhandL 
Nr.  2)  10 

Diodorus  56 

Eleaten  82 
EukUd  13 

Fahr  addin  er  R&zi  106.  112 
Fahr  ed-Din  er  B&sl,  Muhassal  3 
F&r&bi  2.  10.  14.  22.  36.  4a  65.  7a 
71.  72.  74.  75.  7a  77.  94.  115.  ISa 
156.  255.  296.  302.  30a  8ia  332. 
337.  342.  347.  382.  42a  502.  50a 
511.  5ia  515.  517.  52a  532.  53a 
539.  540.  541.  568.  601  Ringst  Nr.  2. 
621  Ringst  Nr.  51.  636.  eSS.  647. 
653.  659  Ringst  Nr.  22.  689.   722 
Ringst  Nr.  23.  764.  771 
F&rftqut  91.  92.   101.  106.  lOa  111. 

686 
Flügel  91.  101.  112.  lia  117.  129 
Forget  106.  759 


Digitized  by 


Googk 


G&rbaqü  260.  721 
Gaz&U  12.  526.  686  772 
Getreaen  von  Basra  757.  771 
Goldziher  772 

Gorg&ni  36.    56.    91.   101.   106. 
113.   117.   129.   686.  698.  701. 
Gondin  199 


112 


112. 
707 


al-Haw&rezmi  2.  91.  101. 

Haschim  Yon  Basra  53 

Heraklit  82 

Hippokrates  757 

Horten:  Buch  der  Ringsteine  Farftbis 

2.  25.  28.  44.  49.  77.  115.  133.  347. 

426.  504.  532.  634.  651 
Home  12 


lUnminanten  112 
Imamen  697 
I§&r&t  106 
Islam  69 

Ism&il  el  Hoseini  2. 
428.  515.  539.  634 


3.   25.  36.  63. 


Kaokart  722 

Kindi  757 

n.  Korinther  9.  S.  655 

Kratylos  82.  697 

Krehi  659:  ,,Über  die  koranische  Lehre 
von  der  Prädestination".  Berichte 
der  Kön.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  phil.- 
hist.  Klasse  1870,  S.  40-114 

Porphyrius  769 

Mntakallimün  91.  98.   106.  377.  721 
Mtf  taziliten  40.  67.  91.  92.  204 

Nazz&m  40.  91.  204.  208 

Nominalisten  112 

Nüs  567.  597.  598.  602.  6(».  607 

Parmenides  82 

Peripatetiker  576 

Phüo  56 

Picavet,  Esqnisse  1 

Plato  70.  82.  95.  180.  298.  308.  426. 

453.  454.  454.  458.  462.  534.  581. 

582.  605.  610 


795 

Platoniker  180.  452 

—  Neu-  577 
Porphyrins  343 
Protagoras  82.  202 
Ptolemäos  576 

—  Schule  vor  und  nach  576 
Pythagoräisierende  Platoniker  152 
Pythagoras  42.   151.   456.   457.   458. 

469.  500 
Pythagoräische  Schule  151.  152.  452. 
470 

Razi  757 

Sadr    686.  689.  691.   692.   695.  697. 

700.  746 
Samarkandi    1291t.      Blätter    über 

Theologie  720 
Schiiten  697 

Scholastiker  94.  260.  300.  353 
Sextus  Empirikus  12 
Skeptiker  83 
Stoa  500 

Sokrates  58.  77.  357.  453.  522 
Sophroniscus  522 
Sophisten  79.  81.  84 
Stagirite  s.  Aristoteles. 
Stoiker  56 
Suhrawardi  722  771 

Thaies  500 

Themistius  577  757 

Thomas  von  Aqin,  abgesehen  von  den 

Zitaten  1.  3.  12.  26.  58.  89.  164. 

515.  523.  526.  532.  557 

Urmawi  771 

Tlieger,  A.  de:  Kitab  al-Qadr.  La 
Doctrine  de  la  Prädestination  dans 
la  Theologie  musulmane,  Leyde  1903 
S.659 

Van  Vloten  2 

Worms  60 
Wulf,  de  1 

Zenon  von  Elea  53.  82 


Digitized  by 


Google 


Berichtigungen. 


Seite  Vn  Zeüe  10  y.  o.  lies:  S&bür  Ehw&st. 

M 

vm 

n 

8  Y.  Q.    ,f     Arithmetik  statt  Astronomie. 

»» 

IX 

}} 

18  Y.  0.    „     Lexikon. 

>» 

2  Ann 

1. 1  Zeile  3  y.  n.  lies:  HuwarezmL 

»» 

3 

»I 

2     „     1  n.  2  Y.  n.  lies:  äjuxpavtixog  —  n  tpevS&j^ai. 

M 

4 

11 

3  lies:  xaS'6},ov  imatijfiriv. 

1t 

4 

11 

7     „     x^taxa. 

11 

6 

11 

1     „     t,rit(n>fi€va  {el,  rt). 

11 

6 

M 

7     „    ^voci. 

11 

11 

H 

4    „    Syllog^ns. 

11 

20 

11 

5     „    xo>e^' 

11 

33 

11 

4     V    yv<a^ll^ovoiv. 

11 

35 

11 

2  Zeile  3  y.  u.  lies:  xa^oXov. 

11 

41 

11 

13  lies:  ah^ijciv. 

11 

42 

11 

3  Zeile  4  y.  n.  lies:  ngog. 

11 

52 

11 

1  lies:  ei^. 

11 

54 

11 

5     „     ifiolwq. 

11 

101 

11 

2  ergänze:  definiert  Seite  138. 

11 

257 

11 

6  Zeile  3  lies:  potentia. 

11 

613  Zeile  13  y.  n.  Hee:  ans  einer  Natur  (einem  Diofire). 

Noch  mehrere  andere  Druckfehler  sind  besonders  in  der  ersten  Lieferung 
stehen  geblieben,  die  der  frenndl.  Leser  leicht  Yerbessem  wird.  Herrn  Prof. 
C.  F.  Seybold  (Tübingen)  bin  ich  für  seine  Unteratützong  bei  Durchsieht  der 
Korrektoren  zu  besonderem  Danke  Yerpflichtet 


Digitized  by 


Google 


Inhaltsangabe  der  Kapitel. 


Seite 
Einleitung v 

I.  Abhandlnnir« 

1.  Kapitel.    Das  fonnelle  Objekt  der  Metaphysik  ist  nicht  die  Gottheit, 

noch  auch  die  vier  Ursachen 1 

2.  „         Das  formelle  Objekt  der  Metaphysik  ist  das  Sein,  das  Im- 

materielle, die  intelligibelen  Substanzen  der  reinen  Geister 
und  die  Prinzipien  der  übrigen  Wissenschaften     ....     14 

3.  „         Nutzen,  Rang  und  Name  der  Metaphysik 28 

4.  „         Kurze  Aufzählung  der  Probleme 39 

5.  „         Der  Begriff  des  Seins  (ens)  und  des  Dinges  (res)  ....     44 

6.  „         Das  ens  necessarium  und  das  ens  contingens  esse  vel  non 

esse,  d.  h.  das  Mögliche 61 

7.  „         Das  Notwendige  ist  nur  ein  einziges 69 

8.  „         Die  Evidenz  der  ersten  Prinzipien  des  Denkens  (Gesetz  des 

Widerspruchs).    Widerlegung  der  Skepsis 78 

II.  n.  in.  Abhandlung.    Die  Arten  des  Seienden  und  des  Einen. 

n.  Abhandlung.    Die  Substanz. 

1.  Kapitel    Die  Substanz  und  ihre  Arten.     Das  Substrat  erster  und 

zweiter  Ordnung 88 

2.  „         Substantia  corporea  (Materie  und  Form) 96 

3.  „         Die  materia  prima  existiert  nicht  ohne  die  Wesensform  .     .   119 

4.  „         Die  Wesensform  ist  in  Verbindung  mit  einer  Wirkursache 

Mher  als  die  Materie 133 

m.  Abhandlung.    Die  anderen  neun  Kategorien. 

1.  Kapitel.    Einleitung:  Sind  Quantität  und  Qualität  Substanzen?    .     .  149 

2.  „         Über  das  Eine  (de  uno).    Die  Arten  des  Einen     ....  154 

3.  „         Die  descriptio,  nicht  definitio,  des  Einen  ist:  esse  vel  ens 

non  divisum  in  se.    Das  Eine  ist  Akzidens 164 

4.  „         Die  Dimensionen  sind  Akzidenzien.    Zeit.    Baum  ....  173 
ö.        „         Das  Wesen  der  Zahl.    Die  Zwei  ist  eine  Zahl 185 

6.  „         Die  Opposition  zwischen  dem  Einen  und  Vielen  ist  die  der 

Eelatio  per  accidens.    Die  Einheiten  der  Maße     ....  193 

7.  „         Die  Qualitäten  sind  keine  Substanzen,  sondern  Akzidenzien  203 


Digitized  by 


Googk 


798 

Seit» 

8.  Kapitel.    Die  Erkenntnisformen  der  Substanzen   sind   selbst   keine 

Substanzen,  sondern  Akzidenzien  der  Seele 212 

9.  „         Den    geometrischen    nnd    stereometrischen   Figuren   ent- 

sprechen reale  Korrelate  in  der  Außenwelt 219 

10.       n         Die  Belation  als  real  Seiendes.   (Die  Relation  als  Begriff, 

s.  Logik,  n  Teil,  IV.  Kap.  3— 5.) 228 

IT.  Abhandlung.    Die  Postpraedicamenta. 
Die  ICator  und  Erscheinungsformen  des  Seins« 

1.  Kapitel    Das  Früher  und  Später 239 

2.  „         Potentia  et  actus,  potentia  et  impotentia 250 

3.  „         Das  Vollkommene  und  UnyoUkommene.    Das  Ganze  und 

die  Summe 275 

y.  Abhandlung.    Deflnitio  et  deflnitnm. 

1.  Kapitel.    Die  üniversalia  und  die  Art  ihrer  Existenz 2Si 

2.  „         Der  Charakter  der  Universalität  und  die  universellen  Wesen- 

heiten, das  Ganze  und  der  Teil,  das  Universelle  und  das 

Singulaere 302 

3.  „         Das  Verhältnis  von  Gattung  und  Materie 310 

4.  „         Das  Verhältnis  der  propria  und  accidentia  zum  Genus  .     .  320 

5.  „         Die  Bestimmungen,  die  dem  Genus  anhaften,  ohne  aus  ihm 

Arten  zu  bilden 3^ 

6.  „         Die  Art  (species) 332 

7.  „         Der  Artunterschied S3 

8.  „         Die  Definition  und  das  Definierte 342 

9.  „         Die  Definition  und  die  Verschiedenheit  zwischen  Wesens- 

form und  Wesenheit 352 

10.       „         Die  Definition  und  ihre  Teile 359 

IT.  Abhandlung.    Die  Ursachen« 

1.  Kapitel.    Die  vier  Ursachen.    Dire  reale  Existenz 367 

2.  „         Die  Gleichzeitigkeit  zwischen  Ursache  und  Wirkung    .     .  380 

3.  „         Das  Verhältnis  der  Wirkursachen  zu  ihren  Wirkungen  .    .  387 

4.  „         Die  materielle,  formelle  und  Zweck-Ursache 407 

5.  „         Es  muß    ein  letzter   Endzweck   existieren.      Unterschied 

zwischen  dem  notwendig  Resultierenden  und  dem  Zwecke  415 

yil.  Abhandlung.    Die  Ansichten  der  Griechen. 
Die  Proprietftten  der  Einheit  nnd  Yielheit. 

1.  Kapitel.    Die  Individualität,  das  Verschiedensein  und  die  Opposita    442 

2.  „         Die  Lehren  Piatos  und  der  Pythagoräer 452 

3.  „         Widerlegung  dieser  Lehren 462 

Yin.  Abhandlung.    Theologia  naturalis. 

1.  Kapitel.    Gottesbeweis  aus  der  Notwendigkeit  einer  absolut  ersten 

Ursache 474 

2.  „         Schwierigkeiten  betreffs  des  Buches  klein  a  und  der  Meta- 

physik des  Aristoteles 481 


Digitized  by 


Googl( 


1 


799 

Seite 

3.  Kapitel.    Die  caosae  fonnales  and  finales  müssen  in  ihrer  Eette  ein 

letztes  Glied  haben.    Qott  ist  causa  cansamm 493 

4.  „         Die  Gnmdeigenschaften  des  notwendig  Seienden  ....  498 

5.  „         Die  negativen  Eigenschaften  Gottes 507 

6.  „         Gott  ist  der  Vollkommene,  der  Wahre,  reiner  Verstand.   Er 

erkennt  alle  individnellen  Dinge  in  ihren  Ursachen   .     .     .    515 

7.  „         In  Gfott  ist  keine  Vielheit.   £!r  besitzt  die  höchste  majestas. 

Das  geistige  Genießen  ist  das  höchste 529 

8.  „         Qott  ist  im  höchsten  Sinne  geliebt  nnd  liebend,  Objekt  des 

Glückes  und  selbst  glücklich 538 

IX.  Abhandlung.    Herrorgehen  der  OeschSpfe  ans  Gott. 

1.  EapiteL    Das  Auftreten  der  ersten  Aktualität  in  dem  Hervorbringen 

der  entia  possibilia 542 

2.  „         Das  erste  aktive  Prinzip  ist  in  seinem  Wirken  nicht  ge- 

bunden an  eine  2ieit 551 

3.  „         Gott  geht  den  Geschöpfen  nur  natura  (begrifflich  und  der 

Seinsordnung  nach)  nicht  tempore  voraus 553 

4.  n         Das  nächste  Prinzip  für  die  Bewegung  der  Sphären  ist  ein 

seelisches,  das  entferntere  ein  intellektuelles 558 

5.  „         Das  Wirken  der  geistigen  Substanzen,  die  die  Sphären  be- 

wegen, geht  aus  von  einer  Sehnsucht 578 

ß.       „         Die  Stufenfolge  der  Geister,  Seelen  u.  Körper  des  Himmels    595 

7.  „         Das  Entstehen  der  Elemente  durch  das  Einwirken  der  himm- 

lischen Agenzien 609 

8.  „         Die  göttliche  Vorsehung  und  das  Böse 617 

9.  „         Die  Rückkehr  der  Geschöpfe  zu  Gott.    Das  Jenseits  .     .     .   633 

X.  Abhandlung.    Philosophia  practica.    Ethik  nnd  Soziologie. 

1.  Kapitel    Die  Harmonie  des  Weltgebäudes,  das  andere  Leben,  die  gött- 

lichen Eingebungen,  die  Gebetserhörungen,  die  Prophetie  und 
Stemdeuterei 650 

2.  „         Die  Notwendigkeit  der  Offenbarung 661 

3.  „         Der  äußere  Kultus  und  sein  Zweck  und  Nutzen  für  das 

Diesseits  und  Jenseits 666 

4.  „         Oeconomica  et  politica.    Über  die  Ehe 671 

5.  „         Das  Kalifat  und  Imamat 677 

Anmerkungen  zur  Metaphysik  Avicennas. 

I.  Glossen  der  Handschrift  c 686 

n.  Glossen  der  Handschrift  d 765 

Schlußwort  des  Glossators 771 

Indices 773 


Digitized  by 


Google 


Druck  Ton  Ehrhardt  Earras,  Halle  a.  S. 


Digitized  by 


Google  i  j 


Digitized  by 


Google 


s*^^ 


Digitized  by 


Google 


s 

die 
trag 

.80. 
6.— 

905 
sers 
jhen 
eten 

Dr. 
läfts- 
Ltlon 

10.— 

'  im 
fteo 
der 
mit 
6.— 

der 
itet. 

5.— 

ebr. 
-.80 


Digitized  by 


Google 


l 


Digitized  by 


Google 


J 


Digitfzed  by 


Google 


Digitized  by 


Google